Lasst uns tot und munter sein - Elke Pistor - E-Book

Lasst uns tot und munter sein E-Book

Elke Pistor

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Beschreibung

Mörderische Weihnacht überall! Beschauliche Adventszeit? Von wegen! Für Immobilienmakler Korbinian Löffelholz läuft es gerade richtig schlecht. Er muss noch vor Heiligabend eine alte Dorfvilla verkaufen, sonst ist er seinen Job los. Dumm nur, dass der Mieter der Villa erschlagen im Arbeitszimmer liegt – Hauptverdächtiger: Korbinian. Zum Glück schneidet ein Schneesturm das Dorf von der Außenwelt ab, und die Polizei kommt nicht durch. Um seine Unschuld zu beweisen, macht sich Korbinian selbst auf die Suche nach dem wahren Mörder. Zu spät erkennt er die Gefahr, die hinter der weihnachtlichen Idylle lauert.

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Elke Pistor, Jahrgang 1967, studierte Pädagogik und Psychologie. Seit 2009 ist sie als Autorin, Publizistin und Medien-Dozentin tätig. 2014 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Töwerland-Stipendium ausgezeichnet und 2015 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Kategorie »Kurzkrimi« nominiert. Seit 2018 leitet sie das jährliche Autorentreffen »skriva: literatur werkstatt köln«. Elke Pistor lebt mit ihrer Familie in Köln.

Den Newsletter der Autorin und viele Informationen rund um ihre Bücher finden Sie unter www.elkepistor.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Vect0r0vich

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-555-8

Ein Weihnachtskrimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Wo man singt, da lass dich ruhig nieder,böse Menschen haben keine Lieder.

Sprichwort nach dem Volkslied »Die Gesänge« von

Prolog

Korbinian Löffelholz hatte nicht mit dem Blut an seinen Händen gerechnet. Schlaftrunken und mit dröhnendem Schädel wankte er ins dunkle Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und trank gierig. Erst als vom weißen Beckenrand schlierig graue Fäden in den Ausguss liefen, sah er hin und entdeckte es.

Kein Zweifel. Das war Blut. Eine Menge Blut. Dunkel und verkrustet klebte es zwischen seinen Fingern, an den Handflächen und an seinen Unterarmen. Fassungslos starrte er darauf. Oder war es doch etwas anderes? Er tastete nach dem Lichtschalter und schloss geblendet die Augen, als die kalte Neonröhre über ihm aufflackerte. Als er sie wieder öffnete und in den Spiegel sah, schreckte er zurück. Nicht nur seine Hände und Arme, sondern auch sein T-Shirt war mit Blut besudelt. Wo zum Teufel kam das her? Hastig hielt er beide Hände in den Wasserstrahl, rieb und schrubbte, drehte und wendete sie. Aber er fand nichts. Keine Wunde, keinen Schnitt, keinen Stich, nichts, was eine Erklärung geben könnte. Er zog das T-Shirt aus, untersuchte seine Arme und den Oberkörper. Ohne Ergebnis. In seinem Kopf pochte es schmerzhaft. Etwas drückte sein Gehirn von innen gegen den Schraubstock, der um seinen Schädel gespannt war.

Eine Erkenntnis schwappte an die Oberfläche seines Bewusstseins. Dieses Blut war nicht sein Blut.

Korbinian Löffelholz wurde schlecht, es gelang ihm gerade noch, sich in die Toilette zu übergeben, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

Kapitel 1

Am Tag zuvor

Korbinian Löffelholz versuchte, sich möglichst wenig zu bewegen, was die Situation für ihn nicht unbedingt vereinfachte. Vor zwei Minuten war er mitten aus einem Traum aufgewacht, in dem er singend auf einer Bühne gestanden und mit weit ausgebreiteten Armen den frenetischen Jubel des Publikums genossen hatte. »Nessun dorma«, Puccini. Die Leichtigkeit, die er empfunden hatte, das Gefühl vollkommener Klarheit und das Bewusstsein, es besser zu machen als der Typ aus dieser englischen Talentshow, machten ihn glücklich. Die Euphorie verflog, je mehr er in die Wirklichkeit zurückkehrte.

Mit der Rechten tastete er nach seiner Brille, setzte sie auf und sah sich um. Schummriges Licht einer Straßenlaterne fiel durch die abgeschrägten Holzjalousien auf den Teppich. Neben dem Bett lag ein umgestürzter Sessel, und kurz blitzten Bilder vor seinem inneren Auge auf, die vielleicht eine Erklärung sein konnten. Es war heftig gewesen. Er verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Weiter weg in Richtung Flur sah er seine Hose und noch weiter weg durch die geöffnete Tür hindurch sein Hemd auf dem Boden liegen. Beides hatte er auf dem Weg zum Ziel achtlos fallen gelassen. Wenn er sich recht erinnerte, hatten sogar einige Knöpfe dran glauben müssen. Das war eine Schande für das angesagte Designerstück, aber die Sache durchaus wert gewesen.

Vorsichtig schlug er die dünne Decke zurück und setzte sich auf. Gut, dachte er, als er mit den Zehen in etwas Weiches trat. Wie immer hatte er seine Socken und die Unterhose als Letztes ausgezogen und direkt in Greifweite abgelegt. Das ersparte unnötiges Suchen und damit Lärm, den es unbedingt zu vermeiden galt. Die Frauen, die er aufgabelte, sollten nicht aufwachen, bevor er verschwunden war. Er hatte keine Lust auf Fragen und Telefonnummern, auf erwartungsvolle Blicke, und zum Frühstück bleiben wollte er auf gar keinen Fall.

Ein kurzer Blick über die Schulter beruhigte ihn. Die Frau schlief, zusammengerollt wie ein kleines Tier, auf der Seite. Ihre langen braunen Haare breiteten sich wie ein Spinnennetz über ihr Gesicht und das Kissen. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Eigentlich ist sie ganz hübsch, dachte Korbinian Löffelholz. Sonst wäre sie auch nicht in die Unmittel-Bar gelangt, sein aktuelles Stammlokal, und erst recht nicht mit ihm im Bett gelandet. Nett war sie anscheinend auch. Wie hieß sie noch mal? Julia? Nein. Lisa? Nein. So hatte die in der letzten Woche geheißen. Jedenfalls hatten sie gestern viel gelacht, bevor sie schließlich hier bei ihr gelandet waren. Sie war es gewesen – auch darin unterschied sie sich von vielen ihrer Vorgängerinnen –, die ihn angesprochen und nicht darauf gewartet hatte, dass er die Initiative ergriff. Vielleicht war das typisch für die jungen Frauen heute. Sie waren selbstbewusst genug und nahmen sich, was sie wollten. Und wenn er das war, was sie wollten, ließ er sich gern von ihnen nehmen.

Dass sie beide auf der Pirsch gewesen waren, daran hatte schon nach wenigen Minuten des wechselseitigen Taxierens kein Zweifel bestanden, doch sie war schneller gewesen.

