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Das Zeugnis von Birgit Schlicke belegt klar und unmissverständlich, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Aufarbeitung der Verbrechen des totalitären DDR-Regimes längst nicht abgeschlossen. In ihrem Tagebuch belegt die Autorin die unfassbaren und menschenverachtenden Machenschaften von SED und Staatssicherheit. Sie bekommt zwei Jahre und sechs Monate, ohne Bewährung. Mit der SG Nummer 12055 wird sie als Strafgefangene in das berüchtigte Frauenzuchthaus Hoheneck bei Stollberg (Erzgebirge) überführt. Sie geht durch die Hölle der Stasi: Drill, Zwangsarbeit, Schikane, bedrängt von Mörderinnen und Lesben, Schreie von Angeketteten aus den Arrestzellen.
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Seitenzahl: 411
Birgit SchlickeGefangen im Stasiknast Tagebuch einer politischen Gefangenen im Frauenzuchthaus Hoheneck
© 2013 Lichtzeichen Verlag GmbH, Lage Lektorat: Thomas Schneider Covergestaltung: Manuela Bähr-Janzen Satz: Manuela Bähr-Janzen Private Fotos: Birgit Schlicke Portraitfoto: © Michael Jarmusch
ISBN: 9783869549866 Bestellnr.: 548986
E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien www.lichtzeichen-medien.com
EIN VORWORT
EINLEITUNG
VERHAFTUNG UND STASI-UNTERSUCHUNGSHAFT
ANKLAGE, PROZESS UND VERURTEILUNG
FRAUENZUCHTHAUS HOHENECK IN STOLLBERG
FREIHEIT ZUM GREIFEN NAH: DIE AMNESTIE
SCHLUSSGEDANKEN
ZWANZIG JAHRE DANACH
DANK
Gewidmet allen Opfern der stalinistischen Willkür in der ehemaligen DDR
Herbst 1989 in Deutschland. In jenem Herbst zog, ausgelöst durch Demonstrationen und Mauerfall, Demokratie im östlichen Teil unseres Landes ein. Ein Jahr später, Oktober 1990: die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands… Für viele von uns verbinden sich mit diesen Daten die unterschiedlichsten, persönlichen Erinnerungen. Für meine Familie und mich war es der Monat November 1989, in dem uns die langersehnte Freiheit geschenkt wurde. Nach 21 Monaten politischer Inhaftierung in der DDR wurden mein Vater und ich entlassen. Dies war für uns der Beginn eines neuen Lebens in Freiheit…
Warum nun dieses Buch? Meine Intention ist zunächst rein privater Natur. Mit dem Aufschreiben meiner Erlebnisse war es mir möglich, diese äußerst schwierige Zeit in einer Art Selbsttherapie zu verarbeiten. Gleichzeitig war mir von Anfang an klar, dass ich diese Erlebnisse mit anderen teilen wollte und musste. Schon während der Untersuchungshaft 1988 schwor ich mir, eines Tages alles Erlebte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Sicherlich erhebt mein Buch weder den Anspruch einer umfassenden Schilderung der DDR-Vergangenheit, noch sind spektakuläre Enthüllungen zu erwarten. Es geht auch nicht um eine personenbezogene Abrechnung mit den Vernehmern der Staatssicherheit, oder denjenigen, die uns im Strafvollzug quälten. Vielmehr geht es darum, ein Stück Zeitgeschichte zu rekapitulieren und es vor allem jungen Menschen zugänglich zu machen.
Hinsichtlich der Erzählform ist mein Bericht zum Teil ein künstliches Produkt, denn obwohl in Tagebuchform verfasst, war es uns Häftlingen natürlich nicht gestattet, über die Ereignisse Buch zu führen. Gerade dadurch unterscheidet sich aber dieses Buch von ähnlichen Publikationen. Ich habe sehr bewusst die Tagebuchform gewählt, da sie in meinen Augen die beste Möglichkeit bietet, meine persönlichen (durchaus subjektiven) Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen so realistisch und hautnah wie möglich zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei jedoch von der Wahrheit abzuweichen. So stützen sich meine Erinnerungen vorrangig auf das ‘Tagebuch in meinem Kopf’ und einige Schriftstücke, die mir seit der sogenannten ‘Wende’ zur Verfügung stehen. Viele Formulierungen der Stasi-Vernehmer sind mir wortwörtlich in Erinnerung geblieben, andere habe ich sinngemäß und nach bestem Wissen wiedergegeben. Bis auf wenige Ausnahmen sind die in diesem Buch zitierten Namen authentisch. Nur bei den Namen der Stasi-Vernehmer, die mir auch heute noch unbekannt sind, wurden die Spitznamen beibehalten, die wir Häftlinge ihnen ob deren Anonymität geben mussten.
Kritiker könnten nun dennoch fragen: Ist es notwendig, ein Buch über die Verfolgung durch die Staatssicherheit zu schreiben? Haben wir in Deutschland keine anderen Probleme, als uns ständig mit unserer Vergangenheit herumzuschlagen? Sollte man nicht endlich einen Schlussstrich ziehen? Wen interessiert es schon, was 1988 oder 1989 geschah? Sicherlich stehen wir heute in Deutschland vor ernstzunehmenden Problemen – sei es Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, Kriminalität, Armut oder Drogenmissbrauch. Dennoch: unsere Vergangenheit ist von größter Wichtigkeit, wenn wir sie als Fundament für die Gegenwart und Zukunft betrachten, auf die wir aufbauen oder aus deren Fehlern wir lernen wollen und müssen. Die Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Vergangenheit ist deshalb unumgänglich. Ein Schlussstrich kann, wenn überhaupt, erst dann gezogen werden, wenn wir uns ganz bewusst mit den Tatsachen auseinandergesetzt haben und bereit sind, die gezogenen Schlussfolgerungen in die Gegenwart und Zukunft zu integrieren.
Dieses Buch soll deshalb auch mehr sein als ein rein zeitgeschichtlicher Bericht. Neben der persönlichen Aufarbeitung meiner DDR-Hafterlebnisse ist es zugleich Anklage gegen das totalitäre SED-Regime und seinen gefürchteten Geheimdienst, die Staatssicherheit. Am Beispiel meiner Familie und meiner Erlebnisse als Strafgefangene Nr. 12055 im Frauenzuchthaus Hoheneck habe ich versucht wiederzugeben, was viele Menschen in der DDR ähnlich erlebt haben: die Diskriminierung und Verfolgung durch einen Staat, der sich stets nach außen demokratisch gab, der aber seinen Bürgern primäre Menschenrechte vorenthielt und politische Gegner erbarmungslos unterdrückte. Aufklärung am konkreten Beispiel ist mir besonders deshalb ein wichtiges Anliegen, weil vielen Menschen in unserem Land die Herrschaftspraxis der SED-Regierung, mit all ihrer kriminellen Energie, bis heute größtenteils verborgen geblieben ist.
Wie sieht es denn konkret mit der Vergangenheitsbewältigung der letzten Zeit aus? Sicherlich kann man feststellen, dass in den vergangenen Jahren auf einigen Ebenen recherchiert und berichtet worden ist. Doch allzu vieles liegt noch immer im Verborgenen: ungesichtete Stasi- Akten, die zuhauf in den Archiven der Birthler-Behörde lagern, werden auch in den kommenden Jahren das große Ausmaß der Machenschaften der Staatssicherheit offenbaren. Andere Zeugnisse der SED-Diktatur sind vor der politischen Wende in der DDR vernichtet worden und für die Forschung unwiederbringlich verloren. Eine umfassende Aufarbeitung zum Unrechtsstaat DDR hat es zudem bis heute nicht gegeben, ganz zu schweigen von einer systematischen strafrechtlichen Verfolgung der Täter.
