Geliebter, wo kann ich dich finden? - Gabriele Bensberg - E-Book

Geliebter, wo kann ich dich finden? E-Book

Gabriele Bensberg

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Beschreibung

Rosenstocks versteckten sich mit Anna in ihrem Geräteschuppen im Garten, drängten sich dicht aneinander und zitterten vor Angst und Kälte, jeder zu seinem Gott betend, während der Mob in die Villa einfiel, die Türen zertrümmerte, Fensterscheiben zerschlug, die teuren Möbel hinauswarf. Niemand entdeckte sie. Ein SA-Mann schaute kurz durch das kleine Fenster, sah aber nur Gartengeräte und rief seinen Kumpanen zu, dass hier keine Judensau abzustechen sei. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen ist spätestens seit dem Mittelalter problematisch. Die Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Volk führte im Zusammenhang mit der Kreuzzugsbegeisterung und dem Wüten der Pest zu Vertreibungen und dem Auslöschen vieler jüdischer Gemeinden. Klagte man die Juden damals als Mörder Christi und Brunnenvergifter an, so führte Ende des 19. Jahrhunderts eine pseudowissenschaftliche Rassenforschung zu Antisemitismus und Ausgrenzung, die in Deutschland in den unvorstellbaren Gräueln der Shoa gipfelten. Es gab aber auch historische Epochen, in denen Juden und Christen einander nicht nur tolerierten, sondern auch begegneten.

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Seitenzahl: 314

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Inhalt

Über den Autor

Titelseite

Impressum

ERSTER TEIL

Island

Auf dem Allthing

Die Flucht

In Konstantinopel

Im Haus des Weinhändlers

Der Geburtstag des Alexios

Fastenzeit

Im Hippodrom

Chaim und Helga

Schwangerschaft und Geburt

Rückkehr nach Island

Die letzten Jahre

Die Nachfahren

ZWEITER TEIL

Im Stift

Die erste Begegnung

Eine neue Freundin

Rückkehr nach Berlin

Der Ball

Frühling in Baden-Baden

Liebe mit Folgen

Heirat

Landleben

Begegnung mit dem Sozialismus

Adam und Alf

DRITTER TEIL

1933: Machtübernahme

Schikanen

Geschichte einer Liebe

Gretna Green

Verfolgung

Flucht

In New York

Edgar und David

Die ganze Wahrheit

Neuengamme

VIERTER TEIL

Das neue Leben

Der Schwarm

In der Universität

Eine Affäre

Die erste Ehe

Die zweite Ehe

Wiedersehen

Zeit der Rosen

Die Rechten marschieren wieder

Das ungeborene Kind

Die letzte Begegnung

Bensberg, Gabriele

1953 in Siegen geboren; nach dem Abitur Studium der Germanistik, Pädagogik und Psychologie in Heidelberg; Promotion in Germanistik; Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg; Diplompsychologin, Dozentin und Autorin; diverse wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen; www.gabriele-bensberg.de.

Gabriele Bensberg

Geliebter, wo kann ich dich finden?

Engelsdorfer Verlag 2009

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Titelbild: An old gramophone ornate with Jewish motives.

© Artyom Yefimov - Fotolia.com

eISBN: 978-3-86901-726-6

Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Deine Kinder sind nicht deine Kinder.

Es sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch dich, aber nicht von dir und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.

Du kannst ihnen deine Liebe geben, aber nicht deine Gedanken,

denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Du kannst ihrem Körper ein Heim geben, aber nicht ihrer Seele,

denn ihre Seele wohnt in dem Haus von morgen,

das du nicht besuchen kannst, nicht einmal in deinen Träumen.

Du kannst versuchen, ihnen zu gleichen,

aber versuche nicht, sie dir gleich zu machen,

denn das Leben geht nicht rückwärts und verweilt niemals beim Gestern.

(nach Kahil Gibran)

ERSTER TEIL

Island

Im Jahre des Herrn 995 lebte in Island ein siebzehnjährigen Mädchen, das Helga hieß und einer vornehmen Familie entstammte. Sein Urgroßvater väterlicherseits war Thord Habichtsauge und gehörte dem berühmten Geschlecht der Orkneyjarle an. Thord gelangte von den Orkneys aus an die Westküste der Insel in den Breidifjord. Da er ein großer Thoropferer war, warf er die Hochsitzpfeiler, in die Thords Antlitz geschnitzt war, über Bord, denn er wollte nur dort siedeln, wo der Gott mit dem Hammer ihm den Platz weisen werde. Die Hochsitzpfeiler trieben an der Halbinsel Snæfellsnes an und dort, nicht weit entfernt von den Steilklippen, erbaute Thord einen Hof, den er Thorsnes nannte. Und alle Nachkommen hielten Thor in hohen Ehren, und jeweils der älteste Sohn erhielt einen Namen, der von diesem Gott abgeleitet war.

Helga wurde von zwei Moorhexen, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft lebten, aber sich als Hebammen einen Ruf verschafft hatten, zur Welt gebracht. Die ältere, Katta, hielt wie segnend die Hand über das Kind, als es zappelnd aus dem Mutterleib kroch, und sprach eine Weissagung:

„Höre Aud, was ich dir über deine Tochter sage. Dieses Kind wurde von Freyja, der Göttin der Liebe, auserwählt. Es wird einen Mann lieben, der zu einem fremden, aber großen Volk gehört, dessen Glaube an nur einen Gott den Siegeszug um die ganze Welt angetreten hat. Und diese Liebe wird eine lodernde Fackel sein, die auch der Tod nicht löschen kann. Immer wieder wird sie in einer Nachfahrin auferstehen, mögen auch viele Jahrhunderte dazwischen liegen. Wiederholen werden sich die Geschicke. Das ist Freyjas Spruch.“

Helgas Mutter starb nach der Geburt ihrer einzigen Tochter, und später wusste niemand mehr von der Prophezeiung.