»Psychopath oder Sadist?«, hatte sie mit einem Blick auf seinen Gin Tonic gefragt und ihm einen dieser Augenaufschläge geschenkt, die er sonst nur aus den Unterhaltungsfilmchen kannte, bei denen man vor dem Ansehen seine Volljährigkeit bestätigen musste.

»Viel wichtiger ist es, zu wissen, zu welchem Gin die Gurke passt«, hatte er geantwortet. Er kannte die Theorie, dass Psychopathen bittere Lebensmittel bevorzugten, aus einem der Lifestyle-Magazine, die bei seinem Barbier im Wartebereich herumlagen, und fand es witzig, so dreist von ihr darauf angesprochen zu werden. Schon da war ihm klar gewesen, wo und wie dieser Abend enden würde. Hatte sie gesagt, sie heiße Laura? Kurz überlegte er, murmelte stumm den Namen und schüttelte den Kopf.

Langsam, um eine plötzliche Bewegung der Matratze zu vermeiden, stand er auf und sammelte im Hinausgehen seine Kleidung auf. Die Schuhe standen direkt neben der Wohnungstür, sein Mantel hing am Haken der Garderobe. Es hatte Vorteile, sich an Regeln zu halten. So fand man auf Anhieb, was man suchte, und vertrödelte keine unnötige Zeit. Die Frau im Bett schien die Vorzüge von grundlegender Ordnung noch nicht verinnerlicht zu haben. Ihre Wohnung konnte man, um es einmal positiv auszudrücken, als kreatives Chaos bezeichnen. Oder realistischer als Saustall. Gestern Nacht war ihm das nicht aufgefallen, da war er einzig und allein in den Anblick ihrer Tattoos versunken gewesen. Verschlungene Muster, deren Bedeutungen und Verlauf sie ihm erklärt und vor allem gezeigt hatte. Seine Finger waren sehr konzentriert den Linien gefolgt. Sara? Lena? Nina? Es ärgerte ihn, dass ihm der Name nicht einfiel. Nur an ihren Job konnte er sich erinnern. »Was mit Medien«, hatte sie erklärt. »Agenturprojekte und so.« Wobei das auch nicht wirklich konkret war, wie ihm nun auffiel.

Er hob die Schuhe auf, nahm den Mantel vom Haken und öffnete die Wohnungstür. Die Frau im Bett reagierte nicht auf das leise Klappern des Schlüsselbundes. Sie schlief einfach weiter. So, als wäre er nie da gewesen.

Vor der Haustür sog Korbinian Löffelholz die kalte Dezemberluft in die Lungen. Der Sauerstoff tat ihm gut, vertrieb die letzten Alkoholschwaden aus seinem Gehirn. Kurz überlegte er, sich ein Taxi zu seinem Wagen zu nehmen, den er in der Nähe der Bar abgestellt hatte, entschied sich dann aber dagegen. Ein Spaziergang würde nicht schaden, zumal er sein Fitnessstudio in der letzten Zeit nur sehr selten von innen gesehen hatte. Dabei sollte er deutlich mehr auf seinen Gesamtzustand achten, hatte sein Arzt ihm beim letzten Check-up erklärt. Männer um die fünfzig ignorierten gern mal die zwanzig Jahre, die zwischen ihrem aktuellen Zustand und dem vermeintlich immer noch dreißigjährigen Ich lagen. Dabei hatte er noch zwei Jahre bis zum halben Jahrhundert. Aber wenn er ehrlich zu sich war – was er in den meisten Fällen erfolgreich verhindern konnte –, war der ein oder andere Kollateralschaden an seinem Körper nicht zu verleugnen. Immerhin schaffte er es, die Mängel größtenteils zu verbergen. Auch die Frau von gestern Abend hatte keinen Anlass zur Beschwerde gefunden. Die Frauen hielten ihn meist für deutlich jünger, was nicht zuletzt an seinem dichten Haar lag, das er bis vor Kurzem zu einem Dutt gebunden getragen und erst nach langem Zögern abgeschnitten hatte, da die grauen Strähnen langsam überhandnahmen. Außerdem färbte er. Graue Haare machten junge Menschen hip, alte zu dem, was sie waren: alt.

Trotzdem hatte er keinen Grund zur Klage, fand Korbinian Löffelholz. Sein Job als Makler in einer großen Immobilienfirma lief seit Jahren ausgezeichnet, auch wenn ihm in letzter Zeit ein oder zwei wirklich große Fische von der Angel gesprungen waren. Aber so was kam vor, es würden auch wieder bessere Zeiten kommen. Er war stolzer Eigentümer eines schicken Lofts in einer angesagten Gegend, fuhr ein für seinen persönlichen umweltpolitischen Status unbedingt notwendiges Elektroauto und hatte weder Frau noch Kind noch sonst wen, dem er in irgendeiner Weise verpflichtet war. Nein, es ging ihm gut. Sehr gut sogar. Könnte gar nicht besser sein.

Er beschleunigte seinen Schritt, trat einen Schneeklumpen zur Seite und blickte, leise summend, zum ersten Mal am heutigen Morgen auf sein Handy.

»Oh, verdammt«, fluchte er, als der Terminhinweis aufpoppte und ihm klar wurde, dass die Nacht mit Saskia – ah, stimmt, so hatte sie geheißen! – ihn doch mehr Kraft gekostet hatte als erwartet. Er hatte verschlafen und würde zu spät zu seinem Termin kommen. Ersteres war ihm seit Ewigkeiten nicht mehr und das Zweite noch nie passiert. Dabei war dieser Kunde mit seinem Projekt Wilhelmplatz einer der größten Fische, um nicht zu sagen der Blauwal unter den potenziellen Kunden und durfte ihm nicht entwischen. Das würde eine Bresche in seine Erfolgsstatistik schlagen, deren Größe der Vorstand nicht ignorieren konnte und mit Sicherheit auch nicht würde. »Oh verdammt«, wiederholte er und ging schneller und schneller, bis aus seinem raumgreifenden Schritt schließlich ein zügiger Lauf wurde. Irgendwo hier in der Nähe musste doch ein Taxistand sein. Die Zeit, um zuerst zu seinem Wagen gehen und damit zum Kunden zu fahren, hatte er nicht mehr.

Nach wenigen Metern bemerkte er neben sich einen Hund. Das kniehohe, struppige Tier hatte sich seinem Tempo angepasst und lief neben ihm her, als gehörte es seit Jahren zu ihrer gemeinsamen täglichen Morgenroutine, durch die Straßen der Stadt zu joggen. Korbinian Löffelholz beschleunigte seine Schritte. Der Hund zog mit, galoppierte einige Schritte vor und drehte sich dann zu ihm um, als wollte er ihn anfeuern, noch schneller zu laufen.