Den Tätern ist natürlich daran gelegen, um ihre Vergangenheit den Mantel des Vergessens zu hüllen. Mit Vorliebe werden Verdrängung und Vertuschung praktiziert. Auch die Medien scheinen den bequemen Weg vorzuziehen. Wo aufgeklärt werden müsste, hält man lieber den Mund. Man muss nur die Tageszeitungen aufschlagen, um festzustellen, dass man sich in Deutschland über die Täter gern ausschweigt. Manch einer würde die Belege der MfSMachenschaften am liebsten ganz verschwinden lassen. Warum nicht ein Feuer mit den unliebsamen Stasi-Akten anzünden? Dann noch schnell die Asche unter den Teppich gekehrt und den ganzen Spuk hat es nie gegeben! Oder wie wäre es mit einer Generalamnestie für alle Stasi- Täter? Das wäre doch auch eine elegante Methode, sich der Vergangenheit zu entledigen. Die Opfer der totalitären Diktatur, überlebende Zeugen dieser Vergangenheit, werden die Manipulationsversuche und Herabwiegelungen der Täter jedoch nicht zulassen.
Verschweigen, Schönreden oder gar Fälschen der Wahrheit hilft uns nicht weiter. Wir müssen den Problemen ins Auge sehen, uns mit ihnen auseinandersetzen. Andernfalls könnte sich das bewahrheiten, was der Philosoph George Santayana sagte: »Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«
Die Erinnerung und das Wissen um die Tatsachen kann uns alle – und das ist meine Hoffnung – möglicherweise vor zukünftigen Diskriminierungen und Verletzungen der Menschenrechte bewahren.
Birgit Schlicke
Weißwasser. Eine Kleinstadt in der Oberlausitz, gelegen im Südosten der DDR.1
Diese Stadt ist der Ausgangspunkt meiner Erinnerungen, denn dort war meine Familie bis 1989 zu Hause. Meine Eltern, Wally und Jürgen, meine Schwester Britta, mein Bruder Holm und ich führten in der DDR ein relativ problemloses Leben – bis zu unserem Ausreiseantrag im Oktober 1985. Von diesem Zeitpunkt an bekamen wir zu spüren, was es heißt ‘Ausreisewillige’ zu sein: Diskriminierungen, Bespitzelung, Schulrausschmiss, Boykottmaßnahmen, Bildungsverbot, Drohungen, schließlich Verhöre und Inhaftierung.
Alles begann, wie bereits erwähnt, im Oktober 1985. Im September war ich, sechzehnjährig, auf die EOS2 (die sogenannte ‘Auswahlschule der Arbeiterklasse’) delegiert worden, da ich das Ziel hatte, das Abitur zu machen und anschließend Außenhandel zu studieren. Gleich zu Beginn versuchte man uns Neulingen klar zu machen, dass wir uns auf einer ‘Kaderschmiede’ befanden, derer wir uns würdig zu erweisen hätten. Die Umstellung auf die neue Schule war nicht unproblematisch für mich. Eine derartig vordergründige politische Indoktrinierung wie an diesem Ort war mir bis dahin unbekannt. Ständig sah ich mich nun von überzeugten bzw. angehenden DDR-Sozialisten umgeben,3 deren Gedankengut mir als Christin fremd war. Um nicht aus dem Rahmen zu fallen, machte ich jedoch gute Miene zum bösen Spiel. Fortan trug ich meist wie alle anderen Schüler mittwochs das geforderte FDJ4 -Blauhemd, ließ die Politdiskussionen über mich ergehen und übernahm innerhalb der Klasse die Aufgabe einer Wandzeitungsredakteurin.
Als sich meine Eltern im Oktober aus Gründen der Perspektivlosigkeit, wegen staatlicher Drangsalierung und allgemeiner Unfreiheit entschieden, die DDR zu verlassen, freute ich mich. Ich hatte die politische Bevormundung in der Schule schon lange satt und wusste, dass ich in diesem Land nie die Möglichkeit haben würde das zu studieren, was ich wollte. In schillernden Farben malte ich mir daher bereits ein neues Leben in Freiheit aus. Doch von den Ausreiseplänen unserer Familie durfte vorerst niemand wissen…
Als die Betriebsleitung meines Vaters dann doch von unserem Ausreiseantrag erfuhr, versuchte man, ihn umzustimmen. Schließlich war mein Vater in der DDR-Glasindustrie ein angesehener Ingenieur, der sich durch zahlreiche Patente ausgezeichnet hatte, und den man demzufolge nicht verlieren wollte. Nun versprach man ihm eine rückwirkende Gehaltserhöhung, interessantere Aufgaben innerhalb seines Berufsfeldes und für mich, seine Tochter, einen Studienplatz für Außenhandel, der sonst nur Männern vorbehalten blieb. Mein Vater blieb hart. Nach weiteren, zähen Aussprachen im Betrieb schlug plötzlich der bis dahin freundliche Ton um. Vom Zuckerbrot ging man zur Peitsche über. Als erste Maßnahme wurde das Gehalt meines Vaters drastisch gekürzt. Es folgten Vollmachtseinschränkungen, Verbote am innerbetrieblichen Schriftverkehr teilzunehmen, die Verweigerung von Dienstreisen, das Verbot an Fachtagungen teilzunehmen, ein Verbot Fachvorträge zu halten und massive Bespitzelungen.
Auch daheim spürten wir erste Auswirkungen unseres Antrags. Des Öfteren verschwanden an mich adressierte Briefe aus dem westlichen Ausland. Viele meiner Briefe kamen nie bei ihren Empfängern an und auch unser Telefon wurde ganz offensichtlich abgehört. In dem Haus, in dem wir wohnten, wurden wir zudem von bestimmten Leuten nicht mehr gegrüßt und einige ‘Freunde’ zogen sich zurück.
Nur in der Schule gab es noch keine Reaktionen. Zum einen erfuhr man erst sehr spät vom Ausreisevorhaben unserer Familie, zum anderen wusste die Schulleitung als sie es erfuhr nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einen solchen Fall hatte es im Kreis Weißwasser bis dahin noch nicht gegeben. Genosse Marschall, der Direktor der EOS, konsultierte den Kreisschulrat und den Rat des Kreises Weißwasser. Man entschied sich zunächst für die sanfte Methode. Meine Klassenlehrerin Genossin Fieber erhielt den politischen Auftrag, mich zum Dableiben zu überreden. Auch mir versprach man plötzlich ‘goldene Berge’: eine eigene Wohnung, einen garantierten Studienplatz meiner Wahl und die vielen angeblichen Vorzüge dieser sozialistischen Gesellschaft, wenn ich mich von meiner Familie lossagen würde. Allein die Unverschämtheit, mich vor eine solche Wahl stellen zu wollen, verschlug mir die Sprache. Es war einfach undenkbar, mich auf Dauer von meiner Familie zu trennen. Dass auch die schönsten Versprechungen nichts nützten, machte ich dieser Pädagogin mit deutlichen Worten klar. Kurze Zeit später distanzierten sich bereits die ersten Freunde von mir, da man ihnen angedeutet hatte, sie würden keinen Studienplatz erhalten, wenn sie weiterhin mit mir befreundet wären. Andere wieder erschienen nur noch im Schutze der Dunkelheit bei mir, damit sie der im Nachbarhaus wohnende Schuldirektor nicht sehen würde. Im Juni 1986 kam es dann endgültig zur ‘Relegation’ von der EOS. Die stellvertretende Direktorin der Schule, Genossin Rentsch, verlangte eine erneute Stellungnahme in Bezug auf meine Familie. Als ich auch ihr mitteilte, dass ich, komme was wolle, gemeinsam mit meinen Eltern ausreisen würde, erklärte sie mir: »Dann können Sie jetzt Ihre Sachen packen. Ihr weiterer Schulbesuch ist für die DDR unökonomisch. Auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten setzte sie mich kurzerhand vor die Tür.
Obwohl mein Vater und ich uns sofort bei allen zuständigen Behörden und bei der Ministerin für Volksbildung beschwerten, blieben unsere Proteste ohne Erfolg. Mehrfach wiesen wir in unseren Beschwerdebriefen auch auf gewisse Parallelen zum Faschismus des dritten Reiches hin, die nicht zu übersehen waren: der Versuch, Familien auseinander zu dividieren, Sippenhaft und Diskriminierung Andersdenkender. Genosse Fischer vom Bezirksschulrat war allerdings anderer Meinung: »Auch wenn es so aussieht wie im Faschismus – es ist nicht so.«
In der Zwischenzeit rief der EOS-Direktor öffentlich zum Boykott auf, und erklärte, dass man »mit solchen Vaterlandsverrätern wie Birgit Schlicke keine Freundschaft halten « dürfe. Nochmals wurden mit einigen meiner Freunde Einzelgespräche geführt und eventuelle Konsequenzen angedroht, wenn sie den Kontakt mit mir aufrecht hielten. Nur sehr wenige hatten danach noch den Mut, sich weiterhin mit mir sehen zu lassen.