Die Großmutter des Mädchens mütterlicherseits, Katla, war eine gefürchtete Zauberin. Über die Thorverehrung der Jarlsnachkommen lachte sie höhnisch. Mit ihrem eigenen Geschlecht hatte Gottvater Odin selbst einen Bund geschlossen. Er gelobte Asbjörn, seinem tapfersten Krieger, dem König von Halogaland, über seinem Geschlecht zu wachen und ihm Ruhm und Ehre zuteil werden zu lassen. Asbjörn hatte dafür heilige Eide geschworen, Riesen und Trolle zu bekämpfen und einst die Einherjer anzuführen, die für Odin kämpfen werden, wenn Ragnarök anbricht und die alten Götter sterben.

Jahrhundertelang lebten die Nachfahren Asbjörns in Ansehen und Wohlstand in Norwegen. Dann aber, als sich das 9. Jahrhundert dem Ende zuneigte, wurde der hochfahrende Harald Haarschön König. Er entmachtete die Hersen und Jarle und drohte jedem, der sich ihm nicht unterwerfen wollte, den Tod an.

Helgas Vorfahren hielten Rat und beschlossen, die alte Heimat zu verlassen. In größter Heimlichkeit beluden sie mehrere Schiffe mit all ihrem Besitz, mit Schafen, Rindern, Pferden, Mägden und Knechten, auch nahmen sie viele Verwandte mit, und segelten dann in dunkler Nacht der isländischen Küste entgegen. So erzählte man es Helga.

Als das Mädchen vier Jahre alt war, holte es ein Freund des Vaters, An der Schwarze, der selbst verwitwet und kinderlos war, als Ziehkind auf seinen Hof. Eine uralte Sitte war es bei den germanischen Völkern, Kinder von Verwandten und Freunden in Pflege zu nehmen, um das Band zwischen zwei Geschlechtern noch enger zu knüpfen.

Vor drei Monaten erst, zum Julfest, war Helga gegen ihren Willen auf den Hof des Vaters zurückgekehrt. Viele Tränen hatte sie geweint und manch Opfer ihrer Lieblingsgöttin Freyja dargebracht, die sie verehrte, weil sie einerseits wunderschön, andererseits aber eine große Kriegerin war. Es hatte nicht geholfen. Thord bestand auf ihrer Rückkehr. Helga war jetzt im heiratsfähigen Alter, und es war an ihm, für eine vorteilhafte Ehe zu sorgen, was ihm nicht allzu schwierig erschien, denn seine Tochter war sehr hübsch.

Helgas Augen waren grau wie das Meer an einem regenverhangenen Tag. Die rotblonden Haare, sehr lang und gewellt, trug sie in zwei Zöpfen. Ihre Züge waren schön geschnitten und hatten noch etwas von der Lieblichkeit einer gerade aufgebrochenen Blüte im Mai. Nossa wurde sie oft genannt, wie man im Norden zu sagen pflegte, wenn ein Mädchen so schön war, dass es Freyjas lieblicher Tochter glich.

Augenbrauen und Wimpern aber waren fast schwarz, und das konnte niemand so recht erklären. Eine alte boshafte Frau, die Großmutter einer Spielgefährtin, hatte einmal gesagt, Helga sei entweder ein Trollkind oder die Tochter einer Magd, mit der sich ihr Vater eingelassen habe. Helga hatte sich wutentbrannt auf die Alte gestürzt und ihr das Gesicht zerkratzt. Blutend und schimpfend war sie davon gehumpelt, ohne ihre Worte jemals zu wiederholen.

Helga hatte noch zwei ältere Brüder, Thorolf und Finnboga, kühne, hochgewachsene Burschen, die auf Wikingfahrten weit herumkamen. Bis nach Konstantinopel waren sie gelangt, das die Nordländer Miklagard, das heißt „große Stadt“, nannten. Beide Brüder traten dort in die Warägergarde des Kaisers ein, und Thorolf der Ältere wurde vom Basileos sogar zu ihrem Hauptmann ernannt. In dem Sommer nach Helga Heimkehr waren die Brüder zu Hause. Der jüngere wollte sich verheiraten und sesshaft werden. Thorolf der Ältere beabsichtigte jedoch, im Frühsommer nach Konstantinopel zurückzukehren. Er dachte noch nicht daran, seinen Abschied zu nehmen, wenngleich sein Vater wenig damit zufrieden war. Thorolf war in Konstantinopel auf Wunsch des Kaisers zum Christentum übergetreten, doch er betrieb die Religion nur oberflächlich.

Mit großen Augen hörte die junge Helga zu, wenn die Brüder von fernen Ländern erzählten. Nichts war dann noch wichtig. Die Hausarbeit blieb liegen, die Rufe des Vaters verhallten ungehört.

Thorolf hatte Helga eine getrocknete Rose mitgebracht, der immer noch ein zarter Duft entströmte.

„Vor den Mauern Konstantinopels gibt es ganze Felder mit Rosen, die in allen Farben blühen. Und es ist viel wärmer als hier. Die Reichen tragen seidene Gewänder und fahren mit Pferdewagen durch die Straßen. Die meisten dort glauben an den „Vite Krist“, den kleinen gedemütigten Mann am Kreuz, der ein Gott und Weltenherrscher ist“, erzählte Thorolf. Da aber musste Helga lachen. Sie glaubte nur an sich selbst, an die Kraft ihres Willens, an ihre starken Glieder und höchstens noch an Freyja, die Göttin der Liebe und Herrin der Walküren, deren hölzernes Bild sie an einer Lederschnur als Amulett um den Hals trug.

Wenn sie an Konstantinopel dachte und sich die Erzählungen der Brüder immer farbiger ausmalte, kam in ihr der brennende Wunsch auf, all das einmal selbst zu sehen.

„Kannst du mich nicht mitnehmen, wenn du zurücksegelst nach Konstantinopel, ach bitte Thorolf, nimm mich doch mit“, bettelte Helga und hob flehend die Hände.

Thorolf lachte. „Ein Mädchen auf einem Wikingerschiff, das hat es noch nie gegeben. Bestimmt würdest du seekrank oder ein riesiger Fisch würde dich verschlingen.“ Er zog seine Schwester derb an den Zöpfen und lachte gutmütig.

