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Für Julia bricht eine Welt zusammen: Ihre Eltern wollten mit ihr nach Norddeutschland ziehen. So weit weg von ihren Freundinnen – und was fast noch schlimmer ist: so weit weg von ihrem geliebten Pflegepony Chenna. Doch zum Glück gibt es den Reiterhof Danauer Mühle. Die Zwölfjährige ahnt nicht, wie schnell sie hier neue Freundinnen und mit Spikey ein neues Pflegepony finden wird. Als wie aus dem Nichts die geheimnisvolle Mailin auftaucht, ahnt Julia noch nichts von den unglaublichen Dingen, die sie im scheinbar so langweiligen Neu Horsterfelde erwarten: Mailin ist ein Elfenmädchen – und sie bittet Julia, ihr bei der Suche nach Shadow zu helfen, dem Fohlen des Elfenprinzen Liameel, das aus dem Elfenreich entführt wurde. Band 1 der spannenden Fantasy-Reihe »Geheimnisvolle Reiterin« von Monika Felten.
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Seitenzahl: 219
Monika Felten
Band 1:Die Suche nach Shadow
Roman
Für Björn und Nico,die Pferde und Geschichten lieben
»Armer Spikey!« Miriam Deller, die Besitzerin des Reiterhofes Danauer Mühle, blickte voller Sorge zu dem großen, gescheckten Pony hinüber, das teilnahmslos am Rande der Koppel stand. »Ich glaube, er vermisst sie.«
Die ältere Frau neben ihr nickte betrübt. »Wir hatten so etwas schon befürchtet. Susanna und das Pony waren ein Herz und eine Seele, und das, obwohl wir Spikey erst im vergangenen Jahr gekauft haben.«
»Dabei gibt es hier so viele Mädchen, die sich gerne um Spikey kümmern würden, bis Ihre Tochter wieder da ist. Sie haben sich fast darum gestritten.«
»Ich weiß. Am Anfang hat es mit Katja auch hervorragend geklappt, sonst wäre Susanna niemals geflogen.«
»Und? Haben Sie ihr schon gesagt, dass Spikey keines der Mädchen an sich heranlässt, Frau Meinert?«, wollte die Reiterhofbesitzerin wissen.
»Bis jetzt nicht. Sie glaubt, dass sich Katja um Spikey kümmert.« Frau Meinert lehnte sich auf das hölzerne Tor zur Koppel und drehte den Autoschlüssel gedankenverloren in den Händen. »Wissen Sie, ich möchte nicht, dass sich Susanna Sorgen macht. Sie musste so lange auf den Schüleraustausch warten und ist so glücklich dort drüben …« Sie seufzte. »Ich kann nur hoffen, dass sich Spikey bald wieder normal verhält.«
»Also, wenn er weiter so schlecht frisst, müssen wir wohl den Tierarzt holen. Sein Fell ist schon ganz stumpf«, meinte Miriam Deller. »Und was das Reiten angeht, habe ich momentan keine Lösung. Nein, so einem dickköpfigen Pferd bin ich in all den Jahren, die ich mit Pferden arbeite, nicht begegnet. Weder Katja noch die Mädchen, die ihn hin und wieder geritten haben, lässt er inzwischen an sich heran. Tanja hat er gestern sogar fast gebissen, als sie ihn in den Stall führen wollte.«
»Wenn Sie Probleme haben, Spikey in den Stall zu bringen, dann lassen Sie ihn über Nacht einfach auf der Koppel«, beeilte sich Frau Meinert zu erklären, der die ganze Angelegenheit unangenehm war. »Ich möchte auf keinen Fall, dass er jemanden verletzt.«
»Das geht natürlich nur, solange die Nächte noch so mild sind. Im Herbst …«
»… haben wir hoffentlich längst jemanden gefunden, der sich um Spikey kümmert«, beendete Frau Meinert den Satz der Reiterhofbesitzerin. »Wenn Susanna erfährt, wie schlecht es ihrem Spikey geht, will sie sicher sofort zurückkommen. Aber dieser Schüleraustausch ist eine einmalige Gelegenheit für sie. Sie wissen doch, dass sie später einmal Sprachen studieren möchte. Dafür ist ein gutes Englisch Gold wert. Ich denke, wenn sich hier auf dem Hof niemand findet, werde ich es mal mit einer Annonce im Zwissauer Anzeiger versuchen.«
Miriam Deller seufzte. »Ich hoffe, dass Sie Erfolg haben. Saskia, Regine und Denise kommen Montag aus den Ferien zurück. Wenn sie ebenfalls nicht mit Spikey klarkommen, bin ich mit meinem Latein am Ende.«
Mit einem letzten Blick auf das gescheckte Pony wandten sich die beiden Frauen um und gingen zurück zum Parkplatz, wo Frau Meinert ihren Wagen abgestellt hatte.
