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In der Sammlung 'Gesammelte Erzählungen von Klabund' werden die facettenreichen Erzählungen des expressionistischen Schriftstellers Alfred Henschke, bekannt unter dem Pseudonym Klabund, präsentiert. Diese Anthologie veranschaulicht die beeindruckende Bandbreite seines literarischen Schaffens, das von lyrischer Poesie bis zu scharfsinnigen Kurzgeschichten reicht. Der Leser wird durch die verschiedenen literarischen Phasen Klabunds geführt, wobei jede Erzählung tiefe Einblicke in die sozialen und kulturellen Umwälzungen seiner Zeit bietet. Die Werke spiegeln einen kritischen Geist wider, der sich mit kühnem Stil gegen die politischen und sozialen Normen seiner Epoche stellt. Klabund war eine zentrale Figur der literarischen Expressionismusbewegung in Deutschland, die Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Sein persönliches Leid und seine gesellschaftskritischen Ansichten pulsieren durch seine Texte, die eine fesselnde Palette an emotionalen und intellektuellen Herausforderungen darstellen. In seiner Gesamtheit bietet die Sammlung eine tiefgründige Betrachtung menschlicher Existenz und ethischer Dilemmata, verpackt in einer einzigartig expressiven Sprache, die den Leser sowohl herausfordert als auch bereichert. Die 'Gesammelten Erzählungen von Klabund' sind ein unverzichtbares Werk für jeden Liebhaber deutscher Literatur und eine hervorragende Möglichkeit, sich mit der Vielfalt und den Nuancen des literarischen Expressionismus auseinanderzusetzen. Dieser Band fordert nicht nur zum Nachdenken an, sondern eröffnet auch neue Perspektiven auf die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Gesellschaft. Er ist eine Einladung an alle, die tiefgründige Texte schätzen und durch die Lektüre eine intensivere Verbindung zur deutschen Literaturgeschichte suchen.
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Als ich vorhin in einer Redaktion war, fielen mir unverhofft ein paar Mark in die Hand. Ich kaufte mir davon einen Reisekoffer, denn ich will nächsten Mittwoch nach Berlin fahren. Danach ging ich ins Café Fahrig zum Nachmittagskonzert.
Gerade setze ich mich nieder, als eine rauschende, enervierende, tropische Musik über mich hereinbricht. Und Echo klingt von selber in mir auf. Ich balle die Faust und lasse sie wie Paukenschlag auf die Marmorplatte klirren. Was für eine Musik! Bin ich nicht einmal unter ihren Fahnen marschiert? Im Rhythmus einer irren Besessenheit? O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter!
Ich sehe im Programm nach: ... Volkshymnen ... 878 ... Uruguay ...
Libertad! Libertad orientales!
*
Als ich mit 17 Jahren das Abiturium bestanden hatte, lud mich mein Vetter, der Schiffsarzt, ein, ihn auf einem Postdampfer nach Südamerika zu begleiten.
Von Hamburg bis nach Madeira lag ich bespien und verdreckt in der Kajüte und flehte den grinsenden Steward an, mich mit seinem Tranchiermesser zu durchbohren.
Auch Madeira ist mir nur mehr in Erinnerung als ein Berg, der wie eine Zuckertüte aus den Wellen sah.
Dann legte sich der Sturm, meine Übelkeiten schwanden langsam, und ich durfte besonnt und beglückt meine Augen dem Ozean entgegenbreiten.
Ich war drei Tage glücklich.
Am vierten schon begannen mich Himmel, Meer und Sonne (und die überreichliche Schiffskost) zu langweilen. Frauen führten wir nicht an Bord.
Ich war froh, als Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, uns hügelig entgegenschwamm: ein klein wenig der Anblick von Zürich, wenn man von Chur her am Züricher See entlang streicht.
*
Ich ging mit meinem Vetter an Land. Der Zufall wollte, daß wir uns verloren. Ich war darüber nicht betrübt. Im Gegenteil: frei war ich, ganz von mir selbst aus wollte ich Montevideo »entdecken«; den Weg nach dem Schiff würde ich schon zurückfinden.
Ich fühlte nach meinem Geldbeutel, nach meinem Revolver und ließ mich durch die glitzernden Straßen treiben, die, zum Teil nur chaussiert, regenbogenfarbenen Staub aufwirbelten.
In irgendeiner Bank ließ ich wechseln. Daß ich nur ein Dutzend Brocken Spanisch sprach, bekümmerte mich nicht weiter. Bei einem Café im Angesicht der großen Kathedrale hielt ich zuerst an und schlürfte ein sorbetähnliches erfrischendes Eisgetränk.
