Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen - Balli Kaur Jaswal - E-Book

Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen E-Book

Balli Kaur Jaswal

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Beschreibung

Nikki weiß, was sie will. Genauer gesagt weiß die junge Londonerin mit indischen Wurzeln, was sie nicht will: ein Leben, gebunden an traditionelle Konventionen. Als Lehrerin eines Creative-Writing-Kurses für Sikh-Frauen will sie ihr Lebensgefühl weitergeben und hofft, dass die Frauen schreibend ihre Fesseln abwerfen. Allerdings entpuppen sich sämtliche Teilnehmerinnen als Analphabetinnen, die nur Lesen und Schreiben lernen wollen. Ein Unterfangen, das sich bald als müßig erweist. Doch als die Frauen sich öffnen und sich gegenseitig ihre geheimsten Geschichten anvertrauen, setzen sie etwas in Gang, das nicht nur ihr Leben für immer verändern wird ...

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Buch

Nikki Grewal weiß, was sie will. Genauer gesagt weiß die junge Londonerin mit indischen Wurzeln, was sie nicht will: ein Leben, gebunden an traditionelle Konventionen. Als Lehrerin eines Creative-Writing-Kurses für Sikh-Frauen will sie ihr Lebensgefühl weitergeben und hofft, dass die Frauen schreibend ihre Fesseln abwerfen. Allerdings entpuppen sich sämtliche Teilnehmerinnen als Analphabetinnen, die nur Lesen und Schreiben lernen wollen. Ein Unterfangen, das sich bald als müßig erweist. Doch als die Frauen sich öffnen und sich gegenseitig ihre geheimsten Geschichten anvertrauen, setzen sie etwas in Gang, das nicht nur ihr Leben für immer verändern wird …

Autorin

Balli Kaur Jaswal wurde in Singapur geboren und hat rund um den Globus gelebt: auf den Philippinen, in Japan, Russland, den USA, in Großbritannien, Australien und der Türkei. Sie hat als Lehrerin an verschiedenen internationalen Schulen gearbeitet, bevor sie mit ihrem Mann wieder nach Singapur gezogen ist, wo sie sich nun ganz dem Schreiben widmet.

Weitere Informationen unter www.ballijaswal.com

Balli Kaur Jaswal

_________________________

Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen

Roman

Deutsch von Stefanie Retterbush

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Erotic Stories for Punjabi Widows« bei HarperCollinsPublishers, London.

SDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2018

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Balli Kaur Jaswal

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Glossar: Stefanie Retterbush

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-20503-4V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Paul

Erstes Kapitel

Wie konnte Mindi sich bloß eine arrangierte Ehe wünschen?

Fassungslos starrte Nikki auf das Profil, das ihre Schwester an ihre Mail angehängt hatte. Darin eine Liste vermeintlich relevanter Details aus ihrem Lebenslauf: Name, Alter, Größe, Religionszugehörigkeit, Ernährungsweise (vegetarisch, bis auf die gelegentliche Portion Fish ’n Chips). Allgemeine Vorlieben bezüglich des Zukünftigen: intelligent, einfühlsam und liebenswürdig, mit soliden Wertvorstellungen und Prinzipien und einem netten Lächeln. Sowohl rasierte Männer als auch Turbanträger kamen als potenzielle Kandidaten in Frage, solange Bart und Haare penibel gepflegt waren. Der ideale Ehemann sollte einen sicheren Job und bis zu drei Hobbys haben, die ihn geistig wie körperlich auslasteten. In gewisser Weise, schrieb sie, sollte er sein wie ich: anständig (prüde, wenn man Nikki fragte), sparsam (eine nette Umschreibung für knauserig) und familienfreundlich (sprich, sollte augenblicklich Kinder wollen). Und zu allem Überfluss klang die Überschrift dieses abgeschmackten Textes auch noch wie eine billige Gewürzmischung aus dem Supermarkt: Mindi Grewal, Westöstliche Melange.

Der schmale Flur zwischen Nikkis Schlafzimmer und der offenen Singleküche mit den unebenen Bodendielen, die schon bei der leichtesten Belastung in den verschiedensten Tonhöhen quietschten und knarzten, eignete sich nicht unbedingt zum nachdenklichen Im-Kreis-Laufen. Trotzdem tigerte Nikki nun dort auf und ab wie ein Raubtier im Käfig und versuchte, mit jedem ihrer Schritte die widerstrebenden Gedanken zu ordnen. Was dachte sich ihre Schwester bloß dabei? Gut, Mindi war immer schon ziemlich konservativ und traditionsbewusst gewesen – einmal hatte Nikki ihre Schwester tatsächlich dabei erwischt, wie sie sich auf YouTube ein Video mit der Anleitung zum Ausrollen perfekter Rotis* anschaute – aber eine Hochzeitsanzeige aufgeben? Das war doch echt etwas extrem.

Nikki versuchte mehrfach, Mindi anzurufen, aber jedes Mal ging gleich die Mailbox ran. Als ihre Schwester schließlich doch antwortete, verschluckte der dichte graue Abendnebel schon langsam das Tageslicht, und für Nikki war bald Schichtbeginn im O’Reilly’s.

»Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Mindi.

»Kannst du dir das wirklich vorstellen, Mindi?«, fragte Nikki. »Kannst du dir das allen Ernstes vorstellen?«

»Ja.«

»Dann bist du vollkommen verrückt.«

»Das ist meine freie Entscheidung. Ich möchte auf die traditionelle Art einen Ehemann finden.«

»Warum?«

»Weil ich das so möchte.«

»Warum?«

»Ist einfach so.«

»Du musst dir schon einen besseren Grund einfallen lassen, wenn ich dein Profil aufhübschen soll.«

»Das ist gemein. Ich habe dich auch unterstützt, als du ausziehen wolltest.«

»Du hast mich als egoistisches Miststück bezeichnet.«

»Aber du bist trotzdem gegangen. Und als Mum ohne Vorwarnung in deiner neuen Wohnung aufgekreuzt ist und gefordert hat, dass du auf der Stelle wieder mit nach Hause kommst, wer hat sie da überzeugt, es gut sein zu lassen? Hätte ich nicht mit Engelszungen auf sie eingeredet, hätte sie deine Entscheidung nie akzeptiert. Inzwischen hat sie sich widerstrebend damit abgefunden.«

»Sie hat sich beinahe damit abgefunden«, verbesserte Nikki sie. Mit der Zeit war Mums flammender Zorn allmählich abgekühlt und verrauchte nun langsam. Sie wetterte zwar immer noch leidenschaftlich gegen Nikkis lasterhaftes Lotterleben, hatte es aber inzwischen drangegeben, sie ständig vor den Gefahren des Alleinlebens zu warnen. »Meine Mutter hätte nicht mal im Traum daran gedacht, mir so etwas zu erlauben«, murmelte Mum immer mit einer kruden Mischung aus Stolz und Selbstmitleid in der Stimme; wohl um ihre vorgebliche Fortschrittlichkeit zu unterstreichen. Westöstliche Melange.

»Es geht darum, mich wieder mehr unserer Kultur zuzuwenden«, erklärte Mindi. »Ich sehe doch, wie meine englischen Freundinnen online und in Clubs Männer kennenlernen, und nie ist der Richtige dabei. Was spricht denn dagegen, es mal mit einer arrangierten Verbindung zu versuchen? Bei unseren Eltern hat es doch auch funktioniert.«

»Das waren doch vollkommen andere Zeiten«, widersprach Nikki vehement. »Du hast viel mehr Möglichkeiten als Mum in unserem Alter.«

»Ich habe eine Ausbildung gemacht, ich habe mein Diplom als Krankenschwester, ich habe einen guten Job – da liegt es doch nahe, dass ich den logischen nächsten Schritt machen will.«

»Das ist doch kein ›nächster Schritt‹. Du organisierst dir einen Ehemann.«

»Das stimmt so nicht. Ich wünsche mir bloß ein bisschen Hilfe bei der Suche. Wir werden uns ja nicht erst am Hochzeitstag das erste Mal sehen. Heutzutage dürfen Männer und Frauen sich schon vor der Verlobung ein bisschen besser kennenlernen.«

Bei dem Wort »dürfen« sträubten sich Nikki sämtliche Nackenhaare. Wozu brauchte Mindi bitte schön die Erlaubnis, ihre Partnersuche so zu gestalten, wie sie es wollte? »Leg dich bloß nicht zu früh fest. Geh ein bisschen auf Reisen. Schau dir die Welt an.«

»Ich hab genug gesehen«, erwiderte Mindi schnippisch. Sie musste den Mädelsurlaub auf Teneriffa letztes Jahr meinen, bei dem sie herausgefunden hatte, dass sie eine heftige Allergie gegen Krustentiere hat. »Und Kirti sucht auch einen netten Mann. Es wird langsam Zeit, dass wir beide heiraten und eine Familie gründen.«

»Kirti würde einen netten Mann nicht mal erkennen, wenn er durch ihr offenes Schlafzimmerfenster geflogen käme«, spottete Nikki. »Ernsthafte Konkurrenz ist die jedenfalls nicht.« Nikki hatte die beste Freundin ihrer Schwester noch nie leiden können, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. An Mindis fünfundzwanzigstem Geburtstag hatte Kirti – von Berufs wegen Visagistin, oder, wie ihre Visitenkarte stolz proklamierte, Make-up-Künstlerin und Gesichtsbildnerin – Nikkis Aufmachung abschätzig von Kopf bis Fuß gemustert und dann spitz erklärt: »Hübsch sein reicht nicht, man muss sich auch ein bisschen Mühe geben.«

»Mindi, könnte es sein, dass du dich schlicht und ergreifend langweilst?«

»Ist Langeweile etwa kein legitimer Grund, mir einen Partner zu suchen? Du bist ausgezogen, weil du unabhängig sein wolltest. Ich suche einen Mann zum Heiraten, weil ich wohin gehören möchte. Ich möchte eine eigene Familie. Das verstehst du nicht, dafür bist du noch zu jung. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag nach Hause komme, sind da nur Mum und ich. Ich möchte zu jemandem nach Hause kommen. Ich möchte darüber reden, wie mein Tag war, und zusammen essen und Pläne für ein gemeinsames Leben schmieden.«

Nikki öffnete die E-Mail-Anhänge. Zwei Nahaufnahmen von Mindi, mit einem strahlenden Lächeln, das wie ein warmes, herzliches Willkommen wirkte. Die dicken glatten Haare fielen ihr weich über die Schultern. Auf einem anderen Bild war die ganze Familie zu sehen: Mum, Dad, Mindi und Nikki bei ihrem letzten gemeinsamen Familienurlaub. Es war nicht das beste Foto: Alle hatten die Augen zusammengekniffen, weil die Sonne sie blendete, und vor der imposanten Landschaft im Hintergrund wirkten sie winzig klein. Das war in dem Jahr gewesen, als Dad starb. Ein Herzinfarkt hatte ihn aus seiner Familie gerissen; im Schlaf war er gekommen, wie ein Dieb in der Nacht. Nikkis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Beim Gedanken daran bekam sie immer noch ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie schloss das Fenster wieder.

