Gerichtet - Jens Krabel - E-Book

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Jens Krabel

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Beschreibung

Eine junge Anwältin zwischen Faszination und Widerwillen im Bann einer politischen Attentätergruppe begibt sich auf dünnes Eis. - Der temporeiche Auftakt einer Trilogie Im beschaulichen Freiburg im Breisgau geschieht ein politisch brisanter Anschlag. Kim Martín, noch voller Ideale, wird Zeugin dieses Verbrechens. Sie erfährt von einer Attentätergruppe, die Jagd auf Kriegsverbrecher, Mörder und Vergewaltiger macht. In einer temporeichen Flucht vor sich selbst, den Attentätern und deren Widersachern gerät sie immer tiefer in den Strudel des Verbrechens. Ab diesem Moment begibt sich die junge Anwältin auf eine gefährliche Reise. Zwischen Freiburg, Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und Berlin weiß sie schließlich nicht mehr, wo sie sich befindet und wer hier Jäger und Gejagte ist. Sie weiß, sie sollte zur Polizei gehen. Immer wieder stellt sie sich die Frage: Wie weit soll ich noch gehen? Mit für sie persönlich hohem Risiko und offenem Ausgang folgt sie ihrer Intuition und trifft eine folgenschwere Entscheidung für ihr weiteres Leben. Großartige Story, äußerst spannend und literarisch sehr ansprechend erzählt. Ein Buch, das nichts für schwache Nerven ist. Politisch hoch aktuell, atemlos und voller Anregungen möchte man, dass es nicht zu Ende ist. (Andrea Kasiske, Kultujournalistin u.a. für Deutsche Welle, Phönix, RTL)

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Über das Buch

Im beschaulichen Freiburg im Breisgau geschieht ein politisch brisanter Anschlag. Kim Martín, noch voller Ideale, wird Zeugin dieses Verbrechens. Sie erfährt von einer Attentätergruppe, die Jagd auf Kriegsverbrecher, Mörder und Vergewaltiger macht. In einer temporeichen Flucht vor sich selbst, den Attentätern und deren Widersachern gerät sie immer tiefer in den Strudel des Verbrechens. Ab diesem Moment begibt sich die junge Anwältin auf eine gefährliche Reise. Zwischen Freiburg, Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und Berlin weiß sie schließlich nicht mehr, wo sie sich befindet und wer hier Jäger und Gejagte ist. Sie weiß, sie sollte zur Polizei gehen. Immer wieder stellt sie sich die Frage: „Wie weit soll ich noch gehen?“ Mit für sie persönlich hohem Risiko und offenem Ausgang folgt sie ihrer Intuition und trifft eine folgenschwere Entscheidung für ihr weiteres Leben.

Über den Autor

Jens Krabel hat diesen Thriller als ersten einer Trilogie verfasst. Er ist Politologe, publiziert, arbeitet und lebt mit seinen beiden Töchtern und Partnerin in Berlin. Eine Zeit seines Lebens verbrachte er in Spanien. Mit Hilfe seiner Kinder entdeckte er neben dem wissenschaftlichen Schreiben und Publizieren die Belletristik für sich.

Band 1

für meine Tochter Finja

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1. SCHWARZWALD

2. FRANKFURT

3. SCHWARZWALD

4. AUTOBAHN

5. SCHWARZWALD

6. KHARTUM

7. FREIBURG

8. SCHWARZWALD

9. FLUGHAFEN BASEL

10. FREIBURG

11. SCHWARZWALD

12. FREIBURG

13. AUTOBAHN

14. FRANKFURT

15. FREIBURG 24 STUNDEN ZUVOR

16. FRANKFURT 12 STUNDEN ZUVOR

17. HANAU

18. FRANKFURT

19. HAMBURG

20. AUTOBAHN

21. HAMBURG

22. STOLPE-SÜD

23. STUTTGART

24. FRANKFURT

25. BERLIN

26. OSLO ZWEI MONATE ZUVOR

27. BERLIN

28. FRANKFURT

29. STUTTGART

30. FRANKFURT

31. STUTTGART

EPILOG

PROLOG

Er ist ein Berglöwe und ruht auf dem dicken Ast eines Baumes. Unter ihm liegt die Lichtung im Sonnenschein. Mehrere runde Lehmhütten stehen auf rötlichem Boden. Einige weisen Verfallsspuren auf, haben Risse an den Außenmauern, Löcher in den Dächern und Türrahmen ohne Türen. Andere sind bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nur wenige scheinen keine Beschädigungen aufzuweisen. Ein feiner Brandgeruch liegt in der Luft. Vor den Hütten liegen Leichen, teilweise vollständig bekleidet, teilweise nur in bunte Fetzen gehüllt. Einigen fehlen Gliedmaßen oder der Kopf, andere wirken unversehrt.