Verliebt wie ich war, erwachte mir der Abend wie eine junge Frau, die ihre dunklen weichen Arme um mich warf; die mich (das Bild wurde ich nicht los) mit ihren Armen wie mit Schiffstauen an sich kettete.
Nunmehr von der A.E.G., Berlin, finanzierte Straßenbahnen flogen wie Libellen durch das Gestrüpp der Stadt.
Ich bestieg eine und war wie in einem Aeroplan.
Plötzlich fiel ich wieder auf die Erde hinab und klatschte geradeswegs in eine Singspielhalle.
Ein blondes, grünbehängtes, amerikanisches Girl tanzte mit einem wolligen Nigger etwas Ähnliches, wie das, was man heute Tango nennt. Kreolen, dicht geballt, belachten und beschrien die wirksame Rassenmischung. Dann trat eine Art Ureinwohner auf, ein verkommener Winnetou, ein Stück bemalter Kot, mit Schild und vergiftetem Speer bewaffnet, und plärrte Kriegslieder.
Er hatte gerade geendet, als rasendes Geheul und Geräusch wie von fernen Schüssen uns auf die Straße warf.
Alles lief durcheinander, lachend, weinend, brüllend, pfeifend. Niemand schien recht zu wissen wohin und wie und warum.
Ist das ein Volksfest? Oder irgendeine Vorstadthochzeit? Polterabend oder so was? dachte ich.
Vor unserem Tingeltangel standen schon zehn Straßenbahnen, denen der Weg versperrt war, mißmutig wie blau angestrichene Elefanten zu einer Herde getrieben.
Gerade wollte ich einen der sinnlosen Schreier und Läufer nach Ziel und Ursache dieser Volksbewegung fragen, da quoll Musik aus dem Trichter der langen Straße herauf. Wie Ameisen, auf die der Ameisenlöwe lauert, fielen wir alle in diesen Trichter. Musik verschlang uns löwenhaft. Auf einmal marschierte ich in Kolonne, in Schritt und Rhythmus der Musik, den Revolver gezogen. Im Rhythmus einer irren Besessenheit. O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter! Meine Hände zitterten wie die Pranken eines jungen Leoparden, der zum erstenmal auf Raub schleicht. Englischer Gesang umdonnerte mich, und ich sang, entflammt, entkettet, jene Worte, die, trotz mangelhafter spanischer Kenntnisse, auch ich verstand:
Libertad! Libertad orientales!
Freiheit! Freiheit den östlichen Leuten!
Freiheit des Ostens! Freiheit von Osten!
*
Meine Beteiligung an der Revolution in Montevideo ist mir gut bekommen; ich befand mich zufällig bei der Partei, die siegte. Es ging noch glimpflich ab: am anderen Morgen lagen auf dem Platz vor der Kathedrale einige zwanzig Leichen wie Pfeffer und Salz versprenkelt.
Die Kinder gingen zur Schule und stießen mit den Beinen nach den Leichen.
Für heute hatten die Roten (oder die Weißen? – in Uruguay benennen sich die politischen Parteien wie in England nach Farben –) gesiegt.
Fiebernd vor Erregung, Anstrengung und Schlaflosigkeit taumelte ich auf das Schiff zurück.
Mein Vetter fieberte ebenfalls: vor Angst, ich wäre zertreten oder zerschossen worden.
In Wiedersehensfreude schmiß er eine Flasche billigen Bowlensekt. Wir hoben unsere Gläser und stießen klingend an.
»Worauf trinken wir?« sagte mein Vetter, »auf deine Gesundheit! Prost!«
»Waschlappen,« sagte ich und meine Blicke brannten, »Gesundheit! Trinken wir auf die Freiheit! Die Freiheit des Ostens! Libertad! Libertad orientales!«
*
Und wenn wieder einmal Musik ertönt ... Volkshymnen ... 878 ... Libertad! Libertad orientales! Freiheit! Geist des Morgenrotes! ... dann will ich wieder in Reihe und Rhythmus der Kämpfer schreiten, entflammt und entkettet, ein Krieger des Geistes – und gebe Gott, daß ich wiederum bei der Partei fechte, der der Sieg von den Fahnen weht ...
Libertad!