»Bitte nimm kein Familienfoto«, sagte Nikki. »Ich möchte nicht, dass mein Gesicht in irgendwelchen Heiratsvermittlungsanzeigen auftaucht.«

»Dann hilfst du mir also?«

»Das geht völlig gegen meine Prinzipien.« Nikki tippte: »Argumente gegen eine arrangierte Ehe« in die Suchmaschine und klickte auf das erste Ergebnis.

»Aber du hilfst mir?«

»Arrangierte Ehen sind Ausdruck eines überkommenen Wertesystems, das das Recht einer jeden Frau beschneidet, frei über ihr Schicksal zu bestimmen«, las Nikki vor.

»Sorg einfach nur dafür, dass mein Profil sich besser liest. Ich kann so was nicht«, zirpte Mindi unbeeindruckt.

»Hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?«

»Wieder irgend so einen radikalen Quatsch. Nach ›Wertesystem‹ habe ich nicht mehr zugehört.«

Nikki klickte wieder auf das Profil, und gleich fiel ihr ein Grammatikfehler auf: Ich suche mein Seelenverwandten. Wo ich ihn wohl finde? Sie seufzte. Mindis Entschluss stand offensichtlich fest – die Frage war nur, ob Nikki sich in die Sache hineinziehen lassen wollte oder nicht.

»Also gut«, brummte sie. »Aber nur, weil du mit diesem Profil riskierst, ausschließlich Vollpfosten anzulocken. Warum bitte schreibst du, du ›hast gerne Spaß‹? Wer hat denn nicht gerne Spaß?«

»Und könntest du es dann auch für mich an das Schwarze Brett mit den Heiratsannoncen heften?«

»Welches Schwarze Brett mit den Heiratsannoncen?«

»Im großen Tempel in Southall. Ich schicke dir die Adresse.«

»Southall? Das soll wohl ein Witz sein.«

»Von dir aus ist es gar nicht so weit. Und ich muss die ganze Woche Doppelschichten im Krankenhaus machen.«

»Ich dachte, dafür gibt es Heiratsvermittlungsseiten im Netz«, protestierte Nikki.

»Ich habe mir SikhMate.com und PunjabPyaar.com angeschaut. Aber da tummeln sich nur massenweise Männer aus Indien, die billig an ein Visum kommen wollen. Wenn ein Mann meine Annonce am Schwarzen Brett im Tempel liest, kann ich zumindest davon ausgehen, dass er schon in London lebt. Southall ist der größte Gurdwara* in Europa. Da stehen die Chancen besser als am Anschlagbrett in Enfield«, erklärte Mindi entschieden.

»Weißt du, ich hab viel zu tun.«

»Ach, ich bitte dich, Nikki. Du hast wesentlich mehr Zeit als wir alle zusammen.«

Diesen fiesen kleinen Seitenhieb überhörte Nikki geflissentlich. Mum und Mindi waren der Ansicht, ihr Job als Barkeeperin bei O’Reilly’s sei keine richtige Arbeit. Und es war einfach die Mühe nicht wert, ihnen zu erklären, dass sie noch immer auf der Suche war nach ihrer wahren Berufung – ihrem Traumjob, der herausfordernd und erfüllend sein sollte, in dem sie etwas verändern könnte und der ihr Bestätigung und Anregung zugleich bieten würde. Solche Jobs waren allerdings, wie sie allmählich einsehen musste, enttäuschend rar gesät. Und die Rezession machte es nicht besser. Selbst von den drei gemeinnützigen Organisationen, bei denen sie sich als ehrenamtliche Mitarbeiterin beworben hatte, hatte Nikki Absagen bekommen. Entschuldigend hatten sie erklärt, sie ertränken geradezu in einer Flut an Bewerbungen. Was konnte man sonst noch machen als Zweiundzwanzigjährige mit einem Beinahe-Jura-Abschluss? Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima (und womöglich auch in jedem anderen wirtschaftlichen Klima): rein gar nichts.

»Ich bezahl dich auch dafür«, meinte Mindi.

»Ich nehme doch kein Geld von dir«, wehrte Nikki reflexartig ab.

»Warte mal. Mum möchte noch was sagen.« Im Hintergrund hörte man gedämpftes Gemurmel. »Sie sagt, ›denk dran, die Fenster zuzumachen‹. Gestern Abend war was über Wohnungseinbrüche in den Nachrichten.«

»Sag Mum, ich besitze nichts Wertvolles, das geklaut werden könnte«, gab Nikki zurück.

»Sie sagt, du hättest deine Ehre zu verlieren.«

»Zu spät. Die habe ich längst verloren. Auf der Party von Andrew Forrest, nach dem Abschlussball in der Elften.« Worauf Mindi gar nichts mehr sagte. Aber ihr Missfallen knisterte wie statische Entladungen in der Leitung.

Als Nikki sich später für die Arbeit fertigmachte, musste sie über Mindis Angebot nachdenken, sie für ihre Hilfe zu bezahlen. Das war nett gemeint, aber Nikkis größte Sorge war nicht das Geld. Ihre Wohnung lag gleich über dem Pub, und die Miete war spottbillig, weil sie so immer verfügbar war, um spontan einzuspringen und eine Sonderschicht zu übernehmen. Aber der Barkeeper-Job war eigentlich nur zur Überbrückung gedacht gewesen – längst hätte sie etwas aus ihrem Leben machen sollen. Tagtäglich musste sie mit ansehen, wie Freunde und Bekannte in Siebenmeilenstiefeln große Sprünge machten, während ihr eigenes Leben stillzustehen schien. Erst letzte Woche hatte sie an einem überfüllten Bahnsteig eine ehemalige Klassenkameradin stehen sehen. Wie geschäftsmäßig und zielstrebig sie gewirkt hatte, als sie mit der Aktentasche in der einen und dem Kaffeebecher in der anderen Hand zum Ausgang marschiert war. Tagsüber war es am schlimmsten, da war London am präsentesten, und Nikki spürte die Stadt ringsherum ticken und klicken wie ein gigantisches Uhrwerk.

Im Jahr vor Nikkis Abschlussprüfungen an der Schule waren ihre Eltern mit ihr nach Indien gereist, um Tempel zu besuchen und weise alte Pandits* aufzusuchen, die Nikki als Ratgeber und Wegweiser helfen sollten, die richtige Richtung einzuschlagen und ihren vorbestimmten Lebensweg zu beschreiten. Einer der Pandits riet ihr, sich ihre berufliche Zukunft, so wie Nikki sie sich wünschte, in den schillerndsten Farben auszumalen und dabei Gebete zu chanten, um ihre Vision wahrwerden zu lassen. Doch in ihrem Kopf hatte bloß gähnende Leere geherrscht, und dieses Nichts, diese nackte unbemalte Leinwand, das musste wohl das Bild gewesen sein, das sie hinauf an die Götter geschickt hatte. Wie immer bei ihren Reisen in die alte Heimat hatte Nikki strikte Anweisungen erhalten, was sie vor Dads älterem Bruder, bei dem sie zu Gast waren, nicht tun oder sagen sollte: Nicht schimpfen, nicht fluchen, mit keinem Wort ihre männlichen Freunde erwähnen, nicht widersprechen und als Zeichen der Dankbarkeit für die unzähligen Unterrichtsstunden während der Sommerferien, die Nikki ihre kulturellen Wurzeln näherbringen sollten, Punjabi sprechen. Als ihr Onkel sich beim Abendessen nach dem Besuch bei den Pandits erkundigte, musste Nikki sich auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten: Das sind alles Lügner. Die reinsten Hochstapler. Genauso gut könnte ich mir von meinen Kumpels Mitch und Bazza die Zukunft aus der Hand lesen lassen.

Dad antwortete an ihrer Stelle: »Nikki wird wohl Jura studieren.«

Und damit war ihre berufliche Zukunft besiegelt. Dad wischte alle Zweifel beiseite und argumentierte, damit werde sie mal einen sicheren, respektablen Job haben. Aber die väterlichen Beschwichtigungsversuche wirkten nicht lange. Die flattrige Unruhe, in der völlig falschen Vorlesung zu sitzen, die sie schon am ersten Tag an der Uni erfasst hatte, sollte im Laufe des ersten Jahres nur noch zunehmen. Nachdem sie im zweiten Jahr in einem Seminar beinahe durchgefallen wäre, bestellte der Tutor Nikki zu sich in die Sprechstunde und meinte: »Vielleicht ist das doch nichts für Sie.« Womit er eigentlich das Thema seines Seminars meinte. Aber für Nikki traf seine Bemerkung ins Schwarze. Das ganze Studium war nichts für sie: die öden, endlos langen Vorlesungen und Tutorien, die Klausuren und Gruppenprojekte und Abgabetermine. Noch am selben Nachmittag ließ sie sich exmatrikulieren.