»Verschwinde«, sagte Korbinian und wies vage mit der Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Los. Dein Herrchen sucht dich doch sicher.«

Der Hund sah ihn kurz an, legte den Kopf schief und lief dann ungerührt weiter. Korbinian hatte das Gefühl, das Tier lächelte ihn an und freute sich über die Aufmerksamkeit, die er ihm schenkte. Er blickte sich um. Irgendwo musste sich der Besitzer des Tieres ja aufhalten. Man ließ doch seinen Hund nicht einfach so ohne Leine herumlaufen. War das überhaupt erlaubt? Ärgerlich bog er um die Ecke, hinter der er den Taxistand vermutete. Eine einzelne Droschke stand dort. Eine alte Dame steuerte sie zielsicher an. Korbinian Löffelholz sprintete los, um die Straße zu überqueren, und schaffte es gerade noch, aus vollem Lauf heraus zu stoppen. Bremsen quietschten, eine Hupe dröhnte, und dann hörte Korbinian ein Geräusch, das er sehr unangenehm fand. Als träfe etwas großes Hartes auf etwas kleines Weiches. Ein Jaulen, dann Stille. Eine Autotür wurde geöffnet.

»Oh Gott. Das tut mir so leid, ich habe Ihren Hund nicht gesehen«, stammelte der Mann, sah Korbinian an und dann zu dem Hund hinüber. »Ich habe auch einen und …« Er brach ab.

»Das ist nicht mein Hund. Ich kenne den gar nicht«, sagte Korbinian Löffelholz. Auf der anderen Seite der Straße stieg die ältere Dame in das Taxi und fuhr los. Irrte er sich, oder warf sie ihm einen triumphierenden Blick zu?

»Aber er lebt. Zum Glück. Ich fahre Sie beide schnell zur nächsten Tierklinik. Selbstverständlich komme ich für alle Kosten auf.« Der Mann ging zu dem Hund, beugte sich hinunter und streckte eine Hand aus. Der Hund hob den Kopf, winselte und leckte kurz über die ausgestreckten Finger.

»Das ist nicht mein Hund«, wiederholte Korbinian Löffelholz. »Ich habe gleich einen sehr wichtigen Termin, und ich kann nicht …«

»Er scheint das Bein gebrochen zu haben. Das heilt meistens schnell.« Der Mann half dem Hund auf die Beine, der sich benommen aufrappelte und dabei den rechten Hinterlauf in die Höhe hielt. »Haben Sie einen Stammtierarzt? Dann bringe ich Sie dorthin.«

»Dieser. Hund. Gehört. Mir. Nicht«, sagte Korbinian Löffelholz sehr betont und laut. »Ich kenne ihn nicht, und ich werde auch nicht mit ihm in irgendeine Klinik fahren.«

Der Mann sah ihn fassungslos an. »Nicht Ihrer?«

»Nein. Das sagte ich bereits. Mehrmals.«

»Das heißt, Sie wollen sich nicht um das Tier kümmern?«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil Sie für ihn verantwortlich sind.«

»Ich bin für vieles verantwortlich, aber nicht für dieses Tier.«

»Sie haben ihn auf die Straße gelotst.«

»Er ist mir hinterhergelaufen. Freiwillig.«

Der Hund humpelte langsam auf Korbinian zu. Vorsichtig setzte er das verletzte Bein auf und belastete es bei jedem Schritt etwas mehr.

»Sehen Sie, er kann auftreten«, sagte der Mann. »Das Bein scheint nur verstaucht zu sein.«

»Das ist gut.« Korbinian sah auf sein Handy. »Ich muss jetzt wirklich los.« Er machte Anstalten, zu gehen. Der Hund war neben ihm angekommen und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf seinen Füßen nieder.

»Nicht Ihrer, ja?« Die Skepsis des Mannes war unüberhörbar.

»Nicht meiner.«

»Sie können das Tier aber nicht einfach so hier zurücklassen.«

»Kann ich nicht?« Der Mann ging Korbinian Löffelholz zunehmend auf die Nerven. »Ich will Ihnen mal sagen, was ich kann. Ich kann jetzt gehen und mich beeilen, damit ich meinen Geschäftstermin – meinen äußerst wichtigen Geschäftstermin – nicht verpasse.« Er sah sich nach einem weiteren Taxi um, aber der Stand war verwaist. Sein Blick fiel auf den Wagen des Mannes, der sich bereits wieder mit dem Hund beschäftigte. »Sie sind im Übrigen viel zu schnell gefahren. Ein Teil der Schuld liegt bei Ihnen, wenn man es genau nimmt«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich könnte mir aber vorstellen, von einer Anzeige abzusehen, wenn Sie mir einen kleinen Gefallen tun.«

Der Mann öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, und sah zwischen Korbinian und dem Hund hin und her. »Wie Sie schon richtig bemerkten. Ein Teil der Schuld. Der andere Teil liegt bei Ihnen, weil Sie ohne zu schauen auf die Straße gelaufen sind.« Er grinste. »Aber gut. Ich tue Ihnen einen Gefallen, wenn Sie mir einen Gefallen tun. Was möchten Sie von mir?«

»Können Sie mich zu meinem Termin fahren?«

Der Mann nickte.

»Und was möchten Sie von mir?«, wollte Korbinian wissen.

»Sie nehmen den Hund mit, kümmern sich um ihn, bis es ihm besser geht, und fragen im Tierheim nach, ob ihn jemand vermisst. Vielleicht ist er ja gechipt.«

Korbinian Löffelholz überlegte. Entweder riskieren, wegen der vergeblichen Suche nach einem Taxi den Termin zu verpassen und darüber hinaus noch diesen militanten Hundeschützer an der Backe zu haben, oder sich auf dessen dreiste Forderung einlassen und dafür pünktlich sein können. Er wählte die zweite Variante. Den Hund konnte er später noch entsorgen. Womöglich ließe er sich einfach im Auto vergessen. Hatte der Typ nicht gesagt, er hätte auch so eine Töle? Und fühlten sich die im Rudel nicht sowieso viel wohler?

»In Ordnung«, sagte Korbinian Löffelholz. »Ich fahre mit Ihnen. Und wir nehmen den Hund mit«, ergänzte er rasch, als er den Blick des Mannes bemerkte.

Der nickte zufrieden, ging zu seinem Wagen und öffnete die Heckklappe seines Kombis. Mit einer einladenden Geste wies er ins Innere des Kofferraums, in dem sich eine Decke befand, die auf Korbinian Löffelholz den Eindruck machte, ausschließlich aus Hundehaaren zu bestehen.