Inhaltsverzeichnis
Er saß ganz oben an der Tafel, neben dem Sekretär der Kurverwaltung. Sein rundes, rosiges, glattes Gesicht, große blaue Kinderaugen, ein kahl geschorener, blonder Schädel und die kurzen, schwarzweißkarrierten englischen Pumphosen ließen ihn beim ersten Anblick als einen Gymnasiasten von höchstens 18 Jahren erscheinen. Als ich die Unvorsichtigkeit beging, ihn an der Tafel zu fragen, wann er sich dem Abiturium zu unterziehen gedenke, begegneten seine Blicke den meinen mit einem liebenswürdig überlegenen Spott, und er stellte sich als Referendar Dr. jur. S. vor, nicht ohne seine Titel als Lächerlichkeiten mokant zu betonen. Er war sehr schwer krank, obgleich er niemals hustete und ein blühendes Aussehen zur Schau tragen mußte. Er saß an der Tafel zwischen fünf jungen Damen und wurde von ihnen zärtlich verwöhnt und (vielleicht) geliebt. Da er Süßspeise sehr gern aß, stellten ihm die Damen reihum ihren Anteil daran zur Verfügung, und er quittierte über ihre Freundlichkeit mit einem stets neuen und stets anmutigen Scherzwort, nahm sie aber im übrigen als selbstverständlich und berechtigt entgegen.
Er spielte schlecht Klavier (und wußte es). Dennoch mußte er sich jeden Abend nach dem Souper ans Klavier setzen und »In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht« spielen – eine Melodie, die er selbst als niederträchtig blödsinnig empfand, mußte spielen, nur damit die jungen Mädchen seine schlanken, schönen, spielerischen Hände in der Bewegung beobachten und verehren und in Gedanken streicheln durften. Dies aber wurde mir bald klar: wie er Klavier spielte, spielte er sich selbst: als eine Operettenmelodie. Aber er spielte sie schlecht. Man hörte deutlich Schmerz und Seele hinter den Mißtönen klingen, merkte die Absicht und wurde nicht verstimmt. Im Gegenteil: man fühlte sich in Moll berührt, angeklungen, beinahe gemartert von dem Schauspiel des kranken Menschen, der man selbst war. Der Referendar machte schon fünf Jahre hintereinander Kur, in allen berühmten Höhenorten für Lungenkranke. Tag für Tag acht Stunden liegen, bei gutem Wetter auf der Veranda, bei schlechtem im Zimmer. Spazierengehen war ihm täglich eine halbe Stunde erlaubt. Wenn er die halbe Stunde überschritt, bekam er Atemnot, Temperaturen und kroch auf eine Woche ins Bett.
Ich fragte ihn einmal, ob ich ihm Bücher borgen solle? Er schüttelte dankend den Kopf. Sie langweilten ihn. Er lese nicht einmal mehr die Zeitung. Er sehe den Himmel, er sehe die Wolken, die Berge, die Sterne, und zuweilen ins eigene Herz. Mehr brauche, wolle – und könne er nicht mehr »tun«. Wie er das aussprach, setzte er es ironisch in Anführungszeichen.
Drei Damen waren seine besonderen Trabanten: eine junge Schweizer Lehrerin aus Zürich, eine kleine Bajuvarin aus Kempten im Allgäu, und eine Italienerin. Die Italienerin (»Die Königin der Berge« nannte sie einst Herr K., Xylograph aus Braunschweig), galt als seine Geliebte, denn sie benutzte seinen Privatbalkon mit. Die drei spielten abends mit ihm Bridge (wobei er merkwürdigerweise immer gewann, obgleich doch die Parteien wechselten), kochten ihm auf einem Spirituskocher – was doch eigentlich in der Pension verboten war – seine Milch, (er trank Kindermilch), nähten ihm Knöpfe an, wuschen ihm die Kissen vom Liegestuhl mit Salmiak. Als ihn neulich ein kleines Geschwür am Hinterkopf plagte, mußte er sich in die sachverständige Behandlung der kleinen Schweizer Lehrerin begeben, die einen Samariterkursus durchgemacht hatte.
Manchmal saßen sie zu dreien an seinem Bett, und er erzählte ihnen merkwürdige Geschichten, die er selbst erlebt haben wollte, sehr lustige Geschichten in einem traurigen Tonfall, worüber sie sehr lachten. Il Santo Bubi nannten die drei ihn unter sich. Bubi hatte ihn das bayerische Mädel getauft. Il Santo, der Heilige, setzte die Italienerin dazu, denn, sagte sie: er ist gewiß ein Heiliger. Er tut, denkt, spricht nie etwas Schlechtes. Und hat es nie getan. Nur ist er krank. Aber alle Heiligen sind krank.
Kürzlich, bei der Untersuchung, verkündete ihm der Arzt, er könne vorläufig nicht mehr hier oben bleiben. Er müsse ins Tiefland hinab. Möglichst bald. Nach Heidelberg in die Klinik. Zu einer kleinen, ganz unbedeutenden, ganz ungefährlichen Operation. – Wir wissen alle hier, was es heißt, wenn einer der Unsern (wir sind ein Volk, wir Kranken) mit dieser Beschwichtigung in die Ebene zurückgesandt wird. Die Operation ist das letzte Mittel. Und hilft in einem von hundert Fällen. Manchmal schickt man die Leute auch nur hinunter, damit sie hier oben nicht sterben. Wegen der Statistik ...