„Lass das“, brauste Helga auf, „ich bin kein Kind mehr, und es stimmt nicht, dass Frauen nie auf Fahrten mitgenommen wurden. Erich der Rote hatte auch Frauen auf seinem Schiff, als er Grönland entdeckte.“

„Frauen schon, aber keine unvernünftigen kleinen Mädchen“.

„Du solltest an einen Ehemann denken, statt dich mit solchen Verrücktheiten zu beschäftigen“, mischte sich Thord ein, der gerade hereingekommen war und Sauermilch in einen Topf füllte.

Helga sprang auf und verließ wortlos die Küche, in der das Gespräch stattgefunden hatte. Sie lief hinunter zum Strand und warf zornig mit Steinen nach einem rotschnäbeligen Papageientaucher, der die wenig später erfolgende Bekehrung Islands durch sein probstähnliches Erscheinungsbild vorwegzunehmen schien. Er flog über Helga hinweg und es kam ihr so vor, als krächze er spöttisch, weil sie es ihm nicht nachmachen, sich nicht in die Lüfte erheben konnte, um zu der wundersamen Stadt zu fliegen.

Öd und grau war das Land im Frühling. Gestein, etwas Sand und dahinter graugelbe Wiesen mit einem Schein ins Olivgrüne, die ganze Landschaft durchsetzt mit Schneematten. Vor ihr lag das Meer und hinter ihr erhob sich ein majestätischer Gletscher; ansonsten gab es nur den Hof des Vaters. Langweilig war es und die nächste Abwechslung, das Allthing, auf dem sie auch ihren Pflegevater An endlich wiedersehen würde, fand erst im Juni statt.

Helga hob weitere Steine auf und schleuderte sie auf die See. Der Himmel war verhangen und die weiße Gischt schäumte in immer neuen Anläufen an den Strand. Irgendwo tief im Süden lag Konstantinopel. Trotzig warf sie das Kinn empor. Sie wollte dorthin und sie würde auch dorthin kommen. Keiner konnte sie davon abbringen.

Sie dachte an An. Wäre er doch jetzt hier. An hatte ihr vieles beigebracht, was sich für eine Frau angeblich nicht schickte. Sie wusste, wie man einen Wal zerteilt, mit Pfeil und Bogen umgeht und die Axt schleudert. Auch konnte sie Runen ritzen. Spinnen hatte sie bei An allerdings nicht gelernt. Als sie auf den Hof des Vaters zurückkehrte, mussten die Mägde es sie erst lehren, und sie zeigte sich dabei unwillig und wenig talentiert.

Das Meer glitzerte dunkel und geheimnisvoll und Helga versank in Träumereien. Sie träumte von einem Mann, der ganz anders war als all die jungen Männer, die sie kannte und die immer nur von Fehden, Pferdekämpfen und Gelagen sprachen. Sie träumte von einem Mann, der in Büchern lesen und bunte Geschichten erzählen konnte.

Helga wusste nicht, dass in dieser Stunde Tausende Kilometer von ihr entfernt ein Mann von einer Frau träumte, die nichts gemein hatte mit den ihm bekannten Frauen. Es war der Juwelier Chaim Levi, der in Konstantinopel ein gut gehendes Geschäft betrieb. Als Jude gehörte er einer geduldeten Minderheit an, aber sein Wohlstand und seine sympathische, integre Persönlichkeit hatten ihm auch Freunde unter den Christen verschafft.

In letzter Zeit zog er sich häufig in die hinteren Räume seines Geschäftes an der Mesi, der Prachtstraße Konstantinopels, zurück und hing dort seinen Gedanken nach.

Die Vorfahren Chaims waren nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus zunächst nach Babylon geflüchtet. Von dort aus gelangten sie über mancherlei Zwischenstationen schließlich nach Byzanz, in das große christliche Reich im Osten, den Schutzwall des Abendlandes gegen Mohammedaner und heidnische Slawenstämme.

Chaim lebte in einer blühenden Stadt, die zu großem Reichtum gelangt war, denn Byzanz lag an den alten Handelsstraßen, öffnete sich nach dem Vorderen Orient ebenso wie nach den Bernstein- und Pelzhandelszentralen des Nordens. Die Goldmünze der byzantinischen Kaiser beherrschte über Jahrhunderte den Handel rund um das Mittelmeer bis weit nach Vorderasien hinein. Er lebte auch in einer zivilisierten Stadt mit festen Rechtsgrundsätzen, die auf der Basis des römischen Rechts entstanden waren. Gegenüber den Juden übte man sich in Toleranz.

Von seinen Freunden wurde er scherzhaft „der Prophet“ genannt, weil er es liebte, über existentielle Fragen zu philosophieren, etwa den jüdischen Glauben mit dem Islam und den Botschaften des Christentums zu vergleichen. Dieser grüblerische Zug hatte seinen Ursprung nicht zuletzt in den Schicksalen, die sein Volk durchlitten hatte – die Versklavung durch die Ägypter, die babylonische Gefangenschaft, die Zerstörung des Tempels durch die Römer, die sich anschließende Diaspora.

Chaim war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt und verheiratet. Die Ehe war von seinen Eltern arrangiert worden, und er hatte in ihr vier Söhne gezeugt. In letzter Zeit empfand Chaim jedoch immer häufiger Überdruss, wenn er an Sarah, seine Frau, dachte. Gewiss, sie war freundlich und angenehm, und er mochte sie, aber nie hatte sie sein Blut in Wallung und seinen Körper in Ekstase gebracht. Und so unterhielt er wechselnde Liebesverhältnisse mit willigen Frauen aus der Hafengegend oder gelangweilten Damen der Konstantinopler Oberschicht, die bei ihm ihre Juwelen kauften. Nichts hatte er ausgelassen, aber nun war er der Feste, der Orgien überdrüssig geworden. Er träumte von einer Frau, die von der Art war, wie es sie in den unwegsamen Gegenden des Abendlandes geben sollte. Auf Handelsreisen war er dorthin gelangt und hatte von Frauen gehört, die ihr Vermögen selbstständig verwalteten und in Kriegszeiten – wenigstens hatte man ihm das berichtet – sogar mit in den Kampf zogen.

