Gekrümmte Zeit in Krems - Claudio Magris - E-Book

Gekrümmte Zeit in Krems E-Book

Claudio Magris

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Beschreibung

Claudio Magris’ neue Erzählungen – Gedanken über das Altern und eine Hommage an seine Heimatstadt Triest

Die Protagonisten von Magris’ Geschichten haben es alle mit einer Zeit zu tun, die ohne Anfang und Ende zu sein scheint. Der reiche, alte Industrielle, der einen Schein-Rückzug aus dem Leben inszeniert; der Reisende, der im verschlafenen Donaustädtchen Krems, berührt von einem scheinbar unbedeutenden Zufall, die Zeitlosigkeit des Lebens und der Liebe entdeckt; der Musiklehrer, der seinen Schüler nach vielen Jahren in einer Begegnung zweideutiger Grausamkeit wiedersieht. Ironisch und schonungslos, melancholisch und nüchtern lassen Magris‘ Charaktere ihr Leben abklingen. Fünf Meistererzählungen über das Altern vom bedeutenden Triester Claudio Magris. Eines seiner besten Bücher.

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Über das Buch

Claudio Magris’ neue Erzählungen — Gedanken über das Altern und eine Hommage an seine Heimatstadt TriestDie Protagonisten von Magris’ Geschichten haben es alle mit einer Zeit zu tun, die ohne Anfang und Ende zu sein scheint. Der reiche, alte Industrielle, der einen Schein-Rückzug aus dem Leben inszeniert; der Reisende, der im verschlafenen Donaustädtchen Krems, berührt von einem scheinbar unbedeutenden Zufall, die Zeitlosigkeit des Lebens und der Liebe entdeckt; der Musiklehrer, der seinen Schüler nach vielen Jahren in einer Begegnung zweideutiger Grausamkeit wiedersieht. Ironisch und schonungslos, melancholisch und nüchtern lassen Magris‹ Charaktere ihr Leben abklingen. Fünf Meistererzählungen über das Altern vom bedeutenden Triester Claudio Magris. Eines seiner besten Bücher.

Claudio Magris

Gekrümmte Zeit in Krems

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Anna Leube

Hanser

Der Portier

Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte. Einen Augenblick lang ließ er die Hand auf dem glänzenden Metall ruhen und zog sie gerade rechtzeitig zurück, bevor sich die Tür wieder schloss. Es war eine angenehme Berührung, der Griff kalt und noch nicht von vielen feuchten, verschwitzten Händen erwärmt. Aus diesem Grund, um noch ein paar Sekunden länger das kühle Metall zu spüren, war er langsam ausgestiegen, nicht weil es ihm schwergefallen wäre. Argwöhnisch sah er sich um. Immer diese fixe Idee, dass ihm der Sohn oder die Schwiegertochter gefolgt sein könnte. Überdies waren sie um diese Zeit beschäftigt. Und vielleicht wussten sie es ja auch schon. Jedenfalls war er froh, kein bekanntes Gesicht zu sehen. Die Straße führte direkt zum Meer. Der Horizont schimmerte blaugrün; er kniff die Augen zusammen, wie Mitzi Matzi, wenn sie sich auf seinem Schoß zusammenrollte, im Sessel des Arbeitszimmers, und den Kopf zur Tischlampe hob.

Er mochte die Querstraßen nicht, die in das große Licht des Meeres mündeten; innerhalb der Geometrie der Stadt waren ihm die Straßen lieber, die parallel zum Ufer verliefen, geschützt von hohen Häusern, zwischen denen es mehr Schatten gab und wo es früher Abend wurde. Die ganze Stadt, so kam es ihm vor, seit er sie zum ersten Mal hoch oben vom Kamm des Karsts aus gesehen hatte, war zu sehr über die weite Wasserfläche vorgeschoben. Das mussten auch die Triestiner begriffen haben, hatten sie doch dieses Gitter aus rechtwinkligen Straßen angelegt, ein Netz, das vor dem Golf und seiner Weite schützte; viele von ihnen waren im Übrigen aus dem Inneren des Kontinents gekommen, so wie er aus Mähren, wenn auch lange vor ihm.