Der Referendar weiß das alles. Während seine drei Trabanten weinen, lächelt er. Er hat eine Extrapost bestellt, die drei werden ihn begleiten.
Ich sprach mit ihm über sein Schicksal, ruhig, sachlich, wie man über Geschäfte spricht. Die Krankheit ist schließlich ein Geschäft.
»Ich werde nicht sterben,« seufzte er, und sein junges Gesicht verwandelte sich in das eines Greises, »ich kann nicht sterben, glauben Sie mir ...«
*
Am nächsten Tage fand ich zwei Gedichte von seiner Hand auf meinem Platz am Frühstückstisch liegen. Mit einem kurzen Abschiedsgruß. Er war früh um sechs mit der Italienerin davongefahren.
Das erste Gedicht, bissig, von verzweifelter, verzweifelnder Komik, lautet:
Sie müssen ruhn und ruhn und wieder ruhn.
Teils auf den patentierten Liegestühlen
Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,
Teils haben sie im Bette Kur zu tun.
Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch
Und schlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.
Auf einmal klingt ein Frauenlachen, qualreich,
Wie eine Aeolsharfe zauberlich.
Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet
– Er ist am nächsten Tage nicht mehr da–
Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet.
Ein andrer macht sich dick und rund und rot.
Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!
Er ward gesund! ( ...und ward ein Halbidiot.)
Über dem zweiten Gedicht steht die Überschrift:
Ahasver.
Ewig bist du Meer und rinnst ins Meer,
Quelle, Wolke, Regen – Ahasver.
Tor, wer um enteilte Stunden träumt,
Weise, wer die Jahre weit versäumt.
Trage so die ewige Last der Erde
Und den Dornenkranz mit Frohgebärde.
Schlägst du deine Welt und dich zusammen,
Aus den Trümmern brechen neue Flammen.
Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt ...
Weh, Sterblicher, daß du unsterblich bist!
*
Il Santo Bubi ist bei der Operation gestorben. Oder ist er nicht gestorben, der kranke Ahasver, der ahasverische Kranke? Lebt er noch? In Heidelberg? Oder sonst wo? Bin ich es vielleicht? Liegt er immer noch acht Stunden am Tag, und geht eine halbe Stunde spazieren, gestützt von seinen Trabanten, daß er beim Glatteis mit seinen schwachen Beinknochen nicht fällt?
Was bedeutet das: tot sein? Il Santo Bubi war gewiß kein richtiger Dichter. Aber wie schön ist jene Zeile »Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt« ... Damit man sich vergißt ...
Inhaltsverzeichnis
Spitze Gipfel traten wie beschneite Tannen aus den Wolken, als der Zweispänner in Chur, wie ferner Donner dunkel von den Bergen niederrollend, einfuhr. Ein frischer Luftstoß fuhr durch die Tür, die sich im Nebel aufgetan hatte, und der blaue Himmel wehte uns wie die Tapete in gewissen Berliner Salons an: ein wenig eisig, ein wenig zimperlich. Ein wenig unmodern.
»Es zieht«, sagte Annette.
Der Kutscher knallte. Ein paar Kinder spielten Kreisel. Ein Dienstmädchen ging einholen: ein gelber Korb von kühn geschweiften Formen umrankte ihren rechten, nackten Arm, eine saubere Schürze war vor das blaukarrierte Kleid gebunden.
»Sie dient gewiß bei einem Architekten. Er hat ihr den Korb entworfen.«
»Architekten entwerfen keine Körbe. Sie bauen Häuser,« sagte Annette.
Ein Hund, scheinbar zu dem Mädchen gehörig, schnob bellend wie ein kleiner Wind um unsere Pferde.
Annette fröstelte.
»Wir sind erst sechs Stunden von Arosa fort. Glaubst Du das?«
Nein, ich glaubte es ganz gewiß nicht.
»Wie die Anemonen aus dem Schnee emporblühten? Erinnerst Du Dich? Direkt aus dem Schnee!«
Ich erinnerte mich.
»Die Frühlingssonne brachte sie auf der schneegedüngten Erde so schnell zum Blühen, daß man sie förmlich mit den Augen emporschießen sah. Als griffe eine heiße Hand vom Himmel und zerre sie aus der Erde. Glaubst Du nicht, daß die Blumen für die Sonne da sind?«
Nein, das glaubte ich nicht. Ich hatte mich über das Bild von der schneegedüngten Erde beunruhigt, fand es nicht sehr poetisch, aber bei Annette, der Tochter eines Rittergutsbesitzers, begreiflich und entschuldbar.
Ich saß, blaß und zurückhaltend, in den Polstern.
