Die unglaubliche Reise von Sitas Töchtern - Balli Kaur Jaswal - E-Book

Die unglaubliche Reise von Sitas Töchtern E-Book

Balli Kaur Jaswal

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ausgerechnet Indien! Die pedantische Rajni, die extrovertierte Jezmeen und die zurückhaltende Shirnia sind in London aufgewachsen, und keine der drei Schwestern zieht es in die Heimat ihrer Eltern. Aber just eine Reise nach Indien war der letzte Wunsch ihrer verstorbenen Mutter, also packen sie widerstrebend ihre Koffer. Schon bei ihrer Ankunft in Delhi scheinen sich alle Vorbehalte gegen diese ‎Unternehmung zu bestätigen – und jeder Tag bringt eine neue Krise. Doch sind es gerade diese größeren und kleineren Katastrophen, die den Schwestern schließlich zeigen, dass sie mehr verbindet, als sie je geahnt hätten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die drei Schwestern Rajni, Jezmeen und Shirnia konnten schon nicht besonders viel miteinander anfangen, als sie noch alle unter einem Dach in der Londoner Familienwohnung lebten. Als Erwachsene gehen sie nun ganz unterschiedliche Wege: Die ordnungsliebende Rajni ist Schulrektorin und Mutter eines 18jährigen Sohnes. Jezmeen kämpft um ihren Durchbruch als Schauspielerin, findet sich aber nicht im glamourösen Blitzlichtgewitter, sondern im Zentrum eines Skandals wieder. Shirina, die immer auf Ausgleich bedachte Schwester, hat in eine reiche indische Traditionsfamilie eingeheiratet und führt scheinbar das perfekte Leben. Und so braucht es den letzten Wunsch ihrer Mutter Sita, um die drei ungleichen Schwestern wieder zusammenzuführen. Gemeinsam sollen sie sich auf eine Reise nach Indien begeben und Sitas Asche in einem See bei einem berühmten Sikh-Tempel verstreuen. Eine Reise, die Rajni, Jezmeen und Shirnia letztendlich erkennen lässt, dass sie viel mehr verbindet, als sie jemals für möglich gehalten hätten …

Autorin

Balli Kaur Jaswal wurde in Singapur geboren und hat rund um den Globus gelebt: auf den Philippinen, in Japan, Russland, den USA, in Großbritannien, Australien und der Türkei. Sie hat als Lehrerin an verschiedenen internationalen Schulen gearbeitet, bevor sie mit ihrem Mann wieder nach Singapur gezogen ist, wo sie sich nun ganz dem Schreiben widmet.

Balli Kaur Jaswal im Goldmann Verlag:

Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen. Roman

Balli Kaur Jaswal__________________

Die unglaubliche Reise von Sitas Töchtern

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Retterbush

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Unlikely Adventures of the Shergill Sisters« bei HarperCollinsPublishers, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2020

Copyright © der Originalausgabe by Balli Kaur Jaswal

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

MR · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25311-0V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Asher

Prolog

Meine liebsten Kinder,

wenn ihr das lest, dann wisst ihr, mein Ende ist gekommen. Ich hoffe, unsere letzten gemeinsamen Augenblicke verliefen friedlich und liebevoll, und ich habe euch sagen können, wie sehr ich jeden Einzelnen von euch liebe und schätze. Wenn nicht, hoffe ich, ihr alle wisst, wie sehr ihr mein Leben bereichert habt. Ich bin so stolz auf euch und auf den Weg, den ihr im Leben eingeschlagen habt. Ich hatte das unbeschreibliche Glück, eure Siege und Niederlagen, euren Herzschmerz und euer Glück miterleben zu dürfen. Euch von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter begleiten zu dürfen hat mir die Möglichkeit eröffnet, viele Leben zu leben, und so kommt es mir heute vor, als hätte ich in meiner kurzen Zeit hier in diesem Universum unendlich viele verschiedene Welten betreten.

Natürlich gibt es einiges zu besprechen, darunter mein Testament und meinen Nachlass, aber dazu kommen wir später. Ich verlasse mich auf die Anwälte, die mit euch über euer Erbe und die Aufteilung von Grundbesitz und Vermögen sprechen werden, sobald sämtliche Formalitäten erledigt sind. Wenn ihr schon vorher mehr wissen wollt, seht bitte in die Anlage.

Bitte gebt gut Acht auf euch und aufeinander. Nehmt euch nicht nur zu besonderen Gelegenheiten Zeit, zusammen zu sein und den Familienzusammenhalt zu stärken. Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass es das Wichtigste im Leben ist, einander zu zeigen, wie sehr wir uns schätzen. Denkt daran, es gibt nichts Wichtigeres.

Das war der Brief, den Sita Kaur Shergill die alte Frau aus dem Nebenbett am Telefon diktieren hörte. Mehrmals drohte ihr dabei die Stimme zu brechen, und sie musste kurz innehalten, um zu seufzen und sich umständlich zu schnäuzen. Sita hatte ihren Fernseher etwas leiser gestellt, als die Sache mit den Anwälten kam – am meisten interessierte sie eigentlich, was diese Frau ihren Kindern zu hinterlassen hatte, aber die »Anlage« war von ihrer Seite der Abtrennung aus leider nicht einsehbar. Sie kannte die Kinder vom Sehen. Regelmäßig kamen sie, um ihre Mutter zu besuchen – zwei Söhne mittleren Alters, womöglich Zwillinge, allerdings mit äußerst unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten, sowie eine gutaussehende blonde Frau, die immer dieselben tröstenden Worte sagte: »Wir sind da, Mum. Wir sind da.« Oft kamen sie einzeln und gingen dann zusammen, legten einander die Hand auf die Schulter und plauderten über belanglose Dinge wie Parkplätze oder die stetig nachlassende Qualität der miesen Plörre aus der Krankenhaus-Cafeteria.

