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Das Leben von Nekromant Eric Carter läuft nicht gerade optimal. Seine unfreiwillige Heirat mit der Todesgöttin Santa Muerte verändert seine Kräfte. Zwar gelingen ihm einige Zauber jetzt mit einem Fingerschnippen, dafür hört er Stimmen, die er nicht hören sollte. Eric zweifelt an seiner Zurechnungsfähigkeit.
Während er nach einem Weg sucht, das Band zwischen ihm und Santa Muerte zu lösen, wird er zur Zielscheibe eines Psychopathen, der das Aussehen und die Erinnerungen von Menschen stiehlt — und sich in ihre Haut kleidet. Erik hat alle Hände voll damit zu tun, seine eigene zu retten ...
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Seitenzahl: 366
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Danksagung
Über den Autor
Stephen Blackmoore war nach eigener Aussage als Kind der Ansicht, man könne seine Zeit am besten damit verbringen, Dinge in Brand zu stecken. Bis er entdeckte, dass Augenbrauen nur sehr langsam nachwachsen. Neben seinen Romanen um das von dunklen Mächten unterwanderte L. A. schreibt er Kurzgeschichten, Artikel und betreut als Redakteur das Pulp-Magazin NEEDLE: A MAGAZINE OF NOIR.
STEPHEN BLACKMOORE
GEHÄSSIGE GEISTER
Roman
Aus dem Amerikanischen von Thomas Schichtel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:Copyright © 2014 by Stephen BlackmooreTitel der amerikanischen Originalausgabe: »Broken Souls«Originalverlag: DAW Books IncBy arrangement with DAW Books, New York, USADieses Werk wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Frank WeinreichTitelillustration: © shutterstock/Tshirt DesignsUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2348-1
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
In Los Angeles findet man eine Menge Geister. Gespenster starren einen aus den Eingängen der Häuser an, in denen sie gestorben sind. Die sogenannten Wanderer unter ihnen mischen sich blind unter die Stricher, ohne dass die einen von den anderen etwas bemerken, während die Echos stockend immer wieder ihre letzten Augenblicke absolvieren, kaputte Schallplatten, die immer wieder Spuren überspringen, bis sie letztlich verblassen.
Dann gibt’s da noch andere Arten von Geistern. Überreste abgerissener Baudenkmäler, verblasste historische Ereignisse, Erinnerungen an jene Dinge, die nie wieder zurückkehren werden. Man sieht nur Andeutungen von ihnen; winzige Stücke in verblassten kalifornischen Bungalows, in den Kirchen am Adams Boulevard oder den Reihenhäusern in der zunehmend gentrifizierten Skid Row. L. A. ist eine gespenstische Stadt, in ihrer Glanzzeit von Illusionen, Korruption und zerstörten Träumen geprägt. Doch auch die Erinnerungen daran schwinden letztlich dahin. Niedergewalzt für eine U-Bahn-Strecke, einen gemischten Komplex aus Geschäften und Luxuswohnungen, einen Parkplatz.
Schließlich sind da jedoch noch die Geister, die man nicht wieder loswird, egal wie sehr man sich bemüht.
Ich sitze in meinem Auto, dem jüngsten in einer Reihe gestohlener Fahrzeuge, und blicke zu Vivians Wohnung am Wilshire Boulevard hinauf. Die Wohnung ist dunkel, ganz wie ich es erwartet habe. Ist schließlich zwei Uhr früh.
Ich war einige Wochen lang nicht hier. Ich sehe immer wieder mal nach Vivian, obwohl sie mich vermutlich erschießen würde, wenn sie es wüsste. Sie hat mir vor sechs Monaten auf Alex’ Beerdigung unmissverständlich klargemacht, dass ich ganz oben auf ihrer schwarzen Liste stehe. Und das mit Recht.
Sie und ich waren seit der High School miteinander gegangen. Bis vor fünfzehn Jahren, als ich L. A. verließ. Eine üble Art, mit jemandem Schluss zu machen. Ich habe nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Natürlich ist sie dann eine Beziehung mit meinem besten Freund eingegangen. Verdammt, als ich in die Stadt zurückkehrte, standen sie und Alex kurz davor zusammenzuziehen! Sie hatten die ganze Zeit darauf verwandt, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Und sie hatten eine Verantwortung übernommen, die eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre. Gaben für meine jüngere Schwester die Geschwister.
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Ich war damals nicht freiwillig fortgegangen. Ich hatte eines dieser Angebote erhalten, die man nicht ablehnen kann. Verschwinde aus L. A. Komm nicht zurück. Oder wir bringen dich um, deine Schwester, deine Freunde, deinen Hund, deinen Mathelehrer aus der dritten Klasse. Ihr wisst schon.
Also bin ich gegangen, versteht ihr?
Ich werfe einen Blick über die Straße und erlebe, wie eine Erinnerung aufblitzt, begleitet von stechenden Kopfschmerzen. Auf dem Spaziergang zu einem Kino in Westwood vor etwa fünf Jahren, ein Mädchen am Arm, leicht angetrunken. Nur war ich vor fünf Jahren nicht in L. A. Das ist nicht meine Erinnerung. Es liegt einige Zeit zurück, dass ich einen Geist verschlungen habe. Ich wusste nicht mal, dass ich dazu in der Lage war. War ein echter Drecksack namens Jean Boudreau, den ich fünfzehn Jahre vorher gekillt zu haben glaubte. Hab ihn in Stücke gerissen, ihn verspeist.
Schlimm genug, dass mir Bruchstücke seiner Erinnerungen im Kopf herumtreiben. Übler noch schlägt aber zu Buche, dass er damals mit anderen Geistern das Gleiche anstellte. Tausende hat er verschlungen, Jahrzehnte voller Erinnerungen in sich aufgesogen. Alle diese zerbrochenen Geister hat er verzehrt, um die Löcher in der eigenen zerfallenden Seele zu stopfen.
Und ich erhalte jetzt ab und an diese unvermittelt aufblitzenden Eindrücke. Zumeist nur Kleinigkeiten, aber von der lebhaften Art. Erinnere mich dann an etwas, das ich nie getan habe; eine Person, der ich nie begegnet bin, eine Mahlzeit, die ich nie verzehrt habe. Manchmal verdrängen diese Erinnerungen alles andere. Ich vergesse, wo ich bin, wer ich bin. Der schlimmste dieser Fälle dauerte drei Tage, und ich kam zitternd und nackt in einer ausgebrannten Hütte in der Mojave wieder zu mir.
Das passiert, wenn man anderer Leute Seelen frisst. Ich kann es nicht empfehlen.
Die Kopfschmerzen legen sich zusammen mit der Erinnerung an die Verabredung, die ich nie hatte, und ich lasse den Atem entweichen, den ich unbewusst angehalten hatte. Diese Episoden sind seltener geworden, weniger lebhaft. Ich wache nicht mehr pausenlos mitten in der Nacht auf, während ich in einer Fremdsprache rede und mich frage, wo ich bin. Sie treten jedoch nach wie vor auf, und ich weiß nie, wann mich mal eine üble Episode erwischt.