Inmitten der Hütten und Leichen steht ein kleiner Junge in kurzer Hose und einem blutbefleckten, weißen Hemd. Er schaut zu ihm hoch. Eine graue, trockene Traurigkeit hat sich in seinen Augen niedergelassen. Während der Junge dasteht und zu ihm hochschaut, wird der Brandgeruch stärker. Der Berglöwe, der er ist, dreht den Kopf und sieht, wie sich hinter ihm das Feuer durch die Bäume frisst und immer näherkommt. Er will sich erheben, auf die Lichtung springen und in Richtung Norden rennen, weg von den Flammen und dem beißenden Geruch. Doch so sehr er sich auch bemüht, sein Körper gehorcht ihm nicht. Es ist, als ob er von einer plötzlichen Lähmung ergriffen wird. Nur seinen Kopf kann er noch bewegen. Angst steigt in ihm auf und als sie fast vollständig von ihm Besitz ergriffen hat, vernimmt er eine leise Melodie. Er dreht seinen Kopf weg von dem Feuer und schaut zu dem Jungen, der immer noch zu ihm aufsieht, nun aber zu singen begonnen hat. Die Stimme des Jungen schwillt an und jetzt erkennt er darin eine Totenklage. Sie kommt ihm seltsam vertraut vor, auch wenn er sich nicht erinnert, wo er sie schon einmal gehört hat.

Je lauter der Junge singt, desto unerträglicher wird die Hitze des Feuers und als die ersten Flammen auf das Fell des Berglöwen übergreifen, verwandelt sich die Totenklage des Jungen in einen langgezogenen Schrei.

Schreiend wachte er auf und fand sich schweißgebadet auf dem Stuhl am Fenster wieder. Es war das erste Mal, dass einer der Wiedergänger direkt zu ihm gesprochen hatte, wenn auch in einem Traum und in Form einer gesungenen Totenklage.

1

SCHWARZWALD

Kim blickte aus dem Fenster ihres Hotelzimmers. Es dämmerte, aber noch waren die Konturen der Fichten auszumachen, die ein paar hundert Meter entfernt einen dichten Wald bildeten. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel. Der Raum wurde langsam ein bisschen wärmer. Als sie vor einer Stunde hier ankam, war das Zimmer nicht geheizt gewesen. Kims Blick schweifte zu der Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand neben dem Fenster. Sie zeigte eine Hochzeitsgesellschaft, die sich an einem sonnigen Sommertag vor dem Eingang des Hotels aufgestellt hatte. Die Aufnahme musste vor sehr langer Zeit entstanden sein, der Kleidung nach zu urteilen, vielleicht in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Auf Kim wirkten die Menschen auf dem Foto fröhlich und ausgelassen und wahrscheinlich hatte an diesem Tag niemand von ihnen geahnt, welche Entbehrungen und Schmerzen die kommenden Jahre ihnen noch bringen würden.

In dem Zimmer war kein Laut zu hören. Das Hotel wirkte wie ausgestorben, was es auf eine Art auch war. Der Mann an der Rezeption hatte Kim erzählt, dass außer ihr nur noch ein weiterer Gast im Hotel untergebracht sei. Anfang Januar, hatte der Mann achselzuckend gemeint, sei in dieser Gegend des Schwarzwalds in der Regel noch nicht so viel los. Für den 10. Januar habe sich jedoch eine größere Wandergruppe angekündigt, also habe er sich dazu entschieden, das Hotel durchgehend geöffnet zu lassen.