Spikey sah ihnen nach und schnaubte leise. Dann setzte er sich in Bewegung und trottete, ohne den saftigen Klee unter seinen Hufen auch nur eines Blickes zu würdigen, den Hügel hinunter, um seinen Durst am Bach zu löschen.
Mailin blinzelte. Gerade schob sich die noch unvollendete Mondscheibe hinter den Wolken hervor und verzauberte die Wiese, auf der die Elfenpferde grasten, in eine märchenhafte Landschaft aus Licht und Schatten.
Der silberne Schein ließ das herrliche weiße Fell der Schimmel glänzen, während sie langsam durch die wogenden Nebelschleier schritten, die sich über den Niederungen des Auetals gebildet hatten.
Das Elfenmädchen hob den Blick zum Himmel und genoss den würzigen Duft der Nacht. Schon immer hatte sie eine Vorliebe für stimmungsvolle Sommernächte gehabt. Deshalb hatte sie heute auch freiwillig die Nachtwache für die Pferde des Elfenkönigs übernommen.
In einem Anflug von Zärtlichkeit sah sie zu den friedlich grasenden Pferden hinüber, während sie sich auf den Weg zum nahen Bach machte, um die Herde von dort zu beaufsichtigen.
Wie immer gab es nicht viel zu tun. Mailin setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, einen großen Stein am Ufer des Baches, und ließ ihren Atem in kleinen weißen Wölkchen in die Nacht aufsteigen. Sie beobachtete die Sterne. Ihren Platz unter den Pferdehütern am Hof hatte sie hart erarbeiten müssen, denn das Amt war bei den Elfen sehr begehrt.
Aber sie hatte es geschafft! Mailin liebte Pferde, seit sie ein kleines Mädchen war, und die schönsten und stolzesten von ihnen gab es zweifellos hier, in der Herde des Königs. Außer Gohin natürlich! In Gedanken entschuldigte sie sich bei ihrem treuen Freund und Begleiter. Kein anderes Pferd würde diesem temperamentvollen Hengst je das Wasser reichen können. Hier zu sitzen und die prächtigsten Tiere des Elfenreiches im Mondschein weiden zu sehen, war trotzdem etwas ganz Besonderes.
Der Leithengst hieß Elohin, die Stute an seiner Seite Aiofee. Bei dem Gedanken an das Lieblingspferd der Königin blieb Mailins Blick voller Sorge an der Stute hängen. Aiofee wirkte erschöpft. Ihr Fell war stumpf und ihre Schritte unsicher. Es war der erste Abend, den sie nach der schweren Geburt ihres Fohlens wieder auf der Weide verbrachte.
Das wird schon werden, beruhigte Mailin sich selbst. Aiofee ist jung und kräftig, in ein oder zwei Tagen wird man ihr die Strapazen kaum noch anmerken. Allerdings blieb ein bitterer Beigeschmack. Vom Hofheiler hatte sie erfahren, dass Aiofee nie wieder fohlen konnte.
Wie von selbst fiel der Blick des Elfenmädchens auf den kleinen, rabenschwarzen Hengst, der seiner Mutter langsam zum Bach folgte. Shadow, das Pferd des Elfenprinzen Liameel! Nie zuvor hatte sie ein schöneres Fohlen gesehen. Natürlich hieß das Fohlen nicht wirklich so. Sein richtiger Name war: Staja-Ame, was so viel bedeutete wie Weißer Pfeil. Aber solange das Fohlen noch schwarz war, erschien Mailin der Name nicht ganz passend, deshalb nannte sie es Shadow.