Mein Telefon, ein Prepaid aus dem Supermarkt, summt in seiner Halterung. Eine SMS. »Griffith-Observatorium.«
Seltsame Wahl, aber okay. In diesem Fall bin nicht ich es, der die Entscheidungen trifft. Ich lege den Gang ein und fahre los. Frage mich, ob es mir jemals gelingt, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Frage mich, ob sie nicht besser in Unordnung bleiben sollten.
Wenn man endlich einen Termin bei dem Typen erhält, der einem helfen kann, das Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, dann sagt man zu, egal wie komisch der vorgeschlagene Treffpunkt auch sein mag. Vielleicht stellt er dich auf die Probe, vielleicht gibt er an. Hab keine Ahnung, schert mich auch nicht.
Ich fahre auf den leeren Parkplatz des Griffith-Observatoriums, oben auf dem Berg. Das Gebäude mit den drei Kuppeln steht am Rand des Griffith Parks, oberhalb von Los Feliz. Zwei Uhr morgens. Niemand ist hier. Der Park ist geschlossen. Ranger in SUVs fahren hier Streife, aber mit etwas magischer Hilfe passieren sie mich ahnungslos, während ich den Berg hinauffahre. Ich stelle den gestohlenen Mercedes direkt am Rand des Rasens ab. Am anderen Ende des Parkplatzes steht ein weißer Bentley.
Harvey Kettleman ist so eine Art Magier für Magier. Er widmet sich mehr der Forschung als der Praxis, ist aber in magischen Kreisen wohlbekannt und in L. A. eine große Nummer. Ist man ein Talent mit irgendeiner Form von Ansehen in dieser Stadt, dann hat man schon von ihm gehört. Ich bin Kettleman zum ersten Mal vor etwa zwanzig Jahren begegnet. Über meinen Vater, auch wenn Dad und er sich nicht wirklich nahestanden. Scheint, dass Magier ab einem bestimmten Punkt niemandem mehr trauen. Wir unterhalten Beziehungen mehr nach Zweckmäßigkeit, als dass wir echte Freundschaften pflegen würden. Magie bedeutet Macht, und Macht stellt dergleichen mit einer Person an.
Ich hoffe, er erinnert sich nicht mehr daran, dass ich ihn Gandalf genannt habe, als ich noch ein Junge war.
Den Kontakt habe ich deshalb auch über eine dritte Partei hergestellt. Über einen Typen namens Jack MacFee, den ich aus Torrance kenne. Primär ein billiger Gauner und Lieferant für das Drum und Dran der Magie; all die Sachen, die wir zur Ausübung unserer Kunst benötigen, wie Ziegenblut, Friedhofserde, ausgegrabene Knochen verurteilter Mörder. Solche Sachen halt. Zeug, das man nicht in der örtlichen Target-Filiale bekommt.
Hat dann noch einige Zeit gedauert, aber MacFee hat mir den Gefallen getan. Er steht seit Langem in meiner Schuld und ich in seiner. Wir haben schon vor Jahren aufgehört, Buch über die Gefallen zu führen. Ihn zu sehen, das stellte einen der wenigen Lichtblicke meiner Rückkehr in dieses Drecksloch von Stadt dar.
Ich erkenne Kettleman auf der Dachplattform der Sternwarte, wo er sich vor einem bernsteingelben Dunst abzeichnet. Der Himmel ist wolkenverhangen, und die Straßenbeleuchtung von L. A. überzieht ihn mit einem scheußlichen nächtlichen Gelb. Ich rechne nicht mit Problemen, aber andererseits kriege ich die gewöhnlich genau dann. Ich stecke mir die Browning Hi-Power ins Holster am Kreuz. Es ist eine alte Nazi-Pistole, in der so viel Hass steckt, dass sie sich in meiner Hand anfühlt, als hätte ich Kakerlaken unter den Fingern. Es ist eine sonderbare Waffe und eine hässliche Pistole. Ihre ganze Albtraumgeschichte trägt förmlich einen Gesang zu meiner Magie bei, und wenn ich ihren Abzug drücke, dann durchschlägt sie ihr Ziel wie eine .44er.
Meine Taschenuhr, eine Illinois Sangamo Special von 1919 mit der Fähigkeit, die Zeit auf eine verruchte Art zu verformen, stecke ich in die Jackentasche. Ich habe sie seit Monaten nicht benutzt. Sie ist zu den besten Zeiten launisch und im schlimmsten Fall grauenerregend. Ich habe keine Ahnung, woher sie stammt, nur dass sie seit zwei Generationen in meiner Familie vererbt wird. Ich frage mich manchmal, ob sie vielleicht über einen eigenen Willen verfügt.
Weder die Pistole noch die Uhr möchte ich einsetzen, aber es ist allemal besser, die Dinger mitzunehmen und nicht zu benötigen, als umgekehrt. Ich überquere den Rasen neben dem Parkplatz und erklimme die Treppe an der Seite des Bauwerks, in dem die siebzig Jahre alten Teleskope der Sternwarte aufgebaut sind.
Auf halber Höhe spricht eine beunruhigend vertraute Stimme direkt in mein Ohr: »Er wird versuchen, dich umzubringen.« Ich erstarre.
Ist das wieder eine Episode? Es fühlt sich nicht danach an. Episoden sind Erinnerungen, keine Stimmen, und die stechenden Kopfschmerzen, die mit ihnen einhergehen, verspüre ich gerade nicht.
Ich blicke hinter mich, sehe aber niemanden in meiner Nähe. Mein Gespür für die Toten sagt mir das Gleiche: keine Geister auf der Treppe. Ich werfe das Netz meiner Sinne etwas weiter aus. Ein paar Geister toter Hobos treiben sich am Fuß des Hügels herum und ein Typ, der erschossen wurde, auf einem Fußweg in der Nähe. Dazu kommt allerdings noch etwas Unheimliches. Ein Geist, den ich nicht bestimmen kann, der ganz am Rand meiner Wahrnehmung flackert. In einer Sekunde ist er da, in der nächsten nicht mehr. Ich kriege ihn immer nur beinahe zu fassen.
Das ist seltsam. Wenn ein Geist in der Nähe ist, entdecke ich ihn. Ob ich möchte oder nicht. Dieses Ding flackert jedoch in meiner Wahrnehmung, geht an und aus wie ein Funksignal in der Wüste. Das habe ich noch nicht erlebt. Aber das wirklich Seltsame daran?
Es befindet sich bei Kettleman auf dem Dach.