Schon oft hatte er sich mit dem Gedanken getragen, auf einem Sklavenmarkt solch eine hellhaarige und hellhäutige Frau zu kaufen, immer aber war er davor zurückgeschreckt, da er um den Frieden in seinem Haus fürchtete. Chaim überlegte, wie sich weiße Haut und goldenes Haar wohl anfühlen mochten und er erschauerte.

Auf dem Allthing

In der ersten Juniwoche fand das Allthing statt. Helga ritt auf ihrem Pony Windsbraut zusammen mit den Brüdern und dem Vater nach Thingvellir. Während des langem Rittes griff sie immer wieder in die silbrige Mähne ihres hellbraun und weiß gescheckten Pferdes, drückte ihm die Hacken in die Seite und galoppierte ihren Verwandten davon, wobei sie sich noch im Sattel umwandte und spöttisch lachte.

Auf dem Thingplatz herrschte geschäftiges Treiben. Der Thingkreis war schon abgesteckt und die Goden standen zusammen und berieten. Stoffe, Felle und Schmuck wurden feil geboten. Thord, Finnboga und Thorolf begannen sofort, eine Hütte aufzuschlagen. Helga stand daneben, die kühn geschwungenen dichten Brauen hochgezogen, die Augen mit der Hand beschirmend, als ob die spärliche Sonne sie blende. Dabei wusste sie es so einzurichten, dass der mit einer Kleeblattfibel am Hals zusammengehaltene kurze wollene Umhang zurückfiel und ihren schöngeformten jungen Arm zeigte, der mit zwei silbernen Ringen, einem Ober- und einem Unterarmreif, geschmückt war.

Sie schlenderte zu einer Bude, in der Frauenkopftücher auslagen. Dabei hielt sie Ausschau nach ihrem Pflegevater, fragte jeden, der vorbeikam, ob man ihn schon gesehen habe. Schließlich entdeckte sie ihn und lief sogleich zu ihm hin, und An schloss das Mädchen in die Arme, wirbelte es hoch und lachte dabei sein dröhnendes, unbändiges Lachen. Sie blieben den ganzen Tag über zusammen und erzählten einander alles, was in der Zwischenzeit geschehen war.

Zwei Totschläge wurden auf dem Thing verhandelt. Zunächst der Totschlag an Thor Habichtskralle, den sein Nachbar Magnus aufgrund von Streitigkeiten um das Grenzland zwischen den beiden Höfen getötet hatte. Magnus zahlte die von den Goden festgesetzte Buße an die beiden Söhne des Toten, und der Vergleich hatte Bestand. Auch wurde ein Totschlag, den Arni Magnusson begangen hatte, verhandelt, der eigentlich ein Mord war, weil Arni die Erschlagung zu spät öffentlich kund tat. Er hatte Kolbjörn, von dem es hieß, er habe Umgang mit Arnis Schwester Asgerd, in seinem Schlafhaus überfallen und mit einer Axt erschlagen. Arni wurde geächtet, aber es hieß allgemein, er habe bei einem Freund Unterschlupf gefunden, der ihn später auf einem Schiff sicher nach Norwegen brachte.

Auf diesem Thing war es auch, dass Helgas Brüder mit ihrem Cousin zweiten Grades, dem starken Börk, Blutsbrüderschaft schlossen. Sie traten unter ein ausgehobenes Rasenstück, ließen ihr Blut zusammenrinnen und in die Erde fließen. Dabei legten sie den Schwur ab, einander künftig in allen Notlagen beizustehen. Börks Augen aber hingen voll Bewunderung an Helga.

Und noch etwas ereignete sich. Gellir der Reiche, dessen Großmutter väterlicherseits eine Unfreie gewesen war, die von ihrem Besitzer geschwängert wurde, suchte Thord auf und hielt um Helgas Hand an.

„Sie ist schön und aus guter Familie, eine Frau, wie es auf Island nur wenige gibt. Gib mir Helga und es soll dein Schade nicht sein. Ich werde dir ein Drittel meines Landes überlassen.“ Gellir war nicht besonders angesehen, aber er hatte es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Das gab den Ausschlag. Thord verhandelte über die Mitgift und erreichte, dass Gellir nur geringe Forderungen stellte, da es ihm, wie er sagte, um die Frau und nicht um das Geld gehe.

Die Verlobung wurde beschlossen, ohne dass Thord seine Söhne hinzugezogen oder Helga um ihre Einwilligung gebeten hätte. Er wusste, dass Gellir nicht nach Helgas Geschmack war, aber die Heirat würde den Besitz der Familie mehren. Und es trieb ihn, Helga die Stirn zu bieten, nicht zuletzt weil er fühlte, dass sie ihren Pflegevater mehr liebte als ihn, den leiblichen Vater. Damit aber verstieß sie gegen heilige Bindungen, die im Blut begründet lagen und an die niemand rühren sollte. Am Ende würde diese Tochter noch Schande über seine Familie bringen wie einst Gudrid, die Ziehtochter eines geächteten Totschlägers, die sich um die eigenen Verwandten nicht mehr scherte, sondern unerschütterlich an der Pflegefamilie festhielt und nach Gislis Erschlagung zusammen mit ihrer Pflegemutter Island für immer verließ. –

Sie schleuderte den Kamm aus dem Horn des Rindes, den sie gerade in der Hand gehalten hatte, in eine Ecke der Bude und schrie ihren Vater an:

„Du willst mich mit dem feigen Gellir verheiraten, willst mich, die Nachfahrin des großen Helden Asbjörn, dem Enkel einer Magd zur Frau geben! Það má eigi vera!1 Wäre doch nur An mein Vater, nie hätte er mir das nie angetan“, Helgas Stimme schwankte ein wenig, aber sie fasste sich sogleich wieder, „und damit du es weißt, ich werde ihn nie heiraten, nie, nie, nie.“ Schluchzend stürzte sie an Thord vorbei auf den Versammlungsplatz, schwang sich, ohne auf die verwunderten Blicke und Zurufe der Umstehenden zu achten, auf ihr Pony und galoppierte davon. Als sie Thingvellir hinter sich gelassen hatte, lockerte sie die Zügel und fiel in den gemäßigteren Tölt.

