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Aufbruch ins Ungewisse Für die 12jährige Liv beginnt ein neues Leben, als ihre Familie auf die kleine ostfriesische Insel Juist zieht. Nur widerwillig verlässt Liv ihre Freundinnen und ihr altes Zuhause in der Großstadt. Was soll sie auf einer winzigen Insel, die fast nur aus Sand besteht? Ein Traum für ihren kleinen Bruder Leo, aber nicht für Liv. Ein Leben als Stadtkind unter Insulanern - das kann ihrer Meinung nach nicht gut gehen. Doch dann entwickelt sich alles anders: Ein junger Hund wird zum neuen Familienmitglied, ein Dieb macht die Insel unsicher, ein Brand an der Schule sorgt für Aufregung, eine neue Freundschaft droht zu zerbrechen. Livs Alltag wird auf den Kopf gestellt. Auch das Thema Natur- und Umweltschutz bekommt eine neue Rolle in Livs Inselleben. Jugendroman für Leser ab 10 Jahren Ein fesselndes Buch über die Herausforderungen und Chancen eines unfreiwilligen Neuanfangs - einfühlsam und mitreißend geschrieben.
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Seitenzahl: 322
Anne Viel studierte Germanistik, arbeitete als Lektorin und Journalistin in Frankfurt, bis sie vor vielen Jahren nach Köln zog, um dort als Kulturreferentin Kinder- und Familienveranstaltungen zu organisieren. Die Idee für ihr Buch "Gegen den Wind" entwickelte sie gemeinsam mit ihrer Tochter.
Kapitel 1: Abschied
Kapitel 2: Ankunft
Kapitel 3: Unheimliche Begegnung
Kapitel 4: Graue Tage
Kapitel 5: In Not
Kapitel 6: Bella
Kapitel 7: Erster Schultag
Kapitel 8: Pünktchen
Kapitel 9: Handy vermisst
Kapitel 10: SOS
Kapitel 11: Augen auf!
Kapitel 12: Die Challenge
Kapitel 13: Angst
Kapitel 14: Feuer
Kapitel 15: Besuch
Kapitel 16: Der Plan
Kapitel 17: In die Freiheit
Kapitel 18: Das Inselgeheimnis
Kapitel 19: Die Überraschung
Ratlos stand ich vor meinem Bücherregal. Mein Blick fiel auf die ganzen „Harry Potter“ Bände. Niemals könnte ich mich von ihnen trennen. Und daneben stand der Sammelband von Astrid Lindgren, aus dem mir meine Mutter fast jeden Abend vorgelesen hatte, als ich noch in der Grundschule war. Rechts oben sah ich den ersten Band von „Lotta-Leben“, den mir meine Freundin Sarah zum neunten Geburtstag geschenkt hatte. Wie sollte ich mich bloß entscheiden, welche Bücher ich mitnehmen würde? Und was war mit meinen Kuscheltieren, die zwei große Kisten füllten? Für sie war ich mit zwölf Jahren eigentlich schon zu alt, aber an jedem Tier hingen Erinnerungen. Die kleine Katze hatte mich immer in den Kindergarten begleitet, das Äffchen hing seit Jahren an meinem Bett und war dafür zuständig, böse Träume fernzuhalten. Das Känguru war seit der Grundschulzeit jede Nacht bei mir. Nur einmal war es bei einer Reise in meinem Rucksack in einem Bus liegen geblieben und erst nach drei Tagen wieder zu mir zurückgekehrt. Da war ich ganz schön verzweifelt und dann unendlich erleichtert gewesen, als Rucksack samt Känguru wieder bei mir waren. In meinen Kuscheltierkisten gab es mehrere Dutzend Tiere mit unterschiedlichen Geschichten. Zu jedem Tier konnte ich sagen, woher ich es hatte und warum es mir unmöglich war, es abzugeben. Bei den Spielsachen war es einfacher gewesen. Den Reiterhof von Schleich, den Stall und die Schule von Playmobil hatten wir übers Internet verkauft. Ein wenig wehmütig war mir schon zumute gewesen, als ich die Sachen noch einmal schön aufgebaut hatte für die Fotos in unseren Anzeigen, aber ich stellte mir dann vor, dass andere Kinder in Zukunft damit spielen würden und Spaß damit hätten. Doch mit den Kuscheltieren war es anders. Sie waren irgendwie ein Teil von mir und sie würden mitkommen, egal, was meine Eltern sagen würden! Das stand fest!
Für mein Hängemattengestell war angeblich auch kein Platz mehr im Container. Ich war am Verzweifeln. Nicht genug, dass wir auf eine kleine blöde Insel ziehen würden. Nun sollte ich mich auch noch von der Hälfte meiner Sachen trennen. Das neue Haus sei zwar groß genug, aber der Transport mit Schiff und Pferdewagen würde mit all unseren Sachen viel zu teuer werden, und deshalb sollten wir alle gründlich ausmisten.
„Liv, wie weit bist du? Du weißt doch, dass die Kartons morgen gepackt sein müssen“, riss meine Mutter mich aus den Gedanken. Schon übermorgen würde der Umzugswagen kommen, die Kartons und Möbel zum Hafen bringen und dann in Container umladen, die mit dem Schiff zur Insel gebracht und zu guter Letzt mit Pferdefuhrwerken zu unserem neuen Haus gekarrt würden. Wie umständlich! Ich wollte nicht auf diese Insel. Nur weil mein Vater unbedingt Inselarzt werden wollte. Hätte er nicht seine Praxis hier in Köln behalten können? Dann würden mir der Umzug und der Abschied erspart bleiben. Schon seit Wochen konnte ich nicht mehr schlafen, weil mein Kopf voller Fragen war: Wie wird die neue Schule sein? Werde ich neue Freundinnen finden? Und werde ich wieder reiten können? Immerhin, Pferde gab es auf der Insel, aber soweit ich wusste nur Kutschpferde. Kein einziger Reitstall! Und ein eigenes Pferd würden mir meine Eltern sowieso nie kaufen. Am schlimmsten aber war der Gedanke, mich von meinen beiden besten Freundinnen verabschieden zu müssen. Würde ich sie irgendwann wiedersehen? Würden sie mich auf der Insel besuchen? Die Reise dorthin war schließlich lang und umständlich. Ich hatte das Gefühl, in die Verbannung geschickt zu werden. Weit weg von allem, was mir wichtig war. Meine Eltern und mein kleiner Bruder Leo würden natürlich bei mir sein, aber die konnten manchmal ziemlich anstrengend sein.