Als er vor dem Meer stand, verzog sich sein Mund zu einem verlegenen Lächeln, bei dem sich die Oberlippe kaum merklich hob und man ein bisschen zu sehr die Zähne sah, wie bei Roll, der Bulldogge, die er viele Jahre lang gehabt hatte und der er, wie seine Enkel behaupteten, am Schluss ähnlich sah. Das Meer am Ende dieser Straßen kam ihm von Mal zu Mal größer vor; manchmal schien ihm, er sehe es ansteigen, die Gehwege überschwemmen, anschwellen und höre es rumoren, ein Tosen, das aus der Ferne kam, aus einem Dunkel, zerfurcht von riesigen weißen Wellen.

Manchmal, noch vor dem Ausgehen, plante er in Gedanken spielerisch seinen Ausflug so, dass er den Anblick dieses grenzenlosen Blaus so lange wie möglich hinauszögerte; er stellte sich einen Angriff auf dem Schachbrett vor: im richtigen Moment ausweichen, einen Rösselsprung machen. Die Angriffspläne, das wusste er gut, seit er zum ersten Mal eine Firma geleitet hatte, waren fast immer Rückzugsstrategien, waghalsige Operationen, um sich ein größeres Spektrum an Verteidigungsmöglichkeiten zu sichern. Im Übrigen war das Alter insgesamt ein Voranschreiten, um sich dann zurückzuziehen: Man wagte sich auf unbekanntes Terrain, um der Wirklichkeit zu entkommen, die einen von allen Seiten her bedrängte, schonungslos und aufdringlich. Auch die Gewinne seiner Firmen, im Lauf der Jahre immer gewaltiger, waren ein Damm gegen die Schwierigkeit der Dinge gewesen, angefangen bei dem Geld, das er verdient hatte, als er von Hannsdorf — ja, einverstanden, von Hanušovice, auch Hanušovice — nach Triest gekommen war, mit allen möglichen Verkehrsmitteln, manchmal auch zu Fuß, und hier und da für Kost und Logis gearbeitet hatte. Dann, in Triest, hatte er ziemlich schnell Erfolg gehabt, eine gute Nase für die Börse und ein instinktsicheres Gleichgewicht zwischen Wagemut und Vorsicht, den Vorsitz über zwei, drei Gesellschaften und natürlich die Ehe samt dazugehörenden Kindern und Enkeln. Die Welt bewegte sich weiterhin wie ein Fluss großzügig auf ihn zu, doch allmählich hatte er das Bedürfnis verspürt, sie einzudämmen, wenn möglich diesen Fluss umzuleiten und eine Barrikade gegen das vorwärts drängende Leben zu errichten. Das eine oder andere seiner Unternehmen zu verkaufen, deren Umfang beträchtlich war, die aber gerade noch zu managen waren, bedeutete die Leinen loszulassen und das Boot zu Wasser zu lassen, doch ohne selbst mitzufahren. Das kleine Gebäude der Speditionsfirma, die bis vor wenigen Monaten ihm gehört hatte, stellte ebenfalls eine beruhigende Barrikade dar.