Gellir, diesen Jämmerling, für den nichts sprach außer Geld und Landbesitz, sollte sie heiraten. Sie sah ihn vor sich. Groß war er, aber schmal in den Schultern, mit dünnen Armen und Beinen. Vor allem aber war er ein Feigling. Jeder kannte die Geschichte von Gellir und Thord Brüller. Letzterer hatte ihm auf einem Gelage ins Gesicht geschlagen, um ihn zu provozieren und er hatte es geschehen lassen, hatte sich nur das Blut abgewischt und war dann gegangen. Alle hatten ihn dafür verachtet.

Sie schlug den Weg nach Laugar zu ihrer alten Heimat, dem Hof des Pflegevaters ein. Als sie nach stundenlangem Ritt dort angelangt war, sprang sie behände von Windbrauts Rücken und hämmerte an die Tür. Ans Wirtschafterin, die alte Hrefna, öffnete:

„Lass mich herein. Ich will auf An warten! Ich muss ihn unbedingt sprechen!“ rief sie der Magd in herrischem Ton zu und versuchte, ihr Gemüt zu beruhigen und die Tränen zurückzudrängen.

„Er ist noch auf dem Thing.“ Hrefna freute sich, Helga wiederzusehen.

Wenig später kam An, der Helga nachgeritten war, nachdem man ihm von ihrem überstürzten Aufbruch berichtete hatte. Sie lief auf ihn zu und griff nach seinen Händen.

„Ich soll Gellir den Reichen heiraten, aber ich will nicht. Ich will überhaupt nicht heiraten, ich will nach Konstantinopel, mit dem Bruder hinaussegeln, das will ich“, stieß sie erregt und zornig hervor. An versuchte zu trösten und führte seine Ziehtochter zum Tisch, damit sie von dem Lachs essen möge, den Hrefna aufgetischt hatte. Und trotz ihres Kummers aß Helga mit gutem Appetit. Nach dem Essen schwieg sie, aber in ihrem Inneren arbeitete es.

Die Idee, nach Konstantinopel zu reisen, war zu einem festen Entschluss gereift, denn ihr hübsches Köpfchen war zugleich ein harter Schädel, wenn es galt, etwas durchzusetzen.

Im Unterschied zu Helgas Vater hatte An weniger enge Vorstellungen davon, was einem Mädchen anstand und was nicht. Außerdem schlug er Helga selten etwas ab. Als er sie damals bei ihrem Vater abholte und sie vor ihm auf dem Pferd sitzend den kleinen Kopf fest an seine Brust drückte, fühlte er, dass dieses kleine Mädchen etwas ganz Besonderes war und so hatte er sie immer behandelt.

Die Flucht

In den nächsten Tagen saßen An und Helga oft zusammen und flüsterten miteinander. Niemand erfuhr, worüber sie redeten. Aber Helgas Gesicht hellte sich zusehends auf, während Ans Miene ernst blieb.

Am Ende der Woche brach Helga auf. An umarmte sie zum Abschied.

„Vergiss nicht, meine Tochter, ich warte auf dich“, rief er ihr nach, als sie auf ihrem Pony davon ritt. Dann holte er ein Fohlen, schlachtete es am Strand und brachte es Ran, der Meergöttin, zum Opfer, damit sie Helga eine ruhige See für die lange Reise gewähren möge. Und in der Nacht fand er lange keinen Schlaf.

Als Helga zu Hause ankam, stand ihr Vater in der Tür und betrachtete sie mit finsterer Miene. „Zum Julfest wird deine Hochzeit sein“, sagte er kurz und ging ins Haus. Helga warf den Kopf in den Nacken und folgte ihm schweigend. Beim Abendessen saßen alle zusammen. Der jüngere Bruder versuchte, ihr die Heirat mit Gellir schmackhaft zu machen: „Du wirst die reichste Frau im ganzen Westland sein, wirst dir schöne Schmucksachen kaufen können und alles, was ihr Frauen so mögt.“ Aber Helga wandte sich schweigend ab.

Auch der ältere Bruder schwieg. Er teilte die Abneigung seiner Schwester gegen Gellir, wollte sich aber nicht gegen den Vater auflehnen.

Thord würdigte Helga keines Blickes mehr. In den alten Gesetzen war verfügt, dass die Tochter unter der Munt des Vaters steht. Andere Mädchen würden widerstandslos den Mann heiraten, den ihr Vater für geeignet hielt. Eine Rebellin war sie, diese Tochter, der man zutrauen konnte, im Zweifelsfall nicht davor zurückzuschrecken, die Sippe zu brechen. Sie kam ganz nach den Verwandten ihrer Mutter, die sich als Auserwählte Odins fühlten. Von ihnen hatte sie den Hochmut geerbt. Thord spie verächtlich auf den Boden. Er selbst hatte nie an das Bündnis zwischen Odin und Asbjörn geglaubt. Und Thord dachte wieder einmal, dass es ein Fehler gewesen war, seine Tochter dem alten Narren An zu geben, dessen Verzugskind sie geworden war.

Zwei Wochen später begann Thorolf mit den Vorbereitungen für die Fahrt nach Konstantinopel. Er und seine Männer beluden das Schiff, die Seeschwalbe, mit Rauchfisch, Met und getrocknetem Fleisch, überprüften die Ruder und das Steuer.

Als die Stunde des Abschieds kam, war Helga nirgends zu entdecken. Allgemein wurde angenommen, dass sie sich aus Trotz versteckt hielt, weil sie den Bruder nicht begleiten durfte. „Jetzt zeigt sie wieder ihr halsstarriges Wesen“, dachte Thord und fühlte sich bestärkt in seiner Entscheidung, sie demnächst zu verheiraten, denn noch war sie in einem Alter, in dem äußerer Liebreiz die Klippen eines schwierigen Charakters zu umschiffen vermochte.

