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Kneippen, Kuren, Kopf freimachen. Das, in dieser Reihenfolge, hat Kommissarin Ina Weinz im Sinn, als sie Köln den Rücken kehrt und zu Vater und Bruder in ihre alte Eifelheimat Gemünd zieht. Aber der beschauliche Kneippkurort hat für Ina mehr zu bieten. Ein neuer Liebhaber, ein toter Professor und ihr Gespür für die schwarzen Schatten der scheinbaren Idylle lassen ihr keine andere Wahl. So findet sie sich unvermittelt in der Rolle wieder, die sie doch eigentlich hinter sich lassen wollte - als Ermittlerin in einem Mordfall.
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Seitenzahl: 279
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Elke Pistor, Jahrgang 67. In Gemünd in der Eifel aufgewachsen, geprägt und der Region bis heute eng verbunden. Abitur in Schleiden. Studium in Köln. Nach kurzem Zwischenstopp am Niederrhein lebt sie heute in Köln, arbeitet als freie Seminartrainerin in der Erwachsenenbildung und leitet Schreibworkshops.
Ihrem Hang zu den Abgründen der menschlichen Seele lässt sie seit 2007 in Kurzkrimis und mörderisch bösen Geschichten freien Lauf.
»Gemünder Blut« ist ihr erster Kriminalroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-017-9 Eifel Krimi Originalausgabe
Für Heike
»Alles kommt zu dem, der warten kann!«
Afrikanisches Sprichwort
EINS
Der König schritt voran. An seinem Arm die Königin. Es folgten die Minister mit Damen, der Ortsvorsteher und der Pfarrer. Die Fahnen der Kompanien wehten im Wind, zur Hälfte aufgerichtet. Es war heiß. Der Gemünder Schützenzug bewegte sich wie die Fata Morgana einer Karawane am Rande der Festwiese entlang. Stumm. Nur unterbrochen durch das Klirren der Säbel an den Uniformen und vereinzeltes Frauenlachen.
An der Bordsteinkante zur Hauptstraße verfing sich die Königin im Stoff ihres Abendkleides, strauchelte und ging in die Knie. Die Menschen am Straßenrand raunten. Niemand kam ihr zur Hilfe. Ohne eine Miene zu verziehen, stand sie auf und glättete ihr Kleid. Den Riss im Taft ihrer Robe, durch den Stücke des Reifrocks zu sehen waren, ignorierte sie.
Der König schritt voran. Seine Orden klimperten. Das Königspaar und sein Gefolge stellten sich in der Mitte der Straße auf – Soldaten auf dem Exerzierplatz –, die Reihe wie an einer Schnur ausgerichtet, reckten die Hälse, strafften den Rücken. Bereit für die ehrenwerte Parade.
Die Königin öffnete ihre Handtasche und zog eine Sicherheitsnadel aus einer Mappe mit Nähzeug.
Als die Musik einsetzte und die Fahnen, Uniformen und Musikkapellen endlos an ihr vorbeidefilierten, war der Riss verschwunden, nicht mehr zu sehen. Aber er war da. Das wusste sie.
Mein Bruder aß immer. Jetzt gerade eine Ananas.
»Wo hast du denn die her?« Ich lehnte mich über den Biertisch und schrie Olaf die Frage über die Musik und das Stimmengewirr im Festzelt hinweg ins Gesicht.
Er kaute, hob eine Augenbraue und legte eine Hand an sein Ohr. »Es gibt hier Pommes, Currywurst und Reibekuchen. Wo hast du die Ananas her?«
»Mitgebracht«, quetschte er mit vollem Mund hervor. »Ich mache Diät!« Dann schob er ein Stück in meine Richtung. »Bier?« Olaf stand auf und strebte der Theke zu, ohne auf Antwort zu warten.
Am Nebentisch schunkelte sich eine Gruppe Frauen in Ekstase. Vermutlich ein Kegelclub.