Weil Nikki sich nicht traute, ihren Eltern zu beichten, dass sie ihr Studium geschmissen hatte, verließ sie trotzdem jeden Morgen brav das Haus, unterm Arm ihre Secondhand-Ledertasche vom Camden Market. Ziellos stromerte sie durch London, das mit seinem verrußten Himmel und seinen uralten Gemäuern den perfekten Hintergrund für ihre Dickens’sche Seelenpein abgab. Nicht mehr zur Uni zu gehen war eine große Erleichterung für Nikki. Bis sie eines Tages zu grübeln begann, was sie denn nun stattdessen machen sollte. Nach einigen weiteren ausgedehnten Stadtwanderungen fing Nikki schließlich irgendwann an, nachmittags zu Protestveranstaltungen und Demos zu gehen, die von ihrer besten Freundin Olive organisiert wurden. Die engagierte sich schon lange leidenschaftlich für eine Frauenrechtsorganisation namens UK Fem Fighters. Es gab so vieles, worüber man sich aufregen konnte. Dass die Sun auf Seite drei immer noch Oben-ohne-Models abdruckte. Dass die öffentlichen Gelder für Frauenhäuser und Interventionsstellen im Zuge der neuen Sparmaßnahmen der Regierung halbiert werden sollten. Dass Journalistinnen in Krisengebieten weltweit schutzlos der Gefahr sexueller Nötigung und Gewalt ausgeliefert waren. Dass in Japan sinnlos Wale abgeschlachtet wurden (kein spezifisch feministisches Thema, aber Nikki taten die Wale trotzdem leid, weshalb sie wahllos wildfremde Menschen auf der Straße ansprach, doch bitte die entsprechende Greenpeace-Petition zu unterzeichnen).

Erst als ein Freund ihres Dads Nikki eine Praktikumsstelle anbieten wollte, sah sie sich schließlich gezwungen zuzugeben, dass sie schon längst nicht mehr zur Uni ging. Lautes Gebrüll war nicht Dads Stil. Er zeigte seine Enttäuschung eher in kühler distanzierter Enttäuschung. Nach endlos langen Diskussionen verschanzten er und Nikki sich schließlich in verschiedenen Zimmern, während Mum und Mindi zwischen ihnen hin und her liefen und versuchten, einen Burgfrieden zu vermitteln. Einer lautstarken Auseinandersetzung am nächsten kamen sie, nachdem Dad eine Liste aufgestellt hatte mit all den Eigenschaften, die Nikki als herausragende Anwältin prädestinierten. »Du hast so viel Potenzial, so viele Möglichkeiten, und du wirfst das einfach weg. Und wozu? Du hast doch schon fast die Hälfte geschafft. Was willst du denn jetzt machen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Jura liegt mir einfach nicht.«

»Es liegt dir nicht?«

»Du versuchst ja nicht mal, mich zu verstehen. Du wiederholst einfach nur alles, was sich sage.«

»ICHWIEDERHOLEALLES, WASDUSAGST?«

»Dad«, sagte Mindi. »Beruhige dich. Bitte.«

»Ich werde mich nicht …«

»Mohan, denk an dein Herz«, ermahnte Mum ihn.

»Wieso, was ist mit seinem Herz?«, fragte Nikki. Besorgt sah sie ihren Dad an, aber der wich ihrem Blick aus.

»Sein Herzschlag ist ein bisschen unregelmäßig. Nichts Schlimmes, seine EKGs sind in Ordnung, aber der Blutdruck war 140 zu 90, und das ist dann doch ein bisschen beunruhigend. Außerdem gibt es in seiner Familie etliche Fälle von Beinvenenthrombosen, deshalb machen wir uns ein bisschen Sorgen …«, plapperte Mindi. Auch ein Jahr nach Beginn ihrer Ausbildung zur Krankenschwester schien der medizinische Fachjargon für sie nichts von seiner Faszination verloren zu haben.

»Und was heißt das jetzt konkret?«, unterbrach Nikki sie entnervt.

»Noch gar nichts. Er muss nächste Woche noch mal zu ein paar weiterführenden Tests und Untersuchungen wiederkommen«, sagte Mindi.

»Dad!«, rief Nikki entsetzt und wollte schon zu ihrem Vater stürzen. Doch der hob nur wortlos die Hand und bremste sie so unsanft.

»Du machst alles kaputt«, schalt er sie. Das waren die letzten Worte, die ihr Vater an sie gerichtet hatte. Ein paar Tage später hatten er und Mum spontan die Koffer gepackt und waren nach Indien geflogen. Und das, obwohl sie erst ein paar Monate zuvor dort gewesen waren. Dad wollte zu seiner Familie, hatte Mum erklärt.

Die Zeiten, als ihre Eltern Nikki gedroht hatten, sie nach Indien zu schicken, wenn sie nicht gehorchte, waren längst vorbei. Inzwischen gingen sie selbst dorthin ins freiwillige Exil, wenn ihnen alles zu viel wurde. »Bis wir zurück sind, bist du hoffentlich wieder zur Vernunft gekommen«, meinte Mum. Der Seitenhieb saß, aber Nikki wollte auf keinen Fall wieder einen Streit anfangen. Sie hatte schon heimlich die Koffer gepackt. Ein Pub in Olives Nachbarschaft in Shepherd’s Bush suchte eine Barkeeperin. Bis ihre Eltern zurückkamen, würde Nikki längst fort sein.

Und dann starb Dad ganz plötzlich und unerwartet in Indien. Seine Herzbeschwerden waren wohl gravierender gewesen, als die Ärzte vermutet hatten. In traditionellen indischen Moralgeschichten sind meist missratene Kinder die Wurzel allen Übels, wie Herzprobleme, Krebsgeschwüre, Haarausfall und andere Zipperlein, die die armen gramgebeugten Eltern plagen. Nikki war zwar nicht so naiv zu glauben, Dad hätte ihretwegen einen Herzinfarkt erlitten, dachte aber, die Nachfolgeuntersuchungen in London, die er verschoben hatte, um überstürzt nach Indien zu reisen, hätten ihm womöglich das Leben retten könnten. Die nagenden Schuldgefühle machten es Nikki unmöglich, um ihren Vater zu trauern. Beim Begräbnis versuchte sie, sich ein paar Tränen abzuringen, aber nichts geschah. Die ersehnte Erleichterung blieb aus, sie konnte einfach nicht weinen.

Zwei Jahre später fragte Nikki sich noch immer, ob das damals die richtige Entscheidung gewesen war. Manchmal überlegte sie sogar insgeheim, wieder an die Uni zu gehen und ihren Abschluss nachzuholen. Obwohl sie die Vorstellung unerträglich fand, über irgendwelchen Präzedenzfällen brüten oder an drögen Vorlesungen teilnehmen zu müssen. Aber womöglich waren Begeisterung und Spaß an der Freude im Leben eines Erwachsenen nicht immer das Wichtigste. Wenn arrangierte Ehen funktionieren konnten, vielleicht konnte Nikki sich ja dann auch für etwas begeistern, wofür sie nicht von Anfang an Feuer und Flamme war. Sie musste einfach inständig hoffen, irgendwann doch noch Feuer zu fangen.

Als Nikki am nächsten Morgen das Haus verließ, wurde sie von einem fiesen Sprühregen begrüßt. Missmutig zog sie sich die mit Kunstpelz gesäumte Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und machte sich auf den ungemütlichen fünfzehnminütigen Fußmarsch zur nächstgelegenen Bahnstation. Ihre heißgeliebte Ledertasche schlug ihr baumelnd gegen die Hüfte. Am Zeitungskiosk hielt sie kurz inne, um sich eine Schachtel Zigaretten zu kaufen. Das Handy in ihrer Tasche brummte – eine Nachricht von Olive.

Job in Kinderbuchhandlung. Perfekt für dich! Gestern in der Zeitung gesehen.

Nikki war gerührt. Seit sie Olive gestanden hatte, dass sie fürchtete, O’Reilly’s könne womöglich bald für immer die Türen schließen, durchforstete ihre Freundin gewissenhaft die Stellenanzeigen in der Zeitung für sie. Mit dem Pub ging es schon eine Weile bergab. Seine Einrichtung war zu schäbig, um als hip durchzugehen, und das typische englische Kneipenessen konnte mit dem trendigen Café, das gleich nebenan eröffnet hatte, auch nicht mehr mithalten. Sam O’Reilly verbrachte inzwischen mehr Zeit in dem kleinen Büro im Hinterzimmer, umgeben von unzähligen Rechnungen und Belegen, als hinter dem Tresen.

Nikki schrieb prompt zurück.

Habe ich auch gesehen. Wollen aber mindestens 5 Jahre Berufserfahrung. Brauche einen Job, um Berufserfahrung zu sammeln, brauche Berufserfahrung, um einen Job zu bekommen – verrückte Welt!

Von Olive kam keine Antwort mehr. Als Lehrerin im Vorbereitungsdienst konnte sie werktags nur sporadisch Nachrichten schreiben. Nikki hatte mit dem Gedanken gespielt, ebenfalls Lehrerin zu werden. Aber immer, wenn Olive von ihren anstrengenden, verzogenen Schülern erzählte und was sie wieder angestellt hatten, war Nikki heilfroh, sich bei O’Reilly’s nur gelegentlich mit dem einen oder anderen schwankenden Säufer herumschlagen zu müssen.

Nikki tippte noch eine Nachricht.

Heute Abend im Pub? Du glaubst nicht, wo ich gerade hinfahre – Southall!

Dann drückte sie die Zigarette aus und ließ sich von dem Pendlerstrom mitreißen, der sie bis in ihre Bahn spülte.