Plötzlich mußte ich lachen.
Ein Radfahrer in zigeunerhafter Bluse kreuzte unsern Weg. Sein Rad schwankte und es sah aus, als führe er nicht auf der Straße, sondern auf einem Seile zur Belustigung eines festlich erregten Publikums Korso.
Annette rückte sich im Sitz zurecht.
Sie hört es nicht gern, wenn ich laut lache. Sie denkt immer, ich mache mich über sie lustig.
»Was hast Du?«
Ich zeigte ihr den Radfahrer.
»Ist ein Radfahrer etwas Besonderes? Oder etwas besonders Lustiges?«
»Aber wir haben seit neun Monaten keinen gesehen!«
»Ein Radfahrer ist nie lächerlich. Auch wenn man ihn neun Monate nicht gesehen hat. Du bist ein Kind.«
Sie tastete unter der Pelzdecke nach meinen Händen. Meine Hände staken, mit Glyzerin eingerieben, in großen wollenen Fausthandschuhen.
»Übrigens: was rede ich: neun Monate ... und: Du bist ein Kind! Neun Monate waren wir in Arosa. Wenn Du doch ein Kind wärst! In neun Monaten kann man doch ein Kind bekommen? Warum habe ich keins bekommen?«
*
Als wir im Zuge Chur-Zürich im Kupee saßen, sagte Annette:
»Warum bist Du krank?«
Sie sagte es sehr ruhig und unbekümmert. Man kann ihr nicht böse sein. Obgleich sie in neun Monaten immerhin Zeit genug gehabt hätte, mich zu fragen, warum ich krank sei.
*
Wir machten in Weesen am Wallensee Station, nach Anordnung des Sanitätsrats Dr. Römisch, eines kleinen rötlichen Herrn aus Sachsen, der eine lesenswerte Broschüre »Der Einfluß des Hochgebirges auf den Intellekt« geschrieben hat.
Das Schloßhotel Mariahalden in Weesen ist ein erstklassiges Hotel und liegt auf einer steinernen Terrasse etwa 30 Meter über dem See. Es wird sehr viel von Engländern frequentiert und macht einen langweiligen Eindruck. Einige hölzerne Gestalten, bei deren bloßem Anblick einem schon das Gähnen kam, lagen bei unserer Ankunft wie Kroquethämmer im Garten zerstreut; bei näherem Zusehen sah man sie in Hängematten liegen.
Das Abendessen war das übliche Abendessen der erstklassigen Hotels: Suppe, Scholle mit Remouladensauce, Rostbeef mit verschiedenem Gemüse und eine formlose Nachspeise. Ich trank eine halbe Flasche roten Waadter dazu, Annette nahm einen Gießhübler.
Wir gingen herunter an den See.
Ich habe die Berge nachts sehr gern, wenn man sie nicht sieht und hinter den Lichtern einer fernen Ortschaft nur ahnt.
Ein weicher Wind strich zwischen den Kastanien. Vor einem Café saß jemand mit dem Rücken gegen die Straße und bestellte schnarrend ein Vanilleeis.
»Es ist doch ziemlich warm,« sagte Annette.
Ich hing an ihrem Arm. Sie stützte mich.
Die Wellen plätscherten leise, wie wenn jemand aus Versehen die Wasserleitung nachts laufen läßt.
Von einem Kahn draußen auf dem See schaukelte Musik zu uns. Ein Walzer.
»Die Wellen tanzen Walzer«, sagte Annette.
Und wirklich: ich hörte das auch.
»Wenn man Musik hört, bekommt man Sehnsucht nach dem Tode«, sagte Annette.
Sie sagte es leichthin. Aber wie Altweibersommer, wie Herbstschleier, auf denen unsichtbare Spinnen sitzen, fingen sich die Worte in meinem Gesicht.
Sie weiß nicht, wie gern ich sterben würde, wenn ich nicht sie verlassen müßte und wenn ich einen anständigen Tod für mich wüßte. Soll ich als alter Kavallerieoffizier (»alter« Kavallerieoffizier! ich bin 31 Jahre alt) im Bett sterben. Nicht getötet werden – sondern den Tod erdulden? Wenn doch Krieg würde!
Ich darf es Annette nicht erzählen, daß ich immer denselben Traum träume: ich sehe den Tod vor mir als goldenes Skelett, leuchtend auf schwarzem Grunde.