»Ein Stern, der deinen Namen trägt …«, sangen sie und übertrafen die Festcombo zwar nicht an Tonsicherheit, aber doch erheblich an Lautstärke.
Ich schätzte sie auf mein Alter, erkannte aber keine von ihnen. Entweder waren sie nicht aus Gemünd, oder die Freundinnen meiner Kindheit hatten sich so verändert, dass ich keine Chance hatte, sie zu erkennen.
Der unterschiedliche Musikgeschmack war nicht das Einzige, was uns trennte. Während sie adrett, mit zweifarbig gesträhnten Kurzhaarfrisuren an ihrem jugendlichen Aussehen feilten, strahlte jeder Zug an mir die Gleichgültigkeit der Städterin aus, die sich in der Anonymität verstecken wollte. Ich hatte mich von Olaf überreden lassen, überhaupt hierhin zu gehen, und dann, kurz bevor wir losgingen, wahllos Jeans und T-Shirt aus meinem Kleiderstapel übergestreift.
Wo blieb Olaf nur? Von meinem Platz aus suchte ich ihn in der Menge, blieb an dem einen oder anderen Gesicht hängen, nickte, grüßte und lächelte. Den Mann neben mir bemerkte ich erst, als er mich ansprach: »Hallo, Ina.«
Vor mir stand Steffen Ettelscheid. Olafs bester Freund seit Kindertagen und Namensvetter meines Exmannes. Er war hochgewachsen, und die vielen kleinen Fältchen um seine Augen zeigten mir, dass er sich vor Sonne und Wind nicht fürchtete. Er schien sich über unsere Begegnung zu freuen. Ich hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Dem Kind mit zerschlagenen Knien und dem Jugendlichen mit langen Haaren und jeder Menge Buttons, die seine Ansicht zur jeweils aktuellen Weltlage kundtaten, hatte ich oft genug die Tür geöffnet. Hier stand ein erwachsener Mann vor mir. In seiner Schützenuniform sollte er Tradition und Ordnung ausstrahlen, aber ich kam nicht umhin zu denken, dass er irgendwie wie ein Rockstar aussah, der sich als Schütze kostümiert hatte. Wirre braune Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und in seinen dunklen Augen blitzten Neugier und etwas Jungenhaftes auf. Er faszinierte mich, und ich konnte nichts dagegen tun. Unwillkürlich hielt ich nach Buttons Ausschau, entdeckte aber nur Orden der Schützenbruderschaft.
»Urlaub von der Domstadt?« Er lächelte mich auf eine Art an, die mich hoffen ließ, er sähe mir die neun Jahre, die ich ihm voraushatte, nicht an. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte mehr Sorgfalt auf mein Äußeres gelegt. Dunkle Strickjacken waren bequem und so oder so faltenfreundlich. Sie waren nicht attraktiv.
»So ähnlich«, murmelte ich und war froh über die drei Gläser und die Schale mit Erdnüssen, die Olaf zwischen uns auf den Biertisch stellte.
»Kommst du auch schon, Herr Oberförster?« Olaf hatte sich allem Anschein nach erfolgreich durch das Gedränge an der Theke gekämpft und schob ihm ein Bier zu. Es schwappte über den Rand, lief am Glas entlang und bildete eine Lache auf dem dunklen Holz.
Einen kurzen Moment lang hielt ich es für Blut. Mir schwindelte. Ich schloss die Augen. Ich war hier, um das zu vergessen.
»Lass mal, ich will nicht …!« Steffen sah zu seinem Freund und schüttelte den Kopf.
Von meiner Reaktion hatte er nichts gemerkt. Er fischte einen Bierdeckel aus der Lache und drehte ihn um. Nepomuk, der Gemünder Brückenheilige, lächelte uns an. Steffen grinste zurück, setzte seinen Schützenhut ab und legte ihn auf den Tisch.