»Na, dann mal los«, sagte Korbinian an den Hund gewandt. »Hauptsache, ich schaffe den Termin.«

Eine halbe Stunde Fahrtzeit und gefühlt fünfhundert Tipps zur Hundehaltung später stand Korbinian Löffelholz vor dem Eingangsportal der Kammern & Zimmers OHG, für die er seit mehr als fünfzehn Jahren als Immobilien- und Grundstücksmakler tätig war. Hinter der gepolsterten Drehtür empfing ihn wohltemperierte Luft, die ihn die Dezemberkühle draußen umgehend vergessen ließ und auf einem ausgeklügelten Logarithmus aus Innen- und Außentemperatur sowie den regionalen Wettervorhersagen basierte, um jedem Kunden ein wohliges Willkommen und das Bewusstsein zu suggerieren, dass mit der Menge des hier investierten Geldes gleichzeitig auch der Sinn für Stil und Geschmack wuchs. Was ja bekanntermaßen nicht immer der Fall war. Die Kunden sollten von der ersten Sekunde an zu der intuitiven Überzeugung gelangen, ein durch Kammern & Zimmers vermitteltes Haus könne nur der Inbegriff von Ästhetik und Schönheit sein. Ein in eleganten Rottönen gehaltenes Blumenarrangement samt Zweigen irgendeines exotischen Nadelbaums in einer hüfthohen Bodenvase aus Glas diente im Empfangsbereich als Reminiszenz an die bevorstehende Weihnachtszeit und war vor allen Dingen eines: teuer. Die Empfangsdame in ihrem cremefarbenen Kostüm, zu dem sie eine schimmernde Perlenkette trug, verstärkte diesen ersten Eindruck der Exklusivität. Sie warf einen missbilligenden Blick auf den Hund, dessen Pfoten auf dem Weg zum Fahrstuhl kleine Pfützen auf dem dunkel glänzenden Boden hinterließen, hielt Korbinian aber nicht zurück.

Natürlich hatte es keine Chance gegeben, das Tier zurückzulassen, als er eben aus dem Wagen seines nervigen Chauffeurs gestiegen war. Der militante Hundefreund wollte diesem Wischmopp selbst offenbar auch kein Asyl gewähren.

Von den verspiegelten Seitenwänden im Lift blickte ihm sein müdes Gesicht entgegen. Die Ringe unter den Augen konnte er nicht kaschieren, aber ein Schwall kaltes Wasser aus dem Hahn der Herrentoilette würde sicher Wunder wirken. Zumindest hoffte er das. Genauso wie auf den kaschierenden Effekt extrastarker Minzbonbons als Ersatz fürs Zähneputzen.

Ihm war klar, dass er besser daran täte, seinem Gesprächspartner nicht zu nahe zu kommen, nicht ins Schwitzen zu geraten und vor allem nicht in jemandes Richtung zu atmen.

»Kommen Sie rein, mein lieber Löffelholz«, begrüßte ihn sein direkter Vorgesetzter, Abteilungsleiter Dr. Adrian Siebelsbacher jovial und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. Korbinian Löffelholz hatte den Hund bei einer der Sekretärinnen geparkt, die sich sofort begeistert von dem Tier hatte abschlecken lassen. Noch so eine Verrückte. Er hatte sie gebeten, herauszubekommen, ob das Tier irgendwo vermisst wurde, und war dann umgehend zum Besprechungsraum geeilt. »Geht es Ihnen gut, mein lieber Löffelholz?« Siebelsbacher musterte ihn eingehend und geleitete ihn dann ans Ende des lang gestreckten Tisches in der Mitte des Raumes. Wintersonnenstrahlen fielen bläulich durch die spiegelblank polierten Panoramascheiben auf das elegante Blumenarrangement, das ein kleinerer Zwilling des Teils im Empfangsbereich war.

Korbinian Löffelholz’ Haare auf den Unterarmen richteten sich auf. Trotz des Lächelns seines Vorgesetzten bemerkte er die Störung in der Atmosphäre. Etwas stimmte nicht, und er brauchte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was es war. Etwas fehlte. Oder, besser gesagt, jemand fehlte. Hubertus von Kammern, Vorstand und Anteilseigner der Firma, glänzte durch Abwesenheit, was bei der Besprechung eines so großen Projektes eher unüblich, wenn nicht sogar vollkommen unmöglich war. Also musste etwas im Busch sein. Der Platz eines Maklers in der Hackordnung der Firma bemaß sich vor allem daran, wie hochkarätig die Besetzung bei den Meetings war. Anfänger mussten sich mühsam durch alle Büros arbeiten. Vom Fachbereichsleiter über den Abteilungsleiter bis hin zum Vorstand. Klinken putzen in Einzelgesprächen und mit entsprechender Wartezeit zwischen den Terminen. Nur die wirklich guten, anerkannten Makler trafen die hohen Tiere direkt im ersten Meeting. Gute, anerkannte Makler wie er, Korbinian Löffelholz. Doch nun stand er, abgesehen von einer dieser ständig um den Kaffee herumwuselnden Praktikantinnen, mit Dr. Siebelsbacher allein im Besprechungsraum. Allein.

Korbinian Löffelholz entschloss sich zur Flucht nach vorn. Er sah auf die Uhr. »Herr von Kammern verspätet sich wohl etwas«, sagte er, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich.

»Nein.« Dr. Siebelsbacher blieb stehen. »Herr von Kammern ist bei einer wichtigen Besprechung und kann leider nicht an unserem Gespräch teilnehmen. Ich werde ihm später davon berichten.«

Bei Korbinian Löffelholz schrillten sämtliche Alarmglocken. Siebelsbacher machte noch immer keine Anstalten, Platz zu nehmen, und Korbinian erkannte den eklatanten Fehler, den er gemacht hatte. Nun musste er entweder zu seinem Vorgesetzten aufsehen oder sich wieder erheben, was ihn aber ebenfalls schlecht aussehen ließe. Also blieb er sitzen, in der Hoffnung, Siebelsbacher bekäme irgendwann müde Beine.

»Das Projekt Wilhelmplatz …«, hob er an, wurde von Siebelsbacher aber sogleich wieder unterbrochen.

»… ist jetzt nicht unser Thema, mein lieber Löffelholz.«

»Ist es nicht?« Korbinian Löffelholz war ehrlich verblüfft. Damit hatte er nun gar nicht gerechnet.

»Nein. Ist es nicht. Valerie Guddat wird sich darum kümmern. Bei ihr ist es in den besten Händen. Darin sind Herr von Kammern und ich uns einig.«

»Valerie Guddat?« Korbinian Löffelholz hatte vor ein oder zwei Jahren mit ihr geschlafen, kannte sie aber ansonsten nur flüchtig und hatte sie als ernsthafte Konkurrentin nie in Betracht gezogen. »Die ist doch viel zu jung, um so ein großes Projekt zu übernehmen.«

Siebelsbacher streckte den Rücken durch. »Wenn ich mich recht erinnere, mein lieber Löffelholz, war Ihnen Frau Guddats Alter in anderer Angelegenheit durchaus angenehm.« Er musterte ihn von oben bis unten. »Wie dem auch sei. Herr von Kammern möchte ihr diese Chance geben.«

»Aber es ist mein Projekt.« Korbinian Löffelholz sprang auf. »Ich arbeite Tag und Nacht für diese Firma, hetze von Termin zu Termin und ziehe einen Auftrag nach dem anderen an Land«, beschwerte er sich atemlos. Er griff sich an den Hemdkragen und zerrte an seiner Krawatte, um sie zu lockern. »Und jetzt wollen Sie mir so ein Mädel vor die Nase setzen?« Krachend schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Praktikantin hörte auf zu wuseln und starrte ihn empört an.