In jedem Fall konnte Aiofee stolz auf ihren Sohn sein. Sein Fell schimmerte wie schwarze Seide und auf seiner Stirn funkelte eine weiße Blesse in Form einer Mondsichel. Neugierig trat er neben seiner Mutter an den Bach, dessen glatte Oberfläche die Silhouetten der beiden Pferde wie ein Spiegel wiedergab. Shadow ahmte seine Mutter nach und streckte seine Nüstern neugierig dem Wasser entgegen. Als sie jedoch in das kalte Nass hineintauchten, sprang er erschrocken zurück. Ein leises, beruhigendes Wiehern Aiofees konnte ihn gerade noch davon abhalten, einfach davonzulaufen. So blieb er einige Schritte vom Ufer entfernt stehen und blickte misstrauisch zum Bach hinüber.
Plötzlich zerriss ein lauter Knall die friedliche Stille der Nacht und ließ die prächtigen Schimmel auf der Wiese zusammenzucken. Augenblicklich setzten sie sich in Bewegung und flohen in gestrecktem Galopp in einen schützenden Erlenhain.
Shadow war so verwirrt, dass er der Herde nicht folgte. In blinder Panik raste er am Ufer des Baches mal hierhin, mal dorthin, schlug Haken und wieherte ängstlich. Seine bockigen Sprünge führten ihn immer näher an ein Dickicht heran, in dessen dunklem Schatten sich etwas bewegte. Das Fohlen bemerkte es nicht. In seiner Furcht schien es nicht einmal das schrille Wiehern seiner Mutter zu hören, die auf der Lichtung angehalten hatte, um auf ihren Sohn zu warten. Dann ging alles sehr schnell. Ein großes, grobmaschiges Netz flog über das Dickicht und senkte sich unheilvoll über den jungen Hengst.
»Shadow! Lauf!« Mailin hatte die Gefahr erkannt und stürmte auf das Fohlen zu. Ihr Warnschrei nützte nichts. Der kleine Hengst war völlig verstört und unfähig zu reagieren. Wie angewurzelt stand er da und starrte Mailin aus seinen dunklen Augen an. Sie rannte, so schnell sie konnte, während sein Körper bereits unter den Leinenstricken verschwand. Shadow strauchelte und kippte zur Seite, wo er strampelnd liegen blieb. Alle Versuche, sich aus dem Netz zu befreien, waren vergebens und führten nur dazu, dass er sich immer weiter in den Maschen verstrickte. »Nein!« Mailin hatte das Fohlen fast erreicht, als auch sie stürzte. Irgendetwas wickelte sich um ihre Füße und riss ihr die Beine in vollem Lauf unter dem Körper weg. Der Aufprall war so hart, dass er Mailin kurze Zeit den Atem nahm. Sterne tanzten vor ihren Augen und in ihren Ohren rauschte das Blut. Noch bevor sie die Benommenheit abschütteln konnte, spürte sie, wie ihre Arme nach hinten gerissen wurden. Jemand fesselte sie!
»Wenn du friedlich bleibst, geschieht dir nichts«, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich sagen. Es folgte ein heftiger Ruck, mit dem die Fesseln an ihren Handgelenken festgezurrt wurden. Der stechende Schmerz trieb Mailin die Tränen in die Augen, aber sie wehrte sich nicht. Dann ließ der Angreifer ihre Hände los und ein Rascheln verriet, dass er sich aufrichtete.
Als sich seine Schritte entfernten, hob Mailin vor richtig den Kopf. Tränen verschleierten ihren Blick und das hohe Gras nahm ihr fast die Sicht. Nur verschwommen konnte sie die vier Gestalten erkennen, die sich eben daranmachten, das gefangene Fohlen fortzuschaffen. Shadow wieherte schrill und wehrte sich, doch er hatte keine Chance.
Mailin hörte Aiofee wiehern. In rasendem Galopp preschte die Stute über die Lichtung, um ihrem Fohlen zu helfen.
»Aiofee!« Mailins Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Im selben Moment bemerkte sie, wie eine der Gestalten niederkniete, einen Langbogen zur Hand nahm und der aufgebrachten Stute einen wohl gezielten Pfeil entgegenschickte.