Sita drückte den Summer auf ihrer Fernbedienung und bat die Schwester, die daraufhin kam, um nach ihr zu sehen, um einen Stift und ein Blatt Papier. Es war frühmorgens, noch vor Beginn der Besuchszeit. Die beste Zeit, um übers Sterben nachzudenken. Die Schmerzen hatten inzwischen ihren ganzen Körper erfasst, sie strahlten von den Zehen bis in die Schläfen und vibrierten in ihren Knochen. Dem Morphium zum Trotz war der Schmerz allgegenwärtig – an guten Tagen sah sie ihn schemenhaft in den Schatten am Rand ihres Blickfelds kauern, an schlechten wrang er ihren zerbrechlichen Körper wie ein nasses Handtuch. Heute fühlte sie sich stark genug, um sich aufzusetzen. Der Brief der Frau im Nebenbett war ihr Ansporn, und wundersamerweise kam die Schwester augenblicklich ihrer Bitte nach.

Meine liebsten Töchter, setzte sie an. Dann brach sie ab und runzelte die Stirn. Wann hatte sie ihre Kinder je als ihre »Liebsten« bezeichnet? Sie strich die Zeile aus und fing noch einmal von vorne an. An Rajni, Jezmeen und Shirina. So – erst mal für ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gesorgt. Früher stand sie oft unten an der Treppe und rief alle drei Töchter, auch wenn eigentlich nur eine von ihnen gemeint war. Für die beiden anderen fand sich immer etwas zu tun, wenn sie erst einmal da waren. Das ging so lange so, bis Jezmeen irgendwann anfing zurückzurufen: »WENVONUNSMEINSTDUGENAU?«

An Rajni, Jezmeen und Shirina

Inzwischen bin ich tot. Und das ist auch gut so, schließlich habe ich genug gelitten in diesem unerträglichen Leben – nichts als Plackerei und Leid und Sorge, und warum das alles? Bitte genießt eure Gesundheit, solange ihr sie habt, denn wenn euer Körper euch erst einmal den Dienst verweigert, ist ohnehin alles zu spät.

Nein, so ging das nicht. Das war zu schonungslos ehrlich. Wären das ihre letzten Worte, sie würden ihr das nie verzeihen. Sie faltete das Blatt und legte es auf den Beistelltisch mit dem Kuli als Briefbeschwerer obendrauf. Dann schloss sie die Augen. Wie sollte man sie in Erinnerung behalten? Sie war Ehefrau gewesen, Mutter, Witwe, Großmutter. Bei Sikh-Totenfeiern gab es keine Trauerreden, weshalb es ihren Töchtern erspart bleiben würde, eine Liste ihrer mageren Erfolge herunterzubeten. An manchen Tagen glaubte sie zu wissen, welche ihrer Töchter sie am wenigsten liebevoll in Erinnerung behalten würde. An besseren Tagen sagte sie sich zuversichtlich, ihre Kinder würden sich zumindest darin einig sein, dass sie stets bemüht gewesen war.

Sita drückte abermals auf den Knopf, um die Krankenschwester zu rufen. Diesmal dauerte es ein bisschen länger, aber irgendwann kam das klapperdürre junge Mädchen mit den vielen Tätowierungen und dem halb kahl geschorenen Schädel. Sie war nicht so nett wie die jamaikanische Schwester, die ihr immer freundlich die Schulter tätschelte und sagte: »Ruhen Sie ein bisschen«, aber sie lächelte, als Sita sie fragte: »Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete sie. Das Mädchen hatte seitlich ein auffälliges Zickzack-Muster in die Haare rasiert, und Sita fragte sich, was das für ein Mann sein musste, dem so etwas gefiel.

»Waren Sie schon mal in Indien?«, fragte sie.

»Nein«, sagte die Schwester mit leichtem Bedauern, sehr zu Sitas Freude.

»Wenn Ihre Mutter Sie um einen Gefallen bitten würde, ganz gleich, um welchen, würden Sie es dann tun?«, fragte sie.

Die Schwester schob Sitas Tischchen zum Fußende des Bettes, damit sie die Decke hochziehen konnte, die sich um Sitas Füße gewickelt hatte. »Natürlich«, erwiderte sie. »Also, falls Sie noch irgendwas brauchen …«

»Welche Religion haben Sie?«, wollte Sita wissen.

Mit schmalen Augen sah das Mädchen sie an. »Ich finde, das ist eine ziemlich persönliche Frage.«

Sita runzelte die Stirn. Es hatte seinen Grund, warum sie die jamaikanische Schwester lieber mochte. Die trug ein zierliches Goldkreuz an einer Kette um den Hals, das ihr immer im V-Ausschnitt der Schwesterntracht baumelte. »Allmächtiger«, schnaufte sie leise, wenn sie am Ende einer langen Schicht den geschundenen Rücken reckte und streckte.