Kim dachte daran, dass morgen ihr 30. Geburtstag war. Sie hatte ihrer Mutter vor ein paar Tagen am Frühstückstisch gesagt, sie wolle an ihrem Geburtstag in Hamburg sein und den Tag mit Lynn verbringen, nichts Großes, vielleicht zu ihrem Lieblingsasiaten essen gehen, dann noch einen Film. Und, nein, hatte sie auf Nachfrage ihrer Mutter geantwortet, größer feiern wolle sie ihren Geburtstag nicht. Die meisten ihrer Freunde und Freudinnen wären am zweiten Januar sowieso noch nicht wieder von ihren Reisen und Besuchen zurück. Ihre Mutter hatte ihr daraufhin ihre Hand getätschelt und gesagt, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, sich einen festen Freund zu suchen.

„Damit er mich dann irgendwann verlässt, weil ich schwanger geworden bin oder er im Knast landet, weil er Scheiße gebaut hat?“ Es war das erste Mal, dass Kim laut wurde, seit sie an Heiligabend bei ihrer Mutter in Tübingen angekommen war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden sich Mühe gegeben und sich verhältnismäßig gut miteinander verstanden.

„Dein Vater war ein guter Mensch. Du weißt, dass er unschuldig im Gefängnis saß“, hatte die Mutter erwidert.

„Ja, ja“, hatte Kim geantwortet und es dabei belassen.

Seit diesem kurzen lauten Wortwechsel mit ihrer Mutter hatte sie immer wieder daran denken müssen, wie sie vor fünfzehneinhalb Jahren an einem heißen Sommertag mit ihrem Fahrrad zur Ödenburg gefahren war. Eine Ansammlung verfallener Mauerreste im Spitzbergwald, die den Namen „Burg“ schon seit ein paar Jahrhunderten nicht mehr verdienten. Dort hatte sie in einer Anwandlung pubertären Weltschmerzes zwei kleine Steingräber angelegt. Eins für ihren Vater, der sieben Jahre zuvor im Gefängnis gestorben war und an dessen Aussehen sie sich nur erinnerte, weil er ihr aus dem Gefängnis heraus in unregelmäßigen Abständen Fotos geschickt hatte, die sie bis heute aufbewahrte. Das andere Grab für ihre Halbschwester, die von zuhause wegging, als Kim fünf Jahre alt war, und sich seitdem nie wieder gemeldet hatte. Anders als von ihrem Vater hatte Kim allerdings kein inneres Bild mehr von ihrer Halbschwester. Ihre Mutter hatte alle Fotos ihrer ersten Tochter verbrannt, nachdem diese von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden war.

Beide Gräber bestanden jeweils aus einer kleinen Steinplatte mit einem aufgemalten schwarzen Kreuz, auf die Kim „Pablo Martín“ beziehungsweise „Nicole Grün“ geschrieben hatte. Die kleinen Steinplatten hatte sie dann in der Nähe einer mächtigen Buche in den dunklen Waldboden gedrückt. Damals dachte sie für eine kurze Zeit, es wäre gut, einen eigenen, geheimen Ort zu haben, an dem sie der beiden gedenken könne. Doch letztendlich schaute sie dann nur noch ein einziges Mal bei den kleinen Grabsteinplatten vorbei. Gegen Ende des Sommers war ihr die ganze Sache dann mit einem Mal peinlich geworden und sie hatte versucht, nicht mehr an die von ihr angelegten Erinnerungsorte zu denken.

Heute Morgen, kurz nach dem Aufwachen, war das Bild, wie sie als Jugendliche vor den in den Waldboden eingelassenen Grabsteinen stand, wieder klar und deutlich vor ihr aufgetaucht. Sie war daraufhin einem spontanen Impuls gefolgt und zur Ödenburg gefahren. Die Grabsteinplatten hatte sie nicht mehr vorgefunden. Doch das Gefühl der Melancholie, das sie von früher kannte, war wieder dagewesen.

Kim hatte diese gedankliche Reise in ihre Vergangenheit so berührt, dass sie beschloss, sich eine kleine Auszeit zu nehmen. Zwei Tage nur für sich selbst. Zum Ende des vergangenen Jahres hatte sie ihren Job als Anwältin in einer Hamburger Kanzlei gekündigt. Mit der Auswahl einer neuen Kanzlei hatte sie es nicht eilig. Zum ersten Mal in ihrem Leben verfügte sie über ausreichend Zeit, um solche Entscheidungen treffen zu können. Sie genoss es. Sie hatte Lynn angerufen, ihr gesagt, sie komme heute wohl nicht mehr nach Hamburg und war dann weiter Richtung Süden gefahren, bis sie dieses Hotel im tiefsten Schwarzwald gefunden und dort ein Zimmer für zwei Nächte gebucht hatte.