Während der Fahrt schaute Nikki versonnen aus dem Fenster und beobachtete, wie London langsam hinter ihr zurückblieb, je weiter der Zug nach Westen ratterte, und wie die Backsteinhäuser allmählich Schrottplätzen und Gewerbehöfen wichen. Am Bahnhof Southall waren sämtliche Schilder auf Englisch und Punjabi verfasst. Nikkis Blick blieb zuerst an der Punjabi-Beschilderung hängen, und sie staunte, wie vertraut ihr das Geschlängel und Geringel immer noch war. Während der vielen Sommer in Indien hatte sie auch Gurmukhi schreiben und lesen gelernt. Später war es ein profitabler Partytrick gewesen, gegen ein paar Freigetränke die Namen ihrer englischen Freunde auf Punjabi auf eine Cocktailserviette zu kritzeln.

Mit dem Bus ging es weiter zum Tempel. Der Anblick der unzähligen zweisprachigen Schilder an den Läden links und rechts verursachte Nikki Kopfschmerzen, und sie beschlich das vage Gefühl, in zwei Teile zerrissen zu werden. Britisch, Indisch. Als sie noch ein kleines Kind war, hatte ihre Familie oft Tagesausflüge hierher unternommen – zu Hochzeiten im Tempel oder Shoppingtouren auf der unermüdlichen Suche nach frischen indischen Gewürzen. Nikki konnte sich noch gut an die konfusen Streitgespräche bei diesen Ausflügen erinnern, denn Mum und Dad schienen sich stets uneins gewesen zu sein, ob sie es nun mochten, unter Landsleuten zu sein, oder doch eher verabscheuten. Wäre es nicht eigentlich ganz nett, andere Punjabis als Nachbarn zu haben? Aber warum dann überhaupt nach England auswandern? Je heimischer ihre Eltern in Nordlondon wurden, desto seltener wurden die Besuche in Southall, bis sie irgendwann in ebenso weite Ferne gerückt waren wie Indien selbst. Jetzt dröhnte aus dem Auto auf der Spur neben ihnen ein treibender Bhangra-Bass-Beat. Aus dem Schaufenster eines Stoffhändlers lächelten eine Reihe Mannequins in Glitzer-Saris verschämt den vorbeigehenden Passanten zu. Die Auslage der Gemüsehändler schwappte bis hinaus auf die Bürgersteige, und vom Verkaufswagen eines Samosa-Bäckers stieg heißer duftender Dampf in den Himmel. Es hatte sich nichts geändert.

An einer Haltestelle stiegen etliche Schulmädchen aus der Oberstufe ein. Kichernd und plappernd standen sie zusammen, und als der Bus plötzlich einen Satz machte, wurden sie unter kollektivem Kreischen nach vorne geschleudert. »Heilige Scheiße!«, krakelte eins der Mädchen. Worauf die anderen alle losprusteten. Der Lärm verstummte allerdings schlagartig, als die Mädchen die missbilligenden Blicke der beiden turbantragenden Herren sahen, die Nikki gegenübersaßen. Die Mädchen stupsten sich gegenseitig in die Rippen, still zu sein.

»Benehmt euch anständig«, zischte jemand, und als Nikki sich umdrehte, sah sie eine ältere Dame, die die Mädchen verächtlich musterte, als diese mit gesenktem Kopf beschämt an ihr vorbeihuschten. Die meisten Passagiere stiegen mit Nikki am Gurdwara aus. Die goldene Kuppel glänzte in der Sonne vor einem mit steingrauen Wolken verhangenen Himmel, und funkelnde saphirblaue und orangerote Schnörkel zierten die Bleiglasfenster im zweiten Stock. Die viktorianischen Stadthäuschen ringsum wirkten winzig wie Spielzeug im Vergleich zu dem majestätischen, hochaufragenden schneeweißen Gebäude. Wie gerne hätte Nikki eine Zigarette geraucht, aber hier waren überall viel zu viele Augen. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, als sie ein Grüppchen weißhaariger Frauen passierte, die langsam von der Bushaltestelle zum geschwungenen Eingangstor des Tempels wackelten. Als Kind war ihr die Decke in dem weitläufigen Gebäude himmelhoch erschienen, und auch heute noch schien sie in schwindelerregender Höhe zu sein. Ein verhallendes Echo der gechanteten Gesänge schallte vom Gebetssaal herüber. Nikki nahm ihren Schal aus der Tasche und schlang ihn sich um den Kopf. Seit ihrem letzten Besuch Jahre zuvor war der Eingangsbereich des Tempels renoviert worden, weshalb sie die Aushänge nicht gleich entdeckte. Eine Weile wanderte sie ziellos herum. Fragen wollte sie nicht. Einmal war sie in Islington in eine Kirche gegangen, um nach dem Weg zu fragen, und hatte den Fehler gemacht, dem Pastor zu sagen, sie habe sich verirrt. Das nachfolgende Gespräch zwecks Suche nach ihrer verschütteten Spiritualität hatte eine gute Dreiviertelstunde gedauert, und den Weg zur Victoria-Bahnlinie hatte sie danach trotzdem nicht gewusst.

Endlich entdeckte Nikki die Anschlagbretter gleich in der Nähe des Eingangs zum Langar*-Saal. Zwei lange Pinnwände nahmen beinahe die gesamte Wandbreite ein: HEIRAT und GEMEINDENACHRICHTEN. Während man die Aushänge auf der Gemeindeseite fast an einer Hand abzählen konnte, hingen die Zettel am Heiratsbrett doppelt und dreifach übereinander.

Hey dU, WiE gEHt’s, wIE SteHT’s? NUR 1 ScHErz! ICh bIN 1 ziEMliCh eNtSpannTEr TyP, aBEr iCh kaNN DiR verSiCHeRn, icH MEiNe eS gANz erNSt. 1 SPieLEr BiN iCH niCHt. MeIn ZiEl iSt es, dAs LEbeN ZU genIeSSen, eINen TaG naCH DeM anDEreN zu NeHMeN unD siCH NicHT üBEr nIChtigKeiTEn aUFzurEGeN. UNd daS WiChTiGsTe: mEIne PrinZeSSIn zu FIndEn unD SiE sO zu VeRWöhneN, wIe SIe eS VeRDieNT.

Junger Sikh-Mann aus Jat-Familie, beste Herkunft, sucht Sikh-Mädchen mit ähnlichem Hintergrund. Kompatible Interessen sowie Neigungen und Abneigungen und übereinstimmende Familienwerte sind Voraussetzung. Wir sind in vieler Hinsicht offen und tolerant, Nicht-Vegetarierinnen und Frauen mit kurzen Haaren sind allerdings inakzeptabel.

Braut für Sikh-Akademiker gesuchtAmardeep hat gerade seinen BA in Bilanzbuchhaltung gemacht und sucht das Mädchen seiner Träume; seine bessere Hälfte. Als Bester seines Abschlussjahrgangs wurde ihm kürzlich eine Top-Position in einer Top-Anwaltskanzlei angeboten. Seine Braut sollte ebenfalls studiert haben und einem Beruf nachgehen, vorzugsweise mit einem BA in einem der folgenden Zweige: Wirtschaftslehre, Marketing, Unternehmensverwaltung oder Management. Unsere Familie ist im Textilgeschäft.

Mein Bruder weiß nicht, dass ich das hier poste, aber ich dachte mir, probieren kann man es ja mal! Er ist Single, 27 Jahre alt und ledig. Er ist klug (zwei Master-Abschlüsse!!!), witzig, nett und respektvoll. Und das Allerbeste, er ist echt HEISSSS. Ich weiß, es klingt etwas eigenartig, wenn seine Schwester das sagt, aber es stimmt. Ich schwöre! Wenn ihr ein Foto sehen wollt, schreibt mir.

Name: Sandeep SinghAlter: 24Blutgruppe: O positivStudium: BA MaschinenbauBeruf: MaschinenbauerHobbys: Ein bisschen Sport und SpielAussehen: heller Teint, 1,72m, offenes Lächeln Siehe auch Foto

»Gibt’s doch nicht«, murmelte Nikki und wandte sich mit Grausen ab. Mindi mochte vielleicht den traditionellen Weg einschlagen wollen, aber sie war viel zu gut für jede einzelne dieser Witzfiguren. Ihre von Nikki leicht editierte Suchanzeige bewarb eine einfühlsame, selbstbewusste Single-Frau, die genau die richtige Balance gefunden hatte zwischen Tradition und Moderne.

Im Sari fühle ich mich genauso wohl wie in Jeans. Mein Traummann genießt gutes Essen und kann laut über sich selbst lachen. Ich bin ausgebildete Krankenschwester und finde meine Erfüllung in der Sorge um andere Menschen. Dennoch suche ich einen Ehemann, der für sich selber sorgen kann, denn ich schätze meine Unabhängigkeit. Hin und wieder schaue ich auch Bollywood-Filme, lieber mag ich aber romantische Komödien und Actionfilme. Ich bin weit gereist, aber den Rest der Welt sehe ich mir lieber zusammen mit dem Einen an, der mich auch auf der wichtigsten Reise von allen begleitet: dem Leben.

Beim letzten Satz sträubten sich Nikki zwar die Nackenhaare, aber er passte zu ihrer Schwester. Die fand so was nicht kitschig, sondern tiefgründig. Wieder schweifte ihr Blick über das Anschlagbrett. Wenn sie jetzt ging, ohne die Annonce ihrer Schwester irgendwo anzupinnen, würde Mindi ihr keine Ruhe lassen, bis sie noch mal wiederkam und die Sache zu Ende brachte. Aber wenn sie den Zettel jetzt hier anbrachte, entschied Mindi sich am Ende womöglich für einen dieser Vollpfosten. Nur weil sie dachte, sie fände nichts Besseres. Nikki hätte sich am liebsten eine Zigarette angesteckt und kaute stattdessen nervös am Daumennagel. Schließlich rang sie sich dazu durch, den Zettel an das Brett zu heften, wenn auch ganz außen, am Rand der Heiratsgesuche, wo die Anzeige am wenigsten auffiel und teilweise mit den spärlichen Aushängen der Gemeindenachrichten überlappte. Aber immerhin konnte sie behaupten, den Auftrag wunschgemäß ausgeführt zu haben.