»Dieses Mädel, wie Sie sie nennen, bringt bereits seit Langem sehr gute Umsätze. Und sie hat Sie in den letzten beiden Monaten deutlich überrundet, was wir unter anderem dem Umstand zuschreiben, dass sie im Gegensatz zu Ihnen sehr teamorientiert arbeitet.« Siebelsbacher presste die Lippen aufeinander, und Korbinian Löffelholz glaubte, eine Spur Mitleid in seinen Zügen zu entdecken.

»Ich bin seit fünfzehn Jahren Ihr bester Verkäufer.«

»Ihre Erfolge in der Vergangenheit haben wir gewiss nicht vergessen, mein lieber Löffelholz. Gewiss nicht.« Siebelsbacher legte ihm eine Hand auf den Arm. »Gewiss nicht«, wiederholte er salbungsvoll ein drittes Mal. »In letzter Zeit sind Ihnen aber einige Fehler unterlaufen, die wir so nicht von Ihnen kennen, was wir uns nur damit erklären können, dass Sie überarbeitet sind. Ihre Gesundheit liegt uns am Herzen, mein lieber Löffelholz. Weswegen wir beschlossen haben, Sie mit einem Sonderauftrag zu betrauen, bei dem Sie es etwas ruhiger angehen lassen können.«

»Ich bin nicht überarbeitet.«

»Selbstverständlich wird auch bei dieser Sache Ihre ganze Erfahrung und Kompetenz gefordert sein, selbst wenn das Objekt ein wenig ländlich liegt.«

»Ich bin durchaus in der Lage, das Projekt Wilhelmplatz zu übernehmen.«

»Natürlich, mein lieber Löffelholz. Sie werden ein paar Tage fort sein. Weg aus der Stadt, weg aus dem Büro. Womöglich tun Ihnen der Abstand und die Landluft ja gut. Soll immerhin sehr erholsam sein. Die Sache, um die es geht, liegt Herrn von Kammern sehr am Herzen. Er verlässt sich da voll und ganz auf Sie.« Siebelsbacher winkte die wuselnde Praktikantin herbei. Sie trug eine Mappe unter dem Arm, legte sie vor Korbinian Löffelholz ab und trat zwei Schritte zurück. »Hier drin finden Sie alles Wichtige zum Projekt, mein lieber Löffelholz. Bis Weihnachten haben Sie das sicher erledigt. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und gute Erholung.« Er nickte ermunternd und ging hinaus, ohne sich noch einmal zu Korbinian Löffelholz umzusehen.

Kapitel 2

Einen festen Termin gab es nicht, er sollte einfach dorthin fahren. Es sei ständig jemand vor Ort. Die Sekretärin hatte ihm diese Information zusammen mit einer improvisierten Hundeleine und der Mitteilung übergeben, dass in sämtlichen Tierheimen der Stadt kein Hund dieses Aussehens vermisst werde. Dabei hatte sie gelächelt wie ein Schakal, und Korbinian Löffelholz konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie kein einziges Tierheim angerufen hatte.

»Das macht nichts. Ich hatte sowieso vor, chinesisch zu essen«, hatte er lapidar entgegnet und sich mit einem Blick auf den Hund die Lippen geleckt. Doch auch ihre entsetzte Miene hatte ihn nicht wirklich befriedigen können. Zumal er sehr stark vermutete, dass sie die Idee, den Hund zu essen, deutlich verabscheuungswürdiger fand als die rassistische Grundannahme der Bemerkung.

Laut seinem Navigationsgerät waren es nach Dünenbeck etwa zwei Stunden Fahrt – wenn die Straßen geräumt waren. Davon konnte man in Bezug auf die Autobahnen ausgehen. Bei den Landstraßen war er sich da nicht so sicher. Diesbezüglich konnte Korbinian nur auf das Beste hoffen. Immerhin hatte er die Sommerreifen im Frühjahr neu gekauft. Außerdem musste er sich beeilen, wenn er vorher seinen Wagen abholen und seinen Koffer packen wollte. Kurz erwog er, doch noch rasch in der Werkstatt für einen schnellen Reifenwechsel vorbeizufahren, verwarf die Idee aber sofort wieder. Zeit für einen Abstecher ins Tierheim blieb erst recht nicht. Der Versuch, einen der Kollegen, mit denen er nach erfolgreichen Abschlüssen öfter feiern ging, zu überreden, sich um den Hund zu kümmern, war ohne Erfolg geblieben. »Keine Zeit«, »Schau dir die Berge auf meinem Schreibtisch an«, »Sorry, wichtige Termine«. Alle hatten sie abgewunken und ihm dabei kaum in die Augen gesehen, sich rasch wieder ihren Bildschirmen zugewandt, durch ihre Körperhaltung eine Mischung aus Mitleid und Abscheu ausdrückend. Korbinian Löffelholz beschlich das Gefühl, dass sie ihn zurückließen, so wie ein Rudel Wölfe ein krankes Tier zum Sterben zurückließ.

Es war nicht von der Hand zu weisen. Er, Korbinian Löffelholz, war in dieser Firma definitiv angezählt.

»Also gut«, murmelte er, als er schließlich Auto und Koffer beisammenhatte und abfahrbereit vor seiner Haustür stand, wo der Hund dummerweise die ganze Zeit über brav auf ihn gewartet hatte. »Nehm ich dich also mit. Auf dem Land finden wir sicher einen Platz für dich.«

Die alte Jugendstilvilla sah auf den Bildern in der Akte ganz passabel aus. Keine erkennbaren äußeren Schäden, ordentliche Farben, und der Grundriss der auf drei Etagen verteilten dreihundertachtzig Quadratmeter Wohnraum schien nicht ganz so verbaut zu sein, wie er es von anderen Objekten mit individueller Bauweise kannte. Es sollte nicht allzu schwer werden, dieses Objekt an den Mann zu bringen. Einziger Wermutstropfen war die Lage. Dünenbeck war ein lang gestrecktes Straßendorf irgendwo im Nirgendwo. Die nächstgelegene größere Stadt war die Kreisstadt Fliessteden, und auch hier konnte man auf dem Satellitenbild von Google Earth bereits die hochgeklappten Bürgersteige erkennen. Immerhin konnte er, wenn alle Stricke rissen, »Lage in unberührter Natur« ins Exposé schreiben. Das bedeutete zwar im Klartext, dass nur Einsiedler sich dort wohlfühlen würden oder Menschen, die auf vermeintliche Luxusannehmlichkeiten wie Arbeitsstelle, Supermarkt und Arzt verzichten konnten. Aber die zumindest würden sich davon sicherlich mehr als angesprochen fühlen.