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden und Kim knipste die kleine Nachttischlampe an, die links neben dem Bett an der Wand hing. Sie holte das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ aus ihrer Tasche. Den Autor, Ronen Steinke, kannte sie von einer Lesung, bei der sie vor mehr als einem Jahr gewesen war. Es hatte sie sofort begeistert, dass ein ausgebildeter Jurist verständliche Sachbücher schrieb und sich dabei auch noch so eindeutig politisch positionierte. Sie machte es sich auf dem Bett bequem und begann zu lesen. Doch schon nach einer kurzen Weile überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Kim legte das Lehrbuch zur Seite, schloss die Augen und schlief sofort ein.

Sie war ein Vogel, der weit oben seine Runden drehte und zur gleichen Zeit war sie auch eine Frau, die in wilder Fahrt eine Kutsche lenkte, die von vier schwarzen Pferden gezogen wurde. Eine weite Winterlandschaft spannte sich bis zum Horizont, kahle Bäume reckten ihre dürren Äste – wie zum Gruß erhoben – in den wolkenverhangenen Himmel. Ab und zu tauchte ein verfallenes Gehöft zwischen den Bäumen auf und über die verschneiten Felder liefen Krähen, auf der verzweifelten Suche nach Nahrung. Die Pferde hatten Schaum vor den Nüstern, sie witterten die Angst der Kutscherin, die sie mit ihrer Peitsche weiter antrieb.

Als Vogel beobachtete Kim von weit oben die Kutsche und das Pferdegespann und konnte das Ächzen der Räder hören. Sie richtete ihren Blick in die Ferne und sah eine dichte graue Mauer aus Schnee, die immer schneller auf die Kutsche zukam. Von oben wollte sie der Kutscherin, die sie auch war, zurufen, dass sie die Pferde schneller antreiben solle, dass ihr kaum noch Zeit bliebe, bis der Schneesturm sie eingeholt haben würde. Doch bis auf ein kaum wahrnehmbares Krächzen, brachte sie keinen Laut heraus. Hilflos musste sie mitansehen, wie die dunkle, pulsierende Schneemasse der Kutsche immer näherkam, sie fast erreichte. Als Kutscherin blickte sie hinter sich, Schneeflocken trieben ihr in die Augen und kurz bevor der Schneesturm sie, die Pferde und die Kutsche verschluckte, sah sie nach oben zu dem Vogel, der sie beobachtete und für einen kurzen Augenblick sah sie sich selbst in die Augen, wie in einem Spiegel: Eine Frau auf einer Kutsche, die einen Vogel beobachtete, ein Vogel, der einer Frau auf einer Kutsche zusah, wie sie langsam in einer Schneewolke verschwand. Aus dem Krächzen wurde ein Schrei, zu spät.

Kim schreckte hoch, draußen war immer noch finsterste Nacht. Die Handyuhr zeigte kurz nach halb zwei, ihr Geburtstag hatte mit einem Albtraum angefangen.

Ein Stockwerk weiter oben versuchte der zweite Gast des Hotels vergeblich in den Schlaf zu finden. Seine Gedanken schwirrten in ihm herum wie lästige Fliegen. Max hatte die Tage von Heiligabend bis zum ersten Januar in Österreich verbracht und war dann auf dem Weg nach Freiburg in diesem Hotel abgestiegen. Maria und Bruce waren nicht begeistert gewesen, als er ihnen vor mehreren Wochen erzählt hatte, er wolle vor ihrem Auftrag Ski fahren gehen. Ihren Ärger ließ er jedoch an sich abprallen und setzte seine Reisepläne unbeirrt fort. Für ihn war die Zusammenarbeit mit den beiden sowieso Geschichte. Maria und Bruce wussten nur noch nicht, dass das ihr letztes Wiedersehen sein würde. Sie wussten so vieles nicht. Max fühlte zum tausendsten Mal nach, ob er einen Hauch von Schuld empfand. Aber da war nichts, keine Scham, kein Bedauern, keine Schuldgefühle. Hatte er sich in den letzten Jahren verändert oder war er auf eine Art schon immer so gewesen, so skrupellos? Das Wort gefiel ihm nicht, aber er hatte es gedacht und nun war es in der Welt, in seiner nachtdunklen, schlaflosen Welt und konnte nicht mehr nicht gedacht werden.