Der Ankerstein wurde gehoben, das Segel aufgezogen, und Thorolf ergriff das Steuer. Die Ruder teilten die Wellen, der Wind bauschte das Segel auf, und die bauchige Knorre lief auf das offene Meer hinaus.

Sie waren schon auf hoher See, als sich Thorolf plötzlich eine kleine Hand auf die Schulter legte. Er fuhr herum und wollte seinen Augen nicht trauen, als Helga leibhaftig vor ihm stand. Sie hatte sich in der Nacht vor der Abreise heimlich auf das Schiff gestohlen und nach Ans Rat unter Decken und Lebensmitteln verborgen.

Die Mannschaft stand um sie herum und bestaunte sie. „Ein Teufelsmädchen“, sagte der Hühner-Thorir, der so hieß, weil er auf seinem Hof in Island die besten Hühner züchtete. „Sie hätte als Junge zur Welt kommen sollen“, meinte ein anderer.

Aber Thorolf bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, sich zu entfernen und sprach dann allein mit der jungen Schwester:

„Du hast dich verhalten, wie es sich für eine Frau nicht schickt. Zu Hause bei unserem Vater hättest du bleiben und dich um die Vorbereitungen zu deiner Hochzeit kümmern sollen“, sagte er grimmig. Aber dann zwinkerte er der Schwester plötzlich mit hellen Wikingeraugen zu: „Den Hintern sollte man dir versohlen, aber es war eine kühne Tat, unseres Ahnherrn Asbjörn, den einst Odin selbst auszeichnete, würdig.“

Helga lachte. „Unser Ahnherr hätte mich vielleicht sogar mitgenommen, als er an der Seite von Hrolf Kraki einen Drachen besiegt hat. Ich hätte Männerkleidung getragen und ein Schwert in der Hand gehalten.“

„Helga, zügle deinen Übermut“, die Stimme des Bruders klang ernst, „du weißt, dass es Frauen nach isländischem Recht untersagt ist, Männerkleidung zu tragen, so wie ein Mann keine Frauenkleider tragen darf. Manchmal machst du mir Angst, und ich frage mich, wohin dich dein unbändiger Sinn noch führen wird.“ Er wandte sich ab und wollte unter Deck gehen. Aber Helga sprang ihm nach und fasste ihn am Arm.

„Sei nicht böse. Ich habe doch nur gescherzt, kein Wort war ernst gemeint“, beteuerte sie gegen ihre innerste Überzeugung, „sei wieder gut, bitte“, und sie schmiegte sich an ihn, und ihre schönen Augen schauten so flehend, dass Thorolf einlenkte. Er rief die Schiffsleute herbei und meinte, Helgas Ankunft müsse gefeiert werden. Und da kamen sie, grinsend und lachend. Sie gingen auf Helga zu, schüttelten ihr die Hand und klopften ihr auf die Schulter und taten ganz so, als wäre sie eine der ihren. Helga aber hatte das Gefühl, noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein. –

Die bauchige Knorre mit dem einen großen Segel flog über das Meer. Nachdem man kurz Halt in Norwegen gemacht hatte, um die Vorräte aufzufüllen, nahm sie den Seeweg um Spanien durch das Mittelmeer nach Konstantinopel, vermied somit die alte Warägerstraße, die durch die russischen Flüsse führte. Die Fahrt dauerte Tage, Wochen und Monate, auf dem Schiff war es eng, und das Wetter schlug Kapriolen, aber trotzdem bereute Helga nie auch nur eine Sekunde lang, diesen kühnen Streich unternommen zu haben.

Als man an der nordafrikanischen Küste entlang segelte, schien die Sonne sie alle verbrennen zu wollen. Nachts wälzte Helga sich von einer Seite auf die andere und fiel erst in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Schlaf. Sie bekam einen schmerzhaften Sonnenbrand und hütete sich seitdem, so gut es ging, vor der heißen südlichen Sonne. Eines Tages begegnete ihnen ein Schiff, das mit Mohren besetzt war. Die Männer waren in Tücher gehüllt, wie Helga sie so bunt noch nie gesehen hatte, und trugen breite goldene Armreifen. Alle hielten Schilde oder Speere in der Hand und waren auffallend groß und schlank. Helga staunte sie an und schaute dem Schiff mit großen Augen nach.

In Gedanken aber war sie jetzt ständig mit Konstantinopel beschäftigt. Manchmal prahlte sie auch mit ihrem Wissen. Also die Stadt hieß zuerst Byzanz und war griechisch. Aber 326 erhielt sie den Namen des großen Kaisers Konstantin, der sie zur zweiten Hauptstadt des römischen Reiches machte. Konstantin hatte die Stadt zu Ehren des Vite Krist gegründet, und die Bürger von Konstantinopel nannten sich jetzt Romäer. Konstantin war es auch zu verdanken, dass Isländer in Konstantinopel zu hohen militärischen Ehren gelangen konnten, denn er hatte das Heer germanisiert, und seine Nachfolger auf dem Thron taten es ihm nach.

Einer der Schiffsleute, Sighvat der Weiße, war ebenso wie Thorolf Christ, wusste aber mehr über die neue Religion als ihr Bruder. Helga suchte oft seine Nähe, um sich von dem Christengott erzählen zu lassen, an den die Romäer glaubten. Eine Jungfrau sollte ihn geboren haben. Helga hatte keine rechte Vorstellung von einer Jungfrau und vermochte auch nicht zu begreifen, warum die Jungfrauengeburt so wichtig sein sollte. Aber weiter: Dereinst beim Jüngsten Gericht würde dieser Christus zur Rechten seines Vaters sitzen und über jeden Einzelnen sein Urteil sprechen. Vor Helgas innerem Auge erschien eine unendlich lange Reihe von Menschen, die alle einzeln vor einen alten Mann auf einem Hochsitz traten. Er trug einen langen weißen Bart und hielt in der Hand einen knorrigen Stock. Neben ihm saß ein junger Mann mit braunem welligem Haar, sein Sohn. Die Sache mit dem heiligen Geist aber blieb Helga schleierhaft. Sie stellte sich schließlich eine weiße Wolke vor, die sprechen konnte. Auch von Sighvat war nichts Näheres darüber zu erfahren. Helga hatte das Gefühl, dass auch er diesbezüglich nicht so genau Bescheid wusste.