»Dir würde so ein Hut auch gut stehen, alter Knabe.« Dann nickte er mir zu, packte sein Glas, trank aber nicht. »Wie lange hast du Urlaub, Ina?«
»Beurlaubung, das ist ein Unterschied!«, mischte sich Olaf ein. »Sie ist beurlaubt, unsere Frau Kommissarin.«
Steffen zog eine Augenbraue hoch. »Hast du Mist gebaut?«
»Sie hat einen Fall ver…« Olaf murrte, als ich ihm meinen Ellbogen durch seine Speckschicht in die Rippen jagte.
»Ich kann sehr gut für mich selbst sprechen, Brüderchen.«
Steffen schwieg und sah mich an.
Ich schob die Bierdeckel über den Tisch und kratzte an Nepomuks Nase herum.
»Also gut.« Ich seufzte. Steffen war ein Freund meines Bruders. »Ich habe mich von privaten Gefühlen in einem Fall beeinflussen lassen und mich und meinen Kollegen damit in eine sehr gefährliche Situation gebracht.« Ich hob das Bierglas an meine Lippen, setzte es aber sofort wieder ab. »Ich habe um die Beurlaubung gebeten. Ich muss mir darüber klar werden, ob dieser Beruf wirklich das Richtige ist für mich.«
Es hörte sich wie auswendig gelernt an, selbst in meinen Ohren.
»Und da hat sie sich gedacht, das kann sie am besten in der schönen Eifel, im Schoße der Familie.« Olaf langte in die Erdnüsse, stopfte eine Handvoll in den Mund und kaute. Seine Wangen wogten auf und ab. »In meiner Wohnung.«
»Ja, manchmal muss man wissen, wo man hinwill.« Steffen nickte. »Und wo man hinkann.«
Die Musikkapelle auf der Bühne spie ein paar Töne in das Festzelt. Ich zuckte zusammen.
»Wir wollen aber jetzt keine Trübsal blasen!« Olaf prostete uns zu. »Auf deine Beförderung, Herr Oberförster!«
Steffen lachte und wiegelte ab. »Noch ist es nicht spruchreif, Olaf. Noch bin ich ein Förster – kein Forstamtmann. Müllersohn hat mich zwar vorgeschlagen, aber es ist nichts unterschrieben.« Steffen schob sein Bierglas von sich. »Ich will nicht mehr. Ich hab schon eben während des Zuges zwei, drei getrunken. Das reicht mir.«
Olaf spitzte die Finger, fischte eine Erdnuss aus der Schale und warf sie ihm ins Gesicht.
»Dir schmeckt wohl unser Gemünder Bier nicht mehr, was? Oder trauerst du dem bayrischen Bier deiner Studentenzeit hinterher?«
»Keine Angst, mein Freund. Das Kölsch hier schmeckt immer noch am besten.«
Olaf legte seine Stirn in Falten und kräuselte die Lippen. Er sah aus wie ein chinesischer Faltenhund. »Du weißt, wir legen hier Wert darauf, dass unser Obergäriges kein Kölsch ist, sondern Gemünder!« Olaf hatte den gleichen Ton wie in seiner Rolle als Stadtführer angeschlagen, in die er alle vier Wochen für einen Haufen Nationalparktouristen schlüpfte.
»Lassen Sie es stehen. Es wäre vergeudet, Herr Ettelscheid. Ihre Beförderung ist alles andere als sicher. Zumindest, solange ich derjenige bin, der Ihre Dienstakte prüft.« Die Stimme schnitt aus dem Hintergrund durch die Töne der Blaskapelle.
Steffen fuhr herum.
Die zu große Jacke im englischen Landhausstil und das rote Seidentuch ließen den Mann lächerlich aussehen. Der Hass in seinen Augen aber war beängstigend. Steffen erstarrte.