Inhaltsverzeichnis
Als Balder sie in der grauen Felduniform, eine Rose in der Hand, am Kragen die Gefreitenknöpfe, die ihm noch am Morgen verliehen worden waren, verlassen hatte und sein schlanker Schritt auf der Treppe verklungen war, dachte Lilli, grauenvoll verwirrt und wie auseinandergefallen, allerlei widersinniges und lächerliches Zeug. Tennis ... ja, wie lange hatte sie eigentlich nicht Tennis gespielt? Flogen da nicht immer Bälle durch die Luft, und wenn man zuschlug, schlug man nicht in die Sonne und schlug man nicht die Sonne übers Netz? Wo nur ihre Tennisschuhe steckten? Richtig: Rehbraten gab es heute abend. Zum mindesten: eine Art Rehbraten. Einen richtigen Rehbraten ißt man ja nur Sonntag mittag. Also wahrscheinlich Rehschäuferl. Oder Rehragout. Mit Klößen. Klöße. Das Wort haftete ihr und sie hatte es noch in Gedanken, als ihr schon die Tränen erlöst über die Wangen strömten. –
Als sie sich ausgeweint hatte, ging Lilli auf die Straße. Aber kaum war sie zehn Schritt gegangen, da erschrak sie. Da ... jener feldgraue Soldat, welcher an Krücken humpelte ... war das nicht Balder? Sie stieß mit der Spitze ihres Sonnenschirms erregt aufs Pflaster, um zur Besinnung zu kommen. Wie töricht! Bal der war doch eben erst ins Feld ausgerückt ... konnte sie denn gar keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen?
Sie verzweifelte: jeder Verwundete, der ihr begegnete, schien ihr Balder. Jener mit dem verbundenen Kopf. Jener Dragoner mit dem Arm in der Binde. Säbelhiebe! Daß es so etwas noch gibt: er hat einen Hieb mit dem Säbel bekommen. Würde der Arm steif bleiben? Herrgott im Himmel, hilf: daß der Arm nicht steif bleibt. Sie würde alles, alles für ihn tun, daß der Arm wieder gut würde, ihn jede Stunde verbinden, jede Minute bei ihm bleiben. O, und dann der Tag, an dem sie ihm wieder zuerst die Hand schütteln durfte! Balder!
Sie mußte sich wenden und den Schleier über ihr Gesicht ziehen, denn ihre Augen begannen silbern und immer silberner zu glänzen. Nur nicht auf der Straße weinen.
Als sie wieder aufzublicken wagte, kam ihr ein junger Leutnant entgegen. Kerngesund. Schlank wie Balder. In einer Gangart, der man den Kavalleristen anmerkte. Wenigstens einen, der viel zu Pferde sitzt. Er kam näher und sie erkannte, daß es ein Artillerist war. Sie freute sich, daß es ihr gelungen war, seine Truppengattung zu bestimmen. Das ist in der feldgrauen Uniform nicht immer leicht. Der Leutnant grüßte. Sie dankte. Beglückt. Mit einem Lächeln im Herzen. Ich kenne ihn, dachte sie, gewiß kenne ich ihn. Ich weiß im Augenblick nur nicht woher. Das ist ja auch so gleichgültig. Ich bin so froh, daß er nicht verwundet ist. Und daß er Balder so ähnlich sieht.
Und wie sie nun langsam weiter schritt, da sah sie wieder einen Soldaten. Und wieder einen. Und noch einen. Und alle waren auf einmal gesund. Gingen ohne Krücken. Trugen keinen Arm in der Binde. Rauchten Zigaretten. Manche lachten sogar. Und alle sahen Balder ähnlich.
»Balder!« sagte sie, und ihre Füße hatten wieder festen Halt.
Sie stand am Odeonsplatz. Von der Theatinerhofkirche fiel ein Schwarm Tauben wie eine weiße Girlande sanft vor ihr nieder.
Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche und zog eine kleine braune Düte hervor. Sie schüttete die Körner in die Hand und neigte sich leicht zu den Tieren herab.
Drüben, von der Wache am Schoß, klang Trommelrasseln und Kommandorufe.
»Balder!« sagte sie leise vor sich hin.
Inhaltsverzeichnis
Diese Geschichte beginnt wie ein Märchen der Brüder Grimm. Es ist aber kein Märchen. Es ist auch keine rechte Geschichte mit dem nötigen Schlußpunkt: eine runde Geschichte etwa, rund und durchsichtig wie eine Glaskugel, mit einer schillernden Moral. Diese Geschichte ist nämlich (beinahe) wahr und hat sich zugetragen in der kleinen Stadt, in der ich kürzlich zu Besuch weilte. Sie ist nichts als eine traurige und lächerliche Arabeske zu dem erhabenen Ereignis des Krieges, das sich draußen (weit von hier, die kleine Stadt weiß nicht wo … ) abspielt.