»’n Abend, Mr. Kettleman«, sage ich und tauche hinter der westlichen Teleskopkuppel auf, deren grüne Kupferbeschichtung im diesigen Licht grau schimmert. »Ungewöhnlicher Platz für ein Treffen, nicht wahr?«
Er steht neben der Zentralkuppel und blickt zum Nachthimmel hinauf. Sein dunkelblauer Anzug und der graue Mantel, zusammen mit dem getrimmten Bart und dem rasierten Schädel, verleihen ihm das Aussehen eines Professors. Der Geist, den ich hier oben spüre, ist immer noch präsent, näher jetzt. Ist aber noch immer genauso schwer zu lokalisieren. Ich nehme Spuren von ihm wahr, aber nicht die ganze Erscheinung. Als sähe man Glassplitter und könnte aus ihnen schließen, dass sie mal eine Flasche waren.
»Eric Carter«, sagt er. »Ja, vermutlich schon, aber mir gefällt es von jeher, solchen Dingen etwas Gravität zu geben. Ihr Vater hat mir deswegen ganz schön in den Ohren gelegen, wissen Sie?« Er ist dünner, als ich ihn in Erinnerung habe. Älter, der Bart grauer. Nicht verwunderlich. Als ich ihn zuletzt sah, war ich noch ein Kind.
»Ja, Sir«, sage ich. Hier stimmt etwas nicht. Seine Worte klingen gestelzt, als wäre er es nicht gewöhnt, sich so auszudrücken.
»Es ist lange her, junger Mann«, sagt er. Er legt den Kopf auf die Seite, als wollte er sich an etwas erinnern. »Gandalf.«
Das hatte ich befürchtet. »Das ist auch lange her, Sir. Ich war einige Jahre nicht in der Stadt. Bin erst seit wenigen Monaten zurück.«
»Das habe ich gehört«, sagt er. »Mein Beileid wegen Ihrer Familie. Damals wie heute. Ich war auf der Beerdigung Ihrer Eltern, fürchte aber, dass ich von Ihrer Schwester erst kürzlich erfahren habe. Ihr Verlust tut mir sehr leid.«
Nach dem Tod meiner Eltern bin ich ausgerastet und habe den Magier umgebracht, der sie ermordet hatte. Danach stellte mich sein Stellvertreter Ben Griffin vor die Wahl, entweder aus der Stadt zu verschwinden oder gemeinsam mit meiner Schwester und allen meinen Freunden umgebracht zu werden. Das hat mich lange Zeit davon abgehalten, an die Westküste zurückzukehren. Bis vor wenigen Monaten, als jemand meine Schwester ermordete und alle Karten neu gemischt wurden.
»Danke. Ich habe gehört, dass die Andacht sehr geschmackvoll war.«
»Egal, wie viele Zeremonien man veranstaltet, so nimmt doch nichts davon der Tatsache den Biss, dass der Tod uns alle findet. Aber das weiß ja niemand besser als Sie, hm? Wie läuft das Geschäft mit der Nekromantie heutzutage?«
»Irgendwie tot«, sage ich, der alte Witz ist heraus, ehe ich es mir verkneifen kann. »Eigentlich ist das der Grund, warum ich mit Ihnen reden wollte«, setze ich hinzu.
»Ja, mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ein Problem mit einer Todesgöttin haben«, sagt er. »Mictecacihuatl. Santa Muerte persönlich. Das ist eine ganz schlimme. Sie hätten sich früher an mich wenden sollen.«
»Mit Verlaub, Sir, ich habe es versucht. Sie haben meine Anrufe nicht wirklich entgegengenommen.«
Er winkt meine sarkastische Bemerkung ab. »Ich musste sicherstellen, dass Sie mich wirklich dringend zu sprechen wünschen. Mister MacFee hat sich nachdrücklich für Sie eingesetzt. Also genießen Sie jetzt meine Aufmerksamkeit. Ich vermute, dass Sie nach einer Möglichkeit suchen, sich von Santa Muertes Einfluss zu befreien, richtig?«
»Das hoffe ich zu erreichen. Ich weiß, dass es weit hergeholt ist, aber ich wäre für alles dankbar, das helfen könnte, meine Verbindung zu ihr zu lösen.«
Er runzelt die Stirn. »Sie wissen doch, dass es noch andere gibt, die Ihnen zu helfen vermögen. Ich kenne jemanden in London, der …«
»Ich muss in der Stadt bleiben, Sir.«
»Oh?«
»Persönliche Gründe.« Ich muss ihm nicht alles erzählen. Vivian im Auge zu behalten, das ist meine Angelegenheit.
»Ich verstehe. Nun, dann sehen wir mal, womit wir es zu tun haben, wie? Kommen Sie her. Gestatten Sie mir einen Blick in Ihre Augen.« Er dreht sich zu mir um und zupft dabei am eigenen Augenwinkel, als versuche er, etwas wieder an Ort und Stelle zu rücken. Zuckt dabei. Nervosität?
Die Stimme, die ich schon auf der Treppe gehört habe, meldet sich wieder. »Pass auf!«, sagt sie. Diesmal ist sie deutlicher. Ich muss sehr an mich halten, nicht herumzuwirbeln und zu fragen, wer da ist, obwohl ich diese Stimme kenne. Ich weiß, wem sie gehört. Und ich weiß, dass es nicht sein kann. Es ist nicht der kaputte Geist, der sich hier auf dem Dach versteckt, dessen bin ich mir sicher. Wahrscheinlich steckt nur meine Paranoia dahinter. Eine neue Psychose vielleicht. Wäre das nicht ein Spaß?
Nachts und aus der Distanz fällt es leichter, vorzugeben, meine Augen seien normal. Ich trete näher an Kettleman heran, aber nicht zu nahe. Gewähre ihm einen guten Eindruck.
»Meine Güte!«, sagt er. »Keine Iris. Überhaupt kein Weiß. Pechschwarz. Hat es wehgetan?«
»War kein Vergnügen.«
»Und inzwischen?«
»Keine Schmerzen. Die Nachtsicht scheint leicht verbessert, aber ich habe auch in hellem Licht keine Probleme mehr. Trag nur häufig eine Sonnenbrille, um die Normalos nicht zu erschrecken.«
»Ich habe von einem Ring gehört.«
Ich zeige ihm meine linke Hand mit dem Ehering am Finger. Der Ring verändert sich hin und wieder. Manchmal ist er ein einfacher Goldring, zu anderen Gelegenheiten sind winzige Calaveras, Schädelmotive, eingraviert. Heute Nacht zeigt er sich als Ring aus massiver grüner Jade, was neu ist. »Habe ich zusammen mit den Augen erhalten«, sage ich. »Kann ihn anscheinend ebenso wenig loswerden.«
Der Ring und die Augen sind Andenken daran, dass ich jetzt Santa Muerte gehöre. Ich habe eine Abmachung mit ihr getroffen. Ich wollte ihre Hilfe dabei, Boudreau umzubringen, nachdem er Alex entführt hatte, und blieb schließlich mit einer Zwangsheirat und dem Tod von Alex zurück. Profitipp: Zuerst das Kleingedruckte lesen!