Hinter ihr räusperte sich jemand. Nikki drehte sich um und sah sich plötzlich einem schmächtigen Männlein gegenüber. Der zuckte eigenartig mit den Schultern, als antwortete er auf eine ungestellte Frage. Nikki nickte ihm höflich zu und wendete sich wieder ab. Aber dann sprach er sie doch an.

»Dann suchen Sie also …« Verschämt wies er mit einem Wedeln der Hand auf das Schwarze Brett. »Einen Ehemann?«

»Nein«, widersprach Nikki vehement. »Ich bestimmt nicht.« Sie wollte den Mann nicht auf Mindis Aushang aufmerksam machen. Er hatte Ärmchen wie Zahnstocher.

»Ach«, murmelte er peinlich berührt.

»Ich schaue nur gerade nach den Neuigkeiten aus der Gemeinde«, schwindelte Nikki. »Ehrenamtliches Engagement und so.« Damit drehte sie ihm demonstrativ den Rücken zu und tat, als studierte sie interessiert die Aushänge. Eifrig nickend las sie die einzelnen Zettel. Da waren Autos zu verkaufen und Wohnungen zu vermieten. Auch ein paar Heiratsanzeigen hatten sich hierher verirrt. Aber diese Angebote waren auch nicht besser als die, die Nikki bereits gesehen hatte.

»Dann engagieren Sie sich also ehrenamtlich?«, stellte der Mann fest.

»Ich muss jetzt wirklich los«, murmelte Nikki rasch. Dann kramte sie geschäftig in ihrer Handtasche, um jede weitere Unterhaltung zu unterbinden, und wendete sich entschlossen dem Ausgang zu, um zu gehen. Just in dem Augenblick blieb ihr Blick an einem der Zettel hängen. Abrupt blieb sie stehen und überflog ihn rasch. Nur um ihn dann noch mal sorgfältig durchzulesen. Langsam wanderten ihre Augen über die gedruckten Worte.

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Darunter stand eine handschriftlich gekritzelte Ergänzung: Schreibwerkstatt nur für Frauen. Werkstattleiterin gesucht. Bezahlte Stelle, zwei Tage die Woche. Bitte melden Sie sich bei Kulwinder Kaur von der Sikh Community Association.

Erfahrung aus vorherigen Workshop-Leitungen wurde nicht verlangt. Das war schon mal ermutigend. Nikki zog das Handy aus der Tasche und tippte die Nummer ein, um sie abzuspeichern. Sie spürte die neugierigen Blicke des Mannes neben ihr, ignorierte ihn aber geflissentlich und reihte sich dann in eine Gruppe Gläubiger ein, die gerade aus dem Langar-Saal strömte.

Ob sie eine Schreibwerkstatt leiten könnte? Sie hatte mal einen Artikel für den Blog der UK Fem Fighters geschrieben, in dem sie über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung auf offener Straße in Delhi und London berichtete. Drei Tage hatte der Post sich auf der Liste der meistgelesenen Artikel gehalten. Bestimmt könnte sie irgendwelchen Tempelfrauen ein paar Schreibtipps geben, oder? Und am Schluss vielleicht eine Anthologie der besten Arbeiten herausgeben. Eine Beschäftigung als Lektorin und Herausgeberin würde sich in ihrem Lebenslauf jedenfalls gut machen. Ein kleiner Hoffnungsfunken glimmte in ihrer Brust. Vielleicht war das ja endlich ein Job, der ihr Spaß machen und auf den sie stolz sein könnte.

Durch die Seitenfenster schien Licht in den Tempel und warf warme Farbkleckse auf den Fliesenboden, ehe ein Wolkenhaufen heranzog und sich vor die Sonne schob. Gerade, als Nikki aus dem Gebäude trat, kam endlich eine Antwort von Olive auf ihre letzte Nachricht.

Wo bitte ist denn Southall?

Die Frage wunderte Nikki. So lange, wie sie jetzt schon befreundet waren, musste Nikki Olive gegenüber doch irgendwann mal den Namen Southall erwähnt haben. Aber andererseits hatten sie und Olive sich erst in der Oberstufe kennengelernt, als Nikkis Eltern die Punjabi-Ausflüge schon längst viel zu anstrengend geworden waren. Weshalb Olive sich auch nie Nikkis Lamento anhören musste, wieder einen glorreichen Sonntag darauf verschwendet zu haben, auf der Suche nach Koriandersaat und Senfsamen sämtliche Gewürzhändler in Southall abzuklappern.

Nikki blieb stehen und schaute sich um. Rings um sie herum sah sie Frauen mit Kopftüchern – Frauen, die Kleinkindern hinterherliefen, Frauen, die sich gegenseitig aus den Augenwinkeln musterten, Frauen, die über Rollatoren gebeugt nur langsam und beschwerlich vorankamen. Jede von ihnen hatte eine Geschichte zu erzählen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie in einem Raum voller Punjabi-Frauen stand und den Workshop leitete. Sie sah alles schon ganz genau vor sich: Die knallbunten farbenfrohen Kamize*, das Rascheln des Stoffs und das nachdenkliche Klopfen von Bleistiften. Der Duft nach Parfum und Kurkuma. Mit einem Mal sah sie ihre Aufgabe glasklar vor sich. »Es gibt Menschen, die nicht einmal wissen, dass es diesen Ort hier überhaupt gibt«, würde sie sagen. »Lasst uns das gemeinsam ändern!« Und dann würden sie mit glühender Leidenschaft und rechtschaffener Empörung ihre Geschichten aufschreiben, damit die ganze Welt sie lesen konnte.

* Eine Erklärung der mit * gekennzeichneten Begriffe finden Sie am Ende des Buches.

Zweites Kapitel

Zwanzig Jahre war es her, dass Kulwinder Kaur bei ihrem ersten und einzigen Versuch, britisch zu werden, eine Yardly-English-Lavender-Seife gekauft hatte. Gerechtfertigt hatte sie diesen unerhörten Einkauf mit der Feststellung, dass die Neem-Seife, die ihre Familie sonst immer benutzte, vom täglichen Gebrauch zu einem papierdünnen Fitzelchen zusammengeschmolzen war. Als Sarab ihr vorhielt, der Vorratsschrank sei bis oben hin vollgestopft mit Bedarfsartikeln aus Indien (Zahnpasta, Seife, Haaröl, Brylcreem, Turbanstärke und etliche Flaschen Waschgel für den weiblichen Intimbereich, das er beim Kauf versehentlich für Shampoo gehalten hatte), argumentierte Kulwinder, die mitgebrachten Vorräte aus der alten Heimat würden früher oder später zur Neige gehen. Sie bereite sich nur auf das Unabwendbare vor.

Früh am nächsten Morgen wachte sie auf und zog Maya eine Wollstrumpfhose, einen karierten Rock und einen Pullover an. Beim Frühstück ermahnte sie Maya nervös, brav stillzusitzen, damit sie ihre allererste Schuluniform nicht bekleckerte. Kulwinder selbst tunkte ihr Roti in Achar*, das die Finger verfärbte und einen penetranten Geruch an den Händen hinterließ. Sie bot Maya etwas davon an, aber die rümpfte nur die Nase; ihr war das zu sauer. Nach dem Essen schrubbte Kulwinder sich selbst und ihrer Tochter mit der neuen Seife gründlich die Hände – zwischen den Fingern, unter den Nägeln und vor allem in den feinen Linien, in die ihr Schicksal eingraviert war. Duftend wie ein englischer Landgarten traten die beiden kurz darauf an das Registrierungspult der Grundschule.

Eine junge blonde Frau stellte sich als Miss Teal vor und ging in die Hocke, damit sie auf einer Höhe mit Maya war. »Guten Morgen«, zirpte sie mit einem strahlenden Lächeln, und Maya lächelte schüchtern zurück. »Wie heißt du denn?«

»Maya Kaur«, zwitscherte Maya leise wie ein Vögelchen.

»Ach, dann bist du bestimmt die Cousine von Charanpreet Kaur. Wir haben dich schon erwartet«, meinte Miss Teal. Kulwinder wurde stocksteif. Ein geläufiges Missverständnis – die Annahme, dass alle Menschen mit dem Nachnamen Kaur miteinander verwandt sein müssten – und eins, das sie sonst schnell aufklären konnte, aber heute fehlten ihr die englischen Worte. Schon jetzt war sie wie benommen angesichts dieser fremden neuen Welt, die Maya nun betreten sollte. »Sag es ihr«, drängte sie Maya auf Punjabi, »sonst denkt sie am Ende noch, du bist für alle anderen Punjabi-Kinder an der Schule mitverantwortlich.« Und hatte mit einem Mal das beunruhigende Bild vor Augen, wie sie Maya nach dem Unterricht abholte und unvermittelt mit einer Schar fremder Kinder dastand.

»Charanpreet ist nicht meine Cousine«, erklärte Maya und seufzte leicht angesichts ihrer verdrucksten Mutter. »In meiner Religion heißen alle Mädchen Kaur und alle Jungs Singh.«

»Alle eine große Familie, Kinder Gottes«, fügte Kulwinder hinzu. »Sikh-Religion.« Aus irgendeinem dämlichen Grund zeigte sie Miss Teal die gereckten Daumen, als wolle sie ihr eine neue Waschmittelmarke empfehlen.

»Wie interessant«, entgegnete Miss Teal. »Maya, möchtest du Miss Carney kennenlernen? Sie ist unsere andere Lehrerin.« Miss Carney kam zu ihnen herüber. »Hast du aber schöne Augen«, gurrte sie entzückt. Kulwinder lockerte unmerklich den Klammergriff um Mayas Hand. Das hier waren nette Leute, die sich gut um ihre Tochter kümmern würden. In den Wochen, die Mayas Einschulung vorangegangen waren, hatte sie sich unablässig Sorgen gemacht, wie es Maya in der Schule ergehen würde. Was, wenn die anderen Kinder Maya wegen ihres Akzents aufzogen? Was, wenn es einen Notfall gab und jemand aus der Schule Kulwinder anrief und sie kein Wort verstand?