An dem Tage, an dem Deutschland an Rußland den Krieg erklärte, traf in der kleinen Stadt der weit-und weltberühmte Zauberer Francesco Salandrini ein, welcher dort eine Vorstellung seiner großen und geheimen Künste zu geben gedachte. Er vermochte Wasser in Wein und Wein in Wasser zu verwandeln. Er zog den Bauernburschen auf dem Lande und den verblüfften Jünglingen und den kichernden Fräuleins der kleinen Städte nur so die Taler aus Nase und Ohren und ließ sie klappernd in seinen schwarz polierten Zylinder springen, obgleich offensichtlich zutage trat, daß er selber nicht im Besitze eines einzigen dieser silbernen Dinger war. Er zerschlug in seinem bereits erwähnten Zylinder, dem man gewisse magische Kräfte nicht absprechen durfte, ein halbes Dutzend roher Eier und buk ohne Feuer und ohne Pfanne in nichts als eben diesem Zylinder einen veritablen wohlschmeckenden Eierkuchen.
Herrn Salandrinis Gefährt, das mit einigen kleinen Fenstern versehen und ziegelrot angestrichen war, rollte, von einem schwermütigen und betagten Pferde gezogen, über die Oderbrücke rumpelnd in die Stadt ein. In seiner Begleitung befanden sich noch seine Frau: Bella, die Schlangendame, die schwebende Jungfrau, das überirdische Medium und eine Person, welche den prosaischen Namen Hugo führte.
Herr Salandrini, der sich mit Weltgeschichte und Politik noch nie in seinem Leben befaßt hatte (und es auch fürder nicht zu tun gedachte, da er Steuern zu zahlen weder willens noch fähig war), verwunderte sich nicht wenig, die kleine Stadt in heller Aufregung zu finden. Alle Leute liefen durcheinander, die Kinder schrien und sangen, und die Frauen sahen besorgt aus den Fenstern.
Nichtsdestoweniger lenkte Herr Salandrini seinen Wagen ruhig und besonnen nach dem Salzplatz, wo an Jahrmärkten die Würfelbuden prunken und die Karussels sich munter drehen, um dort sein »Interessantes Wundertheater« aufzuschlagen.
Er hatte mit Hilfe der schwebenden Jungfrau gerade den ersten Pflock in die Erde getrieben, einen Strick darum geschlungen und Hugo daran gebunden, als sich federnden Schrittes der dicke Polizist Neumann nahte, der ihn ebenso bestimmt wie freundlich darauf aufmerksam machte, daß er sich die weitere Mühe der Errichtung seines »Interessanten Wundertheaters« sparen könne. Der Krieg sei erklärt. Die für heute abend angesagte Vorstellung könne vom Bürgermeister in Anbetracht der ernsten Zeitumstände nicht mehr gestattet werden. Es gehe jetzt um andere Dinge als um den Eierkuchen im Zylinder oder um den gedankenlesenden Bären Hugo. Kein Mensch habe Lust, sich derlei abenteuerlichen Unsinn jetzt anzusehen. Er möge sein »Interessantes Wundertheater« bis auf günstigere Zeiten suspendieren. Damit entfernte sich der Polizist Neumann, freundlich und bestimmt, wie er gekommen war.
Herr Salandrini war wie vor den Kopf geschlagen. Die Möglichkeit eines internationalen Konfliktes, der ihn um Beruf und Brot bringen konnte, hatte er nie im entferntesten in Berechnung gezogen. Auch Hugo, der gedankenlesende und wahrsagende Bär, hatte ihn davon in Kenntnis zu setzen verabsäumt, ja, er schien selber noch nichts von dem drohenden Unheil, das sich auch über seinem Haupte in dunklen Wolken zusammenballte, zu ahnen. Er saß klein und verhungert neben dem Pflock, knabberte wie ein Kind an seinen Pfotennägeln und starrte mit jenem Ausdruck beseelten Stumpfsinns vor sich hin, der unsere Lachmuskeln eben so reizt, wie er unser Grauen erweckt.
Herr Salandrini setzte sich auf die Wagendeichsel und sann den ganzen Tag, was er nun anfangen solle, um sich und seine Familie durchzubringen. Er hieß eigentlich Schorsch Krautwickerl und war aus Bamberg. Zum Heeresdienst würde man ihn nicht mehr einziehen, dazu war er zu alt. Im übrigen war er sich sehr klar, daß er augenblicklich bei niemand auf Verständnis und Teilnahme für seine merkwürdigen Kartenkunststücke und die erstaunliche Begabung des gedankenlesenden Bären Hugo zu zählen habe.
Er sann mehrere Tage. Dann ging er auf das Bürgermeisteramt und bat um irgendeine, wenn auch die geringste, Arbeit. Die schwebende Jungfrau und der Bär blieben in banger Erwartung zurück. Sie teilte schwesterlich mit ihm eine alte Brotkruste.