»Aiofee, pass auf!« Mailin rief, obwohl sie wusste, dass ihre Warnung zu spät kam. Verzweifelt schloss sie die Augen und hoffte, dass der Pfeil sein Ziel verfehlte. Vergeblich. Mitten im Galopp brach Aiofee zusammen, überschlug sich und blieb, einen Pfeil in der Flanke, reglos im hohen Gras liegen.
»Aiofee! Shadow!« Mailins Schultern bebten. Sie musste etwas unternehmen! Irgendetwas!
Doch schon der Versuch, sich aufzurichten, scheiterte an den engen Fesseln. So musste sie hilflos mit ansehen, wie Shadow davongetragen wurde.
»Auf dem Reiterhof Danauer Mühle findet in drei Wochen …«
Etwas raschelte. Anette Wiegand stellte einen schweren Umzugskarton mit Büchern mitten im Raum ab und schaltete das Radio aus.
»He, was soll das?« Mit einem Satz sprang Julia aus dem schwarzen Ledersessel, der abgesehen von den vielen braunen Umzugskartons das einzige Möbelstück im ansonsten leeren Wohnzimmer war. »Ich wollte das hören, Mama!« Die Zwölfjährige kniete sich auf den Fußboden und schaltete das Radio wieder ein. Zu spät. Die Regionalnachrichten waren schon vorbei. »So ein Mist!«, schimpfte sie. Das Wort »Reiterhof« hatte sie aufhorchen lassen. Zu gern hätte sie erfahren, was dort in drei Wochen stattfinden sollte. Und nun hatte sie es verpasst.
»Du könntest ruhig ein paar Kartons hereintragen«, hörte sie ihre Mutter vom Flur her sagen.
Julia seufzte und verdrehte die Augen. »Ich hab doch alle Sachen in mein Zimmer gebracht.«
»Schön, das freut mich, aber draußen im Wagen stehen noch mindestens zwanzig andere Kartons.« Die Stimme klang, als wäre ihre Mutter schon wieder vor der Haustür. »Sei so gut und hilf mir, sonst versperrt der Transporter die Auffahrt, wenn Vati mit dem Möbelwagen kommt.«
Missmutig schälte sich Julia aus dem Sessel. Hatte sie vielleicht umziehen wollen? Nein! Nie im Leben wäre sie freiwillig aus Auerbach fortgegangen, und wenn, dann sicher nicht in ein so gottverlassenes Nest wie Neu Horsterfelde. Aber sie war ja nicht gefragt worden. Wahrscheinlich hätte es ohnehin keinen interessiert, was sie wollte, obwohl alle erwarteten, dass sie sich eifrig an der vielen Arbeit beteiligte, die der Umzug mit sich brachte.
Wehmütig dachte sie an Auerbach, den kleinen Ort am Rande des Taunus, der nicht mehr ihre Heimat sein sollte. Die alten Fachwerkhäuser mit den Geranien auf den Fensterbänken kamen ihr in den Sinn und die schlecht ausgebaute Dorfstraße, auf der die Autos wegen der Schlaglöcher oft nur ganz langsam fahren konnten.
Sie dachte an Kaja und Britt, ihre besten Freundinnen, mit denen sie nie mehr durch die Wälder und Wiesen des Auerbachtals reiten konnte. Und plötzlich, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, war das Heimweh da.
Mit dem Gedanken an Kaja und Britt kamen auch Erinnerungen zurück, die Julia schon den ganzen Tag zu verdrängen versuchte. Erinnerungen, die ihr größeren Kummer bereiteten als die an ihr Elternhaus oder ihre Freundinnen. Chenna, Dixi, Susi und all die anderen Pferde des Auerbach-Hofes waren es, die sie unendlich vermisste. Vor allem natürlich ihre Chenna. Das zottige weiße Pony war von der ersten Reitstunde an ihr Lieblingspferd gewesen. Mit keinem anderen hatte sie so viele Ausritte unternommen wie mit der temperamentvollen Stute, die unermüdlich galoppieren konnte und bei deren weiten Sprüngen sie fast das Gefühl hatte, zu fliegen. Dass Chenna nur ein Reitschulpferd war und nicht ihr eigenes, hatte Julia einfach ignoriert. Eifersüchtig hatte sie darauf geachtet, dass niemand anderes sich um ihre Chenna kümmerte, und deshalb auch mehr Zeit auf dem Auerbach-Hof verbracht als zu Hause.