»Könnten Sie mir bitte meinen Stift und das Papier geben?«, bat Sita. Das Mädchen griff in die Schublade des Schränkchens gleich neben dem Bett, und Sita blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Doch nicht da!

»Die liegen da oben auf dem Tisch«, bemerkte Sita spitz und wies auf das Tischchen, an das sie nun selbst nicht mehr herankam. Es war zwar eher unwahrscheinlich, dass die Schwester lange Finger machen und Sitas Schmucktasche aus der Schublade klauen würde, wo sie eingeklemmt zwischen Gebetbuch und Handyladegerät lag, aber Sita war alt genug, um zu wissen, dass man gar nicht vorsichtig genug sein konnte. Das Mädchen schob den Tisch wieder ans Bett und ging dann, vermutlich, um sie leise zu verfluchen und den anderen Schwestern brühwarm zu erzählen, die alte Mrs Shergill könne jetzt aber wirklich allmählich mal den Löffel abgeben. Letzte Woche hatte Rajni das Schwesternzimmer gestürmt und ihnen ordentlich die Meinung gegeigt, weil sie Sita während einer besonders schlimmen Schmerzattacke zitternd im Bett liegen gelassen hatten. »Es ist mir schnurzpiepegal, ob sie schon eine Decke hat. Holen Sie ihr gefälligst noch eine«, hatte Rajni sie beinahe angeschrien, und Sita wollte vor Dankbarkeit fast weinen und ihre Tochter gleichzeitig dafür rüffeln, dass sie so eine Szene machte.

Der Schmerz kroch wieder in ihren Körper, und sie spürte, es würde ein schlechter Tag werden. Ihre Töchter wollten sie heute Nachmittag besuchen – hoffentlich alle drei, denn Rajni hatte Shirina angerufen und ihr gesagt, sie solle sich in den nächsten Flieger setzen, weil ihrer Mutter nur noch ein paar Tage blieben. Sie musste diesen Brief zu Ende schreiben, bevor die Kraft sie endgültig verließ.

An Rajni, Jezmeen und Shirina

Erinnert ihr euch noch, als ich die Krebsdiagnose bekommen habe und nach Indien fahren und eine Pilgerreise machen wollte, zu Ehren der Lehren unseres großen Gurus? Ihr und die Ärzte habt mir davon abgeraten und gesagt, das sei keine gute Idee, weil ich damals schon so gebrechlich war. Aber ich glaube, eine solche Reise hätte meinen Geist erfrischt und meine Seele erfreut, wenn schon nicht meine körperliche Verfassung verbessert.

Angefügt eine Liste von Orten, die ihr an meiner Stelle besuchen sollt, wenn ich nicht mehr bin. Sie liegen in Delhi, Amritsar und anderswo.

Die ganze Reise wird etwa eine Woche dauern. Ihr sollt zusammen hinfahren und alle Aufgaben gemeinsam erledigen, wie ich sie euch auftrage: Seva, um anderen zu dienen und euch in Bescheidenheit zu üben; ein rituelles Sarovar-Bad, zur Reinigung und zum Schutz der Seele vor Anfechtungen; und eine Wanderung zu den höchsten Gipfeln der Spiritualität, um euren Körper wieder schätzen zu lernen, der euch in diesem Leben beherbergt. Außerdem möchte ich, dass meine Asche in Indien verstreut wird.

Des Weiteren wünschte ich mir, dass ihr einige der Orte besucht, zu denen ich nicht mehr reisen konnte. Einfache Freuden, wie einen Sonnenaufgang am India Gate und gemeinsam eine bescheidene Mahlzeit zu teilen. Ich werde die Reisepläne auf dem nächsten Blatt detailliert darlegen. Bitte, tut mir den Gefallen. Auf diese Weise vollendet ihr meine Reise in dieser Welt und setzt eure eigene fort.

Alles Liebe,

eure Mutter Sita Kaur Shergill.

Die Schrift begann vor Sitas Augen zu verschwimmen, als sie sich den Brief noch einmal durchlas. Da war sie wieder, diese sengende Hitze in den Knochen. Sie kniff die Augen zusammen und klammerte sich an den Rand der Matratze. Die Schwestern durften ihr nur eine gewisse Menge Morphium am Tag geben, und keine legale Dosis schien noch auszureichen, um den Schmerz ganz zu betäuben. »Wir sind da, Mum, wir sind da«, stellte sie sich vor, würden ihre Töchter sagen, wenn sie ihnen den Brief gab, genau wie die blonde Frau. Ihre Gesichter wären tränenüberströmt, und sie würden sich an den Händen halten und ausnahmsweise einmal einträchtig beisammenstehen.