Um die freie Zeit nach meinem Schulrausschmiß nicht sinnlos zu vergeuden, bemühte ich mich um eine Lehrstelle. Mit einem Notendurchschnitt von 1,6 wäre es normalerweise kein Problem gewesen, eine akzeptable Stelle zu finden. Mit Ausreden und Lügen verweigerte man mir jedoch eine Lehrstelle als Bürokauffrau und versuchte stattdessen, mir die Ausbildung zur Baggerfahrerin im Tagebau, Schweinezüchterin in der LPG5 oder Maschinenschlosserin schmackhaft zu machen. Als ich diese Lehrstellen ablehnte, weil sie mir für meine berufliche Zukunft untauglich erschienen, wurde ich schließlich als arrogant bezeichnet.
Der Versuch, mein Abitur auf der Volkshochschule abzulegen, schlug ebenfalls fehl. Der Bezirksschulrat hatte bereits dafür gesorgt, dass ich keinerlei Abiturkurse belegen durfte. Selbst die Teilnahme an einem Schreibmaschinenkurs scheiterte um ein Haar, hätte mein Vater nicht massiv mit umfassenden Beschwerden gedroht. Immer wieder saßen also die Genossen am längeren Hebel und ließen uns ihre Macht spüren…
Die Suche nach sinnvoller Beschäftigung ging jedoch trotz aller Steine, die man uns in den Weg zu legen versuchte, weiter. Als nächstes fragten wir ein paar Handwerker, ob sie mich einstellen könnten. Niemand sah sich jedoch in der Lage, mir zu helfen. Sie hatten berechtigte Angst, nicht mehr mit Material beliefert zu werden, würden sie Ausreisewillige beschäftigen. So empfand ich mich schließlich als Arbeitslose (die es offiziell in der DDR gar nicht gab) mit Bildungsverbot. In unseren Briefen an die Regierung beschwerten wir uns auch immer häufiger über jene Repressalien, die unsere Familie erdulden musste. Gleichzeitig forderten wir die Ausreise in die Bundesrepublik, die uns in den Gesprächen bei der Abteilung Inneres in Weißwasser regelmäßig verweigert wurde. Wann wir ausreisen dürften, könne uns niemand sagen. Ein Genosse Börner von der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt erklärte uns, dass in der DDR das Staatsrecht praktiziert werde und wir uns daher nicht auf die Schlussakte von Helsinki berufen könnten. Außerdem könnten Leute, die in der DDR studiert haben, nicht so ohne weiteres ausreisen. Mein Vater hätte die Pflicht, sein Studium abzuarbeiten und wenn dies bis zum Rentenalter sei.
Daheim fiel mir langsam die Decke auf den Kopf. Schließlich fand ich Anfang 1987 doch eine Aushilfstätigkeit als Briefträgerin bei der Deutschen Post. Der Stundenlohn von 3,40 DDR-Mark war zwar minimal, aber immerhin kam ich wieder unter Leute. Nichtsdestotrotz spitzte sich unsere Lage von Monat zu Monat zu. Meine Schwester Britta hatte im Juli 1987 die 10. Klasse beendet und erhielt wie ich keine annehmbare Lehrstelle. Holm, mein Bruder, besuchte zum gleichen Zeitpunkt die 9. Klasse. Auch er würde nie in der DDR das Abitur machen können und die Möglichkeit haben zu studieren.
Je mehr man uns schikanierte, umso aggressiver wurden auch unsere Briefe an die verschiedenen Regierungsstellen. Wir erhielten jedoch nie eine Antwort auf die vielen Briefe an den DDR-Regierungschef Honecker und seine Genossen. Als im September 1987 feststand, dass Honecker erstmalig die BRD besuchen würde, rief man im ZDFMagazin Ausreisewillige auf, Petitionen an die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte e.V. in Frankfurt am Main zu richten, die man Honecker übergeben wollte. Wir wussten, dass dies nicht ungefährlich war. Daher entschlossen wir uns, per Kurier einen Brief an die IGfM zu schicken. Mein Vater entwarf einen Brief, den ich mit meiner Schreibmaschine abtippte. Eine befreundete Amerikanerin beförderte unser Schreiben anschließend problemlos nach Frankfurt/Main.
Etwa zur gleichen Zeit besprachen wir unsere Ausreiseproblematik mit einem katholischen Pfarrer, der seit einiger Zeit Freund unserer Familie war. Bei unseren Besuchen in Cottbus übergaben wir ihm in regelmäßigen Abständen Gedächtnisprotokolle und Kopien vieler Briefe, die er an den damaligen Bischof der Diözese Görlitz weiterleitete.
Neben diversen schriftlichen Aktivitäten wandten wir uns zeitgleich immer wieder an die örtlichen Behörden. Bei jedem Zusammentreffen mit der Abteilung Inneres verwarnte man uns erneut und wies darauf hin, staatsfeindliche Äußerungen zu unterlassen. Noch seien wir schließlich Bürger der DDR, für die die Gesetze der DDR gelten.
Mein Vater ließ sich davon aber nicht einschüchtern und gründete im September 1987 eine Protestgruppe, die sich aus Ausreisewilligen zusammensetzte und den (natürlich ironischen) Namen »Freundeskreis der Stadtwanderer Weißwasser« trug. Jeden Samstag trafen sich etwa 15 Personen von 9 bis 11 Uhr auf dem zentral gelegenen Marktplatz vor dem Rathaus (in dem sich auch die Büros der Abteilung Inneres befanden), um gewaltlos auf unsere Problematik aufmerksam zu machen. Um uns allerdings nicht strafbar zu machen, gaben wir an, aus reiner Wanderlust und wegen der frischen Luft auf dem mit Kastanien gesäumten Platz schweigend unsere Runden zu drehen. Natürlich schlief der DDR-Geheimdienst nicht. Beim zweiten Treffen fotografierten sie uns bereits aus Autos und Telefonzellen heraus. Nach dem dritten Treffen, am 3. Oktober, bereitete die Stasi der Aktion dann ein Ende, indem sie uns von Polizisten umzingeln ließ. Diese nahmen unsere Personalien auf und rügten uns wegen »öffentlicher Ruhestörung«. Unser Ziel, auf die Ausreiseproblematik hinzuweisen, hatten wir trotzdem erreicht: wir waren Stadtgespräch. Schon zwei Tage später wurden alle ‘Stadtwanderer’ von der Staatssicherheit heimgesucht, verhört, eingeschüchtert und unter Strafandrohung gezwungen, eine schriftliche Erklärung abzugeben, dass sie in Zukunft ähnliche »Zusammenrottungen« unterlassen würden. Zusätzlich erhielt mein Vater eine Geldstrafe über 750 DDR-Mark. Die von ihm daraufhin eingereichte Beschwerde wurde abgelehnt: die Strafe sei rechtens.
Wir unterließen es fortan, auf dem Marktplatz zu ‘wandern’, denn eine Inhaftierung wollten wir keinesfalls riskieren. Trotzdem wurde mein Vater anschließend noch mehrfach von der Stasi verhört, weil er sich weigerte, ihre Protokolle zu unterschreiben. Zähneknirschend unterschrieben sie am Ende selbst ihre Protokolle. Doch von nun an wurden wir und einige ‘Wanderfreunde’ auf Schritt und Tritt beschattet. Auf dem Parkplatz vor unserem Haus standen abwechselnd auffällige Pkw. Bei jedem Ausflug folgte uns ein weißer Lada oder ein grüner Wartburg. Die Stasi hatte ihre Spitzel offensichtlich überall. Wollte man uns damit einschüchtern? Oder warum wurden diese Überwachungen so plump ausgeführt?