Ach, Chenna, meine Chenna. Julia fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Kaja hatte zwar versprochen, sich gut um ihr geliebtes Pony zu kümmern, doch das tröstete sie kaum. Nie wieder würde sie Chennas prächtige Mähne striegeln, nie wieder die weichen Nüstern an ihrer Wange spüren, nie wieder …
»Pass doch auf, Julia!« Fast wäre sie mitten in der Tür zum Wohnzimmer mit ihrer Mutter zusammengestoßen.
»Entschuldigung!« Julia schniefte und wischte sich mit der Schulter eine Träne von der Wange.
»Du weinst ja!« Fürsorglich nahm Anette Wiegand ihrer Tochter den Karton ab. »Ist es wegen …?«
»Ach, lass mich in Ruhe!« Julia konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Wütend stürmte sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und knallte die Tür hinter sich zu. Was sie am wenigsten gebrauchen konnte, waren irgendwelche tröstenden Worte ihrer Mutter. Schließlich waren ihre Eltern schuld daran, dass sie Chenna verlassen musste.
»Du musst das verstehen, Julia«, hatte ihre Mutter kurz vor den Sommerferien zu ihr gesagt. »Wenn Vati den Job in Norddeutschland nicht angenommen hätte, wäre er arbeitslos geworden. Und mit fast fünfzig würde er so schnell keine neue Arbeit finden. Wir müssen umziehen. Wir haben keine andere Wahl. «
Schon zwei Wochen nach Beginn der Sommerferien waren die Umzugskartons gepackt und der Möbelwagen stand vor der Tür. Alles war bestens vorbereitet. Und Julia, die bis dahin verzweifelt gehofft hatte, es würde nicht so weit kommen, begriff nun, dass man sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Ihre Eltern hatten wirklich bis zum allerletzten Moment gewartet, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. »Wir ahnten, wie unglücklich du darüber sein würdest, und wollten nicht, dass du dich unnötig lange quälst«, war Vaters Antwort auf die Frage, warum sie es ihr nicht früher gesagt hatten. Dabei war sie so noch unglücklicher! Nur zwei Wochen hatte sie Zeit gehabt, sich von allen zu verabschieden. Zwei viel zu kurze Wochen, in denen sie jede freie Minute mit Chenna verbracht hatte, als könnte sie die Zeit des Abschieds hinauszögern.
Ach, Chenna!
Wie schön war es immer gewesen, wenn sie mit ihrem Pony ausritt. In den dichten Wäldern rund um Auerbach konnte Julia ihrer Fantasie freien Lauf lassen, während sie Chennas sanften Dreischlag genoss. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und aus dem zwölfjährigen Mädchen, das mit einem Reitschulpony ausritt, wurde Prinz Mio aus dem Land der Ferne, der mit seinem Pferd Miramis die Brücke des Morgenlichts überquerte. Oder sie wurden zu Atréju und Artax, die auf der Suche nach einem neuen Namen für die kindliche Kaiserin durch die endlose Steppe Phantásiens streiften.
Julia seufzte. Pferde und Abenteuer gehörten in ihrer Vorstellung untrennbar zusammen. Doch leider gab es so etwas nur in Büchern zu lesen. Sie hätte alles dafür gegeben, mit Chenna einmal ein richtiges Abenteuer zu erleben.
»Es ist ein Jammer mit dir, Julia«, hatte ihre Reitlehrerin auf dem Auerbach-Hof oft geklagt. »Du reitest wie ein Cowboy. Dabei hättest du die besten Voraussetzungen dafür, eine erfolgreiche Dressurreiterin zu werden. Du solltest lieber mehr trainieren, statt immer nur durch die Wildnis zu reiten.« Aber Julia wollte nicht trainieren. Sie hatte kein Interesse an Piaffen und Pirouetten. Ihr höchstes Glück war es gewesen, mit Chenna im Galopp über die Wiesen zu preschen. Und jetzt gab es keine Chenna mehr, auf deren Rücken sie träumen konnte.