Miss Carney reichte Kulwinder einen Stapel Formulare zum Ausfüllen. Kulwinder zog darauf ihrerseits einen Stapel Formulare aus der Handtasche. »Gleiche«, versuchte sie zu erklären. Sarab hatte sie am Abend zuvor ausgefüllt. Sein Englisch war wesentlich besser als ihres, aber es hatte trotzdem ewig gedauert. Als sie ihm dabei zugesehen hatte, wie er mit dem Kuli auf jedes Wort tippte, das er las, hatte Kulwinder sich mit einem Mal ganz klein in diesem unbekannten Land gefühlt, wo sie das Alphabet lernen mussten wie kleine Kinder. »Bald kann Maya alles für uns übersetzen«, hatte Sarab gemeint. Kulwinder wünschte, das hätte er nicht gesagt. Kinder sollten nicht mehr wissen als ihre Eltern.

»Sie sind gut vorbereitet«, bemerkte Miss Teal. Kulwinder freute sich, die Lehrerin beeindrucken zu können. Miss Teal blätterte die Unterlagen durch und hielt dann inne. »Hier haben Sie vergessen, Ihre Festnetznummer einzutragen. Sagen Sie mir sie eben?«

Kulwinder hatte die Ziffern auf Englisch auswendig gelernt, damit sie die Nummer herunterbeten konnte, wenn man sie danach fragte. »Acht neun sechs …« Sie unterbrach sich und verzog das Gesicht. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie fing noch mal von vorne an. »Acht neun sechs fünf …« Sie erstarrte. Das Achar von heute Morgen blubberte in ihrer Brust.

»Acht neun sechs acht neun sechs fünf?«, fragte Miss Teal.

»Nein.« Kulwinder machte eine Handbewegung, als wolle sie das Gesagte wegwischen. »Noch mal.« Ihr Hals schnürte sich zu und wurde eng und heiß. »Acht neun sechs acht fünf fünf fünf fünf fünf fünf fünf.« Es waren weniger Fünfen, aber sie war hängengeblieben wie eine kaputte Schallplatte, weil sie sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, den unaufhaltsam aufsteigenden Rülpser zu unterdrücken.

Miss Teal runzelte die Stirn. »Das sind zu viele Ziffern.«

»Noch mal«, krächzte Kulwinder. Die ersten drei Ziffern brachte sie gerade noch heraus, bevor eine gewaltige Eruption sich Bahn brach und wie ein Posaunenton aus ihrer Kehle über das Registrierungspult trompetete. Ein verdorbener fauliger Geruch hing plötzlich in der Luft, die – zumindest in Kulwinders verzerrter Erinnerung – wie zäher Schlick in warzigen braunen Blasen blubberte.

Sobald sie wieder Luft bekam, ratterte sie hastig die verbliebenen Ziffern herunter. Der Lehrerin fielen vor unterdrücktem Lachen fast die Augen aus dem Kopf (das bildete Kulwinder sich nicht bloß ein). »Danke«, sagte Miss Teal. Naserümpfend legte sie den Kopf etwas zur Seite und schaute Kulwinder von oben herab an. »Das wäre dann alles.«

Schamrot flüchtete Kulwinder vor der Frau. Sie wollte nach Mayas Hand greifen, doch neben ihr war niemand, und dann sah sie ihre Tochter drüben auf einer Schaukel sitzen, wo sie sich von einem anderen Mädchen anschubsen ließ, das die lockigen roten Haare in lustigen Zöpfen trug.

Als Kulwinder ein paar Jahre später stolz verkündete, die ganze Familie werde nach Southall umziehen, protestierte Maya entsetzt. »Und was ist mit meinen Freunden?«, heulte sie und meinte damit das rothaarige Mädchen, das blonde Mädchen, das Mädchen im Overall, das sich selbst die Haare schnitt. (»Ist das nicht schrecklich?«, sagte ihre Mutter so liebevoll, dass das Wort plötzlich noch eine ganz andere Bedeutung bekam.) »In unserer neuen Nachbarschaft findest du viel bessere Freunde«, hatte Kulwinder entgegnet. »Freunde wie wir.«

Heute aß Kulwinder nur noch ganz wenig Achar, damit sie kein Sodbrennen bekam. Ihr Englisch war etwas besser geworden, auch wenn sie es in Southall nicht brauchte. Als neu ernannte Fortbildungsdirektorin des Sikh-Gemeindeverbandes hatte sie ein eigenes Büro im Freizeitzentrum. Es war staubig und vollgestopft mit alten, längst vergessenen Akten, die sie eigentlich gleich hatte wegwerfen wollen, aber dann doch in den Regalen gelassen hatte, weil sie mit Etiketten wie BAUORDNUNG und SITZUNGSPROTOKOLLE – KOPIEN dem Raum ein gewisses förmliches Flair verliehen. Derlei Äußerlichkeiten waren wichtig, besonders, wenn gelegentlich Besucher kamen, wie der Vorsitzende der Sikh-Gemeinde, Mr Gurtaj Singh, der gerade vor ihrem Schreibtisch stand und sie wegen der Handzettel ausfragte.

»Wo haben Sie die aufgehängt?«

»Am Schwarzen Brett des Tempels.«

»Was sind das für Kurse?«

»Schreibkurse«, entgegnete Kulwinder. »Für die Frauen.«

Stumm ermahnte sie sich, sich zusammenzureißen und nicht die Geduld zu verlieren. Bei ihrem letzten Treffen zur Budgetplanung hatte Gurtaj Singh ihren Finanzantrag rundweg abgelehnt. »Dafür ist kein Geld da«, hatte er abgewunken. Es war nicht Kulwinders Art, in Gegenwart so vieler angesehener Sikh-Männer zu widersprechen, aber Gurtaj Singh schien es eine diebische Freude zu machen, sie herablassend abzutun. Sie musste Gurtaj Singh daran erinnern, dass das Gemeindezentrum auf dem Gelände des Tempels lag und eine Lüge hier genauso schwer wog wie im Tempel selbst. Darum trugen auch beide Turban und Dupatta*, die den Kopf bedeckten, als Zeichen von Gottes geheiligter Gegenwart. Gurtaj Singh musste wohl oder übel nachgeben. Mit dem Kugelschreiber machte er einen wütenden Strich durch seine Notizen und brummte einige Zahlen, und Kulwinder dachte, Geld für Frauen aufzutreiben war eigentlich doch gar nicht so schwer.

Und jetzt stand er vor ihr und stellte ihr Fragen, als hätte er noch nie etwas von der ganzen Sache gehört. Er hatte wohl nicht erwartet, dass sie gleich loslegen und einen Aushang machen würde, um eine Kursleiterin zu suchen. Kulwinder zeigte ihm den Zettel. Gurtaj ließ sich Zeit, setzte sich erst umständlich die Gleitsichtbrille auf und räusperte sich dann. Zwischen den Zeilen bedachte er Kulwinder mit einem Seitenblick, bei dem er aussah wie ein Gauner aus einem alten Hindi-Film. »Haben Sie schon eine Kursleiterin gefunden?«

»Ich habe in ein paar Minuten ein Vorstellungsgespräch. Die Bewerberin müsste gleich da sein«, antwortete Kulwinder. Gestern hatte eine junge Frau angerufen, die sich als Nikki vorgestellt hatte. Sie hätte eigentlich schon vor einer Viertelstunde da sein sollen. Hätte Kulwinder noch andere Bewerberinnen gehabt, hätte sie das nicht weiter beunruhigt, aber der Aushang hing nun schon seit einer Woche am Schwarzen Brett, und diese Nikki war die Einzige, die sich bisher darauf gemeldet hatte.

Wieder betrachtete Gurtaj kritisch den Handzettel. Kulwinder hoffte inständig, er würde sie nicht fragen, was all die ganzen Worte bedeuteten. Sie hatte den Text von einem anderen Aushang kopiert, der in einem Freizeitzentrum nahe der Queen Mary Road angepinnt gewesen war. Der Aushang hatte sehr professionell ausgesehen, also hatte sie ihn abgenommen und war damit zu dem Kopierladen gegangen, in dem Munna Kaurs Sohn arbeitete. »Mach mir davon ein paar Kopien«, hatte sie den pickligen Jungen angewiesen. Kurz hatte sie überlegt, sich von ihm ein paar der Wörter übersetzen zu lassen, die sie nicht verstand, aber wenn er nach dieser berechnenden Munna kam, würde er ihr so einen Gefallen nicht umsonst tun. Und außerdem ging es nicht um Genauigkeit; sie wollte nur, dass der Kurs – irgendein Kurs – möglichst bald begann.

»Gibt es schon potenzielle Teilnehmerinnen?«, wollte Gurtaj Singh wissen.

»Ja«, antwortete Kulwinder. Sie war selbst herumgegangen und hatte den Frauen von den Kursen erzählt. Sie hatte ihnen gesagt, dass sie zweimal die Woche stattfinden würden und kostenlos waren, weshalb von den Frauen erwartet würde, dass sie teilnahmen. Besonders angesprochen hatte sie ältere Witwen, die ein sinnvolleres Hobby gebrauchen konnten, als die ganze Zeit im Langar herumzusitzen und zu tratschen. Bei ihnen war auch die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sie regelmäßig teilnahmen und nach außen hin den Eindruck gewährleisteten, der Kurs sei ein voller Erfolg. Dann würde es noch mehr Initiativen geben, mit denen Kulwinder ihre Zeit füllen konnte. »Irgendwann wird es für die Frauen hoffentlich noch weit mehr Angebote geben«, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen.