Am 29. Februar 1988, einen Tag nach meinem 19. Geburtstag, holte dann die Stasi schließlich zum großen Coup aus und schlug, für uns völlig überraschend, zu…
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1 Früher zum Bezirk Cottbus gehörig. Heute liegt Weißwasser im Freistaat Sachsen.
2 Erweiterte Oberschule, die zur Erlangung der Hochschulreife zwei Jahre besucht werden musste. Die Zulassung für die EOS hing von den schulischen und gesellschaftlichen Leistungen des einzelnen Schülers ab.
3 Drei oder vier KlassenkameradInnen fielen allerdings aus der Reihe und waren mir sympathisch. Wir hatten in politischen Dingen die gleiche Wellenlänge.
4 Freie Deutsche Jugend, sozialistische Jugendorganisation der DDR
5 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
Montag, 29. Februar 1988: Hausdurchsuchung
Am Nachmittag war ich mit Holm allein zu Hause. Vati hatte einen Arzttermin und sagte, dass er in einer Stunde wieder zurück sein werde. Etwa fünf Minuten später klingelte jemand hektisch an der Wohnungstür. Eine atemlose Nachbarin fragte: »Was ist denn mit eurem Vater los? Ich glaube, den hat die Stasi abgeholt!«
»Was??? Das kann doch nicht sein…!!«
»Doch, doch! Ich hab´ gesehn, wie ihn drei Männer aufm Parkplatz festgehalten ham, und dann musste er in ihr Auto einsteign. Ein weißer Lada. Aus Weißwasser warn die jedenfalls nicht. Ich bin doch gebürtige Weißwasseranerin – die würde ich kennen.«
Nachdem sie wieder gegangen war, schickte ich Holm sofort zu Mutti, die noch im Büro war. Ängstlich schloss ich die Wohnung von innen ab und schlich vorsichtig zum Fenster. Unten, auf dem Parkplatz, stand ein Wartburg. Während ich hinunterschaute, hatte ich das Gefühl, ich würde beobachtet. Erschrocken wich ich hinter die Gardine zurück, als es plötzlich erneut an der Tür klingelte. Auf Zehenspitzen machte ich mich auf den Weg in den Flur, um durch den Türspion zu schauen. Vor der Tür hörte ich mehrere Männerstimmen. Oh nein! Die Stasi! Was mach´ ich denn jetzt?
Ich schlich so behutsam wie möglich ins Wohnzimmer und überlegte, was zu tun sei. Mein Herz raste. Draußen klingelten und klopften die Stasi-Männer wieder an der Tür… Wenn doch bald Mutti und Holm kommen würden! Ich lasse hier niemanden rein, solange ich allein bin! Wieder lautes Klopfen und mindestens drei Männerstimmen vor der Tür. Oh Gott! Was wollen die von uns?? Ich legte mich auf das Sofa und hielt den Atem an. Sie werden doch wohl nicht die Tür aufbrechen? Da hörte ich plötzlich ein Schlüsselklappern. Jetzt kommen sie in die Wohnung! Was mache ich jetzt? Was soll ich sagen?
Als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, tat ich erstaunt. So, als wäre ich soeben vom Mittagsschlaf erwacht. Ich rieb mir die Augen. »Was ist denn hier los?« fragte ich unschuldig. Inzwischen standen auch Mutti und Holm im Wohnzimmer. »Hausdurchsuchung,« sagte Mutti. Ich sah, wie sie vor Angst zitterte. Vier Männer und eine Frau stampften mit ihren dreckigen Stiefeln über unseren Teppich. Ich wurde wütend.
»Wo ist eigentlich Ihr Hausdurchsuchungsbefehl?« fragte ich den erstbesten Stasi-Schnüffler.
»Das geht Se gar nichts an! Außerdem ham wir den schon Ihrer Mutter gezeigt. Gehn Se jetz´ ausm Zimmer.«
Ich folgte einem der Männer in das Zimmer, das sich meine Schwester und ich teilten. Gierig öffnete er jede Schublade und durchwühlte die Schränke. Er nahm sogar jede Postkarte ab, die Britta an ihrer Pinwand festgemacht hatte, und las sie. Ich stand genau neben ihm und beobachtete was er tat, damit er uns nichts unterschieben konnte. Man weiß ja nie… Außerdem bestand ich darauf, dass er alles dahin zurücklegte, wo es hingehörte. Zwischendurch fragte ich nach seinem Namen. »Geht Se nichts an,« war die Antwort. Auch die anderen Typen wollten mir keine Auskunft geben. Einer sagte, sein Name wäre »geheim«, der andere fragte nur: »Warum wolln Se das wissen?« Zwar ließ ich mir von allen Männern, die in unserer Wohnung zugange waren, die Ausweise zeigen, doch außer »MfS – Ministerium für Staatssicherheit« und unleserlichen Unterschriften konnte ich nichts in Erfahrung bringen.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Mutti saß zitternd auf dem Sofa und war total verstört. Holm musste einen der Stasi-Handlanger zum Parkplatz begleiten. Dort wurde gerade unser Auto auseinandergenommen. Beschlagnahmt wurde dann in unserer Wohnung reichlich: meine Schreibmaschine, diverse Notizbücher, mein Kalender, Vatis Arbeitsunterlagen, Adressbücher samt Telefonnummern, Zeitungsartikel, Bücher und die Tageszeitung, in der Vati einen Artikel angestrichen hatte. Die Durchsuchung dauerte schon fünf Stunden. Die einzige Frau dieser Truppe schlich ständig von einem Zimmer ins andere, fasste aber selbst nichts an. Da ich größer war als sie, stellte ich mich ihr in den Weg und versuchte, ihre neugierigen Blicke abzublocken. Im Bücherregal entdeckte sie irgendwann das Strafgesetzbuch. Es wurde ebenfalls beschlagnahmt.
»Wozu brauchen Sie das denn?« fragte ich. »Haben Sie kein eigenes, oder was?« Die Frau warf mir nur giftige Blicke zu, musterte mich von oben bis unten und schwieg. Als die Hausdurchsuchung beendet war, wurde ein Protokoll aufgesetzt. Über 70 Positionen waren darauf verzeichnet. Die unsympathische Frau unterschrieb. Es stellte sich heraus, dass sie die zuständige Staatsanwältin war und Lisch hieß. Erneut fragte ich nach einem Stück offiziellem Papier. Doch auch ein Durchschlag des Beschlagnahmeprotokolls wurde uns verweigert. Stattdessen wurde ich angeschnauzt: »Das geht Se doch gar nichts an, höchstens Ihrn Vater. Zu gegebner Zeit wird er´s schon bekommn.«
Die Stasi-Typen packten die beschlagnahmten Sachen in große, grüne Taschen. Dann fragte Mutti die Staatsanwältin, ob Vati morgen wieder nach Hause käme, oder ob man ihn verhaftet hätte. Angeblich wusste die Lisch von nichts. Wir sollten auf eine schriftliche Benachrichtigung warten.
Als die Stasi weg war, sagte Mutti: »Du warst ziemlich unfreundlich zu dieser Frau. Das war die Staatsanwältin, Birgit.«
»Na und? Mir hat sie sich nicht vorgestellt! Und überhaupt… wie die sich hier aufgeführt hat!« Verständlicherweise war Mutti sehr besorgt und ermahnte mich zur Vorsicht. Dann trösteten wir uns gegenseitig, bevor ich mich später auf den Weg zu Peter und Evi machte, einem befreundeten Ehepaar. Sie wollten wie wir ausreisen und hatten unserer ehemaligen Stadtwanderergruppe angehört. Noch halb unter Schock stehend, erzählte ich ihnen, was vorgefallen war. Gemeinsam sahen wir in der Verfassung der DDR nach. Darin stand, dass man spätestens nach 48 Stunden einem Haftrichter vorgeführt werden müsse. Entweder würde also Vati morgen zurückkommen, oder die Stasi hatte ihn tatsächlich verhaftet. Wir können nur noch warten…
Mittwoch, 2. März 1988: Meine Verhaftung
Nachdem wir auch gestern nichts von Vati gehört hatten, rief ich gegen 18 Uhr bei der Stasi und der Staatsanwaltschaft in Cottbus an, um herauszufinden, was mit ihm passiert war. Die Stasi gab sich ganz überrascht und fragte, wie ich auf die Idee käme, dass mein Vater bei ihnen sei. Unverschämtheit!