Schluchzend lag Julia auf ihrem Schlafsack, das Gesicht im Kopfkissen vergraben.
»Julia?« Anette Wiegand steckte den Kopf durch den Türspalt und setzte sich zu ihrer Tochter.
»Lass mich in Ruhe!« Ohne aufzublicken schüttelte Julia die Hand ihrer Mutter ab, die tröstend über ihr Haar streichen wollte. »Ihr seid schuld. Vati und du! Ihr allein seid schuld daran, dass ich meine Chenna nicht mehr habe. Ihr, ihr …« Julia schluckte die bissigen Worte, die ihr auf der Zunge lagen, im letzten Moment hinunter. Das würde nur Streit geben, und damit war keinem geholfen. Sie wollte bloß allein sein und wünschte, ihre Mutter würde wieder verschwinden.
»Ich kann dich verstehen, Julia. Auch uns ist der Abschied von Auerbach nicht leicht gefallen, glaub mir«, sagte ihre Mutter. »Das Leben ist eben manchmal ungerecht.«
»Pah!« Julia schnaubte wütend. Was wussten die Erwachsenen schon! Ihre Mutter war doch nie selbst geritten. Wie wollte sie da nachempfinden können, was jetzt in ihrer Tochter vorging? Trotzig griff Julia nach ihrem Kissen und zog es sich über den Kopf. Erst jetzt verstand sie wirklich, wie sich Atréju gefühlt haben musste, als er seinen geliebten Hengst Artax in den Sümpfen der Traurigkeit versinken sah, denn genau wie er Artax hatte sie ihre Chenna für immer verloren. Kein tröstendes Wort konnte daran etwas ändern.
Julias eindeutige Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. Schon bald spürte sie, wie ihre Mutter aufstand und hinausging. Julia rührte sich nicht und blieb für den Rest des Abends in ihrem Zimmer. Sie hörte den Möbelwagen kommen und die Stimme ihres Vaters auf dem Flur. Obwohl sie inzwischen Hunger hatte und sich schrecklich langweilte, ging sie nicht hinunter. Sie wollte ihre Eltern spüren lassen, wie sehr sie litt. Sollten sich die beiden ruhig Vorwürfe machen für das, was sie ihr angetan hatten.
Aber ihre Eltern hatten an diesem Abend offenbar gar keine Zeit dazu. Zusammen mit den Möbelpackern arbeiteten sie bis weit in die Nacht hinein.
Erst gegen zwölf Uhr nahm das Rumpeln und Poltern unten im Haus ein Ende. Julia, die am Fenster saß und in die Dunkelheit hinausstarrte, sah den großen Lastwagen die Auffahrt hinabfahren.
Zwei Stunden später kehrte endgültig Ruhe ein und Julia hörte leise Schritte die gewundene Holztreppe heraufkommen. Hastig rollte sie sich in dem Schlafsack zusammen, in dem sie schlief, bis die Möbel aufgebaut waren, und löschte das Licht. Sie schaffte es gerade noch, ihre langen Haare etwas zu verwuscheln, da ging auch schon die Tür auf.
»Sei leise, sie schläft!«, hörte sie ihre Mutter flüstern. Julia hielt die Augen fest geschlossen und bemühte sich um gleichmäßige Atemzüge.
»Es ist schlimmer für sie, als wir dachten!«, sagte ihr Vater.
»Wir hatten keine Wahl, Martin«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Und die Reitstunden hätten wir in Auerbach auch nicht mehr bezahlen können.«
»Sie war dort so glücklich!« Julias Vater seufzte. »Hast du es ihr denn schon gesagt?«
Noch mehr Geheimnisse? Julia horchte auf.
»Nein.« Sie konnte förmlich sehen, wie ihre Mutter den Kopf schüttelte. »Sie hatte vorhin einen Wutanfall und wollte nicht mehr mit mir sprechen.«
»Aber es hätte sie vielleicht etwas aufgemuntert.«
»Oder auch nicht. Du kennst doch Julia. Wenn sie richtig wütend ist, ist nur schwer an sie heranzukommen. Wahrscheinlich hätte sie einfach auf stur geschaltet.«
»Hm, meinst du?«
»Es wäre wirklich nicht der richtige Moment gewesen«, bekräftigte ihre Mutter. »Und außerdem wollte ich damit warten, bis du da bist.«
»Wie auch immer, jetzt ist es dafür zu spät«, meinte ihr Vater. »Sie schläft. Ich wünschte nur, wir könnten etwas mehr tun, um sie zu trösten.«
Julia wäre am liebsten aufgesprungen und hätte gerufen: »Ja, das könnt ihr! Ihr braucht mir bloß meine Chenna wiederzugeben.« Doch sie sagte nichts. Verbissen presste sie die Lippen zusammen und stellte sich schlafend.