Mein Leben in Köln gefiel mir doch so gut. Ich hatte zwei richtig gute Freundinnen und eine Reitbeteiligung an einem tollen Islandpferd. Ich würde vielleicht im kommenden Schuljahr die Hauptrolle in dem neuen Stück der Theater-AG spielen. Und ich hatte eine nette Klasse. Hier im Viertel gab es ein einfach alles, was das Herz begehrt: Buchhandlungen, schöne Cafés, Eisdielen, Bastelgeschäfte, ein Kino, ein Theater und vieles mehr. Auf der Inselschule gab es noch nicht mal eine Oberstufe. Wer Abitur machen wollte, musste nach der zehnten Klasse aufs Festland in ein Internat gehen.
„Liv!“, rief Mama erneut. Ich war so in meinen Gedanken vertieft, dass ich vergessen hatte, meiner Mutter zu antworten.
„Ich kann mich nicht entscheiden, was ich mitnehmen soll“, klagte ich. „Am liebsten würde ich einfach alles einpacken.“
„Aber du weißt doch“, sagte meine Mutter, „dass wir uns einschränken müssen. Der Umzug wird sonst viel zu aufwändig. Und Leo ist auch schon so gut wie fertig.“
Mein Bruder Leo hatte einfach planlos Sachen in die Kartons gestopft. Ihm schien es nicht viel auszumachen, dass ein Teil seiner Spielsachen verschenkt worden war. Er war so begeistert von der Idee, auf eine Insel zu ziehen, dass er gar nicht groß darüber nachdachte, was er vermissen würde. Wahrscheinlich stellte er sich das Leben auf einer Insel als ein einziges großes Abenteuer vor: Piraten, Schatzkarten und Schatzkisten, Seehunde und Wale, Sandburgen bauen und im Meer planschen. Tja, mit fünf Jahren schien so ein Umzug viel leichter zu sein. Leo freute sich auf die Einschulung und die neuen Kinder und machte sich keine Sorgen darüber, ob er schnell neue Freunde finden würde.
„Mama“ sagte ich, „ich möchte nicht aus Köln weg. Es ist total unfair, dass ihr mich überhaupt nicht gefragt habt, ob ich umziehen will.“
„Ach Schatz, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Die Kosten für Papas Praxis sind einfach viel zu hoch hier in der Großstadt. Und auf Juist hat er die einmalige Chance, eine Arztpraxis günstig zu übernehmen. Und du weißt doch auch, dass Leo mit seinem Asthma nicht mehr in der Stadt leben darf. In den letzten zwei Jahren hatte er immer häufiger Anfälle, und er braucht dringend bessere Luft zum Atmen. Dir wird die Meeresluft auch guttun. Da bin ich mir ganz sicher. Ich weiß, dass es für dich nicht so einfach ist wie für Leo, aber du wirst das bestimmt schaffen. Erinnerst du dich daran, wie schnell du auf dem Gymnasium Freundinnen gefunden hast? Das klappt ganz sicher auch auf der Inselschule.“
Dass mein kleiner Bruder die gleiche Schule besuchen würde, fand ich ziemlich komisch. Auf der Inselschule gab es die Klassen 1 bis 10. Alle Kinder und Jugendlichen gingen auf die gleiche Schule. Hoffentlich hatten die Kleinen wenigstens einen eigenen Schulhof. Ich wollte meine Pausen nicht unbedingt mit meinem Bruder verbringen und Babysitter spielen.
„Hallo ihr Lieben“, hörte ich es aus dem Flur. Gerade war Papa heimgekommen, und wie immer schallte seine Stimme durch die ganze Wohnung. „Wie ist die Lage hier?“
„Es geht so“, grummelte ich. „Ich habe keine Lust mehr zu packen.“
„Ach komm, meine Süße“, sagte Papa. „Das schaffst du. Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.“ Begeistert drückte er mir ein Buch in die Hand: „Kitesurfen für Anfänger“. War das sein Ernst? Freiwillig ins kalte Meer gehen und mich von den Wellen von einem Surfbrett schubsen lassen? Ich wollte reiten und nicht surfen. War das so schwer zu begreifen? „Meinen“ Isländer vermisste ich jetzt schon.
„Ihr könnt einfach nicht verstehen, dass ich hier nicht weg will – frische Luft und Surfen interessieren mich nicht.“ Jetzt war ich kurz davor, meine Nerven zu verlieren. Weil ich nicht vor meinen Eltern losheulen wollte, knallte ich meine Zimmertür zu und warf mich auf mein Bett. Ich drückte mein Känguru an mich und fühlte mich total elend. Meinen beiden besten Freundinnen Sarah und Vicky schickte ich eine verzweifelte Nachricht: „Könnt ihr nicht etwas tun, damit ich nicht auf diese schreckliche Insel muss?“ Keine Minute später kam eine Antwort von Sarah: „Hab eine Idee. Wir entführen dich. Meinst du, du bist deinen Eltern 50.000 Euro wert? Wenn nicht, kannst du für immer hierbleiben.“ Typisch Sarah – sie hatte immer einen lockeren Spruch drauf, um einen aufzuheitern. Vicky dagegen schrieb: „Ich werde dich so vermissen. Ich könnte heulen.“ Ihr ging es genauso wie mir. An diesem Abend verließ ich mein Zimmer nicht mehr.