Er stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. Zögerlich floss die kalte Nachtluft ins Zimmer, umspielte erst seine Füße und Beine und breitete sich dann im ganzen Zimmer aus. Die Kälte tat ihm gut und er blieb so lange am offenen Fenster stehen, bis er anfing zu zittern. Dann schloss er das Fenster und legte sich wieder ins Bett. Seine Unruhe hatte sich etwas gelegt und ein paar Minuten später fiel er in einen leichten Schlaf. Nur drei Stunden später riss ihn ein Klingeln unsanft aus einem traumlosen Schlaf. Sein Telefon meldete den Eingang einer Nachricht. Irgendjemand hatte versucht ihn anzurufen, doch die Telefonverbindung in seinem Zimmer war anscheinend so schlecht, dass der Anruf nicht durchging und deshalb etwas später auf seinem Handy eine SMS erschien: O2 Mailbox: +4793467143 hat Sie am 02/01/23 um 06:03 versucht anzurufen. Müde quälte sich Max aus dem Bett, zog sich an, verließ sein Zimmer und ging in die noch dunkle Eingangshalle. Hier unten hatte er wieder Empfang. Max drückte auf die norwegische Telefonnummer und warte auf das Freizeichen.

„Hi, Max.“ Die Stimme am anderen Ende klang dunkel und energiegeladen. „I just wanted to make sure everything is fine and running as agreed.“

Max versuchte sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Natürlich lief alles nach Plan. Bei jeder Planänderung hätte er sich gemeldet. „Everything is fine“, antwortet Max und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „There is no reason to worry. You can be sure, that the assassination will take place as planned. See you in Oslo.“ Max beendete das Gespräch. Wie er zwanghafte Menschen verabscheute! Unschlüssig blieb er in der Empfangshalle stehen. Eigentlich war es viel zu früh, um jetzt schon nach Freiburg aufzubrechen. Andererseits war er wach und die Vorstellung, im Hotel darauf zu warten, irgendwann einen mittelmäßigen Kaffee serviert zu bekommen, war alles andere als attraktiv. Max entschied sich zu fahren und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Er hatte die ersten fünf Treppenstufen bereits genommen, als er hinter sich für einen kurzen Moment ein leises Geräusch wahrnahm, so, als ob jemand beim Aufstehen den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ein kleines Stück nach hinten geschoben hätte. Max drehte sich um, lief die Treppe hinunter und erreichte kurz darauf wieder die Eingangshalle. Hinter der Rezeption stand der Hotelbesitzer, bleich und sprachlos. Erschrocken blickte er zu Max.