In Konstantinopel

An einem Tag im Spätherbst erreichten sie das goldene Horn, die 6 km lange Meeresbucht des Bosporus, die damals der wichtigste Hafen war. Helga lief vor Ungeduld von einem Ende des Schiffes zum anderen und überschüttete Thorolf mit Fragen. Aber Thorolf war beschäftigt und rief seinen Männern Befehle zu.

Es war früher Vormittag, und sie konnten ungehindert in den Hafen einlaufen. Bei Nacht aber wurden über die Einfahrt zum Goldenen Horn, dort wo heute die Galatabrücke steht, Ketten gelegt, um den Hafen vor fremden und vielleicht feindlichen Schiffen zu schützen.

Noch auf dem Schiff fiel Helgas Blick auf die Hagia Sophia, das rötlich schimmernde Juwel Konstantinopels, das trotz der Entfernung seine majestätische Schönheit erahnen ließ.

Im Hafen beeindruckte Helga die bunte Vielfalt der Schiffe; mächtige Handelsschiffe, kaiserliche Triremen und zahlreiche Galeeren drängten sich dort zusammen. Auf dem Wasser trieben Balken, alte Kisten und Abfälle. Der Gestank nach vermodertem Fisch stieg ihnen in die Nase, doch vermischte er sich bald mit dem Wohlgeruch der an Land angebotenen Waren, Honig aus Epirus, Weihrauch aus Indien.

Die Männer verließen das Schiff und löschten die Ladung. Thorolf ermahnte seine Schwester, die immer wieder stehen blieb und schaute und staunte, weniger zu trödeln. Sie machten sich auf den Weg zu den Kasernen der „garda varangoi“, die innerhalb des Gebäudekomplexes des alten Kaiserpalastes zwischen Hippodrom und Marmarameer lagen. Helga hielt sich an Thorolfs Seite. Man ging an Speichern und Lagerhallen vorüber und wurde immer wieder von fliegenden Händlern angesprochen, die Obst und Limonade oder auch nur Wasser verkaufen wollten. Ein Mann, der an einem Pfeiler lehnte und ein Stück Brot mit Rüben aß, bot seltsam bemalte Puppen an.

„Ach bitte, Thorolf, kauf mir so eine Puppe“, bettelte Helga.

„Das sind keine Puppen, sondern Ikonen.“

„Was ist eine Ikone?“

„Ikonen sind Heiligenfiguren, die man anbetet.“

„Man betet zu ihnen, wie ich zu Freyja bete“, fragte Helga und griff nach dem Amulett mit dem Bildnis der Göttin, das immer noch an der Lederschnur um ihren Hals hing, „das ist ja genauso wie bei uns.“

„Jedenfalls so ähnlich“, knurrte Thorolf, fasste seine Schwester am Arm und zog sie hinter sich her, denn ihm lag daran, möglichst bald die schützenden Mauern des Palastes zu erreichen. Er wollte vermeiden, dass Helga allzu viel Aufmerksamkeit bei den Männern erregte. Schließlich trug er die Verantwortung für sie, und der Hafen war eine üble Gegend. Hier trieb sich allerlei Gesindel herum, Taschendiebe, Dirnen, aber auch junge, wohlhabende Gecken, die auf der Suche nach frischem Frauenfleisch waren. Verrufen war vor allem das Bulgarenviertel, das Kuppler und Zuhälter beherbergte und eine Vorstadt aus engen Gassen und verfallenen alten Häusern bildete. Helga zog die Stirn kraus, folgte aber doch ihrem Bruder. Der Tross kam an Feldern vorbei, auf denen Bauern arbeiteten und gelangte dann zu dem berühmten, damals als uneinnehmbar geltenden Mauergürtel der Stadt.

Und wieder blieb Helga stehen. Der weiße Sighvat trat hinter sie und erklärte wichtig, dass es sich um drei versetzt liegende Außenmauern von anwachsender Höhe handele. Auch Thorolf blieb stehen und schaute empor. Er fügte hinzu, dass es eine Hauptmauer, Vormauer und den Graben gebe, der zum Teil durch Schott ausgelegt sei. Die Mauern hätten eine Länge von ca. 6 Kilometern und der gesamte Wall sei etwa 60 m breit und verfüge über Laufgänge und Brustwehren. Die sich vom Norden nach dem Süden erstreckende Hauptmauer besitze 96 recht- und achteckige Türme, die mit einer aus Zinnen bestehenden Plattform ausgestattet seien.

Diese Mauern sollten 800 Jahre lang die Stadt am Bosporus beschirmen bis zu dem Tag, an dem der Christengott sein Haupt abwandte und das letzte Bollwerk Kleinasiens gegen den Islam an die Mohammedaner fiel, der Tag, an dem ein kleines Ausfallstor den eingeschlossenen Bürgern zum Verhängnis wurde und Mehmet, der junge türkische Eroberer von Konstantinopel Besitz ergriff. Tagelang, so wissen die Chronisten zu berichten, wurde in der unglücklichen Stadt geplündert, vergewaltigt, gemordet und zerstört.

„Komm jetzt“, Thorolf zog seine Schwester erneut am Arm, „wir müssen in den Palast, die Stadt zeigen wir dir später.“ Durch den Haupteingang des Kaiserpalastes, das Chalke-Tor, betraten sie den ersten Hof, in dem sich Bittsteller und Schaulustige versammelt hatten.

Zu jener Zeit herrschte in Konstantinopel Basileos II., der zweite Kaiser der makedonischen Dynastie, deren Begründer, Basileos I., durch die Ermordung seines Vorgängers Michael III. auf den Thron gelangt war. Basileos II. wirkte nicht wie ein feingebildeter Grieche, sondern eher wie ein mykenischer Bauer. Er war hässlich und ungehobelt. Als junger Mann hatte er das Debakel des Griechenheeres am Trajaner Tor erlebt und dem bulgarischen Zar Samuel blutige Rache geschworen. Die Grausamkeit, mit der er später gegen die vernichtend geschlagenen Bulgaren vorgehen sollte, ließ ihn mit dem Beinamen „Bulgaroktonos“ ‘Bulgarenschlächter‘ in die Geschichte eingehen.