»Mir können Sie Befehle erteilen, aber nicht den Angestellten und auch nicht den Putzfrauen«, hatte Doktor Dürrer zu ihm gesagt, während er ihn streng hinter den funkelnden Brillengläsern angesehen hatte, mit kleinen, boshaften Augen. Seit die Firma in den Besitz der Schweizer Gesellschaft übergegangen war, ließ es sich Doktor Dürrer, der neue Geschäftsführer, angelegen sein, ihn, da er ihn noch oft im Büro auftauchen sah, daran zu erinnern, dass er nur noch Ehrenpräsident war und als solcher über den Sessel und die Zeitungen verfügen konnte, aber nicht mehr über das Personal. »Sagen Sie es ruhig mir, ich werde Ihnen gern behilflich sein, aber bitte verlangen Sie nichts von unseren Angestellten. Ich stehe Ihnen gern zu Diensten …« Und Doktor Dürrer lächelte komplizenhaft, stolz darauf, mit dieser Bemerkung eine mögliche lästige Einmischung verhindert zu haben.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, die Straßen belebten sich allmählich. Ins Gurren der Tauben mischte sich das Kreischen einer Möwe, er hob den Kopf, und sein Blick begegnete für einen Moment den bösen Augen des Vogels. Es gab immer mehr Möwen in der Stadt, sie flogen von den Klippen am Ufer hoch und machten sich auf zu den Häusern, den Straßen, den Gärten auf der Suche nach Essensresten. So ein Idiot, dieser Dürrer. Als ob er noch immer ins Büro ginge, weil er gern Befehle gab. Dabei war er nur aus Gewohnheit weiterhin hingegangen, weil er es so viele Jahre lang getan hatte, so wie er sein Abonnement für das Teatro Verdi erneuert hatte, ohne dass ihm deshalb die Opern, die ihm alle mehr oder weniger identisch vorkamen, weniger gleichgültig gewesen wären. Er hatte auch nie daran geglaubt, dass es etwas nütze, sich die Zähne zu putzen, schließlich verdienten die Zahnärzte nach wie vor jede Menge Geld trotz des großen Verbrauchs von Zahnpasta, und dennoch hatte er sie sich immer geputzt.

Über bestimmte Dinge diskutierte man einfach nicht; wenn man aufhörte, sich die Zähne zu putzen oder das Theater zu besuchen, konnte die ganze Gesellschaft den Bach runtergehen. Und er fühlte sich wohl in dieser Gesellschaft. Er liebte sie nicht, das dann doch nicht, aber er respektierte sie, organisiert, wie sie war, mit ihren Zinsscheinen, ihren Wertpapieren, Dividenden, Ehen, Theatern und Zahnbürsten. Alles war von Nutzen, alles diente dazu, die Dinge fernzuhalten. Das Meer war zum Beispiel gleich hinter der Börse, auf der anderen Seite, groß und mit weißen Wellen, doch unter den Säulen und dem klassizistischen Giebel der Börse sah und hörte man es nicht, und alles war in Ordnung. Es war gut, wenn man die Dinge wiederholte. Deshalb hatte Chiara, seine Schwiegertochter, Unrecht, die den Tick hatte, andauernd Vorhänge oder Lampen auszutauschen; so fing es an, doch man wusste nicht, wo es enden würde.

Mir können Sie Befehle erteilen. Ein Idiot, dieser Schweizer. Von dem Tag an hatte er keinen Fuß mehr in sein altes Büro gesetzt und ihm auch nichts gesagt, der andere hätte ohnehin nichts kapiert. Wenn es etwas gab, das er schon immer gehasst hatte, dann war es Befehle zu erteilen. Er war so froh, wenn er auf der Reise von Hannsdorf nach Triest, ohne eine Grenze passieren zu müssen, denn damals gab es noch das Habsburgerreich und es war unvorstellbar, dass es das eines Tages nicht mehr geben könnte, wenn er also abends bei einem mährischen Bauernhof haltmachte und fragte, ob es etwas zu tun gebe, und man ihm sagte, er solle ein bisschen Holz hacken oder das trockene Laub aufsammeln. Man gab ihm eine Säge oder ein Beil, und er zog die Jacke aus und machte sich an die Arbeit. Die Holzscheite fielen mit einem schönen dumpfen Geräusch zu Boden, die Späne flogen in alle Richtungen, es roch gut, und obwohl es Winter war und er in Hemdsärmeln, fror er nicht. Dann gab man ihm ein paar Münzen, und er zog weiter, die Welt war groß und schön.