»Interessant«, findet er. »Mit einer Todesgöttin verheiratet. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen helfen soll, sich von ihr zu befreien? Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen dieses Arrangement auch Vorteile bringt.«
Sicher. Ich habe mehr Macht. Meine Fähigkeit, die Toten wahrzunehmen, hat sich enorm verbessert. Ich kann mehr Magie kanalisieren als jemals zuvor. Ich kann einige Zauber, die ich früher tagelang vorbereiten musste, heute mit nichts weiter als einem kurzen Gedanken wirken. Die Sache umfasst jedoch mehr als all das.
»Santa Muerte möchte etwas von mir, und ich weiß nicht, was das ist. Kann nichts Gutes sein.«
»Aber die Macht …«
»Sie verstehen es nicht. Es geht nicht um die Macht. Es geht darum, jemandes Marionette zu sein. Okay, meine Fähigkeiten sind größer geworden. Aber es sind nicht meine eigenen, klar? Können Sie mir helfen oder nicht?«
Er scheint darüber eine Auseinandersetzung mit mir führen zu wollen, bremst sich aber. »In Ordnung. Hat sie noch einmal Kontakt zu Ihnen hergestellt, seit dies geschehen ist?«
Ich erinnere mich an Alex’ Beerdigung, als sie kam, um sich in ihrer hämischen Freude zu sonnen. Am selben Tag verlangte Vivian von mir, aus ihrem Leben zu verschwinden. »Nur einmal. Vor wenigen Monaten. Hab sie seither nicht mehr gesehen.«
»Interessant.« Er legt den Kopf schief, runzelt nachdenklich die Stirn. »Geben Sie mir mal Ihre Hand. Ich habe etwas, das Ihnen vielleicht hilft, bis Sie etwas Dauerhafteres finden.« Er greift in die Manteltasche.
Hier stimmt etwas nicht. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht erst mal etwas mehr über die Sache erfahren müssen?«
»Nein«, sagt er, und ein Ausdruck des Hungers schleicht sich in seinen Blick. »Ich weiß genug. Kommen Sie her.«
Ich kaufe ihm das nicht ab.
»Er hat ein Messer«, sagt die Stimme in meinem Ohr, wie um meinen Argwohn zu bestätigen.
Tatsächlich zückt Kettleman ein bösartig aussehendes Messer aus roh behauenem Obsidian, der Griff nichts weiter als eine Wicklung aus alten Lederstreifen um den Stein. Er attackiert mich mit einer weit ausholenden Armbewegung, schneller als erwartet. Die Klinge fährt durch meine Anzugjacke und schneidet ein Stück meiner Krawatte ab.
Ich sammle meine Magie und schieße Blitze aus der Hand. Vor zwei Monaten hätte ich für so viel Energie die örtliche Umgebungsmagie anzapfen müssen und hätte mich vermutlich verausgabt, aber jetzt läuft die Magie schnell und glatt durch mich hindurch. Die Bögen aus Elektrizität tanzen um Kettleman herum, aber er ist selbst auch nicht von schlechten Eltern. Sie prallen von einem Schild ab, den er rings um sich aufgebaut hat; die Wucht meiner Blitze stößt ihn lediglich ein paar Fuß weit zurück. Er ächzt, als er sich diesem Schub widersetzt, und entfesselt dann selbst einen.
Eine Kraftwoge hämmert auf mich ein. Reißt mich von den Beinen, und ich rutsche drei Meter weit, bis ich an die Betonmauer der westlichen Teleskopkuppel pralle. Darauf war ich nicht gefasst.
»Die Macht einer Göttin«, schreit Kettleman und stürzt sich auf mich wie ein Wahnsinniger. Das Obsidianmesser blitzt in seiner Hand. »Sie möchten sie nicht, und Sie verdienen es nicht, sie zu behalten.«
»Jesus, Mann, ist ja nicht so, dass ich sie Ihnen einfach geben könnte. Verdammt, wenn das alles ist, könnten Sie sie auf der Stelle haben!« Ich rolle mich ab, komme wieder auf die Beine, ziehe die Browning aus dem Holster am Kreuz. »Schauen Sie, ich möchte Sie nicht umbringen. Wirklich nicht. So weit zu kommen war schwierig genug, und ich bin nicht in Stimmung, um noch einmal von vorn zu beginnen.«
Seine Augen verengen sich zu Schlitzen, und die Hand spannt sich fester um den Messergriff. »Sie sind der Gabe nicht würdig«, sagt er. »Sie wissen damit nichts anzufangen. Sie steht jemandem zu, der es weiß. Ich werde Sie lebendig häuten und Ihre Haut als Anzug tragen.«
Das ist mal ein Bild, das ich nicht brauche. »Ich denke nicht, dass es so funktionieren würde.«
Der Boden zittert, und hinter mir wird das Geräusch von sich verformendem Metall vernehmbar. Ich war so auf Kettleman konzentriert, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie er hinter meinem Rücken etwas in Gang setze. Ein langer Streifen von der Kupferbeschichtung der Teleskopkuppel reißt sich los und peitscht auf mich herunter. Ich drehe mich aus dem Weg, als der Kupferstreifen auch schon an der Stelle aufschlägt, wo ich eben noch stand. Funken sprühen.
Kettleman fällt wie ein Blitz über mich her. Ich wehre seinen nächsten Angriff mit dem Unterarm ab und ramme ihm die Handfläche ins Gesicht. Unterstütze diesen Stoß noch mit magischem Wumms und höre ein lautes Knacken, als Kettlemans Nase bricht. Er heult vor Schmerzen auf und stolpert rückwärts. Blut strömt ihm übers Gesicht. Ich könnte die Sache vermutlich an dieser Stelle beenden. Ihm einfach weiter ins Gesicht hämmern, bis er zu Boden geht und dort bleibt. Das könnte für ihn jedoch tödlich enden, und sein Wahnsinn hin oder her, ich brauche ihn noch.
Stattdessen reiße ich zur anderen Gebäudeseite hin aus. Dort gibt es eine Treppe nach unten. Einmal auf Distanz zu diesem Irren, und ich kann mich neu aufstellen. Ich habe zu viel Zeit investiert, nach einer Antwort auf die Frage zu suchen, wie ich mich aus Santa Muertes Einfluss befreien kann. Es muss einfach eine Möglichkeit geben, vernünftig mit Kettleman zu reden. Dazu muss ich ihn aber erst mal von seinem Vorhaben abbringen, mich in eine neue Hose zu verwandeln. Ich laufe um das andere Teleskop herum und komme rutschend zum Stehen.