Basileos II. sollte 65 Jahre regieren und zu den wenigen Kaisern gehören, die nicht gestürzt, verjagt oder getötet wurden. Seine Person und sein Leben hatte er völlig in den Dienst des Reiches gestellt. Den Warägern stand dieser Kaiser, der vor allem ein erfolgreicher Feldherr war, viel näher als all die gepflegten, herausgeputzten Höflinge seines Gefolges. Und Basileos II. erwiderte die Verehrung der Nordleute. Thorolf, seinem Hauptmann, hatte er sogar einen purpurbezogenen Sitz im Hippodrom versprochen, wie er eigentlich nur Angehörigen des Senats zustand.

Helga bestaunte die vielen, in dem Hof versammelten Menschen, ihre Kleidung, die Haartrachten und stolperte fast, als sich plötzlich alle zu Boden warfen und Thorolf sie mitzog. Als man sich wieder erhob, erklärte er ihr, dass sich ein Mitglied der kaiserlichen Familie genähert habe. Vor jedem Verwandten des Basileos aber müsse man sich in den Staub werfen. Helga schien dies eine absonderliche Sitte zu sein, doch sie schwieg, verwirrt von all dem Fremden, das sie umgab.

Thorolf ging auf eine Gruppe Höflinge zu, die golddurchwirkte Gewänder trugen und redete in der fremden Sprache mit ihnen. Helga entnahm dem höflichen Tonfall der Antworten, dass Thorolf hier etwas galt und war sehr stolz auf ihren Bruder, den Warägerhauptmann. Aber sie bemerkte auch mit Vergnügen, dass einige Männer den Kopf nach ihr wandten.

Schließlich zog Thorolf seine Schwester in das Innere des Palastes, um ihr die Bibliothek zu zeigen, da sie in Island immer von Büchern gesprochen hatte, in denen sie lesen wollte, wenn sie einmal nach Konstantinopel gelangen sollte. Von all den Räumen, die sie auf dem Weg dorthin durchschritten, prägte sich ihr kaum etwas ein. Zu überwältigend war die Pracht. Säulengänge mit Marmorstatuen, Böden mit bunten Mosaiken, in die Wände eingelassene mit Seide überzogene Ruhebänke, messingne Spiegel, mächtige Kerzenleuchter, die an goldenen Ketten von der Decke hingen.

In der Bibliothek saßen Mönche in langen Reihen hinter den Pulten, beugten sich über Bücher und Pergamentrollen, und man hörte ständig das Geräusch kratzender Rohrfedern. Wie gerne hätte Helga in den geheimnisvollen Schriften geblättert, aber sie waren sämtlich in fremden Buchstaben geschrieben. Bei einem der Mönche blieben sie stehen und blickten ihm über die Schultern. Vor ihm lag, was Helga und ihr Bruder nicht wussten, die Vulgata, und er hatte das Hohelied Salomons aufgeschlagen:

„Stark wie der Tod ist die Liebe. Die Leidenschaft ist unerbittlich wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen. Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn ...“

Als sie die Bibliothek wieder verließen, trafen sie auf einen hochgewachsenen beleibten Mann, der sogleich auf Thorolf zueilte, um ihn zu begrüßen und Helga verwundert betrachtete. Gemmen, besetzt mit Opalen, hielten seine Tunika zusammen.

„Wer war das?“ fragte Helga, als sich der Mann wieder entfernt hatte.

„Das ist der Eunuch Agathon, der Hofmeister des Kaisers“, erwiderte Thorolf.

„Was ist ein Eunuch?“

„Das ist ein Mann, der keiner mehr ist, weil man ihn kastriert hat.“

Helga schwieg, sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was eine Kastration bedeutete und fühlte sich peinlich berührt.

„Die Griechen nennen die Eunuchen das dritte Geschlecht“, fuhr Thorolf fort, „manchmal werden schon Knaben kastriert, damit sie später einmal leichter Karriere machen, denn da sie keine eigenen Nachkommen und damit auch niemandem etwas zu vererben haben, sind sie dem Kaiser oft treuer ergeben als normale Männer. Aber es ist und bleibt doch eine ekelhafte Sitte.“ Thorolf verzog angewidert den Mund.

„Ach ja“, stimmte Helga bei und bemühte sich, erwachsen zu klingen. Die Geschwister waren inzwischen zu den Terrassen des Palastes gelangt, an die sich ausgedehnte Gartenanlagen anschlossen. Buntfarbige Beete, die sich teppichartig ausbreiteten und seltsame Muster, Zahlen und Figuren bildeten. Rosen, Nelken und immer wieder Tulpen blühten dort. Die Tulpe, die in Europa erst Jahrhunderte später heimisch werden sollte, züchtete man hier mit besonderer Vorliebe, denn sie galt in Konstantinopel als Glücksbringer. Helga klatschte vor Entzücken in die Hände, lief auf ein Tulpenbeet zu und berührte vorsichtig die Blütenkelche. Thorolf schaute ihr nachsichtig lächelnd zu.

Als sie in der Kaserne ankamen, hatte Helga das Gefühl, wieder zu Hause in Island zu sein: Männer in langen Kettenhemden, die mit derben Gürteln, an denen eiserne Streitkolben befestigt waren, gehalten wurden. Als Zeichen ihrer Legion trugen sie unterhalb des Halses ein blaues, in Pelz eingefasstes Quadrat. So sahen sie aus, die Kämpfer der Elitetruppe der byzantinischen Kaiser. Nur die Doppeläxte, die sie gewöhnlich über der Schulter trugen, hatten sie abgelegt. Es war eine zusammengewürfelte Gruppe aus Abenteurern, Männern, die vor dem Blutbann flohen, Armen, die ihr Glück machen wollten und kühnen Recken, die auf der Suche nach Heldentaten waren. Nordleute wurden sie genannt, denn ihre Mitglieder waren vor allem Norweger und Isländer und nur vereinzelt