Gurtaj Singh legte den Zettel wieder auf ihren Schreibtisch. Er war ein kleiner Mann, der die Khakihosen bis weit über die Taille hochzog, als wäre es ein stillschweigendes Eingeständnis seiner kleinen Körpergröße, die Hosen kürzen zu lassen. »Kulwinder, es tut uns allen leid, was mit Maya passiert ist«, sagte er.

Seine Worte versetzten Kulwinder einen so schmerzhaften Stich, dass es ihr den Atem verschlug. Rasch riss sie sich wieder zusammen und fixierte Gurtaj Singh mit einem harten, unnachgiebigen Blick. Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Niemand hilft mir es herauszufinden. Sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie diese Worte laut ausspräche. »Ich danke Ihnen«, entgegnete sie steif. »Aber meine Tochter hat damit nichts zu tun. Die Frauen in der Gemeinde wollen lernen – und als einzige Frau im Gemeindevorstand bin ich hier, um ihnen eine Stimme zu geben.« Geschäftig begann sie Papiere auf ihrem Schreibtisch zu sortieren. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe heute Nachmittag noch viel zu erledigen.«

Gurtaj Singh verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und ging. Genau wie die der anderen Vorstandsmitglieder lag sein Büro im frisch renovierten Teil des Tempels. Es hatte Echtholzdielen und große Fenster mit Blick auf die Gärten der Häuser ringsum. Kulwinder war die Einzige, die noch in diesem alten zweistöckigen Gebäude saß, und als sie auf Gurtaj Singhs verhallende Schritte lauschte, fragte sie sich, wofür die Männer so viel Platz brauchten, wo sie doch jeden neuen Vorschlag immer mit einem Nein abwimmelten.

Als Kulwinder das Fenster öffnete, um ein wenig frische Luft hereinzulassen, wirbelte ein Windstoß ihre Unterlagen durcheinander. Auf der Suche nach einem Briefbeschwerer stieß sie auf ihren alten Gratis-Kalender von der Barclay Bank. In den Notizen stand eine ganze Reihe von Namen und Nummern – die örtliche Polizeidienststelle, ihre Anwälte, sogar ein Privatdetektiv, den sie dann doch nie angerufen hatte. Inzwischen war es zehn Monate her, und manchmal überkam sie immer noch diese überwältigende, alles verschlingende Verzweiflung – wie in dem Augenblick, als sie erfahren hatte, dass ihre Tochter tot war. Sie klappte den Kalender zu und umklammerte ihre Teetasse. Die Hitze brannte sich durch alle Schichten ihrer Haut. Maya.

»Sat sri akal.* Entschuldigen Sie die Verspätung.«

Erschrocken ließ Kulwinder die Tasse auf den Schreibtisch fallen. In einem Schwall ergoss der Chai sich auf den Tisch und durchweichte ihre Unterlagen. Im Türrahmen stand eine junge Frau. »Wir sagten 14 Uhr«, sagte Kulwinder, während sie hektisch ihre Papiere zu retten versuchte.

»Ich wäre pünktlich gewesen, aber der Zug hatte Verspätung.« Sie nahm eine Serviette aus der Tasche und half Kulwinder, die Unterlagen trockenzutupfen. Kulwinder trat einen Schritt zurück und musterte sie. Obwohl sie nie einen Sohn gehabt hatte, gehörte es zu ihren Angewohnheiten, jedes Mädchen auf seine Ehetauglichkeit zu überprüfen. Nikki hatte die schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihre hohe Stirn betonte. Das spitze Gesicht war zwar ganz hübsch, aber längst nicht so schön, dass sie es sich leisten konnte, so gänzlich ungeschminkt aus dem Haus zu gehen, wie sie es augenscheinlich tat. Die Fingernägel waren abgeknabbert, eine abstoßende Angewohnheit, und an der Taille schlackerte eine quer über die Schulter getragene quadratische Tasche, die eindeutig einmal einem Postboten gehört haben musste.

Nikki hatte offensichtlich bemerkt, dass Kulwinder sie musterte. Herrisch räusperte Kulwinder sich und machte sich daran, die trocken geblieben Unterlagen zusammenzuklauben und am anderen Ende des Schreibtischs zu stapeln. Eigentlich dachte sie, Nikki würde sie dabei beobachten. Doch das Mädchen sah sich bloß desinteressiert in ihrem Büro um und betrachtete verächtlich die vollgestopften Regale.

»Haben Sie Ihren Lebenslauf mitgebracht?«, fragte Kulwinder kühl.

Nikki nahm ein Blatt Papier aus ihrer Postbotentasche. Kulwinder überflog es rasch. Sie konnte nicht wählerisch sein – inzwischen war sie an einem Punkt angekommen, wo sie jede Dozentin einstellen würde, die der englischen Sprache mächtig war. Aber der Stich, den der abfällige Blick dieses Mädchens ihr versetzt hatte, schmerzte, weshalb Kulwinder nur ungern ein Auge zudrücken wollte.

»Welche Unterrichtserfahrungen haben Sie?«, fragte sie auf Punjabi.

Das Mädchen antwortete ihr hastig auf Englisch: »Ich muss zugeben, ich habe nicht viel Erfahrung, aber ich habe großes Interesse daran …«

Kulwinder hob die Hand. »Antworten Sie bitte auf Punjabi«, sagte sie. »Haben Sie schon mal unterrichtet?«

»Nein.«

»Warum möchten Sie dann die Kursleitung übernehmen?«

»Ich habe ein … ähm … wie sagt man? Eine Leidenschaft, Frauen zu helfen«, stammelte Nikki.

»Hmm«, brummte Kulwinder unbeeindruckt. Der ausführlichste Punkt im Lebenslauf dieses Mädchens stand unter der Überschrift »Aktivismus«. Greenpeace-Petitions-Verbreiterin, Aktive bei Women’s Aid und Ehrenamtlerin bei UK Fem Fighters. Kulwinder wusste zwar nicht, was das alles zu bedeuteten hatte, aber UK Fem Fighters kam ihr irgendwie bekannt vor. Maya hatte mal einen Magneten mit dieser Aufschrift mit nach Hause gebracht. Kulwinder wusste, dass es irgendwas mit Frauenrechten zu tun hatte. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie. Es war eine Sache, sich hinter verschlossenen Türen mit Männern wie Gurtaj Singh anzulegen, um Finanzmittel für Frauenprojekte zu erstreiten. Aber die hier geborenen indischen Mädchen, die auf die Straße gingen, um in der Öffentlichkeit lautstark nach mehr Rechten für Frauen zu verlangen, machten sich lächerlich. Wussten sie denn nicht, dass sie mit ihrer krassen, herausfordernden Art förmlich nach Ärger schrien? Kurz kochte Wut in ihr hoch beim Gedanken an Maya, gefolgt von unerwartet heftiger Trauer, die sie für einen Augenblick fast betäubte. Dann riss sie sich zusammen und war mit einem Ruck wieder in der Gegenwart. Nikki redete immer noch. Punjabi sprach sie eher stockend und unsicher, und ihre Sätze waren durchsetzt mit englischen Wörtern.

»Mein Meinung ist, dass jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Für mich wäre es eine befriedigende Erfahrung, Punjabi-Frauen zu helfen, zu formulieren ihre Geschichten und zu sammeln sie in einem Buch.«

Kulwinder musste das Mädchen wohl mit ihrem andauernden Nicken ermutigt haben, denn was sie da brabbelte, ergab überhaupt keinen Sinn. »Sie möchten ein Buch schreiben?«, hakte sie vorsichtig nach.

»Die Frauengeschichten werden machen eine Sammlung«, erwiderte Nikki. »Ich nicht viel erwarte von den Künsten, aber ich mag helfen zu schreiben, und ich lese gerne. Ich glaube, ich werde können ihnen helfen zu kultivieren ihre Kreativität. Ich kann ihnen an die Hand nehmen zum Leiten des Prozesses, natürlich, und dann vielleicht ein wenig bearbeiten.«

Langsam dämmerte es Kulwinder, dass in ihrer Stellenausschreibung Dinge stehen mussten, die sie selbst nicht verstand. Abermals warf sie einen Blick auf den Aushang. Anthologie, Erzähltechniken. Was auch immer diese Worte zu bedeuten hatten, Nikki schien sich darauf zu beziehen. Kulwinder raschelte in ihrer Schublade herum und zog eine Teilnehmerliste heraus. Während sie die Namen überflog, beschloss Kulwinder, Nikki vorzuwarnen. Sie schaute auf. »Die Kursteilnehmer sind nicht besonders fortgeschrittene Schreiberinnen«, sagte sie.

»Selbstverständlich«, beeilte Nikki sich zu versichern. »Verständlich. Ich bin ja da, um ihnen zu helfen.«

Ihr herablassender Ton ließ Kulwinders Sympathien rasch wieder verfliegen. Dieses Mädchen war noch ein Kind. Sie lächelte, aber sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen, als taxierte sie Kulwinder abschätzig und versuchte herauszufinden, was sie hier eigentlich zu sagen hatte. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass eine traditioneller eingestellte Frau – nicht dieses hochnäsige Gör, das mit seiner Jeans und seinem stockenden Punjabi wirkte wie eine gori* – in ihr Büro spazieren und den Job wollen würde? Äußerst gering. Ganz gleich, was Nikki auch unterrichten wollte, der Kurs musste schnellstmöglich beginnen, sonst würde Gurtaj Singh ihn mir nichts, dir nichts wieder streichen und damit sämtliche Chancen für Kulwinder auf ein künftiges Mitspracherecht bei Frauenangelegenheiten zunichtemachen.

»Der Kurs beginnt am Donnerstag.«

»Diesen Donnerstag?«

»Donnerstagabend, ja«, entgegnete Kulwinder.