»Du machst dir zu viele Sorgen, Martin«, beteuerte ihre Mutter. »Julia ist ein aufgeschlossenes Mädchen. Sie wird sich hier schneller zurechtfinden, als wir denken. Und wenn sie erst einmal in der neuen Schule ist, wird sie auch neue Freundinnen finden, da bin ich ganz sicher.«
An den tappenden Geräuschen erkannte Julia, das ihre Eltern wieder zur Tür gingen.
»Ich kann nur hoffen, dass du recht behältst«, hörte sie ihren Vater sagen. »Aber die Sommerferien sind noch lang und die paar …«
Die Zimmertür fiel mit einem leisen Schnappen ins Schloss und Julia war allein.
Blinzelnd richtete sie sich auf und warf einen Blick auf ihren Wecker. Schon weit nach Mitternacht, ich sollte wirklich schlafen, dachte sie. Gähnend legte sie sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Der Gedanke, dass die Eltern ihr etwas verheimlichten, schwirrte unablässig in ihrem Kopf herum. Was konnte das sein? Dem Gespräch nach zu urteilen wohl nichts Schlechtes – zumindest nicht in den Augen ihrer Eltern. Aber was? Julia seufzte. Wenn sie sich lange darüber den Kopf zerbrach, würde sie wohl kaum einschlafen können.
Um sich abzulenken, ließ sie ihren Blick zum Fenster wandern, das – noch ohne Vorhänge – wie ein dunkles Loch in der Mauer gähnte. Die dichte Wolkendecke, hinter der sich die Sonne den ganzen Tag versteckt hatte, war verschwunden und der Mond stand hell und klar am Himmel.
Wer Chenna heute wohl geritten hatte? Britt? Sicher nicht, die hatte ja ihren Dixi. Kaja? Vielleicht. Ihre Susi hatte sich vor drei Tagen beim Springen verletzt und musste sich schonen. Hoffentlich hatte sie Chenna danach auch sorgfältig die Hufe ausgekratzt. Julia hatte sie extra noch kurz vor der Abfahrt angerufen, um ihr zu sagen, wie wichtig das bei Chenna war. Und hoffentlich hatte sie Chennas Box auch ordentlich ausgemistet. Julia hasste nichts mehr als verkrustete Reste von Pferdeäpfeln, die am Morgen mühsam aus Chennas weißem Fell gebürstet werden mussten.
Irgendwann musste sie dann doch eingeschlafen sein. Als sie ihre Augen das nächste Mal öffnete, wurde es schon hell. Grauer Nebel, der vom Horsterfelder See herüberkam, hing träge zwischen den Bäumen. Kein Lüftchen regte sich und die taufeuchten Blätter warteten reglos auf die wärmenden Strahlen der Augustsonne. Ein herrlicher Morgen für einen Ausritt! Julia unterdrückte gerade noch rechtzeitig den Impuls loszulaufen, um nach ihrer Kappe und den Reitstiefeln zu suchen, wie sie es daheim in Auerbach an einem solchen Morgen getan hätte.
Ich bin ja nicht zu Hause!
Der Gedanke, nicht mehr in Auerbach zu sein – nie mehr –, jagte ihr einen schmerzhaften Stich durch die Brust. Julia fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Oh nein, dachte sie. Bloß nicht wieder heulen. Ich muss dringend etwas unternehmen, das mich ablenkt, sonst werde ich krank vor Heimweh. Entschlossen schlüpfte sie in Jeans und Turnschuhe und streifte ein dünnes Sweatshirt über das T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte. Was immer die Eltern ihr zu sagen hatten, würde warten müssen. Die Sonne lockte. Sie musste raus!