»Prutschik!«
»Ganz richtig, Ettelscheid, ganz richtig«, keckerte der. »Erinnern Sie sich?« Er rieb sich die Hände und fingerte nach seiner Aktentasche, die vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte. »Bestimmt erinnern Sie sich!«
Steffen öffnete den Mund, so als ob er etwas erwidern wollte. Dann schluckte er und wandte sich von Prutschik ab. Sein Blick flog zwischen mir und Olaf hin und her. Schließlich packte er sein Glas, trank einen Schluck. Dann noch einen.
»Du hast recht, Olaf, Gemünder Bier ist doch das beste.«
»Wenn du meinst«, murmelte der und hob ebenfalls sein Glas.
Ich beobachtete an Steffen vorbei die Reaktion des Mannes. Er drängelte sich aus der Bank und stellte sich an die Stirnseite unseres Tisches.
»Was ist, Ettelscheid?« Er stützte sich mit den Handknöcheln ab. »Soll ich Ihnen auf die Sprünge helfen?«
»Ich würde gerne sagen, dass ich mich freue, meinen alten Lehrer nach so langer Zeit in unserer gemeinsamen Heimat wiederzutreffen. Aber ich lüge nur ungern, Herr Prutschik. Es ist schon schlimm genug, wie sich unsere Wege immer wieder kreuzen müssen. Leider gibt es nicht so viele Forsthochschulen in Deutschland, als dass ich Ihnen hätte ausweichen könnte, auch wenn mir das sehr lieb gewesen wäre.«
»Dreist, arrogant und unverschämt – so kenne ich Sie, Ettelscheid. So waren Sie als Student, und so sind Sie heute immer noch. Ich habe mich erkundigt über Sie! Erkundigt!« Kleine Tropfen sprühten aus seinem Mund, während er sprach. »Sie haben sich nicht verändert, und ich habe es auch nicht von Ihnen erwartet.«
»Bitte gehen Sie, Herr Prutschik. Oder sind Sie extra hergekommen, um sich mit mir über meinen Charakter zu unterhalten?«
»Ihr Charakter, Ettelscheid, ist nicht der Rede wert. Ihre Taten schon. Vor allem Ihre Missetaten.«
Der Frauenkegelclub war verstummt und verfolgte reglos den Streit der beiden Männer. Die Blicke der Frauen flogen zwischen den beiden Kontrahenten hin und her und ließen keinen Zweifel an der Sympathielage.
»Es war nicht meine Missetat, sondern Ihr Unfall, Herr Prutschik. Ich hatte damit nichts zu tun.«
»Oh, sind Sie da so sicher, Ettelscheid? So sicher?« Prutschik zog eine Mappe aus seiner Aktentasche, öffnete den Knopfverschluss und legte einzelne Blätter vor uns auf den Tisch. Ich erkannte den Briefkopf einer Polizeibehörde aus dem Süddeutschen.
»Ich habe hier den Polizeibericht vom 28.03.2002 der Stadt Weihenstephan. Ich zitiere.« Er hob sich auf die Zehenspitzen, wippte und räusperte sich. »… vor dem Hochschulgebäude verletzt aufgefunden. Das Opfer, Professor Prutschik, erlitt schwere Verletzungen am Schädel, am Rücken und an beiden Händen.« Prutschik setzte die Brille ab und geiferte Steffen an. Sein Glasauge schimmerte im Licht der Festbeleuchtung.
Steffen stand auf und holte tief Luft. Ich sah, wie schwer es ihm fiel, ruhig zu bleiben.
»Sie haben den Vorgang bei der Polizei so zu Protokoll gegeben. Es gab keinen Zeugen. Es gab keinen Überfall. Von mir nicht und von niemand sonst.« Steffen blickte auf den Professor hinunter. Dann drehte er sich zu uns herum. »Ich gehe jetzt, Olaf. Morgen wird ein harter Tag werden.« Er deutete eine Verbeugung an und lächelte mir zu. »Ina.« Dann wandte er sich an Olaf. »Bleibt ihr noch?«
»Sie waren doch der Anführer dieses Studentenrudels, Ettelscheid. Sie haben mich gehasst, Ettelscheid, mich gehasst!« Prutschiks Stimme überschlug sich. Er stellte sich Steffen in den Weg. Steffen blieb dicht vor dem Tobenden stehen, der neben ihm wie ein Erstklässler aussah.