Für einen kurzen Moment fragte sich Max, wo dieser Mann so plötzlich hergekommen war, aber dann nahm er die Tatsache, dass der Hotelbesitzer in der Empfangshalle stand, einfach hin und widmete sich den viel drängenderen Fragen. War der Hotelbesitzer schon hinter der Rezeption gewesen, als er telefoniert hatte? Und wenn ja, verstand er Englisch? Hatte er gehört, dass Max von einem bevorstehenden Attentat gesprochen hatte? Noch während ihm diese Fragen durch den Kopf gingen, wusste er, dass die Antworten letztendlich belanglos waren. Er konnte kein Risiko eingehen. Sekunden verstrichen. Noch immer schauten sich die beiden Männer an, ohne ein Wort zu sagen. Max fühlte den leichten Druck der Pistole, die er immer in der Innentasche seiner Jacke bei sich trug, an der rechten Seite seines Oberkörpers. Am besten, er brachte es schnell hinter sich. In einer fließenden, oft einstudierten Bewegung zog Max die Pistole aus der Jackentasche, richtete sie auf den Hotelbesitzer und schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Der Mann kippte nach hinten und war so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder verschwunden. Max lief zur Rezeption und warf einen Blick auf den nun toten Hotelbesitzer, dessen Oberkörper schräg auf einer Schlafliege ruhte, die Beine auf dem mit Teppich ausgelegten Boden ausgestreckt. Der Anblick erinnerte Max an das Gemälde „Der Selbstmörder“ von Manet, nur dass es sich bei dem Toten im Hotel nicht um einen Selbstmörder handelte, der sich in die Brust geschossen hatte, sondern um einen Mann mit einem Einschussloch in der Stirn, der aller Voraussicht nach gerne weitergelebt hätte. Während Max auf den Toten schaute, meldete sich eine vertraute Stimme in seinem Kopf, die ihn fragte, ob er angesichts seines Handelns Schuld empfände. Diese Gewissensfragen waren ihm mittlerweile zur zweiten Natur geworden. Er musste damit aufhören. Er wendete sich von dem Toten ab, durchquerte die Empfangshalle, öffnete die Eingangstür und ging ein paar Schritte in Richtung Parkplatz. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, doch die Stimme in ihm gab keine Ruhe. „Und was machst du jetzt?“, fragte sie ihn gerade. „Du weißt, dass in dem Hotel noch eine junge Frau schläft. Du hast gesehen, wie sie gestern mit ihrem VW Polo angekommen ist. Was, wenn sie sich auch dein Auto näher angesehen hat, sich vielleicht das Nummernschild gemerkt hat? Es gibt solche Leute.“ Max wusste, was er tun würde. Er wollte sich nur noch ein kleines bisschen Zeit lassen, erstmal auf sein Zimmer gehen und alles für die Abfahrt vorbereiten. Eine Übersprungshandlung, na und, die gönnte er sich jetzt.

Als Kim das zweite Mal erwachte, war es kurz nach halb sieben. Ziemlich gerädert stand sie auf, zog sich an und ging ins Bad. Dort warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Unterhalb ihrer blaugrauen Augen hatten sich feine Falten gebildet, die, wie sie wusste, im Laufe des Tages wieder verschwinden würden. Es gab Tage, da mochte sie ihr kantiges Gesicht, das von langen, dunkelbraunen Haaren eingerahmt wurde, den schmalen Mund und die Sommersprossen, die ihre Wangen sprenkelten und sie empfand sich auf eine besondere Art schön. An anderen Tagen fiel es ihr schwer, das Gesicht, das ihr im Spiegel entgegenblickte, mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Dann war es, als ob eine Fremde sie skeptisch musterte und sich fragte, wer zum Teufel da vor ihr stand. Heute kündigten ihre Augen einen leichten Anflug von Abwesenheit an, doch im Großen und Ganzen wusste sie gerade, wen sie vor sich hatte. Sie spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte den Albtraum abzuschütteln, der sich noch schemenhaft am Rande ihres Bewusstseins abzeichnete. Sie setzte sich aufs Klo, pinkelte, blieb dort sitzen, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Sie ging nach unten, um nachzuschauen, ob es schon Frühstück gäbe.

In der Empfangshalle angekommen, sah sie, dass die Tür zum Frühstückraum noch verschlossen war. Ihr Blick fiel auf die große Standuhr links neben der Rezeption. Bestimmt zeigte sie schon seit Jahrzehnten zuverlässig die Zeit an. Es war fünf vor sieben. Kim fröstelte. Hier unten war es deutlich kälter als oben. Die Tür nach draußen stand leicht offen. Und noch etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein leicht metallischer Geruch lag in der Luft. Kim sah sich in der Empfangshalle um. Am Boden, direkt neben der Rezeption, schaute eine Schuhspitze hervor. Wieder fröstelte sie. In dem Moment, in dem sie den Schuh sah, wusste Kim, was sie hinter der Rezeption erwartete. Wie betäubt näherte sie sich der Rezeption. Dahinter erblickte sie den Mann, der sie gestern noch in Empfang genommen hatte. Er lag mit dem Oberkörper auf einem Klappbett, die Augen weit geöffnet, den Kopf leicht zur Seite gebeugt und von einem Loch genau in der Mitte der Stirn zog sich eine feine Blutspur bis zu seinem Mund. Das zerknitterte Hemd glänzte in makellosem Weiß.