»Na, Ihre Leute waren doch gestern hier und haben ihn von der Straße weg verschleppt. Was soll denn das?! Und dann noch die Hausdurchsuchung…!« Ich war wütend, verzweifelt, und meine Formulierungen wurden nach und nach schärfer. Mutti hatte Angst: »Sei vorsichtig, Birgit! Nicht, dass sie dich auch noch abholen.«
Die Cottbuser Stasi meinte schließlich, ich solle bei der Staatsanwaltschaft anrufen. Dort teilte man mir lapidar mit, dass man von nichts wüsste. Alles würde sowieso nach »Schema F« gehandhabt, das heißt, falls ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, würde man uns schriftlich benachrichtigen.
Mutti war total am Ende (seit gestern ist sie sogar krankgeschrieben, weil sie Herzbeschwerden hat!). Gemeinsam überlegten wir, was wir als nächstes tun sollten. Dieses Herumsitzen in völliger Ungewissheit machte mich nervös. Also schlug ich vor, unsere Wohnung nach Wanzen abzusuchen. Wir konnten aber nichts finden. Dann versuchten wir, uns unserer Lage bewusst zu werden. »Wenn Vati wirklich inhaftiert wurde, dann kommt er nicht mehr zurück. Dann wird er irgendwann in den Westen abgeschoben. Wir müssen Pfarrer Schneider informieren und einen Anwalt besorgen. Vielleicht kennt er einen guten Anwalt,« sagte ich.
Als wäre nichts geschehen, erschienen Britta und ich dann heute Morgen zur Arbeit auf dem Postamt. Ich wollte Pfarrer Schneider, einen Freund unserer Familie, anrufen, um ihn um Rat zu bitten. Von daheim wollte ich allerdings nicht anrufen. Unser Telefon würde jetzt sowieso abgehört… Noch bevor meine anderen Kolleginnen eintrafen, ging ich in das Büro meiner Chefin und erzählte ihr, was unserer Familie in den letzten Tagen passiert war. Sie konnte nicht glauben, was sie da eben gehört hatte: »Man schämt sich regelrecht DDR-Bürger zu sein!« Um mich ungestört telefonieren zu lassen, verließ sie dann das Büro. Ich hatte Pfarrer Schneider sofort am anderen Ende der Leitung: »Ich muss Sie unbedingt sprechen, Herr Pfarrer. Es ist etwas passiert.« Viel mehr konnte ich am Telefon nicht sagen und so verabredeten wir uns für den kommenden Tag.
Der restliche Vormittag verlief weitgehend normal. Da ich auf dem Postamt arbeitete, war ich bei der eingehenden Briefflut besonders aufmerksam, um eine eventuelle Nachricht der Staatsanwaltschaft sofort telefonisch an Mutti weiterleiten zu können. Aber nichts dergleichen kam mit der Morgenpost. Nun war ich mit meinem Latein am Ende. Ich ging zur Toilette und brach in Tränen aus. Es fiel mir extrem schwer, mich zu beherrschen. Britta fragte mich, was mit mir los sei. Ohne eine klare Antwort geben zu können, ging ich zu den Sortierregalen, um beim Briefesortieren auf andere Gedanken zu kommen. Es war etwa 9 Uhr morgens. Britta stand neben mir und sortierte ebenfalls Briefe. Langsam kamen die Kolleginnen von der Frühstückspause zurück. Zufällig schaute ich aus dem Fenster – und wurde kreidebleich. Auch Britta sah was ich sah: auf dem Hof hielt ein grüner Wartburg aus dem zwei Männer ausstiegen. Sie trugen Anzüge mit Krawatten und mir war sofort klar, dass das nur die Stasi sein konnte. »Das ist die Stasi… Jetzt holen sie mich.«
»Aber du hast doch gar nichts gemacht,« rief Britta entsetzt.
»Natürlich nicht. Bestimmt nur irgendeine Befragung. Aber falls ich heute nicht zurückkomme, dann müsst ihr morgen unbedingt zu Pfarrer Schneider fahren und einen Anwalt besorgen. Ich rufe schnell Zuhause an.«
Es dauerte eine Weile, bis die Männer der Vordereingang gefunden hatten. In der Zwischenzeit wählte ich unsere Nummer. »Mutti? Hier sind zwei Männer von der Stasi. Was wollen die hier?«
»Das weiß ich nicht. Sie waren auch schon hier und haben nach dir gefragt.«
»Gut, tschüß.« Ich war total verstört und zitterte am ganzen Körper. Dann rannte ich schnell zur Toilette und sah in den Spiegel. Jetzt ganz ruhig bleiben, egal was kommt! Meine Knie schlackerten. Langsam ging ich zurück. Dann wurde ich auch schon von meiner Chefin gerufen. »Hier sind zwei Herren von der Staatssicherheit, die wollen zu Ihnen. Fassen Sie sich ein wenig und bleiben Sie ruhig,« flüsterte sie. Die Typen von der Stasi warteten im Büro. Der eine, ein gewisser Herr Keusch, war mir bereits von meiner »Stadtwanderer-Vernehmung« bekannt.
»Ach, Herr Keusch! Guten Morgen. Was wollen Sie denn heute schon wieder von mir?« Gelassen und cool bleiben! Da Keusch schwieg, forderte mich der andere (ein Mann um die 1,90 m und sehr kräftig – er sah aus wie ein Berufsboxer) auf, zur »Klärung eines Sachverhalts« mitzukommen. Mir blieb wohl nichts anderes übrig… Nachdem ich mir von beiden die Ausweise hatte zeigen lassen (typisch: keine Namen, sondern nur ein Stempel mit der Aufschrift »Staatssicherheit Cottbus«) und meine Jacke, Schal und Handschuhe geholt hatte, verabschiedete ich mich von Britta und den Kolleginnen. Dann folgte ich den Männern zum Auto. An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Die Augen der meisten Frauen spiegelten Angst und Entsetzen wider. Ich versuchte zu lächeln und ging. »Wo fahren wir eigentlich hin? Nach Cottbus?«
»Das werdn Se schon noch sehn!«
Wir fuhren zum Stasi-Hauptquartier in Weißwasser. In einem Raum, der als »Besucherzimmer« bezeichnet wurde, nahm ich Platz. Zu meinem Erstaunen saßen dort bereits eine Frau und ein Mann. Beide hatten einen Mantel an. Sie sagten kein Wort. Also setzte ich mich so lässig wie möglich auf einen Stuhl und schaute scheinbar gelangweilt aus dem Fenster. In der Zwischenzeit tat sich nichts. Da mir das Schweigen immer unangenehmer wurde, fragte ich die Frau nach der Uhrzeit. »Neun Uhr vierzig. « Wer sind die beiden? Ob sie auch befragt werden? Aber dann hätte man uns sicher in getrennten Räumen warten lassen!
Auf einmal kam Keusch hereingestürzt: »So, jetzt machn wir ´ne kleene Reise nach Cottbus – umsonst.«
»Umsonst? Ist ja toll! Sehr großzügig von Ihnen!« sagte ich patzig. Der unbekannte Mann verließ den Raum. Dann erhob sich plötzlich auch die Unbekannte. Sie fasste meinen Arm und schob mich zur Tür. Erst jetzt war mir klar, dass sie auch zu dieser Truppe gehörte. So eine miese Ratte! Ich schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege. »Noch kann ich allein gehen!!«
Im Auto musste ich hinten einsteigen. Neben mir nahm die Stasi-Frau Platz. Am Steuer saß Keusch, daneben als Beifahrer der ‘Boxer’. Dann machte es noch kurz »klick« und alle Türen waren dicht. Ich saß in der Falle! Unterwegs wurde kein Wort gewechselt. Absolutes Schweigen. Keusch fuhr wie ein Henker die Landstraße entlang und in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Ruhig bleiben! Ruhig bleiben!!!! Man darf mir meine Angst nicht anmerken!! Das war allerdings leichter gedacht als getan. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und scheinbar dermaßen laut, dass ich glaubte, die anderen könnten es hören. Mir war ganz schlecht vor Angst, doch ich machte mir Mut. Was wollen die eigentlich von mir? Die können mir gar nichts!! Und wenn es um Vati geht, sage ich sowieso nichts!