Irgendwie schaffte ich es am nächsten Tag dann doch, meine Kartons zu packen. Alles, was von unseren Sachen noch nicht verkauft oder verschenkt war, wollten meine Eltern dem Sozialkaufhaus spenden, und da war dann doch einiges zusammengekommen. Auch meine Eltern hatten gründlich ausgemistet und sogar Möbelstücke aussortiert. Mein Vater hatte einen kleinen Transporter gemietet, mit dem er die Sachen wegbrachte. Zwei Freunde von ihm halfen beim Ein- und Ausladen.
Als einen Tag später der große Umzugswagen im Nieselregen vorfuhr, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass unsere Möbel und Kartons hineinpassen sollten, obwohl wir doch so viel abgegeben hatten. Sechs Möbelpacker waren fünf Stunden lang damit beschäftigt, Schränke zu zerlegen und die Kartons im LKW zu stapeln. Da unsere Wohnung im vierten Stock war, mussten fast alle Sachen mit einer Hebebühne nach unten transportiert werden. Das war dann doch ganz spannend anzusehen. Leo war völlig aus dem Häuschen vor Begeisterung. Immer wieder fragte er die Möbelpacker, ob er mal mit der Hebebühne fahren durfte, aber das ging natürlich nicht. Immerhin konnte er sich auf den Fahrersitz setzen und so tun, als würde er den großen Umzugswagen steuern.
Als alles verstaut war, ging ich noch einmal durch unsere leere Wohnung. Das war ein sehr merkwürdiges Gefühl. Außer der Einbauküche, die wir nicht mitnehmen konnten, war nichts mehr in den Räumen. Mit meinem Handy machte ich noch ein paar Aufnahmen, die ich mit dem Kommentar „Jetzt ist es soweit. Gleich müssen wir los an Sarah und Vicky schickte. Doch komischerweise bekam ich keine Antwort von den beiden. Ich war total enttäuscht. Heute würde ich Köln verlassen und meine besten Freundinnen rührten sich nicht. Wie konnte das sein? Drei Tage zuvor hatten wir eine kleine Abschiedsparty gefeiert. Die beiden hatten bei mir übernachtet. Wir hatten noch einmal unseren Lieblingsfilm angeschaut und jede Menge Chips und Schokolade verdrückt. Vicky und Sarah hatten sich ausgemalt, wie sie mich auf der Insel besuchen und wir im nächsten Jahr in ein Mädchencamp fahren würden. Der Abend war schön gewesen, aber auch sehr traurig. Geschlafen hatten wir kaum, weil wir ganz lange über unsere schönsten gemeinsamen Erlebnisse geredet hatten.
Der Möbelwagen war schon losgefahren, als Mama rief: „Kommt! Wir müssen losfahren, sonst verpassen wir noch das Schiff. Ihr wisst doch, dass die Fähre nur einmal am Tag abfährt.“ Ich drehte mich ein letztes Mal zu dem Haus um, in dem unsere Wohnung lag, in der wir, seit ich auf der Welt war, gewohnt hatten. Leo und ich stiegen in unser Auto, das mit auf die Insel kommen würde. Eigentlich war Juist ja eine autofreie Insel, nur der Arzt, der Rettungsdienst und die Feuerwehr durften dort mit einem Auto fahren.
Kaum saßen wir im Wagen und waren losgefahren, war mein Bruder schon in sein Bilderbuch vertieft. Ich hingegen starrte traurig aus dem Fenster. „Was ist das denn!?“, rief mein Vater. „Schaut doch mal!“ Ich sah durch das Fenster auf der anderen Seite und konnte es kaum glauben. Dort stand trotz des Regenwetters eine Gruppe von winkenden Mädchen am Straßenrand mit ganz vielen Luftballons. Und auf einem riesigen Transparent stand: „Auf Wiedersehen Liv! Alles Gute!“ Alle meine Freundinnen hatten sich versammelt. Papa hielt an, und ich sprang aus dem Wagen. Jetzt wusste ich, warum Sarah und Vicky nicht auf meine WhatsApp geantwortet hatten. Sie wollten mich noch einmal überraschen, und das war ihnen gelungen. Gerührt umarmte ich meine Freundinnen, die mir ganz viele Geschenke überreichten. „Aber erst auf Juist auspacken, wenn ihr im neuen Haus seid“, sagte Sarah, pfiff auf ihren Fingern, und eine Sekunde später stiegen die bunten Ballons in den grauen, wolkenverhangenen Himmel.
Noch ein letztes Mal verabschiedete ich mich von meinen Freundinnen und stieg dann erneut in den Wagen. Auch als ich sie nicht mehr sah, konnte ich nicht aufhören zu winken. „Das war aber wirklich lieb von deinen Freundinnen. Bestimmt kommen sie dich mal auf Juist besuchen“, meinte Mama. Leo war schon wieder in sein Bilderbuch vertieft. Nun musste ich doch anfangen zu weinen und schaute aus dem Seitenfenster. Ausgerechnet jetzt kamen wir an meiner alten Grundschule vorbei. Dorthin war ich sogar noch lieber gegangen als aufs Gymnasium. Ich war so furchtbar aufgeregt an meinem ersten Schultag. Damals kannte ich Sarah und Vicky nur vom Sehen aus dem Kinderturnen. Vicky und ich hatten uns hinter unseren Eltern versteckt, und Sarah war diejenige, die uns einfach angesprochen hatte. Zu unserem Glück stellte sich heraus, dass wir zusammen in eine Klasse kommen würden. Und als wir uns vier Jahre später auf dem Gymnasium anmeldeten, durften wir auch wieder in die gleiche Klasse gehen. Wir verstanden uns immer gut, und es kam nur ein einziges Mal vor, dass wir uns stritten. Dieser Streit war eigentlich ziemlich lächerlich, denn es ging um den Titel eines Filmes, den wir zusammen im Kino angeschaut hatten. Jede von uns behauptete etwas Unterschiedliches, und am Ende stellt sich heraus, dass der Film völlig anders hieß und keine von uns Recht hatte.