Wenn er die Nacht in einem Heuschober verbrachte, schlief er sofort ein. Er hatte immer gern geschlafen, das Leben war so anständig, dass es ein Drittel der Zeit verschwand; eine Stunde glückseliges Nichts für zwei Stunden voll Mühsal und Missverständnissen, das war kein schlechter Handel. Morgens stand er sehr früh auf, solange er unterwegs war; eine Weile verlängerte das Dunkel dieses glückliche Nichtstun. Er ging ins Freie, auf dem Gras lag Reif; noch auf der Schwelle schlürfte er ein frisches Ei, legte sich dann den Sack auf den Rücken und zog weiter. Die Lieder der mährischen Scherenschleifer und Schuster fielen ihm wieder ein. Deutsche Lieder; die Deutschen verstanden es zu gehorchen und zu singen, es war ein und dasselbe, es hieß Ja sagen.

Später war es schwierig geworden nicht zu befehlen, als er die Eisenwarenfirma, das Bauunternehmen oder den Speditionsbetrieb erworben und dann vergrößert hatte, als er Filialen eröffnet und Bürovorsteher und Direktoren ernannt und immer mehr Geld in immer größere Unternehmungen gesteckt hatte. Aber auch da hatte er es mit ein paar klugen Schachzügen geschafft. Am Anfang hatte er sich einfach ein wenig umgehört, welche Papiere man kaufen oder verkaufen, welche Spekulation man riskieren sollte. Er hörte auf die Ideen von anderen, von Menschen, die schon länger in dieser Welt verkehrten, wandelte sie um, bis die anderen glaubten, er sei selbst auf diese Ideen gekommen, habe die Prognosen weiter ausgearbeitet, die bestimmte Entwicklungen auf dem Markt vorwegnahmen, zur Zufriedenheit der Wenigen, die das schon geahnt hatten. Das Gleiche, nur in größerem Maßstab, war dann mit den Managern und Beratern seiner Unternehmen passiert. Es hatte nur einer gewissen Geschicklichkeit und vor allem eines resoluten, entschiedenen Tons bedurft, damit sie nicht merkten, dass es sehr häufig sie selbst waren, die ihm die Entscheidungen und Maßnahmen nahegelegt hatten, die er am Ende streng und gebieterisch durchsetzte. Und sie hatten nichts gemerkt, hatten alle voll Respekt und Rücksicht — ja fast ängstlich, nach den angespannten Mienen zu schließen — darauf gewartet, dass er die Entscheidungen traf, ohne weiteren Einspruch zuzulassen. Befehle erteilen, auch in strengem Ton, war vielleicht die einzige Möglichkeit, die wilde Meute auf Abstand zu halten, die einem von überallher auf den Fersen ist — deutlich sichtbare oder verhüllte Attacken, Forderungen jeglicher, auch wohlwollender Art; eine Masse, die fordert, einbestellt, schreibt, telefoniert, anbietet und so tut als ob. Bitten um Hilfe, Lob und Protest, die Verpflichtung, zu einem Abendessen oder einer Ausstellung zu gehen, Vorschläge und Projekte, Geburtstage, Jahrestage, Beerdigungen, Hochzeiten, Feste, denen man nicht fernbleiben kann, gemeinnützige Initiativen, die man unterstützen muss … und das alles, um einen daran zu hindern, ein bisschen auf den Straßen spazieren zu gehen, sich auf eine Bank zu setzen. Befehle erteilen war eine Art, das Seil zu kappen und sich davonzumachen, die Truppen zu verabschieden und seine Ruhe zu haben. Auch so war das Befehlen an sich nichts Erfreuliches, doch es war nicht übel, wenn man diese Kunst der Selbstverteidigung möglichst bald gelernt hatte.