»Klar«, murmelte Nikki. »Um wie viel Uhr?«

»Wie es Ihnen am besten passt«, erwiderte Kulwinder in ihrem forschesten Englisch, und als Nikki erstaunt den Kopf schieflegte, tat Kulwinder, als hätte sie es nicht bemerkt.

Drittes Kapitel

Über dem Fußweg zu Nikkis Elternhaus in Enfield hing ein schwerer Duft nach Gewürzen. Nikki folgte den Duftwolken bis zur Tür, die sie mit ihrem eigenen Schlüssel öffnete. Im Wohnzimmer lief Minute to Win It – Die perfekte Minute, während Mum und Mindi geschäftig in der Küche hantierten und Anweisungen hin und her flogen. Dad hatte immer die Nachrichten gesehen, während in der Küche das Mittagessen zubereitet wurde. Nun lag ein Quilt auf dem Sessel, wo er sonst immer gesessen hatte, und der kleine Beistelltisch, auf dem sein Whiskyglas gestanden hatte, war auch verschwunden. Sie schaltete auf BBC um, zu den Nachrichten. Sofort steckten Mum und Mindi die Köpfe ins Wohnzimmer.

»Wir wollten das sehen«, protestierte Mum.

»Entschuldigung«, murmelte Nikki, aber es widerstrebte ihr, wieder zurückzuzappen. Die Stimme des Nachrichtensprechers weckte tausend Erinnerungen: Plötzlich war sie wieder elf und schaute mit Dad vor dem Mittagessen die Nachrichten. »Wie findest du das?«, hatte Dad sie gefragt. »Findest du das richtig? Was glaubst du, hat das zu bedeuten?« Manchmal hatte Mum sie gerufen, damit sie ihr beim Tischdecken half, und dann hatte Dad Nikki zugezwinkert und laut geantwortet: »Sie ist gerade unabkömmlich.«

»Kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte Nikki ihre Mutter.

»Du kannst das Dal schon mal warmmachen. Steht im Kühlschrank«, sagte Mum. Nikki öffnete den Kühlschrank, aber auf den ersten Blick war kein Dal zu sehen. Nur ein Stapel Eiscremebecher mit vergilbten Etiketten.

»Im Vanilla Pecan Delight«, meinte Mindi.

Nikki nahm einen der Plastikbecher heraus und stellte ihn in die Mikrowelle, nur um dann mit wachsendem Entsetzen durch das Sichtfenster zuzusehen, wie die Kanten des Behälters sich langsam verbogen und mit dem Dal verschmolzen. »Dal könnte dauern«, brummte sie, riss die Tür der Mikrowelle auf und angelte den halbgeschmolzenen Plastikcontainer heraus. Der beißende Geruch von brennendem Plastik zog durch die Küche.

»Hai, du Dummkopf«, schimpfte Mum. »Warum hast du es denn nicht in einen mikrowellenfesten Behälter umgefüllt?«

»Warum hast du es nicht in einem mikrowellenfesten Behälter eingefroren?«, fragte Nikki. »Die Eiscremebecher sind irreführend. Das ist Verbrauchertäuschung.« Was sie jahrelang leidvoll am eigenen Teenagerleib erfahren hatte, wenn sie auf der Suche nach einem leckeren Nachtisch Mums Gefrierfächer durchforstet hatte, nur um statt der verheißenen Eiscreme dicke Eisblöcke aus gefrorenem Curry zu finden.

»Die Plastikdosen funktionieren genauso gut«, entgegnete Mum. »Und es gibt sie umsonst.«

Weder das Dal noch die Dose waren noch zu retten, also warf Nikki beides in den Müll und ging wieder zum Kühlschrank. Plötzlich musste sie daran denken, wie sie am Abend nach Dads Beerdigung hier gestanden hatte. Mum hatte müde und erschöpft gewirkt – ihren völlig unerwartet verstorbenen Ehemann von Indien nach London überführen zu müssen war ein bürokratischer und logistischer Albtraum gewesen –, schlug aber Nikkis Angebot aus, ihr zu helfen, und verdonnerte sie stattdessen zum Nichtstun. Nikki hatte Mum nach Dads letzten Stunden gefragt. Sie musste einfach wissen, ob er ihr immer noch böse gewesen war, als er starb.

»Er hat gar nichts gesagt. Er hat geschlafen«, hatte Mum wortkarg entgegnet.

»Aber vor dem Schlafengehen?« Vielleicht hatte er ihr mit seinen letzten Worten doch noch vergeben.

»Weiß ich nicht mehr«, brummte Mum mit hochroten Wangen.

»Mum, versuch doch wenigstens …«

»Frag mich so was nicht«, herrschte Mum sie an.

Nikki hatte einsehen müssen, dass die väterliche Vergebung unerreichbar blieb, also war sie in ihr Zimmer gegangen und hatte weitergepackt. »Du willst doch nicht immer noch ausziehen?«, hatte Mindi sie gefragt.

Nikkis Blick blieb an den Umzugskartons hängen, die unter ihrem Bett hervorlugten. Bücherstapel, in wiederverwendbare Tesco-Tüten gepackt. Ihre Kapuzenjacke, zusammengerollt, damit sie in den Koffer passte.

»Ich kann nicht hierbleiben. Sobald Mum erfährt, dass ich in einem Pub arbeite, kann ich mich auf was gefasst machen. Das darf ich mir dann bis an mein Lebensende anhören. Ich habe es ertragen, dass Dad mich ignoriert. Ich bleibe nicht hier, nur damit Mum mir nun auch noch die kalte Schulter zeigen kann.«

»Du bist ein egoistisches Miststück.«

»Ich bin realistisch.«

Mindi seufzte. »Denk doch mal daran, was Mum gerade durchmacht. Manchmal sollte man tun, was das Beste für alle ist, nicht nur für einen selbst.«

Auf diesen Rat hin blieb Nikki noch eine weitere Woche zuhause. Aber als ihre Mum eines Tages vom Einkaufen nach Hause kam, war Nikkis Zimmer leer, und auf dem Bett lag ein Zettel. Es tut mir leid, Mum. Ich konnte nicht anders. Darunter stand ihre neue Adresse. Mindi würde ihrer Mutter sicher alles Weitere erklären. Zwei Wochen später nahm sie all ihren Mut zusammen und rief ihre Mum an. Zu ihrem großen Erstaunen ging Mum selbst ans Telefon. Sie war kurz angebunden und gab knappe, steife Antworten auf Nikkis Fragen (»Wie geht es dir, Mum?« – »Ich lebe noch.«), aber dass sie überhaupt mit ihr redete, wertete Nikki als gutes Zeichen. Bei ihrem nächsten Telefongespräch platzte es aus Mum heraus. »Du bist ein selbstsüchtiges, dummes, verzogenes Mädchen«, schluchzte sie. »Du hast kein Herz.« Nikki zuckte bei jedem ihrer Worte zusammen wie bei einer Ohrfeige und hätte sich am liebsten verteidigt, aber hatte ihre Mutter nicht eigentlich Recht? Dumm, selbstsüchtig, herzlos. Worte, mit denen ihr Dad sie nie beschrieben hätte. Nachdem sie ihrer Wut Luft gemacht hatte, konnte Mum wieder in ganzen Sätzen mit ihr reden.

Die Küche verschwand inzwischen in einem dichten, duftenden Nebel. Das Abendessen war fertig. Nikki half mit, eine Servierplatte hinauszutragen, auf der sich Kichererbsen-Spinat-Curry türmte. »Also«, meinte Mindi, als sie schließlich zu dritt am Tisch saßen. »Erzähl uns von deinem neuen Job.«

»Ich leite Frauen an, ihre Geschichten zu schreiben. Der Workshop findet zweimal wöchentlich statt. Am Ende des Kurses stellen wir eine Sammlung der besten Geschichten zusammen.«

»Anleiten. Ist das dasselbe wie unterrichten?«, fragte Mindi.

Nikki schüttelte den Kopf. »Nicht so sehr unterrichten, vielmehr unterstützen.«

Mum schien verwirrt. »Dann hilfst du also einem anderen Lehrer, der die Klasse leitet?«

»Nein«, entgegnete Nikki. Ein gereizter Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Die eigene Erzählstimme zu finden ist nichts, was man lehren kann, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Die Kursteilnehmer schreiben, und ich unterstütze sie dabei.« Sie schaute auf und sah, wie Mum und Mindi sich spöttische Blicke zuwarfen. »Das ist eine verantwortungsvolle Arbeit«, erklärte sie.

»Gut, gut«, brummte Mum. Sie faltete ein Roti und wischte damit über den Teller, um die Kichererbsen aufzunehmen.

»Das ist eine tolle Gelegenheit für mich«, erklärte Nikki weiter. »Ich bekomme die Möglichkeit, auch ein bisschen redaktionell zu arbeiten, was sich sicher gut in meinem Lebenslauf machen wird.«

»Meinst du denn, du möchtest später mal als Lehrerin oder Lektorin arbeiten?«, wollte Mindi wissen.

Nikki zuckte die Achseln.

»Hört sich für mich nur nach zwei grundverschiedenen Dingen an, in einer Schule oder in einem Verlag zu arbeiten. Du schreibst doch so gerne. Steuerst du dann auch eigene Geschichten zu der Sammlung bei?«

»Muss man denn immer alles in irgendwelche Schubladen stecken?«, gab Nikki zurück. »Ich weiß noch nicht, was ich werden will. Aber ich werde es schon noch rausfinden. Wenn du nichts dagegen hast?«

Mindi hob die Hände, als wollte sie Nikkis Ausbruch abwehren. »Ich habe gar nichts dagegen. Ich interessiere mich bloß dafür, was du so machst, mehr nicht. Kein Grund, gleich biestig zu werden.«

»Ich tue etwas, um Frauen zu ermächtigen.«

Worauf Mum aufschaute und sie und Mindi sich sorgenvoll ansahen. »Das habe ich gesehen«, sagte Nikki. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Sind deine Schülerinnen nicht hauptsächlich Frauen aus dem Tempel?«

»Und?«