Trotz meiner Ängste hatte ich während der einstündigen Fahrt zeitweise das Gefühl, nach außen relativ gefasst zu wirken. Hin und wieder musterte ich die Frau neben mir. Wie kann man nur so einen Job haben? Ich wollte sie schon nach ihrem Namen fragen, und ob sie nichts Besseres zu tun habe, als hier durch die Gegend zu kutschieren und unschuldige Leute zu verschleppen. Ich ließ es dann aber doch bleiben.
Kurze Zeit später hielt auch schon der Wagen – wir waren in Cottbus. Der Boxer stieg aus und ging zur Wache. Dann öffnete sich ein Stahltor, das sich sofort wieder hinter uns schloss. Im Hof sah ich vergitterte Fenster. Dies musste wohl die Untersuchungshaftanstalt und Hauptzentrale der Stasi in Cottbus sein. Sitzt Vati etwa gerade in diesem Moment hinter einem dieser vergitterten Fenster?
»Bleiben Se hier nich´ stehen! Komm´ Se mit! Da lang!« Wir gingen mehrere Stockwerke hinauf, vorbei an Karl-Marx-Wandzeitungen und Spruchbändern. An einer Tür angelangt, flüsterte Keusch unverständliche Codeworte in die Türsprechanlage. Dann übergab er mich der Cottbuser Stasi und verschwand.
Zur Begrüßung wurde ich von einer blonden Frau empfangen, die mich aufforderte, den Inhalt meiner Taschen auf dem Tisch auszubreiten und die Stiefel auszuziehen.
»Was soll denn das Theater? Ich bin doch keine Terroristin! « Wut stieg in mir hoch.
»Wir müssen Sie trotzdem auf Hieb- und Stichwaffen überprüfen. Das ist eine Vorschrift.« Anschließend wurde ich auch noch in Fliegerstellung abgetastet! Als sie fertig war, fragte ich, wo ich hier eine Toilette finden könnte.
»Draußen, auf dem Gang. Erste Tür rechts.« Sie folgte mir augenblicklich.
»Was soll das denn jetzt? Wollen Sie mir jetzt zuschauen, oder was?« Sie wich keinen Zentimeter von meiner Seite. Langsam wurde es mir zu blöd. »Ich habe meine Tage… Also bitte gehen Sie jetzt und machen Sie die Tür von außen zu.«
»Damit Sie in der Zwischenzeit Beweismaterial vernichten können? Kommt nicht in Frage!«
Ist denn so ´was zu fassen?? Alle Proteste nützten jedoch nichts. Sie ließ sich nicht abwimmeln.
Bei meiner Rückkehr erwartete mich im Büro ein junger Mann. Er war groß, schlank, etwa 33 bis 35 Jahre alt, hatte dunkelblondes, leicht gewelltes Haar und trug einen grauen Anzug. Direkt auf dem Tisch vor mir baute er ein Tonband samt Mikrofon auf. Dann setzte er sich an einen Schreibtisch, mir gegenüber.
»Se wissen ja weshalb Se hier sind, oder?«
»Nein, weiß ich nicht. Ich wurde von Weißwasser hierher verschleppt. Man sagte mir nur, dass ich zu einer Befragung mitkommen solle. Aber vielleicht klären Sie mich mal auf, was das Ganze soll…?!«
»Stelln Se sich nich´ dümmer als Se sind. Es geht um die staatsfeindlichen Briefe, die Ihr Vater und Sie verschickt ham. Hier auf diesem Blatt stehn über hundert Fragen. Wenn Se die alle beantwortet ham, könn´ Se wieder gehn. Vorher nich´.«
»Was ist mit meinem Vater? Ist er hier im Haus? Kann ich ihn sehen?« Keine Antwort.
»So, dann wolln wir ma´ loslegen… Ach, und denken Se immer dran, dass alles was Se sagn auf Tonband aufgenommn wird. Wir werden´s auch der Staatsanwältin vorspieln. Se ham sich ja schon bei der Hausdurchsuchung ganz schön daneben benommen…« Er musterte mich.
»Ach, wissen Sie, wenn Sie glauben Sie könnten mit Ihrem Tonband Eindruck auf mich machen, muss ich Sie leider enttäuschen. Das können Sie sich wirklich sparen. Vor Gericht wird es sowieso nicht als Beweismittel anerkannt.«
»Pah! Wer hat Ihnen denn so ´was erzählt? Aber jetz´ zur Sache. Se sind ja keen unbeschriebnes Blatt. Ich hab´ hier das Protokoll von der Befragung wegen diesem nichtgenehmigten Verein… ‘Stadtwanderer’… Se wolln also unbedingt in die BRD übersiedeln. Und dazu is´ Ihnen offensichtlich jedes Mittel recht. Ihnen wird vorgeworfn, die Tätigkeit staatlicher Organe durch Drohungen beeinträchtigt und die staatliche Ordnung verächtlich gemacht zu ham. Was ham Se zu diesen Anschuldigungen zu sagen?« »Diese Anschuldigungen sind lächerlich. Ich habe niemandem gedroht und auch nicht die staatliche Ordnung verächtlich gemacht. Wir haben uns nur gegen die Willkürakte der Staatsorgane beschwert. Das ist unser gutes Recht.«
»Mit welchen ausländischen Stellen stehn Se in Verbindung?«
»Mit gar keinen.«
»Dem Untersuchungsorgan is´ aber bekannt, dass eine Verbindung zu ausländischen Stellen besteht. Äußern Se sich dazu!« forderte mich der Unbekannte auf.
»Ich weiß von nichts. Und überhaupt: wer sind Sie eigentlich? Wie ist Ihr Name?«
»Mein Name is´ völlig unintressant. Hier geht´s nur um Sie. Und Ihrn Vater. Also, weshalb wollte Ihr Vater die staatliche Ordnung herabwürdigen? Was versprach er sich davon?«
»Geben Sie sich keine Mühe – Sie erfahren von mir nichts über meinen Vater.«
»Und wer hat dann die Verbindung zur Feindorganisation hergestellt? Wer hat die Briefe geschriebn und wie sind se in die BRD gelangt?«
»Was denn für Briefe? Welche ‘Feindorganisation’? Wovon reden Sie überhaupt die ganze Zeit?«
Plötzlich ging die Tür auf. Ein älterer Mann kam herein. Er stellte sich als Major und »Leiter der Untersuchungsabteilung « vor, war etwa 55 Jahre alt, hatte seine dunkle Schmalztolle glatt nach hinten gekämmt und hinkte ein wenig. Lässig schlenderte er an mir vorbei. Dann setzte er sich direkt vor mir auf die Tischkante und grinste.
»Na na na. Was solln denn diese Lügen? Se wissen doch ganz genau, worum´s geht! Jetz´ sein Se mal ´n bisschen netter zu Ihrm Untersuchungsführer. Der mag das nich´, wenn man ihn ständig anlügt.«
»Ich lüge nicht,« entgegnete ich.
»Wenn man ´was verschweigt, dann is´ das genauso schlimm wie Lügen.«
»Ich verschweige auch nichts. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann ist das Ihr Problem.«
Der Jüngere hakte ein: »Se sind aber ganz schön nervös für jemand, der nichts zu verbergen hat. Was schlenkern Se denn dauernd mitm Bein hin und her, hä? Und Gesichtszuckungen ham Se auch… «
»Was?? Gesichtszuckungen? Das ist ja das Allerneuste!« Ich lachte. Unverschämter Kerl! Was bildet der sich ein? »Ich hol´ Ihnen gleich mal ´nen Spiegel,« entgegnete der Offizier. »Oder besser noch, wir stelln Se ´nem Psychiater vor!«
»Wollen Sie mir jetzt Angst machen, oder was? Das klappt aber nicht!«
»Dann sagn Se doch endlich ´was Se über die Briefe wissen, « fing der Alte plötzlich an zu schreien.