„Willst du mit mir ´Schiffe versenken‘ spielen?“, riss mich Leo aus meinen Erinnerungen. Ein bisschen Ablenkung wäre vielleicht ganz gut, dachte ich und willigte ein. Weil es immer putzig war, wie sehr Leo sich freute, wenn er beim Spielen gewann, stellte ich mich ein bisschen ungeschickt an und ließ ihn siegen. Inzwischen hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und waren auf der Autobahn. Ich wurde etwas müde, denn in der letzten Nacht hatte ich nicht viel geschlafen. Dann war ich wohl eingenickt, denn als ich das nächste Mal aus dem Fenster blickte, hatte es aufgehört zu regnen und ich sah ein Schild „Ausfahrt Emden 1000 m“. Leo ruckelte auf seinem Kindersitz hin und her. Offenbar musste er dringend aufs Klo. Also hielt Papa im Navi Ausschau nach der nächsten größeren Raststätte. „Das dauert noch etwa eine halbe Stunde“, meinte er.
„Solange kann ich nicht aushalten. Ich mach gleich in die Hose“, quengelte Leo.
„Na gut, dann fahre ich auf den nächsten Parkplatz und du gehst kurz ins Gebüsch, okay?“
Nach ein paar Minuten konnten wir an einem kleinen menschenleeren Rastplatz anhalten. Leo sprang aus dem Auto und war sofort im Gestrüpp verschwunden. Ich schaute aus dem Fenster. Überall lag Abfall herum. Die Mülleimer sahen aus, als seien sie seit Wochen nicht geleert worden. Wie widerlich und trostlos. Der Anblick des heruntergekommenen Parkplatzes schien mir in diesem Moment ein Sinnbild für mein Leben zu sein. Alles ruiniert und zerstört. Nichts würde mehr sein wie vorher. Papa fing an, mit den Fingern auf dem Lenkrad zu trommeln. Er war unruhig und wollte weiterfahren. „Warum braucht Leo denn so lange?“, brummelte er. „Liv, schau doch mal bitte nach, wo er bleibt.“ Oh Mann, warum musste immer ich nach Leo schauen? Na toll, jetzt sollte ich noch vom vermüllten Parkplatz ins Gebüsch gehen, um nach meinem kleinen Bruder zu suchen. Ich verkniff es mir, etwas zu sagen und stieg wortlos aus. Da war es bestimmt noch viel ekliger. „Leo, wo steckst du denn?“, rief ich laut. „Ich komm ja gleich“, kam Leos Stimme irgendwo von links. „Mein doofes Shirt hat sich im Reißverschluss verklemmt, und jetzt geht die Hose nicht mehr zu.“
Während Leo noch mit seinem Reißverschluss kämpfte, hörte ich ein Rascheln im Gestrüpp rechts neben mir. Hoffentlich niemand, der sich zum Pinkeln dorthin verzogen hatte. Nein, das konnte nicht sein. Auf dem Parkplatz war ja kein anderes Auto. Dann fiepste es. Das war ganz sicher kein Mensch. Kam das leise Jaulen von einem Tier? Das wimmernde Geräusch klang so kläglich, dass ich gar nicht anders konnte, als in seine Richtung zu gehen. Ich bog ein paar Zweige zur Seite und konnte kaum glauben, was ich sah. An einem kleinen abgestorbenen Baum zerrte ein Hund an seiner Leine. Offenbar war er an dem verkrüppelten Gewächs angebunden. Er sprang mir entgegen, wurde aber von der Leine zurückgerissen. Dabei gab er Geräusche von sich, als würde er gleich ersticken. Er wurde fast von seinem Halsband erwürgt.
„Liv, was machst du denn da?“ Ich hatte Leos Schritte gar nicht gehört. Nun stand er hinter mir und versuchte zu erkennen, was ich entdeckt hatte. Als er den Hund sah, ging er ohne zu zögern auf ihn zu. „Oh du Armer! Du bekommst ja gar keine Luft mehr“, sprach er auf ihn ein und löste die Leine vom Halsband. Außer sich sprang der kleine, hellbraune Hund abwechselnd an uns beiden hoch, drehte sich im Kreis und bellte. Hoffentlich rannte er jetzt nicht weg, nachdem Leo ihn so voreilig von der Leine genommen hatte. „Leo, lauf schnell zum Auto und hol Mama und Papa. Ich bleibe inzwischen bei dem Hund. Los, mach schon“, rief ich aufgeregt.
Kurze Zeit später waren die drei bei mir.
„Was ist das denn?“, fragte Papa und schaute irritiert auf den Hund.
„Na, ein Hund natürlich!“, entfuhr es mir.
„Das sehe ich auch. Aber wie kommt er denn hierher? Da muss doch irgendwo sein Besitzer sein. Fasst ihn nicht an. Womöglich ist er krank. Wer weiß, was mit ihm los ist.“
Aber Mama, die wie ich ganz vernarrt in Tiere war, streckte schon ihre Hand nach dem winselnden Hund aus, der sie sofort aufgeregt beschnupperte. „Hallo Kleiner, du hast bestimmt Durst und Hunger. Wer weiß, wie lange du hier schon angebunden bist. Liv, hol doch mal deine Trinkflasche aus dem Auto.“
Ich lief zum Wagen, nahm meine Flasche und schüttete etwas Wasser in den Deckel. Sofort begann der Hund, daraus zu trinken. „Wer macht denn sowas!“, rief Leo empört. „Das arme Hündchen hier anbinden und dann verschwinden!“ Hatte der Besitzer sein Tier absichtlich zurückgelassen, um es loszuwerden? Es war mir unbegreiflich, wie man so etwas machen konnte. Aber meine Eltern hatten mir einmal erzählt, dass es früher sogar recht häufig vorgekommen war, dass Leute ihre Hunde an Raststätten zurückgelassen hatten, weil sie keine Lust hatten, sie in den Urlaub mitzunehmen oder eine Betreuung für sie zu suchen und zu bezahlen. Deshalb waren die Tierheime in den Sommerferien oft völlig überfüllt gewesen. Inzwischen kam das zum Glück nicht mehr so oft vor, da die Strafen für das Aussetzen von Haustieren sehr hoch waren.