Als der Schmerz kurz ein wenig nachließ, griff Sita rasch wieder zum Kuli und drehte das Blatt um, um die genaue Reiseplanung auszutüfteln. Die Höllenqual war schnell vergessen, und stattdessen schwelgte Sita in nostalgischen Gedanken an Indien. Ihre Erinnerungen waren klarer denn je. Der Palliativberater namens Russ, der sie letzte Woche besucht hatte, hatte gesagt, es sei häufig so, dass Menschen, die dem Tod nahe sind, mehr in der Vergangenheit lebten als in der Gegenwart. »Sehen Sie es als einen Übergang«, hatte Russ gesagt. »Sie beenden einen Abschnitt und beginnen einen neuen.« Mit diesen Worten im Ohr dachte Sita über die Indienreise ihrer Töchter nach. Sie würde darauf bestehen, dass sie das für sie machten – keine Ausreden, kein davor Drücken. Es war ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass sie an ihren Ursprung zurückkehrten, während sie dabei war, ins Jenseits überzugehen. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis sie sich an die neue Umgebung gewöhnt, neue Freunde gefunden und herausbekommen hatte, wie die Kaffeemaschine funktionierte?

Was, wenn Devinder auch dort war? Sie müsste ihrem Mann von all den versäumten Jahren erzählen, aber erst, nachdem sie ihm gründlich den Kopf gewaschen hatte; wie hatte er sie nur so im Stich lassen können!

Gedanken und Erinnerungen an die frühen Jahre ihrer Ehe und die erste Zeit mit den Kindern überkamen Sita wie eine Woge, die alle verbliebenen Schatten ihrer Schmerzen hinwegspülte, bis nur noch ein dumpfer Druck in der Brust geblieben war. Was für eine chaotische Zeit! Damals musste sie erst noch lernen, Ehefrau zu sein und Mutter, einen Haushalt zu führen und sich in einem neuen fremden Land zurechtzufinden. Und just, als sie schließlich glaubte, endlich ein bisschen aufatmen zu können, war ganz unerwartet ihr Mann gestorben. In Sitas Leben hatte es nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der ihre Familie vollständig gewesen war. Sie notierte weitere Punkte auf ihrer Liste. Ihre letzte Indienreise lag beinahe dreißig Jahre zurück. Russ hatte ihr die verschiedenen Stadien des Trauerns beschrieben und auch gesagt, viele Menschen hätten das dringende Verlangen, die Zeit zurückzudrehen. Sita war zwar insgeheim stolz darauf, zu pragmatisch zu sein für solche unerfüllbaren Wünsche, aber sie hoffte, ihre Töchter würden Indien genauso vorfinden, wie sie es damals verlassen hatte.

Und dann war da noch etwas, das Sita ihren Töchtern sagen wollte. Es war so etwas wie ein Geständnis. Nachdem Russ gegangen war, hatte sie etwas getan. Sie würde den richtigen Moment abpassen müssen. Das aufzuschreiben schickte sich nicht. Sie würde die Stimme senken und flüstern müssen, und ihre Töchter würden ganz nahe herankommen müssen. Zuerst würden sie natürlich empört ablehnen. »Mum, sei nicht albern«, würden Rajni oder Shirina sagen. »Das soll ein Witz sein, oder?«, würde Jezmeen spitz bemerken, denn Jezmeen nahm nichts im Leben wirklich ernst, nicht einmal den Tod. Das war das bei Weitem Frustrierendste daran, wenn man sterbenskrank war – alle dachten immer, sie wäre geistig umnachtet und denke vor Angst wie im Nebel und versuche verzweifelt, sich ans Leben zu klammern. Aber der Tod war die einzige Gewissheit im Leben. Um ihren Töchtern zu beweisen, dass es ihr wirklich ernst war, würde sie ihnen sagen, sie sollten die Schmucktasche aus der Schublade nehmen. Und hineinschauen. »Seht ihr?«, würde sie sagen. »So, und jetzt bitte streitet nicht mit eurer Mutter.«

Zweites Kapitel

Erster Tag: Ankunft in Delhi

Übt euch in Geduld. Indien ist nicht London. Die Luftverschmutzung und die vielen Menschen werden erst einmal ein Schock für euch sein. Ihr Mädchen habt immer gescherzt, dass ich zu laut rede und überall Chaos verbreite. Wenn ihr nach Indien kommt, möchte ich, dass ihr euch vorzustellen versucht, wie es war, von hier fortzugehen in ein Land, so ruhig und geordnet wie Großbritannien, wo die Häuser in schnurgeraden Reihen stehen und die Züge auf die Minute pünktlich fahren. Ich möchte, dass ihr versteht, wie schwer es mir gefallen ist, mich an die Stille zu gewöhnen.

Rajnis Kopfschmerzen waren wieder da, wie spitze Finger, die sich in ihren Schädel bohrten. Das neugebaute Boutique-Hotel in Karol Bagh mit dem Patio-Restaurant war eine Oase der Ruhe im Chaos von Delhi, das sie auf der Fahrt vom Flughafen hierher bereits hautnah miterlebt hatten – die aufdringlichen Gepäckträger, der Taxifahrer, der in den Gegenverkehr ausgeschert war, um die Autos vor ihm zu überholen, die Mädchen in zerrissenen, übergroßen T-Shirts, die mit einem Baby auf den schmalen Hüften den Rikschas und Schlaglöcher auswichen. Wie froh sie gewesen waren, heil im King’s Paradise Hotel angekommen zu sein. Aber ein Blick in die Lobby beim Check-In und es wurde überdeutlich, dass die Fotos auf der Hotelbuchungsseite mehr Wunschtraum als Realität waren – die Hotelpagen hinterließen Fußabdrücke auf dem von einer dünnen Baustaubschicht bedeckten Boden, und irgendwo in einem der oberen Stockwerke waren laut hämmernd Bauarbeiten im Gange. Der Besitzer ließe gerade noch letzte Änderungen durchführen, erklärten die Angestellten, als könne ihr entschuldigendes Lächeln den durchdringenden Lösungsmitteldunst kaschieren, von dem Rajni der Kopf pochte. Und versprachen glaubhaft, das Café des Hotels sei »zu hundert Prozent« fertiggestellt.