In der Akte stand auch, dass das Objekt einem Großonkel von Herrn von Kammern gehörte, der sich wegen seines fortgeschrittenen Alters von dem Haus trennen wollte. Zwischen den Zeilen hieß das, Aufwand und Kosten standen in keinem Verhältnis mehr zu dem Ertrag, den das Objekt abwarf. Immerhin beurteilte der Besitzer das Anwesen nicht als »interessant für Bastler und Handwerker«, was auf einen komplett desaströsen baulichen Zustand hingedeutet hätte.

Zu prüfen, ob die gezeichneten Grundrisse mit der Wirklichkeit übereinstimmten, würde Teil seiner Aufgabe vor Ort sein. Wenn er es richtig einschätzte, war das ein schneller Job. Hinfahren, ausmessen, Fotos machen, auf denen die Räume hell, lichtdurchflutet und großzügig aussahen, auch wenn sie vielleicht mit Siebziger-Jahre-Holzvertäfelungen verunstaltet waren. Aber so etwas konnte er gut. Oder, besser gesagt, so etwas hatte er immer gut können lassen. Denn selbstverständlich standen einem Topmakler auch immer Topfotografen zur Seite, schon allein durch die Größenordnung der Projekte bedingt, mit denen er betraut war. Korbinian Löffelholz konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal selbst zur Kamera gegriffen hatte. Waren das überhaupt schon digitale Bilder gewesen? Egal. Für dieses eine Haus würde seine Handykamera sicher ausreichen, zumal es natürlich das neueste Modell war, und da konnte man schon einiges an Spielerein im Fotobereich erwarten. Welche erstaunlichen Verschönerungen man mit Fotofiltern erreichen konnte, hatten ihm diejenigen Laras, Julias und Lenas der letzten Monate vor Augen geführt, die ihn entgegen jeder Vorsicht schließlich doch in einem der sozialen Netzwerke gefunden und um weiteren Kontakt gebeten hatten. Er hatte immer ein paar Sekunden gebraucht, bis er die Fotos mit der Wirklichkeit übereingebracht und die Damen geblockt hatte. Vor allem diese Kussmünder irritierten ihn kolossal.

Korbinian Löffelholz startete seine Playlist, die er nur hörte, wenn er allein in seinem Auto saß. Streichermusik erklang. »Datahdadadahh«, sang er mit, bevor nach den ersten Tönen Luciano Pavarottis Stimme erklang und sie gemeinsam losschmetterten: »Che bella cosa è na giornata ’e sole.«

»Was für eine schöne Sache ist ein sonniger Tag«, bedeutete diese Textzeile, auch wenn die deutschen Übersetzungen daraus ein »Hell strahlt die Sonne« gemacht hatten. Aber Korbinian Löffelholz bevorzugte das italienische Original, das ungezählte Male gecovert und von Sängern jeglicher Couleur teils bis ins Kitschige hinein verunstaltet worden war, in seinen Ohren aber auch nach mehr als hundertzwanzig Jahren nichts von seiner ursprünglichen Schönheit verloren hatte. Korbinian konnte den gesamten Text auswendig.

»’O sole mio sta ’nfronte a te …« Nur hier, in der Abgeschlossenheit des Wagens, brachte er seine Stimme zur vollen Entfaltung. Egal, ob die Töne stimmten oder nicht. Wobei er sie zu seinem eigenen Erstaunen noch traf. Als Junge hatte er in einem Chor gesungen und davon geträumt, später einmal auf den großen Bühnen der Welt zu stehen. London, Mailand, Sydney, Wien. Der Traum war irgendwo zwischen Pubertät und Erwachsenenleben in elterlichen Sorgen um und Ermahnungen zu seiner Zukunft verloren gegangen und schließlich unter seiner stetig wachsenden Karriere immer tiefer begraben worden.

Beim letzten Refrain bemerkte Korbinian Löffelholz ein tiefes Brummen, das zuvor nicht da gewesen war. Verunsichert sang er leiser und lauschte auf das Geräusch. Stimmte etwas mit dem Motor nicht?

Das Brummen kam aus dem Fußraum des Beifahrersitzes, in dem sich der Hund nach dem Einsteigen zusammengerollt hatte. Jetzt setzte er sich aufrecht, schaute Korbinian Löffelholz aufmerksam an und legte den Kopf schief. Korbinian Löffelholz hörte auf zu singen, und sofort verstummte das Brummen. Er begann wieder zu singen, das Brummen erklang. Überrascht versuchte er es erneut. Schweigen. Stille. Singen. Brummen. Der Hund ließ ihn nicht aus den Augen und wedelte mit dem Schwanz, was aufgrund des begrenzten Platzes allerdings eher wie ein intensives Hüftwackeln aussah. Korbinian wartete den Auftakt des nächsten Liedes ab und setzte zeitgleich mit dem Sänger ein. »La donna è mobile«, sang er und musste wider Willen lächeln, als der Hund brummend mit einfiel. Beim »Brindisi«, dem Trinklied aus »La Traviata«, steigerte sich das Brummen zu einem vereinzelten Jaulen und einem kräftigen Bellen am Schluss. Korbinian Löffelholz lachte laut auf.

»Du bist mir ja einer.« Er beugte sich vor und streichelte dem Hund über den Kopf. »Ein richtiger Tenor. Vielleicht sollte ich dich Carreras nennen. Gefällt dir das?« Der Hund bellte kurz. »Okay. Es gefällt dir. Also heißt du ab heute Carreras.« Er streichelte den Hund erneut, legte dann aber wieder beide Hände ans Lenkrad und setzte sich gerade hin. »Mit einem schönen Namen kann ich dich auch besser loswerden«, schob er nach, konzentrierte sich wieder auf die Straße und vermied den Blickkontakt mit dem Tier. Für den Rest der Fahrt lief das Radio.

In Dünenbeck auf der Hauptstraße wendete Korbinian Löffelholz zweimal, er durchfuhr das gesamte Dorf von Ortsschild zu Ortsschild ein erstes, zweites und drittes Mal, ohne die Einfahrt zur Villa zu finden. Seine Laune sank dabei mit jedem Meter, den er zurücklegte. Egal, was für ein Palast dieses Haus auch sein mochte, er würde es niemals verkaufen können. Oder nur mit erheblichem Aufwand und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Dünenbeck war ein Synonym für Einöde. Hässliche Einöde. Trostlose, hässliche Einöde. An beiden Seiten der Hauptstraße reihten sich etwa zehn Häuser aneinander, die sich in unterschiedlichsten Verfallszuständen befanden, so sie nicht mit wenig Geschmack, keinerlei architektonischer Fachkenntnis und allem Anschein nach unter Zuhilfenahme nicht vorhandener baulicher Kompetenz der gesammelten Nachbarschaft aus dem Boden gestampft und im Anschluss verklinkert worden waren. Ein Geschäft, einen Kiosk oder etwas, was auch nur im Entferntesten auf eine ortsnahe Versorgung mit Lebensmitteln hoffen ließ, konnte er nicht entdecken. Einzig ein rissiges Emaille-Kneipenschild baumelte traurig unter einem Neonschild mit der Aufschrift »Piz er a«.