Ich habe diesen Geist gefunden, der flackernd an- und ausgeht wie eine schwache Funkstation. Doch es ist eindeutig nicht derjenige, der mich vor dem Angriff gewarnt hat. Dieser hier ist in keiner Verfassung, überhaupt mit jemandem zu reden. Er flackert schlimmer an und aus als irgendein Geist, den ich jemals gesehen habe. Zerrissen, verstreut. Er steht da, das Gesicht eine kranke Parodie von Munchs Gemälde »Der Schrei«, sein Körper eine Karikatur ehemaliger Ordnung. Er ist kreuzweise zerschnitten worden, wie jemand aus einem Puzzlebuch für Kinder, in dem die oberen und unteren Teile nicht ganz passen. Ich habe noch nie einen Geist von so schlechtem Zusammenhalt gesehen. Selbst ein alter und verblasster Geist würde nicht so aussehen. Dieses Ding ist einfach kaputt.
Aber es kommt noch schlimmer. Denn es ist Kettlemans Geist.
Sofern der alte Magier nicht einen Zwillingsbruder hat, der zufällig hier auf dem Dach gestorben ist, dann ist dies hier vor mir wirklich Kettleman. Alle Details an dem Geist stimmen: das gleiche Gesicht, der gleiche Anzug, der gleiche grau melierte Kinnbart wie bei meinem Anreifer. Wenn jedoch Kettlemans Geist hier vor mir steht, um wen handelt es sich dann bei dem Irren mit dem Messer?
Ehe ich Gelegenheit finde, richtig darüber nachzudenken, vernehme ich die warnende Stimme im Ohr: »Ducken!« Ich werfe mich hin, sodass Nicht-Kettlemans Messer über mich hinwegfährt. Dabei trete ich nach hinten aus und erwische ihn über dem Knie. Er schreit auf, als das Gelenk bricht, stolpert. Das Messer fällt ihm aus der Hand, und ich befördere es mit einem Tritt außer Reichweite.
Wenn das hier nicht der richtige Kettleman ist, dann brauche ich mich auch nicht zurückzuhalten. Ich lege die Browning an, aber ich unterschätze, wie schnell er ist. Sein unverletztes Bein holt zu einem bösartigen Tritt aus. Unterstützt von einer kräftigen Dosis Magie erwischt es mich am Unterarm. Der gesamte Arm wird taub, und die Pistole fliegt mir aus der Hand, rutscht davon.
Also ändere ich meine Taktik und trete ihm in die Eier. Sein Geschrei steigt um eine Oktave, und er gibt würgende Geräusche von sich. Ich schlage mich schon zu lange mit diesem Santa-Muerte-Scheiß herum, und Kettleman war das, was einer Spur am nähchsten kam. Gottverdammter Mist!
»Warum musstest du ihn auch umbringen, du Drecksack? Und wer zum Teufel bist du?« Ich ramme ihm die Ferse noch ein paar weitere Male in die Genitalien und lenke das Adrenalin, die Wut und Enttäuschung in jeden dieser Tritte.
Wenn ich mit diesem Bastard fertig bin, wird von ihm lediglich ein Schmierfleck übrig sein. Ich mache mich bereit, ihm den Schädel zu zertreten, hebe das Bein und …
Es ist nicht mehr Kettleman. Stoff zerreißt, als er aus seiner Kleidung platzt, denn sie ist ihm jetzt viel zu klein. Er ist mindestens dreißig Zentimeter größer und strotzt vor Muskeln, hat mehr davon als ein halbes Dutzend Linebacker auf Steroiden. Dazu blonde Bürstenhaare, ein glattrasiertes Gesicht, Tätowierungen kyrillischer Buchstaben auf der Brust. Im Gesicht klebt noch Blut, aber man sieht keine Spur mehr von dem Nasenbeinbruch, den ich ihm gerade eben erst beigebracht habe. So, wie er nun dasteht, hat er auch kein gebrochenes Knie mehr. Das kann kein gutes Zeichen sein.
Er streckt beide Hände aus, packt meinen Fuß, als ich gerade zutreten möchte, und befördert mich mit einem Ruck auf den Arsch. Ich knalle auf den harten Beton, die Luft wird aus mir herausgepresst, und alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich greife in die Jackentasche, ringe nach Atem. Nicht-Kettleman, inzwischen ein mehr als brauchbarer Komparse für einen russischen Gefängnisfilm, rappelt sich vom Dach auf. Er packt mich, reißt mich hoch und holt mit einer Faust aus, die an einen Vorschlaghammer erinnert.
In diesem Augenblick bekomme ich die Taschenuhr zu fassen, drehe das Kronrad mit dem Daumen und drücke den Knopf.
Ich habe keinen sonderlichen Einfluss auf die Uhr. Ich kann ihre zeitverformende Wirkung auf ein Ziel richten, aber das ist es auch schon so ziemlich. Wie die meiste Magie ist der Effekt eher eine Verhandlung als ein absoluter Befehl. Ich möchte diesen Drecksack erledigt haben. Ihm vierzig oder fünfzig Jahrzehnte draufzupacken müsste eigentlich genügen.
Wie üblich hat die Uhr ihre eigenen Vorstellungen. Nicht-Kettleman brüllt, lässt mich los und stolpert rückwärts, aber ich erkenne keine große Veränderung an ihm. Keine Runzeln oder Leberflecke, nichts in der Art. Was hat ihm die Uhr draufgepackt? Einen Tag? Eine Woche? Ich kann es nicht erkennen, aber selbst eine Handvoll Minuten müssten dem Mistkerl zumindest wehtun.
Ich bringe die Uhr vollständig zum Vorschein, während sich meine Lungen allmählich wieder mit Luft füllen. Mein Gegner weicht jetzt zurück, richtige Angst im Gesicht. Ich drehe das Kronrad ein paar weitere Male mit dem Daumen. Sehen wir doch mal, wie ihm ein erneuter Treffer der Uhr schmeckt.
Ich erwarte beinahe, dass er mir davonläuft, aber stattdessen rennt er zu dem am Boden liegenden Messer, ergreift es und verwandelt sich wieder in die Kettleman-Gestalt. Kein Blitz, kein Knall, kein Herunterfahren eines Hulk-Wutanfalls. Da steht einfach nur ein dürrer Akademiker, fürchterlich zugerichtet, mit platt gehauener Nase und einem kaputten Knie. Von der Verwandlung kann er keine Hilfe erwarten, wie es scheint. Ich schätze jedoch, dass er auch nicht viel Hilfe bedarf. Er springt vom Dach.
Ich drücke erneut den Knopf der Uhr, aber ich muss das Ziel sehen, um etwas Nennenswertes zu erreichen. An seiner Stelle wirft der Beton der Mauer Blasen, dort, wo der Kerl hinübergesprungen ist. Hundert Jahre hinzugekommener Abnutzung zeigen sich. Ich blicke auf die Uhr. Ach, jetzt funktionierst du? Ich krieche zur Mauer und blicke hinüber. Nicht-Kettleman läuft wieder im Modus des russischen Gangsters, kaum ein Kratzer ist an ihm zu sehen. Hübsche Strategie. Die Kettleman-Gestalt benutzen, um die Sturzfolgen einzustecken, und dann gemütlich wegspazieren.