Kaum hatten sie dort Platz genommen, fing Jezmeen auch schon an, sich über die Getränkekarte lustig zu machen. Grinsend wies sie auf die Aufzählung verführerisch klingender sommerlicher Getränke: Geeister Vanille-Mango-Smoothie mit Schlagsahne und Früchten der Saison. »Das ist doch sicher nur ein aufgetakelter Mango-Lassi«, meinte Jezmeen amüsiert. »Oder schau dir das an – geeister Kurkuma Latte mit Zimt und Kokosraspeln. Vermutlich einfach nur ein Haldi Doodh mit Eis und Gedöns, oder?«

»Klingt gut, wenn du mich fragst«, gab Rajni zurück. Sie konnte es nicht fassen, dass sie sich letzte Woche noch über das Wetter in London beklagt hatte, obwohl es da gerade mal siebenundzwanzig Grad gewesen waren. Hier waren es beinahe vierzig Grad. Eine Hitze, so unerbittlich, dass sie eine Entschuldigung zu verlangen schien. Sollte Mum mit der Reise beabsichtigt haben, dass sie Großbritannien wieder mehr zu schätzen wussten, dann konnte man nur sagen, Mission erfüllt.

Jezmeen las weiter laut aus der Karte vor: »King’s Paradise Hotel Café ist eine Melange aus den Traditionen des Orients und den modernen Annehmlichkeiten des Okzidents.« Sie verdrehte die Augen. »Also für die Menschen, die damit angeben wollen, in Indien gewesen zu sein, ohne jemals authentisch mit der Kultur in Berührung zu kommen.«

»Könntest du das bitte lassen?«, brummte Rajni. Sie ärgerte sich auch so schon genug über die falschen Versprechungen des Hotels. »Hätte ich ein Drei-Sterne-Hotel ausgesucht, mit Affen, die der Authentizität willen in die Lobby kacken, hätte ich mir wer weiß was anhören können von dir und Shirina.« Sie fügte »und Shirina« nur hinzu, um den Seitenhieb etwas abzumildern. Sie wussten beide nur zu gut, dass Shirina sich nie über irgendwas beklagte.

Jezmeen überhörte ihre Bemerkung einfach und wedelte mit der Getränkekarte. »Unsere Affen sind stubenrein und kacken natürlich nicht in die Hotellobby. Sie haben ihre eigenen Toiletten aus Fairtrade-Keramik, handgetöpfert von einheimischen Kunsthandwerkern, und den Hintern wischen sie sich mit Bio-Baumwoll-Lappen ab, handgewebt von blinden Nonnen aus dem Himalaya«, leierte sie herunter.

»Hör auf«, protestierte Rajni grinsend. Aber es tat gut zu lächeln. Während des Hinflugs hatte sie an nichts anderes denken können als an Anils Geständnis und das darauffolgende Nachbeben: die Panik in seinem Gesicht, als sie umgekippt war, die vollkommene Abwesenheit eines schlechten Gewissens, als sie wieder zu sich gekommen war. »Sei nicht so melodramatisch«, hatte er geschimpft, und Rajni hatte sich gefragt, ob sie in ihrer Ohnmacht in eine Zeitschleife geraten war, in der sie sich wieder und wieder mit Mum streiten musste. Sie hatten sich angeschrien, bis Anil irgendwann wutentbrannt zur Tür hinausgestürmt war. Am Tag danach drehten sich Rajnis und Kabirs Gedanken nur um eins: die Zukunft ihres Sohnes. Zwanzig Minuten, ehe sie zum Flughafen fahren mussten, war Anil endlich zurückgekommen und hatte erklärt: »Ich lasse nichts zwischen uns kommen, ist das klar?« Im ersten Augenblick hatte Rajni gedacht, er meine sie und ihre Familie. Fast hätte sie vor Erleichterung angefangen zu weinen. Doch dann fing Anil an, seine Sachen zu packen, und ihr ging ein Licht auf.

Wieder spürte Rajni diese Panik im Bauch. Ihr Sohn würde bald eine neue Familie gründen mit seiner sechsunddreißigjährigen Freundin. Sie fasste sich mit der Hand ans Herz und schnappte nach Luft.

»Alles okay?«, fragte Jezmeen.