Tief durchatmen… Ganz ruhig! »Das Herumschreien nützt erst recht nichts. Wenn Sie Ihre Lautstärke nicht zurückfahren, sage ich nämlich überhaupt nichts mehr. Und ohne Anwalt sage ich auch nichts.«
»Ham Se denn überhaupt ´nen Anwalt?« wollte der widerliche Alte wissen.
»Nein, noch nicht. Aber wenn ich mal kurz Ihr Telefon benutzen darf, dann könnte ich Wolfgang Vogel6 in Ostberlin anrufen.«
»Das heißt nich Ostberlin!« schrie der alte Major ganz außer sich. »Se ham sich gefälligst an unsre Formulierungn zu haltn. Das heißt ‘Hauptstadt der DDR’.«
»Also gut: wenn es genehm ist, würde ich jetzt gern den verehrten Rechtsanwalt Vogel in Berlin, der Hauptstadt der DDR, anrufen.« Ich kann dir genauso blöd kommen, Vollidiot!
»Wartn Se mal ab – Ihr Grinsen wird Ihnen schon noch vergehn. Dann sind Se nur noch soooo kleen, mit Hut! Wir sind hier schon mit ganz andern Leuten fertig gewordn. ’Nen Anwalt gibt´s nich´. Basta. Gegen Sie is´ noch keen Ermittlungsverfahrn eingeleitet wordn.«
»So? Na wunderbar! Dann liegt gegen mich auch nichts vor und ich kann jetzt gehen!« Ich erhob mich vom Stuhl. »Hinsetzn!«, brüllte er. »Wir sind noch lange nich´ fertig. Se gehn erst, wenn Se alle Fragen beantwortet ham.«
»Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ohne Anwalt keine Aussagen mache. Mein Gott, ist das so schwer zu verstehen?«
»Der liebe Gott wird Ihnen jetz´ och nich´ helfen. Den gibt´s nämlich gar nich´, hehehehe.«
»Sie müssen´s ja wissen… Sie haben ja sowieso die Wahrheit gepachtet, oder? Aber ich hab´ jetzt keine Lust, mit Ihnen über Glaubensfragen zu streiten.«
Der junge Vernehmer machte sich eine Zigarette nach der anderen an. Der Major bestellte Kaffee. »Wolln Se och ´was trinken?«
»Ja, danke der Nachfrage. Sehr aufmerksam. Ich möchte ein Glas Selters.« Telefonisch erkundigte man sich nach dem Mineralwasser. Angeblich gab es aber nur Limonade. Also gut, meinetwegen. Ein ‘Oberkellner’ in olivgrüner Stasi-Uniform servierte die Limonade.
Dann ging das Spiel von vorn los: »Weshalb entschlossn Se sich, die staatliche Ordnung der DDR herabzuwürdigen?« Ich wusste nicht mehr weiter, und berief mich erneut auf Rechtsbeistand: »Ohne Anwalt bekommen Sie ab jetzt von mir keine Antworten mehr.«
»Se ham wohl vorhin nich´ richtig zugehört, was? Ham Se ´was im Gehörgang? Es gibt erst ´nen Anwalt, wenn een Ermittlungsverfahrn eingeleitet wurde. Das is´ bei Ihnen nich´ der Fall. Noch nich´.«
»Trotzdem: ohne Anwalt, keine Aussage.«
»Der Satz is´ unvollständig! Wissen Se das nich´? Der heißt korrekt: ‘Ohne Anwalt keene Aussage, Euer Ehren’… Also, was is´ jetz´? Wer hat die herabwürdigenden Briefe an staatliche Organe verfasst?«
»Ich sagte doch schon: ohne Anwalt keine Aussage !«
»Se ham ‘Euer Ehren’ vergessen.«
»Hab´ ich nicht! Oder sind Sie etwa Richter?,« entgegnete ich.
»Nächste Frage: Weshalb informiertn Se ausländische Stelln über angebliche Diskriminierungen Ihrer Familie?« Ich schwieg. »Na, wie lautet der Satz des Papageien?« höhnte der Fiesling. »Hmm? Ohne Anwalt…«
»Keine Aussage! Und jetzt sag´ ich gar nichts mehr. Feierabend! « Ab jetzt starre ich Löcher in die Luft…
Nach zwei äußerst schweigsamen Stunden sagte der Major plötzlich: »Wir machen jetz´ Mittagspause. Wolln Se ´was essen?«
»Kommt drauf an, was es gibt.«
»Ach, och noch verwöhnt die Dame? Es gibt Maccaroni. Is´ das recht?«
»Ja, ist okay.«
»Ham Se och Geld dabei?« fragte der Jüngere.
»Ja, aber ich bezahle nichts. Schließlich war es nicht meine Idee, hierher zu kommen. Wenn Sie sich Gäste einladen, sollten Sie sie auch bewirten. Das ist so üblich.«
Der alte Vernehmer lachte. »Kann es sein, dass Se sich von Ihrm Vater ´was abgelauscht ham? Meinetwegen, wir laden Se zum Essen ein. Und bis wir zurück sind überlegn Se sich mal, ob Se uns nich´ doch ´was Wichtiges zu sagen ham,« sprach er und verschwand mit dem Jungspund aus dem Zimmer.
Ein anderer Mann kam ins Büro. Ich taufte ihn heimlich den ‘Bulgaren.’ Südländischer Typ, pechschwarzes Haar, braungebrannt, ein Hüne von einem Mann. Er stellte einen Teller mit Maccaroni vor mich auf den Tisch, nahm am gegenüberliegenden Schreibtisch Platz und ließ mich nicht mehr aus den Augen. Ich hasse es, beim Essen beobachtet zu werden! Ich starrte zurück.
»Was soll denn der Quatsch?! Warum sind Se denn so stur?« fragte er recht unwirsch nach einigen Minuten Funkstille.
Ich schaute ihn fragend an. »Was geht Sie denn das an? Ohne Anwalt sage ich eben nichts. Basta!«
Nach dem Essen wurde ich erneut ins Kreuzverhör genommen, beleidigt und angeschrien. »So, das reicht. Wenn Sie hier nur rumschrein, sage ich wirklich nichts mehr. Und in 24 Stunden werden Sie mich dahin zurückbringen, wo sie mich abgeholt haben. Länger können Sie mich hier nämlich nicht festhalten,« verkündete ich forsch.
»Kenn´ Se sich überhaupt mit den Gesetzen aus? Hier, ich zeig´ Ihnen mal, was Se erwartet, wenn Se nich´ aussagen. Schon mal ´was vom Paragraphen 99 gehört?« Ich blätterte in den Gesetzestexten, die mir der jüngere Mann gab. Paragraph 99:
Landesverräterische Nachrichtenübermittlung von nicht geheim zu haltenden Nachrichten: Wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik außerhalb ihrer Grenzen mit imperialistischen Geheimdiensten oder anderen Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, deren Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik oder andere friedliebende Völker gerichtet ist, in Verbindung tritt und diese in ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren bestraft… Vorbereitung und Versuch sind strafbar.
»Trifft auf mich nicht zu. Ich habe niemanden bei irgendwelchen ‘staatsfeindlichen Tätigkeiten’ unterstützt.«
»Aber Ihr Vater!« rief der Major.