»Herr Prutschik, bitte gehen Sie mir aus dem Weg. Und vielleicht erinnern Sie sich. Sie haben mich schon damals beschuldigt. Die Polizei hat mich überprüft. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in der Stadt. Was sollte ich auch da? Sie hatten mich ja durch die Prüfung fallen lassen. Ich hatte mit Sicherheit keinen Grund zu feiern und danach einen Dozenten …«
»Professor, für Sie immer noch Professor Prutschik, Ettelscheid.« Prutschik rührte sich keinen Millimeter.
»Ich denke, Herr Ettelscheid hat sich klar ausgedrückt.« Ich packte meine Kommissarinnenstimme aus und strich mir die Haare hinter die Ohren, um einen strengeren Eindruck zu machen. »Seine Unschuld wurde bewiesen. Was Sie machen, ist Verleumdung.« Prutschik reagierte nicht. Olaf berührte den Professor am Ärmel. Der zuckte zusammen und schüttelte die Hand ab, als wäre sie ein Insekt. Dabei schlugen seine grauen Haarsträhnen wie Schlangen um seinen Kopf, aber er hielt den Blick auf Steffen gerichtet.
»Man sieht sich immer zwei Mal, Ettelscheid. Zwei Mal.« Sein Finger schoss vor und bohrte sich vor Steffen in die Luft. »Sie werden nicht Forstamtmann werden, Ettelscheid. Sie nicht. Solange ich etwas zu sagen habe, Sie nicht.« Prutschik zischte. »Ich lasse mich nicht folgenlos von einem dahergelaufenen Studenten zusammenschlagen.«
Steffen ballte die Fäuste.
»Und jetzt haben Sie noch die Dreistigkeit, hier so zu tun, als ob Sie unschuldig wären«, keifte Prutschik, die Stimme unnatürlich hoch.
»Ich habe nichts mit dem Vorfall zu tun, aber das scheint nicht zu Ihnen durchzudringen.« Steffen hob die Hand und schob den Kleineren ohne Schwierigkeiten zur Seite. »Ich denke, wir werden sehen, was aus meiner Beförderung wird. Zum Glück sind Sie ja nicht der Einzige, der in der Kommission sitzt.«
Prutschik fasste mit seiner Rechten nach der Hand des Försters, und mit der Linken umklammerte er dessen Jackett.
»Sie packen mich nicht noch mal an, Sie nicht!«, kreischte er laut. Köpfe wandten sich in unsere Richtung und wurden zusammengesteckt. Die Umstehenden beäugten den Streit. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Bestürzung, gepaart mit Neugier und Sensationslust. Die Kapelle spielte einen Tusch. Am Kopfende der Halle kam Bewegung in den Königstisch. Der König und sein Gefolge betraten mit ihren Damen die Tanzfläche. Walzer. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Die Musik schwallte durch den Saal.
Prutschik ließ sich nach hinten fallen. Für einen Moment zog er mit seinem gesamten Gewicht an Steffens Jackett, dann riss der Stoff, und der Professor fiel zu Boden. Sofort rappelte er sich auf und tobte: »Sie haben mich niedergeschlagen, ich werde Sie verklagen. Verklagen werde ich Sie. Sie werden schon sehen, dass ich am längeren Hebel sitze!«
Steffen hob die Arme. »Ich habe Sie nicht …«
»Hah!« Prutschik gackerte wie ein Huhn. »Hah! Ich wusste, dass ich Sie bekomme, Ettelscheid. Sie werden niemals …«
Der Faustschlag schien Prutschik zu überraschen. Er taumelte und riss die Augen auf.
Ich stand wie versteinert.