Ich hebe die Uhr zu einem weiteren Angriff, aber der Kerl ist zu weit entfernt. Trockenfeuerung wird nicht empfohlen. Wenn die Uhr nicht das Ziel trifft, das ich möchte, dann trifft sie irgendwas anderes, und niemand weiß, was daraus für ein Schlamassel entsteht. Ich verfolge, wie sich der Mann ans Steuer des Bentleys setzt, den Motor anwirft und vom Parkplatz rast.
Da der Kampf nun vorüber ist und der Adrenalinspiegel in den Keller stürzt, zittern meine Hände. Was zum Teufel ist gerade passiert?
»Sagte dir ja, dass er versuchen würde, dich umzubringen«, meldet sich die Stimme in meinem Ohr zurück und übertönt dabei den hochdrehenden Motor und die quietschenden Reifen.
»Yeah«, sage ich. »Möchtest du mir vielleicht verraten, was hier los ist? Bist du real? Oder werde ich einfach nur irre?«
Falls die Stimme darauf eine Antwort hat, so behält sie sie für sich. Auch gut. Ich denke nicht, dass ich die Wahrheit verkraften würde. Ich kenne die Stimme, den Tonfall, kann mir gut ausrechnen, was sie jeweils sagen wird. Diese Stimme ist mir sehr vertraut. Ich hab sie nur eine Zeitlang nicht mehr vernommen.
Sie gehört Alex, dem Freund, den zu retten ich nicht schaffte, dessen Seele von einem Geist gefressen wurde, den ich nicht schnell genug vernichten konnte. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass für Alex keine Rückkehr möglich ist. Ich habe so etwas schon erlebt. Wenn er jedoch ein Geist ist, müsste ich das spüren. Dürfte nicht nur die körperlose Stimme in meinen Gedanken hören. Und falls er zurück ist, weiß ich nicht recht, ob ich mich freuen oder mir Sorgen machen sollte.
Schließlich war ich es, der ihm eine Kugel in den Kopf gejagt hat.
Die Erinnerung an Alex’ Stimme klingelt mir noch im Schädel, aber ich verbanne sie. Das ist eine Frage für später. Als Erstes muss ich herausfinden, was zum Teufel gerade passiert ist. Ich könnte natürlich versuchen, Nicht-Kettleman zu verfolgen, aber welchen Sinn hätte das? Bis ich mein Auto erreiche, ist er längst auf halbem Weg den Berg runter. Außerdem brauche ich die Fälschung nicht, wenn ich das Original doch gleich hier habe.
Ich humple zu der Stelle, an der ich Kettlemans Geist wahrgenommen habe. Dauernd taucht er dort weiterhin wie ein Störsignal auf, nur um jeweils sofort wieder zu verschwinden. Es fällt mir schwer, zu erfassen, was genau mit diesem Geist nicht stimmt. Er weist zu wenig Zusammenhalt für ein Gespenst oder einen Wanderer auf, verbreitet aber auch nicht diesen Eindruck des Ablaufens einer Endlosschleife wie bei einem Echo. Er fühlt sich einfach … unvollständig an.
Ich kann ihn mit meinen Augen nicht erkennen, was aber nicht allzu ungewöhnlich ist. Manchmal sind Geister einfach so alt und verblasst, dass es schwierig wird, sie zu sehen, und zu anderen Gelegenheiten tarnen sie sich einfach gern. Das ist auch, was dieser Geist macht, wahrscheinlich noch in Panik von meinem Kampf gegen seinen Mörder. Geister können sich für mich unsichtbar machen, wenn sie das möchten, und wenn sie überhaupt wach genug sind, um zu bemerken, dass ich in der Nähe bin. Dazu können sie sich visuell zerstreuen, sich in einem Gebäude oder im Erdboden auflösen. Gespenster, also Geister, die jeweils an einen Ort gebunden sind, verhalten sich meist schamhafter als Wanderer, jene Geister, die nicht ortsgebunden sind. Den Grund habe ich nie herausgefunden. Vermutlich, weil sich Wanderer einfach davonmachen können, wenn sie sich an deinem Anblick stören.
Ich weiß nicht, wann die nächste Streife der Park Ranger an der Sternwarte vorbeikommt, oder was mit den Wachleuten passiert ist, die längst aufgetaucht sein müssten. Darf mich hier nicht mehr ewig herumtreiben. Ich brauche jedoch Antworten und erhalte vielleicht für lange Zeit keine Gelegenheit, hier erneut herzukommen. Also konzentriere ich meine Willenskraft auf den Geist, von dessen Anwesenheit ich weiß, und versuche ihn heraus zu locken. Vor meiner Verbindung mit Santa Muerte kostete mich so etwas viel Kraft, ganz zu schweigen von einer ordentlichen Menge eigenen Bluts, aber jetzt kriege ich es mit einem simplen Gedanken hin.
Und nichts passiert. Ich probiere es erneut, setze meinen Willen nachdrücklicher ein. Und noch immer erreiche ich nichts. Hä? Das habe ich seit Monaten nicht mehr erlebt. Mit diesem Geist stimmt ganz entschieden etwas nicht.
»Prima, du möchtest das Spiel so angehen?« Ich kremple den linken Ärmel von Jacke und Hemd hoch und hole das Rasiermesser hervor, das ich in der Jackentasche aufbewahre. Die Tätowierungen, die mich ansonsten vom Hals bis zu den Hand- und Fußgelenken bedecken, weisen an der Innenseite des linken Unterarms eine kleine narbige Lücke auf.
Die meiste Magie ist ein Akt purer Willenskraft, eine Unterhandlung mit der Wirklichkeit. Jeder anständige Magier kann ohne größeren Aufwand, mit kaum mehr als einem Gedanken einen kleinen, manchmal sogar größeren Zauberspruch heraushauen. Manche Magie ist hingegen durchdrungen von Ritualen, folgt Regeln aus einer Zeit, in der Menschen ihre Feuer noch mit Stöckchen entfachten. Sie verlangt eine Zahlung.
Ich ritze meinen Unterarm mit dem Rasiermesser und lasse ein paar Tropfen Blut auf den Beton fallen, während ich erneut meinen Willen bündele und den Geist herbeizuzwingen versuche. Hundert Wanderer aus einem meilenweiten Umkreis stürmen heran. Sie verursachen dabei den Lärm eines Düsentriebwerks, das nur ich hören kann, und das Dach der Sternwarte füllt sich wie das Staples Center zu einem Spiel der Lakers. Die Gestalten der Wanderer überlappen sich, fließen ineinander und auseinander und bilden ein brodelndes Durcheinander aus Gliedmaßen und Gesichtern.