»Das weiß ich nicht. Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.«
Immer wieder wechselten sich der Junge und der Alte ab. Jedes Mal, wenn der Jüngere nicht mehr weiter wusste, kam sein zynischer Vorgesetzter herein und versuchte zum wiederholten Mal, mich unter Druck zu setzen. Reiner Psychoterror! Mal schrie er mich an, ich solle hier nicht die ‘feine Lady’ mimen und gefälligst alles sagen, sonst würde es mir schlecht ergehen. Dann versuchte er es auf die sanfte Tour: »Se sind doch ´ne intelligente, junge Frau… Mit Ihrn Aussagen könntn Se Ihrm Vater helfen. Dann wird vielleicht doch noch alles gut…« Schweigen meinerseits. Verärgert hinkte der Alte nach draußen. Wenn die Situation gar zu schweigsam und ausweglos wurde, kam er wieder und tuschelte hinter meinem Rücken zwischen den Flügeln der schalldichten Doppeltür mit dem Jüngeren. Braucht wohl Nachhilfe, der Lehrling…? Seltsam, dass der Alte immer ausgerechnet in diesen Momenten hereinplatzt oder das Telefon klingelt. Wahrscheinlich sitzt er im Nachbarbüro und hört unsere Gespräche mit an?? Klar, so muss es wohl sein…
Gegen 17 Uhr platzte der Major erneut zur Tür herein. Steinerner Gesichtsausdruck, dann hämisches Grinsen: »So, jetz ham Se sich aber een Eigentor geschossen! Gegen Sie wurde ´n Ermittlungsverfahrn eingeleitet. Jetz´ bleiben Se hier bei uns!« Wie?! Ich verstehe nicht ganz… Festgenommen?? Was soll das??? Redet der mit mir?
Er hob den Telefonhörer ab, wählte ein paar Nummern und sagte dann: »Een Neuzugang. 74, bitte abholn.« Kurz darauf erschien ein uniformierter Mann in der Tür, der mich aufforderte ihm zu folgen. Ganz benommen lief ich hinter ihm her. Treppauf, treppab. An einem Gitter hielt er an. »Hände auf´n Rücken und Gesicht zur Wand!« Mechanisch folgte ich seinen Befehlen. Moment: was mache ich denn?? Bin ich schon eine Marionette? Warum laufe ich diesem Mann hinterher, reagiere wunschgemäß auf seine Befehle? Verwirrung. Angst…
Auf dem Gang, den wir entlanggingen, brannte eine rote Signallampe. Am Treppengeländer waren überall Reißleinen angebracht und aus den Ecken der Gänge wurde ich durch Videokameras beobachtet. An der nächsten Tür wieder das gleiche Kommando: »Gesicht zur Wand!« und dann »Weiter! Kommse mit! Nach unten.« Kommse. Gehnse. Gesicht zur Wand… Kann der auch noch normal reden? In einer Zelle angekommen, die mit einem Holzzaun in der Mitte geteilt war, sollte ich im hinteren Teil auf einem Hocker Platz nehmen. Vor dem Holzzaun stand ein junger Mann mit Brille. Er war höchstens 28, trug eine olivgrüne Uniform und lächelte. Dann überreichte er mir die Hausordnung. Ich brach in Tränen aus, begann zu zittern und ließ den Ordner samt Hausordnung krachend auf den Boden fallen.
»Na, bleibn Se mal ganz ruhig! Ihnen passiert doch hier nischt. Die Hausordnung könn´ Se och später noch lesen, wenn Se sich beruhigt ham.« Er ging nach draußen und eine Frau, mit einem Stapel Kleidung im Arm, betrat die Zelle.
»Ziehn Se sich aus und reichen Se alles hier zu mir rüber.« Sie beobachtete mich genau. »Auch die Uhr und die Kette… Soooo. Ach, die Ohrringe noch! Und nu machen Se die Beene breit. Machen Se mal fünf Kniebeugen!«
»Was soll ich??«
»Kniebeuge machen! Se ham schon richtig verstanden.«
»Aber ich habe meine Tage… «
»Interessiert mich nich!«
Widerwillig machte ich, was sie verlangte. Erniedrigung! Jetzt wollen sie mich auf diese Weise fertigmachen. Wollen mir sagen: du bist ganz klein, ein Nichts. Und: wir befehlen, du hast nur noch zu gehorchen…
Peinlich genau inspizierte sie alle Körperöffnungen und wies mich zum Schluss an, den Kopf nach unten zu beugen und mir mit den Händen wie mit einem Kamm durch die Haare zu fahren. Dann gab sie mir Knastunterwäsche, zwei Paar Socken, einen weinroten Trainingsanzug, zwei Decken, einen blauen Pulli und ein Taschentuch. Dazu noch eine Plastikdose, eine Tasse, einen Teebehälter, einen Kamm, ein Stück Seife, eine Packung Monatsbinden und ein Paar braungelb karierte Filzlatschen.
Anschließend ging es zum Duschen. Auf dem Weg dahin musste ich wieder mit dem Gesicht zur Wand warten und erneut wurden rote Lampen auf dem Gang eingeschaltet. In der Duschzelle drückte mir die Frau eine Flasche mit Haarshampoo in die Hand. Dann stellte sie sich unmittelbar neben die Dusche und sah mir beim Duschen zu. Inzwischen protestierte nicht mal mehr meine innere Stimme. Ich war wie gelähmt… Völlig sprachlos. Schock.
Wieder zurück in der Effektenzelle7, unterschrieb ich eine Liste auf der meine Habseligkeiten aufgeführt waren. Ein Schließer schleuste mich anschließend durch das UHA8 -Labyrinth in den Zellentrakt. Vor der Zelle mit der Nummer 36 blieb er stehen und schloss die Tür auf. Verwundert sah ich, dass in dem etwa acht Quadratmeter ‘großen’ Raum bereits zwei Frauen saßen. Sie stellten sich mir als Inge T. (48) und Christel B. (46) vor. Gerade hatte ich mein Bündel auf der Holzpritsche abgelegt, da öffnete sich eine kleine Klappe in der Zellentür.
»Se sind ab jetzt die Nummer drei. Hier is´ das Abendessen, « sagte der Schließer hinter der Tür zu mir, bevor er die Klappe wieder schloss.
Mit fragendem Blick schaute ich auf das gelbe Plastikmesser, das auf dem Teller lag. »Ja, ja… Das haben die uns am ersten Abend hier auch gegeben. Haben wohl Angst, dass man sich was antut.« Inge verdrehte die Augen, so nach dem Motto: ‘Was für Idioten!’
»Ich kann jetzt sowieso nichts essen… Wie lange sind Sie denn schon hier?« fragte ich die beiden Frauen.
»Du kannst uns ruhig duzen; wir sitzen hier alle im selben Bunker. Ich bin jetzt schon acht Wochen hier. Christel seit fast sechs Wochen.« Meine Augen wurden immer größer. Was??? So lange ziehen sich hier die Ermittlungen hin? Na, das kann ja heiter werden!
Zehn Minuten später klapperte es wieder an der Tür. Der Schließer verlangte den Teller zurück und wunderte sich, dass ich nichts angerührt hatte. »Drei, machen Se sich fertig. Se werdn gleich abgeholt.« Klappe zu.
Meine Haare waren noch nass, standen in alle Richtungen und der viel zu große Trainingsanzug schlackerte an meinem Körper, als ich das Vernehmerzimmer erneut betrat. Der alte, fiese Major saß in einem Sessel und griente mich an. »Na, nun trinkn wir mal in aller Ruhe ´nen schönen, starken Kaffee und Se erzähln uns alles. Hmmh?«
Nach einem Verhör war mir nun erst recht nicht mehr zumute! Ich trank zögernd den Kaffee. Ob die mir da etwas reingemixt haben?? Mir war übel, ich hatte Kopfweh und war durch die ganze Situation total verstört. Immer wieder brach ich in Tränen aus, weil ich zunehmend mit den Nerven am Ende war. »Was wollen Sie denn von mir?? Sehen Sie denn nicht, dass ich völlig fertig bin? Ich kann hier nichts erzählen… Das könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.«
»Wieso? Ham Se etwa Angst Ihrn Vater zu belasten?« Ich nickte unter Tränen. Ein bisschen auf die Tränendrüse drücken und erst einmal Zeit gewinnen! Ich brauche Zeit zum Nachdenken!
Der junge Vernehmer kam ins Zimmer und tauschte vielsagende Blicke mit dem Major aus. »Wir ham ja Verständnis dafür, dass das keene angenehme Situation für Sie is´,« heuchelte der Major. »Aber da sind Se och selber schuld. Wenn Se uns heute Mittag schon alles erzählt hätten, säßen Se jetzt gar nich´ mehr hier. Na, nu trocknen Se mal die Tränen! Für heute machn wir Schluss. Schlafen Se mal ´ne Nacht über alles. Denken Se mal gut nach. Und morgen früh sehn wir uns dann wieder.«