„Und jetzt?“, fragte ich. „Wir können ihn doch nicht hierlassen. Papa, Mama – ihr müsst etwas tun!“ Aber meine Eltern wirkten ratlos. „Wir rufen jetzt die Polizei“, meinte Papa, „die bringen den Hund dann in ein Tierheim“. „Nein!“, riefen Leo und ich gleichzeitig. Inzwischen hatte Mama die Leine losgebunden und sich zu dem Hund auf den Boden gesetzt. Aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz und ließ sich streicheln. Trotz der Einwände meines Vaters hatten Leo und ich damit angefangen, den Hund zu knuddeln. Ängstlich war er jedenfalls nicht, sondern offenbar sehr dankbar für Aufmerksamkeit. Ganz außer sich drehte er sich im Kreis, japste und bellte. Mama meinte, dass er noch jung sei. Kein kleiner Welpe mehr, aber noch nicht ausgewachsen. Das sah sie an den Pfoten, die im Vergleich zum Körper ziemlich groß wirkten. Vermutlich ein Mischling, meinte sie.
„Mama, er darf nicht in ein Tierheim!“, rief ich verzweifelt.
„Aber wie stellt ihr euch das vor?“, sagte Papa. „Wir können ihn ja nicht einfach mitnehmen. Wir wissen doch auch gar nicht, ob er gesund ist. Vielleicht hat er eine gefährliche Krankheit, und seine Besitzer wollten ihn deshalb nicht mehr. Nein, wir rufen jetzt die Polizei und die soll entscheiden, was mit ihm passiert.“
„Das kommt gar nicht in Frage“, widersprach Mama. „Wir nehmen ihn jetzt erst einmal mit, suchen in Emden einen Tierarzt und lassen ihn dort untersuchen. Vielleicht ist er ja gechipt und es lässt sich herausfinden, wem er gehört. Dann werden wir diese Leute anzeigen.“ „Isabel – das ist doch Unsinn. Wir können ihn nicht einfach ins Auto stecken und einen Tierarzt suchen. Wir müssen die Fähre erreichen. Wenn wir nicht rechtzeitig in Norddeich-Mole sind, kommen wir heute nicht mehr auf die Insel.“
Meine Eltern fingen an zu diskutieren, während mein Bruder und ich den Hund weiter streichelten.
„Papa, bitte! Schau doch, wie lieb er ist. Wir müssen ihn mitnehmen“, meinte ich.
„Du bist jetzt erst einmal ruhig, Liv“, meinte mein Vater etwas unwirsch.
Ich überließ das Argumentieren meiner Mutter, die nicht lockerließ. Und tatsächlich, nach einigem Hin- und Her einigten sich die beiden darauf, dass der Hund erst einmal mit auf die Fähre kommen sollte, damit wir sie nicht verpassen würden. Danach würde man direkt zum Inseltierarzt fahren und dann weitersehen. Manchmal bin ich wirklich stolz auf meine Mutter. Irgendwie schafft sie es ganz oft, meinen Vater so lange zu bearbeiten, bis er nachgibt. Wir würden unseren neuen Freund erst einmal mitnehmen. Hurra!
Bereitwillig sprang der kleine Kerl ins Auto und saß zwischen mir und Leo. Die Leine hielt ich fest in der Hand, damit er nicht auf die Idee kam, zwischen den Sitzen nach vorne zu springen. Wir beschlossen, bei der nächsten größeren Raststätte Halt zu machen und zu schauen, ob wir im Tankstellenshop Hundefutter bekommen könnten. Nach einer halben Stunde fuhren wir von der Autobahn ab und fanden in dem Shop sogar verschiedene Hundefuttersorten. Wir kauften sowohl Dosen- als auch Trockenfutter, da wir ja nicht wussten, was der Hund am liebsten fraß. Während Mama und ich im Laden waren, hatten Papa und Leo draußen mit dem Hund am Auto gewartet. Als wir zurückkamen, begrüßte er uns so begeistert, als würde er schon immer zu uns gehören. Mit großem Appetit fiel er über das Trockenfutter her, aber Mama ließ ihn nicht nach Herzenslust fressen. „Nicht dass er Bauchschmerzen bekommt, wenn er jetzt so viel auf einmal frisst“, meinte sie. Inzwischen drängelte Papa, da er Angst hatte, wir würden die Fähre verpassen. Also stiegen wir wieder ein.
„Wir brauchen einen Namen für ihn“, sagte Leo. An seinem schwarzen Halsband waren weder eine Hundesteuermarke noch ein Namensschildchen. Leo und ich fingen an zu überlegen und gingen das ganze Alphabet durch: Anton, Balou, Carlos, Dobby, Erni, Felix, Gizmo, Harro, Idefix, Jamy… Nichts davon gefiel uns wirklich. Dann hatte ich einen Einfall: „Ich hab’s!“, rief ich. „Cookie! Das passt so gut zu seinem schönen braunen Fell.“ Weil alle anderen den Namen auch toll fanden, beschloss der Familienrat, unseren Findling „Cookie“ zu nennen. Cookie war damit offensichtlich einverstanden, da er jedes Mal, wenn man seinen neuen Namen rief, mit einem begeisterten „Wuff“ antwortete. Ehrlicherweise machte er das eigentlich bei allem, was man sagte. Er war so aufgeregt, dass er fast ununterbrochen bellte. Papa meinte deshalb, dass wir ihn dann doch lieber „Wuff“ oder „Bello“ nennen sollten. Aber der Name „Cookie“ war schon beschlossene Sache.