»Bestens«, erwiderte Rajni. Was war diese Reise doch für ein Segen. So hatte Kabir genug Zeit, ihrem Sohn ins Gewissen zu reden – sie selbst hatte getan, was sie konnte (sprich umkippen und schimpfen), aber es hatte alles nichts genützt. Sie schaute vorbei an den gemauerten Wänden, die den kleinen Innenhof umgaben, hinauf in den dunstigen Himmel. In der Ferne zerschnitt ein Orchester schlecht gestimmter Autohupen die dicke Luft. Es roch nach verbranntem Gummi. Delhi. Es half wohl alles nichts, dachte Rajni, auch wenn sie nur zu gerne alles Unangenehme noch ein bisschen auf die lange Bank geschoben hätte. Sie hatte überhaupt keine Lust, in die Stadt zu gehen. Nicht nach ihrer letzten Reise hierher mit Mum. »Ich weiß, meine letzte Indienreise liegt über zwanzig Jahre zurück, aber Last-Minute-Buchungen können sehr teuer werden« – in diesem Satz konnte Rajni den spitzen Tonfall ihrer Mutter deutlich heraushören. Es hatte Jahre gedauert, bis sie den finanziellen Verlust verwunden hatte, und noch viel länger, bis sie Rajni verziehen hatte, was vorgefallen war.

Im Pool planschte ein junges Pärchen. Die dunkelgoldenen Schnörkel eines kürzlich aufgetragenen Mehndi-Musters zeichneten sich auffällig auf den blassen Händen der Frau ab, die gerade zu ausholenden Schwimmzügen ansetzte. Urlaubsstimmung wie aus dem Reisekatalog.

Rajni zog Kopien des Reiseplans aus der Handtasche. Sie hatte Mums Brief abgetippt und für Shirina und Jezmeen je einen Abzug gemacht. Vielleicht war sie ein bisschen übereifrig gewesen – Jezmeens Gesichtsausdruck bestätigte diesen Verdacht –, aber sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, die einzelnen Punkte farblich gesondert zu markieren, und zwar anhand von drei Kategorien: Spiritualität, Touristenattraktion und sentimentale Erinnerungen.

»War dein Laminierer kaputt?«, bemerkte Jezmeen trocken und wedelte Rajni mit dem Blatt vor der Nase herum.

Das stimmte tatsächlich, aber das brauchte Rajni ihr ja nicht zu sagen. »Ich dachte, wir gehen das eben zusammen durch.«

»Sollten wir damit nicht lieber warten, bis Shirina ihr Nickerchen gemacht hat? Vielleicht hat sie auch noch was dazu zu sagen.«

»Mum hat den Plan ganz genau ausgearbeitet«, entgegnete Rajni streng. »Eigentlich gibt es da nichts zu besprechen oder zu verhandeln.«

»Aber er lässt sich doch sicher ein bisschen zusammenstreichen.«

Fassungslos schaute Rajni Jezmeen an. Nein, da gab es rein gar nichts »zusammenzustreichen«. Ihr Hang, Mums Wünsche nach ihrer eigenen Fasson auszulegen, hatte ihnen allen beinahe einen Riesenhaufen Ärger eingebrockt – hatte Jezmeen das schon ganz vergessen? Nein. Jezmeen hielt ihrem vorwurfsvollen Blick stand. Sie wusste, was sie tat: darauf beharren, im Recht zu sein.

»Jezmeen, ich glaube, du verstehst nicht ganz …«

»Würdest du mich bitte Jesmeen nennen?«, sagte Jezmeen plötzlich ganz ernst. »Mit weichem S? Ich habe meinen Namen vor zwei Jahren offiziell ändern lassen, und du bist die Einzige, die mich immer noch Jezmeen nennt.«

»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete Rajni. Aber nicht allzu sehr. Sie mochte den Namen. Jezmeen. Den hatte sie damals aussuchen dürfen. Eins der Privilegien, wenn man elf Jahre älter war als die kleine Schwester. Vor zwei Jahren war Jezmeen dreißig geworden und hatte so etwas wie eine vorgezogene Midlife-Crisis erlebt. Sie hatte eine E-Mail an Freunde und Familie geschickt, um allen mitzuteilen, sie wolle ihren Namen ändern lassen. Rajni hatte nicht viel darauf gegeben – Jezmeen war einfach die geborene Drama Queen –, weshalb sie sich doch sehr gewundert hatte, als Jezmeen ihre großspurige Ankündigung tatsächlich wahrgemacht hatte. Was machte ein Buchstabe schon für einen Unterschied?, fragte sich Rajni. Aber sie brauchte keine weiteren Erklärungen von Jezmeen, mit Augenverdrehen und Schnuteziehen und »Du kapierst es einfach nicht«-Blick.

Rajni wies auf den Reiseplan und zeigte mit dem Finger auf die erste Zeile: Der Goldene Tempel, Amritsar. »Wenn es Ziel und Zweck dieser Reise ist, eine Pilgerfahrt für Mum zu unternehmen, dann halten wir uns an diesen Plan«, setzte sie erneut an.

»Schon klar. Ich meine nur, ein bisschen Spielraum dürfte doch wohl drin sein, sagen wir mal, wenn wir irgendwo nicht so lange bleiben oder anderswo noch einen Tag dranhängen wollen.«

»Das ist hier keine Vergnügungsfahrt«, entgegnete Rajni sehr bestimmt.

Jezmeen nahm die Sonnenbrille aus den Haaren und setzte sie sich auf die Nasenspitze. Dann wendete sie sich ab, bis Rajni sie nur noch im Profil sah – die markanten Wangenknochen, das kleine Muttermal seitlich über der Oberlippe. So eindringlich hatte Rajni ihre Schwester das letzte Mal bei der Trauerfeier ihrer Mutter gemustert. Da hatte Jezmeen einen verblassten blauen Fleck auf der Wange gehabt, gerade noch sichtbar. Inzwischen war er spurlos verschwunden.