Zwei Häuser daneben stand eine Frau, die ihn beim ersten Vorbeifahren ignoriert, beim zweiten neugierig angesehen und ihm beim dritten Mal freundlich zugewunken hatte. Als er sie zum vierten Mal passierte, trat sie auf die Straße und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. Korbinian Löffelholz war kurz versucht, sie mit einem Schlenker zu umfahren, hielt dann aber doch an und öffnete das Seitenfenster.

»Junger Mann«, sagte die Frau mit tiefer, rauchiger Stimme, trat neben den Wagen und beugte sich zu ihm. »Sie haben ja komplett die Orientierung verloren und wissen nicht, wo es langgeht. Ich werde Ihnen helfen.«

Korbinian Löffelholz musterte sie von oben bis unten, soweit seine Sitzhaltung das zuließ. Sie war deutlich älter, als er beim ersten Anblick gedacht hatte. Eher siebzig als Mitte dreißig. Die blaue Latzhose mit dem dünnen Pullover darunter und einer schlabbrigen, grob gestrickten Jacke darüber hatte ihn eine schlanke, sportliche Figur erahnen lassen. Auch hatte das lange Haar einen großen Teil ihres Gesichts verdeckt. Jetzt, aus direkter Nähe, erkannte er, dass das dichte Haar nicht hellblond, sondern weiß war, und dass viele feine Falten die Gesichtshaut wie Pergament verknitterten. Sein Blick fiel auf ihren Ausschnitt und blieb dort für einen Moment zu lange hängen.

»Ja, schauen Sie nur, junger Mann. Die haben viel Geld gekostet, sind aber jedes Gramm wert.«

Korbinian Löffelholz zuckte zusammen und schaute irritiert nach oben. Hatte die alte Dame ihm gerade zu verstehen gegeben, dass sie ihre Brüste hatte machen lassen? Oder hatte er sich verhört? Die Frau lächelte ihn an. Ihre strahlend blauen Augen blitzten. Sie richtete sich wieder auf, wischte ihre rechte Hand an der Hose ab und reichte sie ihm durch das geöffnete Wagenfenster.

»Elisabeth von Petersen.« In der linken hielt sie einen Zimmermannshammer. Mit dem wies sie vage hinter sich. »Ich baue gerade an einem Weihnachtsmarktstand.« Sie machte einen Schritt zur Seite, und Korbinian Löffelholz erkannte eine Holzhütte, deren Dach fehlte. »In vier Tagen geht es los. Der allerkleinste Weihnachtsmarkt im Umkreis von hundert Kilometern. Es gibt einen, der nennt sich ›der kleinste Weihnachtsmarkt von Fliessteden‹, aber meiner ist noch kleiner. Die Leute werden Augen machen.«

»Welche Leute?«, rutschte es Korbinian Löffelholz heraus, aber Elisabeth von Petersen ignorierte seine Bemerkung. »Es wird alles mit diesen kleinen Lichterketten beleuchtet, die ich auch noch aufhängen muss, die Musik kommt vom Band, und ich verkaufe Glühwein. Aber das Wichtigste«, sie hob den Finger, »zu jedem Glas verschenke ich ein Buch und gebe noch eines meiner Glücksworte dazu. Das werden sie lieben. Natürlich alles für den guten Zweck. Das ist so weihnachtlich. Finden Sie nicht auch, junger Mann?«

»Glücksworte?«

»Ja.« Sie strahlte, verschränkte die Hände vor der Brust und kam dabei mit der Spitze des Hammers dem glänzenden Lack von Korbinians Wagen gefährlich nah. »Glücksworte. Ich sammele sie.« Sie schaute ihn prüfend an. »Ich denke, Ihnen könnte ein wenig Manaakitanga nicht schaden. Das Wort kommt von den Maori und bedeutet so viel wie Gastfreundschaft und sich um andere zu kümmern. Dazu gehören Freundlichkeit, Großzügigkeit, Unterstützung, Respekt. Alles Dinge, von denen man nie genug haben kann.«

»Das ist sicherlich Auslegungssache«, murmelte Korbinian Löffelholz leise. Lauter sagte er: »Sie verschenken Ihre Bücher?«

»Man muss sich von Dingen trennen, freigiebig und großzügig. Eleutheriótēs. Die Haltung des freigiebigen Menschen. Selbst schöne Dinge können eine Belastung sein. Meine Bücher zu verschenken, befreit mich. Apropos. Sie könnten mich gleichsam von einer Last befreien, junger Mann. Sie sind doch groß und kräftig.« Sie lachte und schlug sich auf den Bauch. Steigen Sie mal aus Ihrem Auto und legen Sie kurz Hand bei mir an.«

Korbinian Löffelholz starrte sie sprachlos an. Was wollte diese verrückte Alte denn jetzt? Hand anlegen? Er hatte ja gegen Frauen, die den ersten Schritt machten, im Allgemeinen nichts einzuwenden. Aber das ging ihm definitiv zu weit. Er blieb im Wagen sitzen.

»Na los, bewegen Sie Ihren Hintern. Sie werden einer alten Frau doch keinen Wunsch abschlagen.«

»Eigentlich muss ich weiter. Ich habe einen Termin hier im Ort und …«

»Ich weiß«, warf Elisabeth von Petersen ein, aber Korbinian redete schon weiter und bemerkte erst zwei Sekunden später, was sie gesagt hatte.

»… muss dahin. Wieso wissen Sie das?«

»Sie werden trotzdem pünktlich sein, keine Angst. Es dauert nur eine Minute.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, schwang den Hammer und ging in Richtung der Holzhütte.

»Woher …«, setzte er erneut an, wurde aber von einem Bellen des Hundes unterbrochen, der die ganze Zeit über still im Fußraum gesessen hatte.

»Und lassen Sie den Hund raus. Der muss bestimmt mal.«

Die Villa lag versteckt hinter einer der Klinkerneubaukatastrophen. Eine zu beiden Seiten von Eibenhecken gesäumte Schottereinfahrt führte direkt am Haus und dem dazugehörigen Garten vorbei, in dem Korbinian Löffelholz eine Gruppe weihnachtlicher Plastikrentiere ausmachte, deren Geweihe im Tageslicht schwach leuchteten. Er fragte sich, ob schlechter Geschmack hier zu den lokalen Eigenheiten gehörte. Manche Dinge vererbten sich ja auch, und bei der Größe und Abgeschiedenheit des Ortes bot der Genpool hier vermutlich nicht allzu viel Auswahl.

Er steckte seinen Daumen in den Mund und saugte daran. Der Splitter tat weh, und er versuchte, ihn herauszubeißen, was aber nur dazu führte, dass das kleine Holzstück abbrach und sich noch tiefer unter seine Haut verkroch. Er fluchte. Was hatte er auch an der Holzhütte zu schaffen gehabt? Aber Elisabeth von Petersen hatte ihm keine Chance zur Flucht gelassen. Ihr dabei zu helfen, die Querbalken auf das Dach der kleinen Weihnachtsmarkthütte zu hieven, war die einzige Möglichkeit gewesen, wieder von ihr wegzukommen. Dafür hatte sie Carreras etwas Futter gegeben – »Ich habe immer Futter für Streuner da« –, ihn gestreichelt – »Er hat übrigens Flöhe, Sie sollten etwas dagegen unternehmen« – und ihm den Weg zur Villa gewiesen – »Machen Sie sich auf etwas gefasst«. Letzteres hatte ihn etwas ratlos zurückgelassen.