Irgendwann wurde Cookie müde und schlief zwischen Leo und mir ein. Er war so süß und so weich. Ich hoffte inständig, dass wir ihn behalten konnten. In dem Moment, als ich das dachte, sagte Papa: „Ihr wisst, dass man Fundtiere nicht einfach behalten darf? Wenn ich einen Koffer oder eine Armbanduhr finde, muss ich sie beim Fundbüro abgeben. Und ein Fundtier muss auch gemeldet werden. Wenn wir erst einmal auf der Insel sind, müssen wir die Polizei oder einen Tierarzt fragen, was mit Cookie passieren soll.“
„Aber Papa!“, protestierte ich empört. Warum musste er schon wieder mit der Polizei anfangen? „Cookie ist doch kein Ding, das man einfach abgeben kann!“
„Liv, so ist es aber nun mal. Laut Gesetz sind Tiere Dinge, und gefundene Dinge darf man nicht behalten. Wir machen es wie besprochen. Wenn wir auf Juist sind, suchen wir einen Tierarzt, der schaut, ob Cookie gesund ist, und der dann alles Weitere in die Wege leiten kann. Ein Tierheim wird es auf Juist sicher geben.“
Ich war kurz davor, laut zu widersprechen, aber Mama kam mir diplomatisch zuvor: „Jetzt sehen wir erst einmal zu, dass wir auf die Insel kommen. Wie es mit Cookie weitergeht, besprechen wir dann mit dem Tierarzt. Vielleicht kann Cookie ja erst einmal einen Pflegeplatz bei uns bekommen.“
Ich war erleichtert. Wenn Mama das sagte, würde Cookie bestimmt nicht so schnell im Heim landen, sondern erst einmal bei uns bleiben.
Während Cookie weiterschlief und ich nicht aufhören konnte, den süßen Kerl anzuschauen, hatten wir Nordeich-Mole erreicht, wo die Fähre nach Juist auslief. Nachdem wir geparkt hatten, wachte Cookie auf und wir gingen zum Hafen. Ich durfte Cookie an der Leine führen, und eigentlich lief er ganz brav mit. Nur hin und wieder gab es interessante Dinge zu erschnüffeln. Dann musste ich mit ihm stehen bleiben. Am Anleger hatte sich eine lange Schlange gebildet. Es war Hochsaison, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie alle Menschen auf die Fähre passen sollten. Das Gepäck hatten wir auf einen der bereitstehenden Gepäckwagen gelegt. Um nachher den richtigen Gepäckwagen wiederzufinden, hatte Papa ein Foto gemacht. Jeder Wagen hatte eine Nummer. Inzwischen war die Schlange noch länger geworden, und meine Eltern machten sich Sorgen, dass man uns nicht mehr mit auf die Fähre lassen würde.
Ein Mitarbeiter der Fährgesellschaft winkte uns durch. Offenbar hatte es der Kapitän der „Frisia III“ eilig loszukommen, um noch rechtzeitig vor Ebbe im Inselhafen anzukommen. Das war unser Glück, denn wir hatten ja gar kein Ticket für Cookie, was mir jetzt erst auffiel. Wohl oder übel musste Cookie nun schwarzfahren.
Die Sonne schien, der Fahrtwind ließ meine Haare flattern, und die Luft roch nach Meer und Salz. Ohnehin war jetzt, da wir einen Hund dabeihatten, alles viel schöner. Ich stand an der Reling und beobachtete, wie die Insel immer näher kam. Der Kapitän musste das Schiff durch eine enge Fahrrinne manövrieren. Dünne Birkenstämme markierten den Weg. Papa, der neben mir stand, war nicht zu bremsen: „Stell dir vor − früher gab es gar keinen Hafen auf Juist, sondern eine Pferdebahn, mit der man auf einer Pfahlbrücke zur Insel fuhr. Später hatte man dann eine Eisenbahn. Den Hafen gibt es erst seit 1982. Als Oma und Opa auf Juist waren, sind sie noch mit der Bahn über die Pfähle gefahren. Schaut mal, wie gut man den Aussichtsturm sehen kann. Das ist das Wahrzeichen der Insel.“
So richtig toll fand ich den modernen Turm, der aussah wie ein großes weißes Segel, allerdings nicht. Trotzdem war der Blick auf den Hafen mit den vielen Segelbooten im Jachthafen schön. Mit meinem Handy machte ich ein Foto vom Hafen und ein weiteres von Cookie. Ich schickte die beiden Bilder an Sarah und Vicky mit dem Kommentar: „Darf ich vorstellen – Cookie und Juist. Mehr heute Abend.“
Kurz bevor wir anlegten, kam eine Durchsage des Kapitäns: „Liebe Fahrgäste, wir erreichen jetzt das wunderschöne Töwerland. Wir wünschen allen Urlaubern erholsame Tage und allen Insulanern ein schönes Wochenende.“ Dann ertönte Akkordeonmusik aus den Lautsprechern der Fähre.
„Papa, was heißt denn Töwerland?“, fragte Leo.
„So nennen die Insulaner ihre Insel. Das heißt Zauberland. Die Juister sind sehr stolz auf ihre Insel.“
Leo wollte wissen, wie viele Menschen auf Juist eigentlich leben, und Papa meinte, es seien um die 1600. An meiner alten Schule in Köln gab es 1000 Schüler. An der Nachbarschule, die direkt daneben war und mit der wir uns Aula und Mensa teilten, waren es etwas weniger Schüler. An beiden Schulen zusammen gab es mehr Schüler, als Juist Einwohner hatte. Ich wusste von Papa, dass an der Inselschule ungefähr 100 Schüler waren – also nur ein Zehntel meiner alten Schule und so viele wie in meiner alten Grundschule. Vermutlich kannten sich die Schüler auf der Insel alle untereinander. Die Schüler in meiner neuen Klasse waren sicher schon zusammen im Kindergarten gewesen und der war genau gegenüber der Schule. Wenn man also auf Juist vom Kindergarten in die Schule wechselte, war das ungefähr eine Entfernung von zehn Metern. Ich hatte mir im Internet schon Luftaufnahmen der Schule angesehen. Sie lag mitten in der Dünenlandschaft.
Während ich mich mit Größenverhältnissen beschäftigte, war Cookie etwas unruhig geworden, und ich war froh, dass wir in wenigen Minuten anlegen würden. Vielleicht war Cookie seekrank? Oder musste er mal? Zum Glück konnten wir jetzt von Bord gehen. Sofort zog Cookie mich an den Rand einer Wiese und hob ein Beinchen an einem Busch. Ich sah, wie Papa zusammen mit lauter anderen Menschen an dem Gepäckwagen stand. In dem Getümmel fielen mehrere Taschen und Koffer herunter. Papa konnte nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen, und ein großer Schalenkoffer landete auf seinem linken Fuß. „Autsch“ rief er laut und hüpfte auf einem Bein. Schnell liefen Cookie und ich zu ihm.