»Wir werden viel Zeit miteinander verbringen, wir drei«, sagte Rajni. Als sie sich selbst und die aufgesetzte Fröhlichkeit in ihrer Stimme hörte, war sie froh, Jezmeens Reaktion nicht so genau sehen zu können. Sie würden sich alle drei zusammenraufen und in Ruhe darüber reden müssen, was in Mums letzten Stunden vorgefallen war – ein ruhiges, therapeutisches Gespräch, jetzt, wo sie alle ein bisschen Abstand zu der Sache gewonnen hatten. Kabir hatte Rajni gewarnt, es sei naiv zu glauben, die Schwestern könnten sich einfach so wieder vertragen. Aber Rajni war überzeugt, in der richtigen Atmosphäre sei alles möglich. Die Ufer des sich sachte kräuselnden Wassers um den Goldenen Tempel in Amritsar waren einem offenherzigen Gespräch unter Schwestern doch viel zuträglicher als ein steriler Pret A Manger-Laden in London – und wie oft kamen die Schwestern überhaupt noch zusammen, jetzt, nach Shirinas Umzug nach Australien? Rajni war der felsenfesten Überzeugung, Frieden schließen und die Vergangenheit hinter sich lassen zu können.

»Du weißt aber schon, dass Pilgerfahrten für Sikhs kein Muss sind«, merkte Jezmeen an.

»Das weiß ich«, antwortete Rajni betont gelassen. Von Jezmeen würde sie sich nicht in die Suppe spucken lassen. Wenn einer um die Vergeblichkeit von Ritualen wusste, dann sie. Sie war noch ein Teenager gewesen, damals, als Dad gestorben war und Mum anfing, kleine Zeremonien abzuhalten, um das Karma der Familie zu reinigen. Rajni dachte eigentlich immer, Glück und Schicksal seien dasselbe – Dads Tod war ein Unglück gewesen. Aber Mum sah darin Verbindungen zu einem allumfassenden großen Ganzen, an dem nur ein paar kleine Korrekturen vorzunehmen waren.

Ein Kellner trat zu ihnen an den Tisch. Er war blutjung, hatte die glänzenden schwarzen Haare mit Gel zu Stacheln aufgestellt und trug ein Namensschild mit der Aufschrift Tarun. Bestimmt dachte er, Rajni würde nicht merken, wie sein Blick kurz in den viel zu tiefen Ausschnitt von Jezmeens Trägertop fiel.

»Ich nehme den Avocado-Limetten-Smoothie mit Koriander, bitte«, sagte sie. Jezmeen sah Tarun tief in die Augen und lächelte.

»Madam, es tut mir sehr leid, aber dieses Getränk ist derzeit leider nicht verfügbar«, sagte er.

»Okay, dann …«, murmelte Rajni und klappte die Karte wieder auf. »Dann nehme ich den … ach, das klingt doch gut. Den Pfirsich-Erdbeer-Daiquiri.«

Tarun guckte betreten zu Boden. »Madam, wir haben derzeit leider keine Erdbeeren.«

»Nicht schlimm«, gurrte Jezmeen. Also wirklich, wie konnte sie ihn nur derart hemmungslos anflirten?

Rajni überflog die Getränkekarte. »Hier. Das da.« Sie wies auf eine der Beschreibungen, über die Jezmeen sich vorhin noch lustig gemacht hatte. Darunter war eine Abbildung des geeisten Vanille-Mango-Smoothies mit Schlagsahne und Früchten der Saison. »Den nehme ich. Jezmeen, für dich auch?«

»Nein danke«, entgegnete Jezmeen. »Ich nehme einfach einen Chai.«

Tarun lächelte Jezmeen strahlend an. »Chai haben wir. Also, Madam, ich wiederhole: einen Chai, einen Vanille-Mango-Smoothie.« Und dann marschierte er los, bevor Rajni ihn nach der saisonalen Früchteauswahl befragen konnte.

Rajni versuchte noch einmal, auf den Reiseplan zu sprechen zu kommen. »Morgen müssen wir in aller Frühe los, wenn wir zur morgendlichen Seva im Bangla Sahib sein wollen«, sagte sie.

Jezmeen sagte nichts. Sie starrte plötzlich wie gebannt auf ihr Handy und kniff hochkonzentriert die Augen zusammen. Kurz darauf entspannte sie sich sichtlich, guckte aber immer wieder verstohlen auf das Display. »Bist du online?«, fragte Rajni. »Meinen Account haben sie immer noch nicht bestätigt.« Die Angestellte im Mobilfunkladen am Flughafen hatte Rajni versichert, es würde keine zehn Minuten dauern, ihre Daten zu verifizieren, aber da saß sie nun, beinahe zwei Stunden später, und hatte noch immer kein Datenvolumen.

»Ich bin im Hotel-WLAN«, sagte Jezmeen. »Und was machen wir da morgen?«

»Wir kochen und bedienen im Langar.« Es war der erste Punkt auf Mums Liste, aber es wäre wohl zu viel verlangt, von Jezmeen zu erwarten, sie hätte die Liste auch nur überflogen.