Bilder stürmten auf Kim ein. Sie stellte sich vor, wie der Mann vor seinem Mörder gestanden, wie er irgendwann verstanden haben musste, dass die Person vor ihm das Letzte sein würde, was er sah. Wie sich die Augen des Mannes vor Schreck geweitet hatten, wie die Kugel dann in seinen Kopf eindrang, wie er fiel und ihn dann ein traumloser Schlaf überkam, der sich bis in alle Ewigkeit hinziehen und noch anhalten wird, auch wenn der Mann schon längst unter der Erde liegt und sich niemand mehr an ihn erinnert. Die warmen dunklen Schläge der Standuhr holten sie wieder zurück in die Empfangshalle. Sie nahm die Kälte wahr, den metallischen Geruch, die Standuhr, deren Zeiger mittlerweile sieben Uhr anzeigten sowie einen beständigen Luftzug, der durch die offene Tür hineinströmte und die Seiten einer auf dem Boden liegenden Zeitung hin und her warf, als ob eine unsichtbare Leserin durch die Zeitung blätterte.

Kim spürte mit einem Mal, wie hungrig sie war und für einen kurzen absurden Moment dachte sie daran, in die Küche zu gehen und nach etwas Essbarem zu suchen. Ein Geräusch ließ sie innehalten, kam näher. Unsicher schaute sich Kim um, bis sie begriff, was dieses Geräusch bedeutete. Irgendjemand kam die Treppe herunter. Kim schätzte die Entfernung bis zur Eingangstür ab. Vielleicht zehn, zwölf Schritte. Machbar. Allerdings, wenn sie zur Eingangstür lief, geriet sie möglicherweise ins Sichtfeld der Person, die gerade die Treppe herunterkam, je nachdem, wie weit diese Person schon die Treppe heruntergelaufen war. Kim verwarf den Gedanken, durch die Eingangstür zu flüchten. Sie brauchte eine andere Option und zwar schnell. Ihr blieben maximal fünfzehn Sekunden. Panisch schaute sie sich um. Der Frühstücksraum? Aber, wenn der Frühstücksraum nicht nur ver- sondern auch abgeschlossen war? Zum Nachdenken blieb keine Zeit mehr. Die Schritte kamen näher, das dumpfe Auftreten fester Schuhe war jetzt ganz deutlich zu hören. Ihr blieben definitiv weniger als ein paar Sekunden. Sie traute sich nicht zu rennen, aus Angst, die quietschenden Sohlen ihrer Schuhe könnten sie verraten. Vorsichtig begab sie sich auf die Knie und krabbelte so schnell sie konnte zum Frühstücksraum. Sie richtete sich auf, umfasste die Türklinke. Gleich würde die Person, wer immer das auch war, in der Empfangshalle stehen und sie unweigerlich sehen. Sie drückte die Türklinke nach unten. Die Tür zum Frühstücksraum öffnete sich. Kim schlüpfte hinein und ließ sich lautlos auf den Boden fallen. So war sie von der Empfangshalle aus nicht zu sehen. Vorsichtig schob sie die Tür zu, traute sich jedoch nicht, sie ganz zu schließen. Sie wusste nicht, ob das Einrasten des Türschlosses einen Laut von sich geben würde. Die Person musste jetzt in der Empfangshalle angekommen sein. Kim versuchte, irgendwas zu hören, wollte wissen, was in der Empfangshalle vor sich ging, wollte einschätzen können, ob sie hinter der Tür versteckt bleiben konnte oder ob sie weiter in den Frühstücksraum kriechen und ein Versteck suchen sollte. Doch das Einzige, was sie hören konnte, war das Rauschen ihres Blutes in den Ohren. Sie schaute sich um. Der Raum war in fahles Licht getaucht, mehrere Tische und Stühle waren in geraden Linien aufgereiht. Auf zwei Tischen standen jeweils eine Kaffeetasse und ein Teller. In der rechten hinteren Ecke des Raumes brannte eine Stehlampe. Jemand musste vergessen haben, sie auszuschalten oder war schon sehr früh hier gewesen und hatte sie angeschaltet. Vielleicht der Hotelbesitzer, dachte Kim. Neben der Angst kroch jetzt auch zunehmend die Kälte in ihren Körper. Der Steinfußboden, auf dem sie kniete, strahlte eine abweisende Kühle aus. Noch immer konnte sie nichts anderes hören als das Blut, das in ihren Ohren Achterbahn fuhr. Was ging nur draußen in der Empfangshalle vor? Sie musste von dieser Tür weg, konnte nicht darauf warten, dass die Person da draußen auf die Idee kam, in den Frühstücksraum zu kommen aus welchem Grund auch immer - und ihr die Tür vor den Kopf stieß und... Kim wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Sie schlich ein paar Meter weiter zur Wand, richtete sich auf und tastete sich rückwärts an der Wand entlang, die Tür immer im Blick. Ein lautes Klirren ließ sie beinahe laut aufschreien. Eine leere Flasche, die jemand unbedacht an der Wand abgestellt hatte, kippte um und kam mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf. Mit aufgerissenem Mund starrte Kim auf die Flasche, die anfing, sich um sich selbst zu drehen, um dann ganz langsam in die Mitte des Frühstücksraums zu kullern.