„Alles gut, Papa?“
„Aua, ja. Der blöde Monsterkoffer ist in diesem ganzen Durcheinander auf meinen Fuß gefallen. Außerdem finde ich meine Reisetasche nicht. Siehst du sie vielleicht?“
Ich konnte sie auch nicht entdecken. Die Koffer von Mama, Leo und mir standen schon auf dem Boden, aber die braune, uralte Ledertasche von Papa war verschwunden.
„Aber sie war doch in dem gleichen Wagen!“, rief er. „Das gibt`s doch nicht!“
Wir suchten alle drei wie verrückt nach der Tasche, aber nach einer halben Stunde gaben wir auf. Inzwischen waren kaum noch Menschen da, und Papa ging zu einem Mitarbeiter der Fährgesellschaft, um das Gepäck als verloren zu melden.
„Keine Sorge“, sagte der Mann. „Hier geht nichts verloren, und geklaut wird auf der Insel auch nicht. Da hat bestimmt jemand Ihre Tasche für seine eigene gehalten und bringt sie heute oder morgen zurück an den Hafen. Geben Sie mir mal Ihre Telefonnummer, und dann rufen wir Sie an.“
Das klang beruhigend, aber Papa war doch ziemlich sauer. Sein Fuß tat weh, und seine Tasche war weg. So hatte er sich die Ankunft nicht vorgestellt. „Die Tasche habe ich von meinem Opa geerbt“, meinte er. Wir versuchten, ihn zu trösten. Bestimmt hätte er das olle Lederungetüm morgen wieder. Jetzt konnten wir ohnehin nichts tun.
Der Weg zu unserem neuen Haus war nicht weit, aber Papa hatte beschlossen, dass wir mit der Kutsche dort hinfahren würden. Unser Auto, das als einziges auf der Fähre mitgenommen worden war, sollte erst einmal am Hafen bleiben. Papa sprach mit einer Kutscherin, die uns beim Einladen der Koffer half. Zwei Fjordpferde – Max und Moritz, wie ich von der Kutscherin erfuhr – zogen uns vom Hafen durch das Dorf. Ich war vorher noch nie Kutsche gefahren. Was für ein herrliches Gefühl, hier oben zu sitzen! Im Dorf roch es überall ein wenig nach Pferdemist. Für andere Menschen vielleicht kein angenehmer Geruch, aber ich mochte den Duft von Pferdeäpfeln. Doch jetzt wurde ich traurig. Ich musste an Avakúr denken, das Islandpferd, das ich seit einem Jahr reiten durfte. Hier würde es ihm bestimmt gefallen. Keine Autos, Salzwiesen zum Weiden und Sandstrände zum Galoppieren. Bevor ich noch trauriger werden konnte, legte Cookie seine Schnauze in meinen Schoß und wollte gestreichelt werden. Ich war froh über die Ablenkung. Die Pferde zogen uns die Dorfstraße entlang – es gab dort Restaurants, kleine Geschäfte, den Kurplatz mit einem Teich und ein sehr großes Hotel, das „Friesenhof“ hieß. Die Kutsche bog ab, und eine andere Kutsche mit zwei großen Friesenpferden kam uns entgegen.
„Schaut mal!“, rief Leo, „da ist eine Eisdiele. Da will ich nachher unbedingt hin.“
„Ja“, sagte Papa, „das können wir machen. Aber zuerst schauen wir uns unser Haus an. Ihr kennt ja bislang nur die Fotos.“
Leider würden wir noch nicht im neuen Haus übernachten können, da die Spedition unsere Möbel und Kisten erst im Laufe des nächsten Tages anliefern konnten. Deshalb hatte Papa für uns zwei Zimmer in einer kleinen Pension gemietet, wo wir für eine Nacht bleiben würden.
Ich erkannte das Haus sofort. Die Fotos hatte ich schließlich oft genug gesehen. Ein schmales Haus mit rotem Klinker. Die Fensterrahmen waren weiß gestrichen, der Giebel war spitz, und darunter war ein Dachzimmer mit drei schrägen Fenstern. Vor dem Haus war ein weißer Gartenzaun, an dem noch das Schild des alten Inselarztes hing: „Dr. Walter Hoppe – Arzt für Allgemeinmedizin“. Bald würde dort stehen: „Dr. Christian Laurenz – Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilkunde“. Papa war nämlich sehr stolz darauf, auch Naturheilmedizin zu praktizieren. Dass Papa in unserem Haus arbeiten würde, war auf der einen Seite natürlich sehr praktisch für ihn, aber ich stellte es mir doch komisch vor, wenn tagsüber Patienten bei uns ein- und ausgingen. Aber genau genommen gab es für die Praxis einen separaten Eingang und unser Familieneingang war seitlich. Also würde es schon irgendwie gehen.
Leo und ich sprangen von der Kutsche und rannten zum Haus. Das Gartentor war offen, aber die Haustür geschlossen. Papa humpelte mit dem Schlüssel in der Hand nach, und Cookie, den wir von der Leine gelassen hatten, war sofort im Garten verschwunden. Nachdem Papa die Haustür geöffnet hatte, lief ich die Treppe nach oben. Mein Zimmer sollte der Raum unter dem Dach werden, hatten wir beschlossen. Jetzt konnte ich es endlich sehen. Der Raum war trotz der Schrägen ziemlich groß, und er hatte Fenster sowohl nach vorne als auch zum Garten. Das Beste war, dass ich sogar ein kleines Bad für mich hatte. Dann würde ich mir morgens vor der Schule das Bad nicht mit meinem Bruder teilen müssen, der immer der Meinung war, dass ich viel zu lang bräuchte. Aber um meine langen blonden Haare nach dem Aufstehen zu entwirren und eine halbwegs ordentliche Frisur hinzubekommen, war eben etwas Zeit nötig. Leo mit seinem strubbeligen Kurzhaarschnitt hatte es da einfacher.