Sie alle schreien nach einer Kostprobe dieses Blutes, ein heulender Albtraumchor. Sie möchten das Leben aus dem Blut heraussaugen, hoffen auf einen kleinen Fetzen Leben, an den sie sich klammern können. Sie lechzen verzweifelt danach, und obwohl ich dergleichen schon Tausende Male durchgeführt habe, werden sie mich umbringen, wenn ich nicht vorsichtig bin. Schließlich ist das Blut nur ein Appetithappen. Ich selbst wäre der Hauptgang.
Ich dränge sie mit Willenskraft zurück, erzeuge eine Blase für den einen Geist, den ich hier haben möchte. Die Wanderer hängen über der Sternwarte herum, hämmern auf deren Mauern ein. Tut mir leid, Leute, aber das hier ist eine Privatparty, und ihr seid nicht eingeladen.
Kettlemans Geist wird stockend sichtbar, zeigt sich mal deutlicher, mal weniger deutlich, erweist sich aber als halbwegs stabil. Er blickt aus wilden, verwirrten Augen umher. Er wirft den Kopf von einer Seite zur anderen, die Panik auf dem Gesicht deutlich zu erkennen. Die unterschiedlichen Teile der Gestalt, die wirken, als hätte man sie in Stückchen geschnitten und schlecht wieder zusammengeflickt, bewegen sich asynchron zueinander.
»Was zum Teufel ist mit dir passiert?« Er erschrickt beim Klang meiner Stimme, sieht mich an, blinzelt. »Komm schon, du kannst das«, sage ich, versuche ihm eine Antwort zu entlocken. Er öffnet den Mund, stottert etwas. Stößt einen ohrenbetäubenden Schrei aus.
Das Geräusch durchschlägt meinen Schädel wie ein Eispickel, und ich falle auf die Knie. Ich ramme den Willen fest auf Kettlemans Geist und schicke ihn zurück hinter jenen Aspekt des Nachlebens, wo er sich versteckt gehalten hatte, ehe ich Blut ließ, um ihn hervorzurufen. Sein Schrei bricht dabei ab. Ein schrilles Jaulen hallt in meinen Ohren nach, und ich spüre, wie sich hinter den Augen eine Migräne aufbaut. Okay, das ist mal nicht so gelaufen, wie es geplant war.
Da meine Konzentration nun erschüttert ist, drängen die Geister heran. Sie können das Blut aber nicht ohne meine Erlaubnis nehmen. Nicht von ihrer Position aus. Eine Barriere besteht zwischen uns, und sofern ich ihnen keine Genehmigung erteile, sich das Blut zu holen, können sie nur betteln.
»Haut rein«, sage ich, und die Geister stürzen sich allesamt auf die wenigen Tröpfchen auf dem Beton. Ihre Gestalten fließen ineinander, als jeder eine Kostprobe zu erhaschen trachtet.
Ich rapple mich wieder auf, und die Ohren klingeln mir noch von Kettlemans gellendem Schrei. Ernsthaft, das hat sich angefühlt, als durchschlüge es mir die Scheißseele. Ich zweifle daran, dass sein Geist in naher Zukunft irgendwohin weiterziehen wird, auch wenn das in seinem Zustand nur schwer zu erkennen ist. Geister, egal welcher Sorte, schwinden mit der Zeit dahin, nur brauchen manche dafür länger als andere. Ich kann ziemlich gut beurteilen, wie lange einer halten wird, aber bei dem hier habe ich ehrlich keinen Schimmer. Könnte ein Tag sein, könnten hundert Jahre sein. Aber so oder so, wenn ich mit ihm richtig reden möchte, brauche ich etwas mehr Sicherheitsvorkehrungen. Ich schnappe ihn mir später wieder, sobald ich besser vorbereitet bin.
Ich steige die Treppe auf der anderen Seite hinab. Als ich kurz vor ihrem unteren Ende bin, entdecke ich Flecken auf den Stufen. Unter dem alles überspülenden gelben Nachthimmel erkenne ich die Farbe kaum, aber ich kann es mir denken. Ich hole das Mobiltelefon hervor und richte dessen Lichtschein auf einen der Flecken.
Ja, da ist wirklich Blut. Ich steige ein paar Schritte weiter hinunter und folge so der Spur. Am unteren Ende hat Kettleman eine ganze Menge davon verloren, nur zehn Stufen darüber hat er wieder aufgehört zu bluten. Interessant.
Als ich unten angekommen bin, erwischt mich der Geruch. Wenn jemand stirbt, entweicht ihm eine Menge Zeug, nicht nur Blut. Ich brauche nur eine Sekunde und finde schon die Leiche, die überstürzt im Gebüsch unweit der Treppe abgeladen wurde. Ich knie mich hin, um sie genauer anzusehen.
Ich bin bereit zu wetten, dass es Kettlemans Leiche ist, aber ich kann es nicht mit letzter Gewissheit erkennen. Sie ist nicht mehr als eine einzige riesige Verletzung, wurde komplett gehäutet. Allein nackte Muskeln liegen in einer Lache aus Blut, Pisse und Scheiße. Leere, lidlose Augen starren mich an, scheinen mich anzuklagen.
Das rückt den durchgeknallten Sack oben auf dem Dach in ein schärferes Licht. Was hat er noch gleich gesagt? Ich ziehe dir bei lebendigem Leib die Haut ab und trage dich als Anzug? Schätze, er hat das ernst gemeint.
Diese Art Arbeit braucht Zeit. Den Typ erledigen, häuten und das Nötige zusammenzaubern, um seine Gestalt anzunehmen. Keine Ahnung, wie lange man für diese Magie braucht. Das Abziehen der Haut jedoch? So ein Scheiß müsste Stunden dauern, nicht wahr? Kettleman musste also schon viel früher eingetroffen sein als ich. Klingt sinnvoll, dass er frühzeitig aufläuft, um dafür zu sorgen, dass er mir gegenüber auch im Vorteil ist, falls ich irgendwas Komisches probieren sollte. Scheint aber, als sei er nicht paranoid genug gewesen.
Wenn ich diese Art von Vorbereitungen betrachte, muss ich mich fragen, wer hier das eigentliche Ziel war. Ging es nur um Kettleman, und war ich einfach zufällig im Weg, oder war der Typ hinter mir her? Verdammt, vielleicht wollte er ja uns beide erwischen! Und wie hat er überhaupt von dem Treffen erfahren? Hat jemand ihm eine Information zugesteckt? Hat er sich die Haut von jemandem geschnappt, den Kettleman kannte, und es auf diese Weise herausgefunden? Wie ist es ihm gelungen, sich an Kettleman heranzupirschen? Der Mann war erfahren. Wenn er aber nach jemandem aussah, dem Kettleman vertraute, mochte das ausgereicht haben. Sobald er nahe genug heran war, konnte er ihn mit diesem Messer abstechen, das er gegen mich eingesetzt hat. Eine Menge Fragen gehen mir im Kopf herum, und ich weiß nur eines mit Bestimmtheit:
Der Typ ist ein Idiot.