Zurück in seinem Hotelzimmer gönnte Max sich eine kurze Pause. Die hatte er sich verdient. Dann hatte er die wenigen im Zimmer herumliegenden Sachen in seinen Koffer gepackt, war die Treppe hinuntergelaufen und stand nun in der Empfangshalle Die kurze Auszeit hatte ihm gutgetan. Natürlich wusste er, was er tun musste. Er befand sich seit langem auf einer abschüssigen Bahn, wie sollte er da jetzt anhalten können? Aber bald war das alles vorbei. Schon in zwei Tagen würde er in Oslo sein und da erwartete ihn ein neues Leben. Was spielte da ein Mord mehr oder weniger noch für eine Rolle? Er würde die Frau hier unten erschießen, das wäre weniger intim, als sie in ihrem Zimmer zu töten. Während des Wartens würde er sich in der Küche einen Kaffee machen und mit zwei oder drei Tassen Kaffee seine Müdigkeit vertreiben.

Max ging zu dem toten Hotelbesitzer, durchsuchte Hosen- und Jackentaschen, bis er den Generalschlüssel fand. Dann passierten zwei Dinge kurz aufeinander. Zuerst hörte Max einen dumpfen Schlag, der aus dem Frühstücksraum kommen musste. Kurz danach läutete das Hoteltelefon, ein hoher durchdringender Klingelton, der kein Ende nehmen wollte. Max schmunzelte. Da war wohl noch jemand auf die Idee gekommen, Kaffee zu machen. Na gut, erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Max drehte den Kopf in Richtung des Frühstücksraums und setzte sich leise in Bewegung.

Kim starrte der Flasche nach, sah, wie die ursprüngliche Bewegungsenergie, die sie der Flasche mit dem Stoß ihres Fußes mitgegeben hatte, langsam durch die Reibung und den Widerstand des Bodens an Schwung verlor. Die Flasche trudelte aus. Für einen kurzen Moment setzte Kims Atmung aus, dann schaltete ihr Körper schlagartig auf Überlebensmodus und überschwemmte ihren Blutkreislauf mit Adrenalin. Sie nahm einen leichten Essensgeruch wahr. Es roch nach Rinderbraten und Rotkraut. Die feinen Unebenheiten der Wand drückten gegen ihren Rücken, ein bitterer Geschmack legte sich über ihre Zunge, vielleicht die Folge des Adrenalinstoßes. Der hohe Klingelton des Telefons aus der Empfangshalle, der im Sekundentakt verebbte und wieder anschwoll, drang in ihre Ohren. Das fahle durch das Fenster hereinfallende Morgenlicht blendete ihre Augen. Draußen wurden die Bäume durcheinandergeschüttelt. Ein Sturm, typisch für diese Jahreszeit. Das Adrenalin, mittlerweile in jeden Bereich von Kims Körper eingesickert, verbreitete Unruhe und trieb Kim zum Handeln. Sie ergriff einen Stuhl, stürmte zum Fenster, das bis zum Boden reichte, und schleuderte den Stuhl dagegen. Glas splitterte. Kim sprang, spürte, wie scharfkantige Glassplitter in ihre Arme und Beine drangen, fiel, prallte auf den Boden, rappelte sich hoch, stand wieder auf und rannte los. Der starke Wind trieb sie vorwärts, fuhr in ihre Ohren. Ohne sich umzusehen, lief sie weiter, immer tiefer in den Wald hinein.

2

FRANKFURT

K