Mein neues Zimmer war wirklich geräumiger als mein altes in unserer Kölner Wohnung. Das musste ich zugeben. Eigentlich hätten meine Sachen alle prima reingepasst. Ob der Transport wirklich so teuer war, dass wir deshalb so viel ausmisten sollten? Oder hatten meine Eltern nur gewollt, dass es im neuen Zuhause schön übersichtlich und aufgeräumt aussehen sollte? Ich war mir da nicht mehr so sicher. Auch ansonsten war das neue Haus schön. Ein großes Wohnzimmer mit Türen zu Terrasse und Garten. Eine Wohnküche, in der man sogar sitzen konnte. Aber da die Möbel noch nicht an Ort und Stelle waren, wirkten die Räume ziemlich kahl. Leos Zimmer und das Elternschlafzimmer waren im ersten Stock. Leo hatte Blick auf den Garten und meine Eltern zur Straße. Aber nachdem es hier ja keinen Autoverkehr gab, war die Straße kein Problem. Ohnehin war es viel ruhiger als in Köln. Auf dem Weg zu unserem neuen Haus hatten wir kein einziges Auto gesehen – nur Kutschen und jede Menge Radfahrer.
Als ich in den Garten ging, sah ich, wie Cookie sich begeistert im Gras wälzte und dann jede einzelne Pflanze beschnüffelte. Es gab sogar einen kleinen Gartenteich, aus dem er gierig trank. Und was wirklich cool war – neben dem Teich stand ein Strandkorb! Den musste ich natürlich gleich ausprobieren. Kaum saß ich darin, war Cookie schon neben mir. Auch Leo war hin und weg von dem Garten. In Köln hatten wir im vierten Stock gewohnt, und da hatte es leider weder einen Garten noch einen Balkon gegeben.
„Papa!“, rief Leo. „Können wir nicht eine Schaukel in den Garten stellen? Bitte, bitte, bitte!“ „Darüber lässt sich reden“, meinte Papa. „Du hast ja bald Geburtstag“.
„Dann will ich aber ein Holzpferd“, meinte ich grinsend und nicht wirklich im Ernst, denn dafür war ich inzwischen vielleicht doch schon zu alt.
„Schaut mal!“, sagte Mama. „Da hinten im Schuppen werde ich meine kleine Werkstatt einrichten.“
Mama hatte nämlich schon seit einiger Zeit überlegt, ob sie vielleicht wieder mit Bildhauerei und Töpfern anfangen sollte. Während ihres Kunststudiums hatte sie leidenschaftlich getöpfert – Krüge, Teller, Tassen, Vasen, Vogeltränken, Lampen, Schmuck, aber auch Skulpturen. Als feststand, dass wir umziehen würden, hatte sie die Idee, wieder damit zu beginnen und ihre Kunstwerke vielleicht an Touristen zu verkaufen. Der Schuppen hatte zwar noch ziemlich Renovierungsbedarf, aber wie ich Mama kannte, würde sie sich mit voller Energie darauf stürzen und daraus eine gut ausgestattete Werkstatt machen. In Köln hatte Mama im Museum für Angewandte Kunst gearbeitet und auch Workshops für Kinder geleitet. Am liebsten würde sie auf Juist ein Töpfercafé eröffnen, aber Papa war der Meinung, es sei vielleicht sinnvoller, erst einmal in der eigenen Werkstatt anzufangen und nicht gleich Geschäftsräume anzumieten, zumal auf Juist die Mieten so teuer seien.
Da wir weder im Haus noch auf der Terrasse Stühle hatten, beschlossen meine Eltern, dass wir jetzt erst einmal zur Eisdiele gehen würden. Unsere Koffer würden wir im Haus lassen und später abholen, um dann in die Pension zu gehen, die ganz in der Nähe war. Bevor wir losgingen, wollte ich noch schnell auf die Toilette in meinem neuen Bad gehen. Beim Blick ins Klo fiel mir auf, dass das Wasser in der Kloschüssel ziemlich gelb war. Wie eklig! Es sah aus, als hätte jemand ins Klo gepinkelt und nicht abgespült. Ich drückte die Spültaste, aber das Wasser, das nachfloss, war auch gelb. Hier stimmte etwas nicht. War das Wasser in dem Haus verseucht? Ich lief schnell die Treppe hinunter zur Gästetoilette, aber auch hier war das Wasser gelb – sowohl im Klo als auch im Waschbecken. „Papa, schau doch mal“, rief ich aufgeregt. „Mit dem Wasser ist etwas nicht in Ordnung! Das ist total gelb!“
„Liv, beruhig` dich bitte“, antwortete mein Vater. „Ich habe ganz vergessen, euch das mit dem Wasser hier auf der Insel zu erklären. Die komische Farbe ist völlig normal und unbedenklich. Das Leitungswasser kann man trinken, und es schmeckt sogar besser als das Wasser in Köln.“
„Aber wieso sieht das so eklig aus?“, wollte ich wissen.
„Unter der Insel gibt es eine große Süßwasserblase. Der Regen kommt von oben, versickert und bildet unter der Insel eine Wasserblase, die auf dem Salzwasser schwimmt. Aus der Wasserblase wird das Trinkwasser gewonnen. Das ist nur deshalb etwas gelblich, weil die Wasserblase unterhalb der Torf- und Erdschichten liegt. Wenn man etwas gegen die Verfärbung machen wollte, müsste man Chemikalien einsetzen, und das wäre natürlich nicht so gut für...“
„Ich will jetzt endlich ein Eis!“, unterbrach Leo Papas Erläuterungen.
„Weißt du überhaupt noch, wo die Eisdiele ist, Leo?“, fragte Papa ihn. „Na klar!“, rief Leo, der einen super Orientierungssinn hatte und Wege nie vergaß. Leo hüpfte voran und mein Vater humpelte hinterher. Mama und ich hatten Cookie wieder an die Leine genommen, damit er nicht auf die