Wieder lag Prutschik auf dem Boden. Die Musik war zu einem Foxtrott übergegangen. Die Leute klatschten. Eins und zwei und drei und vier und eins …
Steffen rieb sich die Hand.
Mit Triumphgeheul sprang Prutschik auf die Füße.
»Das war’s für Sie, Ettelscheid. Das war’s. Kein Forstamtmann Ettelscheid!« Er griff nach seiner Aktentasche, quetschte sich durch die Bankreihen und rief: »Alle haben es gesehen, Ettelscheid. Alle!«, bis er schließlich ins Freie verschwand.
Steffen schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Ein widerlicher Kerl.« Olaf schüttelte seine Hände, als ob er in etwas Unangenehmes gefasst hätte.
»Er hat recht, Olaf. Das war’s«, sagte Steffen, setzte sich auf die Bank und vergrub seinen Kopf in den Armen.
Olaf nickte stumm.
»Steffen, wir können bezeugen, dass er dich provoziert hat.« Ich setzte mich neben ihn.
Steffen wandte mir sein Gesicht zu. In seinen braunen Augen sah ich mein Spiegelbild. Eingehüllt in den Mantel des schummrigen Lichts, das jetzt wie ein Nebel über dem Saal lag. Niemand schaute mehr zu uns her. Das Schauspiel war vorbei. Discofox. Alle machten mit. Eins, zwei, drei, vier. Die Röcke der Königin flogen mit den letzten Takten. Die Musik war zu Ende. Sie machte einen Knicks vor dem König, verneigte sich und verschwand von der Tanzfläche.
»Bier?«, fragte Olaf. Ich schüttelte den Kopf. Olaf nickte Steffen zu und stürzte sich ins Thekengewühl. Ihn erschütterte nichts. So schien es zumindest. Ich kannte ihn besser.
Steffen pflückte meine Hand von seiner Schulter und hielt sie fest. Die Wärme seiner Haut überraschte mich. Sein Blick wanderte über mein Gesicht, die Igelfrisur und die schwarze Strickjacke.
»Wenn die Frau Kommissarin hier meine Zeugin ist, dann kann es ja nicht so schlimm werden, oder?« Er nickte und rang sich ein Lächeln ab.
Ich entzog ihm meine Finger und räusperte mich. Er war der Freund meines Bruders, er war viel jünger als ich und hatte eben jemanden niedergeschlagen. Drei Dinge, die ihn definitiv aus meiner engeren Auswahl katapultierten. Aber er war auch verdammt attraktiv, sehr charmant und schien mich zu mögen. Das musste ich zugeben. Außerdem: War ich nicht auf der Suche nach einer Gelegenheit, Vergangenes zu vergessen? Sie saß hier vor mir, und ich musste sie nur ergreifen. Für einen kurzen Moment zögerte ich. Dann trafen sich unsere Blicke, und ich erkannte hinter dem Funkeln in seinen dunklen Augen noch etwas anderes, Tieferes, was mich neugierig machte auf mehr. Viel mehr.
Vermutlich wäre ich ansonsten auch nie an einem Schützenfestsonntag um fünf Uhr nachmittags mit ihm im Bett gelandet.
ZWEI
Seine Lippen gleiten über meine Wange, flüstern Worte, die ich nicht verstehe. Seine Hände wandern über meinen Körper, jagen Schauer über meine Seele. Wir sind eins. Der Himmel über uns ist weit und offen und blau. Wie seine Augen. Ich versinke in dem Blau seiner Augen.
Ich falle.
Verliere den Halt, greife ins Leere.
Ich falle.
Rückwärts, blind. Unter mir die Tiefe, ich weiß es. Und während ich falle, springt mein Herz. Jede Faser meines Körpers bereitet sich auf den Aufprall vor, den ich nicht überleben werde.
Ich weiß es. Ich schwitze. Ich schreie.
»Ina!«
Ich fühlte den Fall und wartete auf den Aufprall.
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