Dass sie ihm auch noch ein Bett für die Nacht angeboten hatte – »Ich habe immer ein offenes Haus für alle meine Lieben« –, wirkte sogar regelrecht verstörend auf ihn.

Korbinian Löffelholz lenkte den Wagen auf den kleinen Platz vor der Villa und betrachtete das Haus. Es war größer, als es auf den Schnappschüssen wirkte, und viel gepflegter. Der Kies auf dem Platz war sorgfältig geharkt, die Hecken und Sträucher akkurat geschnitten, und Korbinian Löffelholz entdeckte sogar fachmännisch für den Winter gehäufelte Rosen. Hier kümmerte sich jemand mit viel Liebe um das alte Gebäude. Es hatte angefangen zu schneien. Dicke, pluderige Flocken schaukelten langsam zur Erde. Einladendes Licht brannte hinter einigen Fenstern und verbreitete gemütliche Stimmung. Genau das Richtige für erste Bilder. Fast wäre es Korbinian Löffelholz warm ums Herz geworden, wenn er denn der Typ für so etwas gewesen wäre.

Er schaltete den Motor aus und betrachtete kurz die Energieanzeige. Der Akku des Wagens hatte eine Reichweite von ungefähr zweihundertsechzig Kilometern, der Weg nach Dünenbeck war etwas mehr als zweihundertvierzig Kilometer lang. Blieb ihm noch Energie für knapp zwanzig Kilometer. Er musste den Wagen also auf jeden Fall aufladen, bevor er den Heimweg antrat. Er hatte keine Lust, in einer eiskalten Nacht irgendwo im Nirgendwo liegen zu bleiben. Die Villa war zwar alt, aber bewohnt. Und wo gewohnt wurde, gab es Strom und damit eine Steckdose für ihn und seinen Wagen.

Er griff nach dem Handy und stieg aus. Mit wenigen Schritten umrundete er den Wagen und befreite Carreras aus dem Fußraum des Beifahrersitzes. Dann stellte er sich mittig vor die Villa, hob das Handy und öffnete die Kamera. Der Hund setzte sich neben seine Füße.

Vielleicht würde es doch nicht so schwer werden, die Villa zu verkaufen, wie er gedacht hatte. Und so schlimm, wie er nach Elisabeth von Petersens Worten befürchtet hatte, war es hier nun wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Es war die reinste Idylle.

Der Gedanke war für Korbinian Löffelholz so ungewöhnlich wie flüchtig. Denn just in diesem Moment dröhnte ein infernalischer Lärm los.

Kapitel 3

Carreras versuchte panisch, wieder ins Wageninnere zu gelangen. Er scharrte und kratzte an der Tür, bellte und winselte gleichzeitig. Korbinian Löffelholz hielt sich mit hochgezogenen Schultern die Ohren zu und duckte sich hinter das Auto. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass es sich bei dem Lärm nicht um zerberstendes Metall, sondern um das Geräusch handelte, das entstand, wenn ein sehr ungeübter Mensch die Saiten einer an einem sehr lauten Verstärker angeschlossenen elektrischen Gitarre malträtierte. Reflexartig legte er dem Hund seine Hand auf den Kopf und streichelte ihn. Carreras beruhigte sich und leckte ihm quer über die Wange.

Korbinian Löffelholz schob den Hund von sich, stand auf und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, rückte seine Kleidung zurecht und wappnete sich. Was auch immer in der Villa vor sich ging, würde bald ein Ende haben. Vor allem, wenn er, Korbinian Löffelholz, seinen Job gut machte. Und das tat er in der Regel immer.

Carreras dicht auf den Fersen, stieg er die vier Stufen zur Eingangstür hinauf und klingelte. Zumindest drückte er auf den dafür vorgesehenen Knopf links neben dem Eingang. Allerdings konnte er nicht sagen, ob sein Handeln auch Wirkung zeigte, denn durch den immer noch anhaltenden Lärm – er brachte es nicht über sich, in diesem Zusammenhang von Musik zu sprechen – drang kein anderes Geräusch zu ihm nach draußen. Versuchsweise legte er eine Hand auf den runden Messingknauf, drehte und drückte. Tatsächlich öffnete sich die Tür und gab den Blick ins Innere des Hauses frei.

Positive Kriminalstatistik, die Menschen sind vertrauensselig, dachte Korbinian Löffelholz und notierte das auf seiner inneren Liste der Verkaufsargumente. Unglücklicherweise traf die tonale Umweltverschmutzung jetzt ungebremst auf sein Gehör, und er verzog schmerzhaft das Gesicht.

Ein schwarz-weißes Fliesenfeld mit geschwungenem Muster zog sich wie ein Teppich durch einen kurzen Vorflur – »Bodenbelag original Jugendstil«, lautete die imaginäre Notiz –, dann ging es weitere vier Stufen hinauf und durch den eigentlichen Flur – »geräumiger Eingangsbereich« –, von dem links eine und rechts zwei weiße Türen abgingen. An seinem Ende erweiterte sich der Gang zu so etwas wie einer kleinen Halle oder einem Atrium. Der Lärm schien jedoch durch die Tür rechts davor zu kommen. Sie stand ein Stück offen.

»Hallo?«, rief Korbinian Löffelholz erst in normaler, dann in deutlich erhöhter Lautstärke. »Jemand zu Hause?« Obgleich diese Frage, wie ihm im selben Moment aufging, ziemlich albern war, da es sich bei der Gitarrenkakophonie ansonsten um eine sehr originelle Alarmanlage handeln müsste.

Natürlich erhielt er keine Antwort. Entschlossen stieg er die Stufen hinauf, ging durch den Flur und schob die Tür ein Stück weiter auf. Carreras blieb dicht bei ihm und winselte leise. Korbinian Löffelholz sah dem Hund seine Zerrissenheit zwischen Flucht- und Angriffsimpuls an und hatte volles Verständnis, denn ihm ging es genauso.

Der elektrische Lärm wurde, so überhaupt möglich, noch lauter. Und es kam etwas dazu, was man mit viel Wohlwollen Gesang hätte nennen können. Aber Wohlwollen war Korbinian Löffelholz’ Sache nicht. Er stutzte. Schrie die Stimme da wirklich »Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einer wacht«? Nein, das konnte nicht sein. Es wäre ein Widerspruch in sich, denn niemand, wirklich niemand konnte hierbei auch nur ein einziges Auge zudrücken wollen, von schlafen mal ganz abgesehen. Außerdem war es Tag. Und heilig? Nun ja.