»Mum hat uns also nach Indien geschickt, damit wir Geschirr spülen«, stellte Jezmeen fest. Sie schaute von ihrem Handy auf. »Bestimmt hat sie sich ins Fäustchen gelacht, als sie den Punkt auf die Liste gesetzt hat – meine Töchter Hausarbeit machen lassen wie brave indische Mädchen.«

»Männer helfen da auch mit«, widersprach Rajni.

»Aber wenn die nach Hause gehen, legen sie die Füße hoch, oder meinst du nicht?«

Rajni musste an Kabir und Anil denken, die abends in ihren bequemen Relaxsesseln faul vor dem Fernseher herumlümmelten und Football guckten, während sie geschäftig um sie herumwuselte, manchmal sogar noch in Blazer und Büroschuhen. »Mmm«, murmelte sie. Das war ihre Standardantwort, wenn sie eigentlich zustimmen musste, das aber nicht zugeben wollte.

Ihr Handy auf dem Tisch summte. Eine Nachricht:

Mrs Rajni Shergill Chadha. Willkommen in Indien. Sie haben sich für 2MB Datenvolumen und kostenlose Anrufe innerhalb Indiens registriert. Bitte wählen Sie diese Nummer, um Ihre Identität zu bestätigen.

»Na endlich«, brummte sie.

Sie gab ihr Geburtsdatum ein und eine spezielle PIN, dann wurde Rajni an eine Hotline weitergeleitet. Die Mitarbeiterin bat sie um eine letzte Bestätigung ihrer Identität. »Den Name Ihres Vaters, Ma’am.« Bis zu dem Moment, als sie sich bereit erklärt hatte, die Vorbereitungen für die Indienreise zu übernehmen, hatte Rajni den Namen ihres Vaters seit Jahren nicht mehr laut ausgesprochen. Aber hier wurde sie ständig danach gefragt. Auf den Visaformularen musste sie seinen Namen eintragen. Der Zollbeamte ließ ihn sich noch einmal bestätigen, bevor er sie passieren ließ. Und jetzt konnte sie nicht einmal einen kurzfristigen Mobilfunkvertrag abschließen, ohne anzugeben, wessen Tochter sie war. Niemand scherte es, dass er schon seit Jahren tot war. »Devinder Singh Shergill«, sagte sie automatisch. Die Callcenter-Mitarbeiterin gab den Namen ein, und nach einigen Klicks und hastigem Getippe erklärte sie Rajnis Account für freigeschaltet.

»Wenn Shirina und du eure Handys ins Laufen bekommen habt, müsst ihr euch unbedingt diese App herunterladen«, sagte Rajni. »FindMe. Damit kann man mittels GPS sehen, wo der andere gerade ist. Benutze ich gerne bei Schulausflügen.« Angeblich saugte die App eine Menge Datenvolumen, aber da sie Rajni wiederholt davor bewahrt hatte, anderer Leute Kinder zu verlieren, lagen die Vorteile klar auf der Hand.

Jezmeen betrachtete angestrengt ihre Fingernägel und knabberte an einem Nietnagel. »Wieso das denn?«, fragte sie. »Wir sind doch sowieso die ganze Zeit zusammen.« Bei ihr klang das, als hätten sie eine hohe Haftstrafe abzusitzen.

»Es ist ein großes Land«, entgegnete Rajni. »Ein großes, unberechenbares Land. Hier kann man sich leicht aus den Augen verlieren.«

»Ist das nicht der Sinn einer jeden Indienreise?«, fragte Jezmeen und wies nickend auf das verliebte Pärchen im Pool. Das ließ sich inzwischen träge auf dem Rücken liegend treiben und paddelte gemächlich mit den Zehen. »Sich zu verlieren? Um sich dann selbst zu finden?«

Ach, du suchst Streit. Das hatte Mum immer gesagt, wenn eine von ihnen ihr widersprochen hatte – eine Warnung, es gut sein zu lassen und nicht weiter zu diskutieren. Ganz gleich, ob es darum ging, abends später nach Hause kommen zu dürfen oder einfach um des Streitens willen zu streiten, was Jezmeens Spezialität war. Rajni hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um nicht immer, wenn Anil eine ihrer Entscheidungen in Frage stellte, genau dasselbe zu ihrem Sohn zu sagen.

Jezmeen winkte jemandem hinter ihr zu. »Hey, Schlafmütze.«

In einem strahlend türkisblauen Kaftan und weißen Espadrilles-Sandalen, deren Bänder sich anmutig um ihre schlanken Fesseln schlangen, kam Shirina ins Foyer. Sämtliche anwesenden Frauen drehten sich nach ihr um. Das war der Unterschied zwischen ihren beiden Schwestern, dachte Rajni. Jezmeen schauten die Männer hinterher und guckten ihr begehrlich auf die Beine, Shirina sahen die Frauen nach und bewunderten ihren Stil und ihre Eleganz – das glänzende schulterlange Haar, das zur Handtasche passende Armband.

Und dann der Ring! Als Rajni ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihn fassungslos mit offenem Mund angestarrt. Und schien es nur so oder war der Diamant noch größer geworden? Der Ehering aus Weißgold blitzte zwar auch, aber der Diamant an ihrem Verlobungsring sah aus wie etwas, worauf man vielleicht bei einer archäologischen Ausgrabung stoßen könnte. Billig und geschmacklos