Ich klappe das Telefon auf und mache aus verschiedenen Blickwinkeln ein paar Schnappschüsse von der Leiche. Dann wähle ich 911. »Entschuldige bitte diesen überwältigenden Verstoß gegen die Etikette«, sage ich zu der Leiche, während das Telefon klingelt. Die Polizei in die Angelegenheiten von Magiern hineinzuziehen ist ausgesprochen dämlich, aber manchmal erweist sie sich als nützlich.
Die Notdienste in L. A. sind schlechter geworden, seit ich zuletzt hier war. Ich warte fast zehn Minuten lang am Telefon, ehe sich eine Frau meldet und sagt: »911, welcher Notfall liegt vor?«
»He, ich bin an der Sternwarte im Griffith Park, und hier liegt ein Toter. Die Haut ist komplett abgezogen worden, eine echte Schweinerei. Typ liegt neben dem Vordereingang zur Sternwarte.«
»Sir, ist das ein Scherz?« Ich klinge vermutlich zu gelassen für das, was ich ihr melde.
Wäre Nicht-Kettleman clever gewesen, dann hätte er die Leiche in den Kofferraum gepackt und hätte ihr altes Leben selbst weitergeführt. Wer weiß, wie lange er das hätte durchziehen können, ohne dass es jemand merkt. Indem er die Leiche hier liegen ließ, hat er sich dieser Chance beraubt.
»Sie können meinen Standort feststellen, nicht wahr? So ein GPS-Ding? Dann wissen Sie auch, dass ich mich vor der Sternwarte aufhalte. Sie benötigen womöglich zahnärztliche Unterlagen oder so was, denn dieser Typ hat ernsthaft keinerlei Haut mehr. Er heißt Harvey Kettleman. Seine Adresse kenne ich nicht, doch die finden sie schon heraus. Oh, und sollten Sie mit ihm reden, dann ist er es womöglich nicht selbst. Nur, damit Sie Bescheid wissen.«
»Tut mir leid?«
»Nicht halb so wie mir, Lady.« Ich beende die Verbindung. Lösche das Anrufprotokoll, auch wenn ich überzeugt bin, dass sie es trotzdem noch aus dem Gerät ziehen können. Ist aber okay. Ist prepaid, und ich habe damit niemanden angerufen außer MacFee und der netten Dame an 911. MacFee wird stinksauer sein, aber bitte schön, wenn er sich nicht aus einigen unbehaglichen Gesprächen mit der Polizei herauswinden kann, dann hätte er sich lieber kein Geschäftsfeld zugelegt, in dem er auf Routinebasis Körperteile verkauft.
Ich wische das Telefon an der Jacke ab, überprüfe es auf Rückstände an Haaren, Fingerabdrücken und all dem und werfe es ein paar Fuß neben der Leiche in die Büsche. Selbst wenn Nicht-Kettleman zurückkehrt, um die Leiche zu holen, ehe es die Polizei tut, bleibt zumindest dieses Indiz erhalten. Ist zwar nicht so, dass sie diesen Typen erwischen oder einsperren werden, aber er wird Ärger mit ihnen haben, und die übrigen Magier in der Stadt erfahren davon. Je mehr Leute wissen, dass Kettleman tot ist, desto besser.
Könnte dazu beitragen, dass einige von ihnen am Leben bleiben.
Wir sind Gewohnheitstiere. Ob es uns gefällt oder nicht, wir folgen unserer Routine und tragen unsere Vorlieben wie bequeme Schuhe. Selbst wenn uns das klar ist, so fühlen wir uns doch vom Vertrauten angezogen, ob das für uns nun nützlich ist oder nicht.
Ich fahre auf den Parkplatz des Westbourne Inn, eines Motels aus den 1950ern an der Pass Avenue in Burbank, das dringend mal renoviert werden müsste. Die Leuchtbuchstaben an der Fassade, im futuristischen Stil der damaligen Zeit gehalten, verkünden: Farbfernsehen, vernünftige Preise und Auszug bis Mittag.
Über die Geister sagen sie nichts.
Ich fühle mich von solchen Etablissements auf die gleiche Art angezogen, wie sich die Geister von mir angezogen fühlen. Heruntergekommen und abgelegen, vergessen und verlassen. Notfallhäfen im Sturm. Schwer, das hier noch als Notlösung zu betrachten. Bin seit einem Monat hier. Längster Aufenthalt überhaupt, seit ich in den 1990ern von zu Hause wegging. Na ja, ich war ein paar Jahre lang im Knast, aber das war freiwillig. Hab dabei in einer Zelle in Arizona das eine oder andere von dem Geist eines anderen Nekromanten gelernt. Ist eine lange Geschichte.
Ich sage mir immer wieder, dass ich nur in L. A. bin, um Sachen zu klären, um der Drohung dieses Schwerts zu entrinnen, das Santa Muerte über mich gehängt hat. Wär aber wahrscheinlich besser, wenn ich mir langsam mal eingestehe, dass das totaler Quatsch ist. Ich bin nach wie vor hier, weil ich noch mehr als nur Alex verliere, falls ich nicht nach Santa Muertes Pfeife tanze.
Auf Alex’ Beerdigung, als ich Santa Muerte zuletzt sah, ließen wir unsere Beziehung in der Schwebe. Sicher, ich kann ihre Pläne vermurksen, wenn ich unbedingt muss – was für Pläne das zum Teufel auch sind –, aber dann würde sie die Menschen, aus denen ich mir etwas mache, ins Visier nehmen. Menschen wie Vivian.
Sollte sie versuchen, Viv wehzutun, bin ich nahe genug, um dem etwas entgegenzusetzen – zumindest, solange ich mich in L. A. aufhalte. Als ich zuletzt nicht hier war, hat Santa Muerte meine Schwester ermordet, um diesen ganzen Ball ins Rollen zu bringen. Ich erlaube ihr so etwas nicht noch einmal.
Im Idealfall würde ich Santa Muerte natürlich umbringen, aber ich bin noch nicht daraus schlau geworden, wie diese spezielle Nuss zu knacken wäre. Wie tötet man eine Todesgöttin? Das gehört mit zu dem, was ich von Kettleman zu erfahren hoffte.
Die Geister im Westbourne Inn tauchen mal in meiner Wahrnehmung auf, mal verschwinden sie wieder daraus, während ich zu meinem Zimmer gehe. Im Vorbeigehen sind sie auf der anderen Seite nicht zu sehen, zumindest für niemanden außer mir. Einige von ihnen bemerken mich, die meisten nicht. Eine Gruppe hängt vor meiner Zimmertür herum, aufgehalten von den Palindromen, die ich in den Türpfosten geritzt habe, und davon in Anspruch genommen, die Sonnenblumenkerne zu zählen, die ich auf der Schwelle verstreute.