Lautlos schlich Julia die Treppe hinunter. Hinter der Schlafzimmertür ihrer Eltern war noch alles ruhig. Kein Wunder. Immerhin hatten die beiden die halbe Nacht herumgeräumt, in der Hoffnung, wenigstens etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, das die Möbelpacker hinterlassen hatten.
Viel hatten sie allerdings nicht erreicht, fand Julia, als sie sich im Wohnzimmer umsah. Mit den sorgfältig verpackten Möbeln und den vielen Kartons glich das Haus eher einer Lagerhalle. Man brauchte schon sehr viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es hier später einmal aussehen würde.
Vorsichtig umrundete Julia die vielen Hindernisse und Stolperfallen auf dem Flur und ging in die Küche. Weil die Küchenzeile schon im Haus vorhanden war, sah es hier halbwegs eingerichtet aus. Auf der Arbeitsplatte fand Julia einen Kugelschreiber und einige bedruckte Zettel. Überzeugt, dass es wenig Sinn haben würde, irgendwo nach einem leeren Blatt zu suchen, drehte Julia kurzerhand einen der Zettel um und schrieb eine kleine Nachricht für ihre Eltern auf die Rückseite.
»Bin unterwegs – mit meinem Fahrrad!«
Das war zwar ein wenig einsilbig und vielleicht würde sich ihre Mutter Sorgen machen. Sollte sie doch. Weil sie noch keinen Schlüssel besaß, verließ Julia das Haus durch die Terrassentür im Wohnzimmer. An einem Sonntagmorgen waren wohl kaum Einbrecher unterwegs, schon gar nicht in einem so gottverlassenen Nest wie Neu Horsterfelde. Und so konnte sie ohne Probleme wieder ins Haus, falls ihre Eltern den Vormittag verschliefen.
Julias Mountainbike lehnte an der Wand unter der überdachten Terrasse hinter den Rädern ihrer Eltern. Es kostete sie einige Mühe, es hervorzuholen ohne die anderen Räder umzuwerfen, aber sie schaffte es. Ein prüfender Blick auf das staubige Gefährt machte deutlich, dass sie nicht sofort losfahren konnte. Nicht wegen des Staubes, nein: Der Vorderreifen hatte einen Platten.
Kein Wunder, es muss eine Ewigkeit her sein, seit ich das letzte Mal damit gefahren bin, dachte Julia. In Auerbach hatte sie ihr Rad so gut wie nie benutzt. Der Auerbach-Hof, die Reitschule, in der sie fast ihre gesamte Freizeit verbracht hatte, lag nur wenige hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt.
Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, spürte Julia schon wieder das verräterische Kribbeln in der Nase, mit dem sich die Tränen ankündigten. Hastig schluckte sie die aufkommende Traurigkeit hinunter und pumpte den Vorderreifen auf. Sie würde gleich eine lange Radtour machen, um auf andere Gedanken zu kommen und – vielleicht sah sie unterwegs ja auch ein paar Pferde.
Als Julia mit ihrem Mountainbike die Auffahrt hinunterzockelte, fühlte sie sich tatsächlich etwas besser. Der herrliche Morgen und die Aussicht auf einen schönen Ausflug taten ein Übriges, um ihre Laune zu heben.
Eine Frau im Jogginganzug sprintete im Dauerlauf an ihr vorbei. »Guten Morgen«, grüßte Julia freundlich, doch die Frau war so außer Atem, dass sie ihr zur Antwort nur zunicken konnte. Julia blickte ihr nach und überlegte, in welche Richtung sie fahren sollte. Die Auswahl war geradezu überwältigend. Immerhin hatte sie zwei Möglichkeiten: rechts oder links. Links standen auf beiden Straßenseiten etwa zehn Einfamilienhäuser mit großzügigen Vorgärten. Weiter hinten konnte Julia einen Bauernhof erkennen. Auf der freien Fläche zwischen den Häusern und dem Hof befanden sich die Neu Horsterfelder Bushaltestelle und der Briefkasten. Rechts endete das Dorf unmittelbar hinter dem Haus des Nachbarn und die angrenzenden goldgelben Felder lagen schon einladend im Sonnenschein. Das war’s! Viel mehr gab es hier nicht zu entdecken.