Herr Salandrini kehrte mit der frohen Botschaft zurück, daß er als Koksarbeiter bei der städtischen Gasanstalt Verwendung gefunden habe. Das war wenigstens etwas, wenn auch nicht viel, denn das Gehalt, das Herr Salandrini empfing, reichte kaum für einen Magen (der Bedarf an Koksarbeitern ist schon im Frieden nicht nennenswert). Wenn also die schwebende Jungfrau zur Not noch mit versorgt war – vielleicht fände sie in der Stadt eine Stelle als Aufwaschfrau? –, was sollte aus dem kleinen, sowieso schon halb verhungerten Bären, ihrem Liebling, Kapital und Abgott werden?
Am nächsten Tage erschien in der Zeitung ein Inserat: »Edle Herrschaften werden um Abfälle gebeten für den wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini.«
So sättigte sich der Bär Hugo von nun ab an den Abfällen edler Herrschaften, die ihm nicht so reichlich zukamen, daß sie ihn völlig befriedigten. Er saß auf dem Salzplatz, an seinen Pflock gebunden, unter Aufsicht der schwebenden Jungfrau, welche Wäsche ausbesserte, und der Herbstregen wusch seinen Pelz. Es wurde Spätherbst, und der Bär fror. Sein Pelz zitterte und seine müden Augen sahen furchtsam zum bleiernen Himmel empor. Die schwebende Jungfrau weinte.
Da kam Herr Salandrini auf einen guten Gedanken. Er war ja Koksarbeiter an der Gasanstalt. Er bat den Magistrat um Erlaubnis, den Bären in einen leeren warmen Raum der Gasanstalt, neben den großen Öfen, unterbringen zu dürfen. Der Magistrat, der sich von der Harmlosigkeit des halb verhungerten und schwächlichen kleinen Bären längst überzeugt hatte, gab die Einwilligung, und der Bär hockte nun hinter einer hölzernen Gittertür und blickte mit traurigen Augen in die feurige Glut der Öfen. Hin und wieder besuchten ihn die Kinder des Gasanstaltsinspektors und brachten ihm ein Stück Kriegsbrot oder Küchenreste. Er fraß alles, was ihm zwischen die Zähne gestopft wurde.
Eines Morgens aber lag er tot hinter dem Gitter, und das rosa Licht der Öfen tanzte über sein dunkelbraunes spärliches Fell.
Herr Salandrini war erschüttert, aber als Koksarbeiter hatte er keine Zeit zu langen Meditationen. Die schwebende Jungfrau warf sich schreiend über den toten Bären und das ganze sah aus wie ein Bild von Piloty.
Ob der Bär an Gasvergiftung oder an Unterernährung zugrunde ging, war nicht festzustellen.
Herr Rechtsanwalt K. kaufte Herrn Salandrini das Bärenfell samt dem Kopfe ab. Herr K. ist im Begriff, die Stadt zu verlassen und in Z. eine neue Praxis aufzunehmen. Er wird sich das Fell des wahrsagenden Bären Hugo in seinem Herrenzimmer an die Wand nageln, und wenn er Freunde bei sich zu Gast hat, wird er mit einer großen Gebärde auf das Fell deuten, seine Zigarrenasche nachlässig abschlagen und zerstreut zu erzählen beginnen:
»Als ich noch in den schwarzen Bergen Bären jagte…«
Inhaltsverzeichnis
Es ist Sonntag nachmittag. Irgendwo ist Krieg. Draußen steht ein kalter, blauer Himmel. In zwei fast gleiche Hälften, eine graue, blaßgelbe und eine hellgoldene, teilt die Wintersonne das gegenüberliegende Haus. Die rostbraunen länglichen Fensterkreuze blicken steil und starr wie Kruzifixe. Jetzt wird eines – im dritten Stock – auseinandergerissen. Ein Mann mit dickem, kahlem Kopf und schmutzigrüner Lodenjacke schiebt sich heraus und sieht auf die Straße. Eine schwarzgekleidete Frau, das Staubtuch in der rechten Hand, beugt sich über ihn. Dann verschwinden sie beide, und die weiße Gardine zieht sich langsam zu. –
Ich liege auf dem Sofa und wühle meinen Kopf in das weiche, warme Samtkissen. Irgendwo ist Krieg. Ich brauche nicht zu denken, nicht zu fühlen, nicht zu handeln. Ohne Anstrengung träume ich beinah traumlos. Keine Erinnerung vergangener, kein Wille zukünftiger Taten. Kein unbewußtes Ich-sein wollen. Wie die Fackel im Sande bin ich im Raumlosen verlöscht. Ich schließe die Augen. Das Licht zwängt sich durch die Fenster. Es löst alle Gestalten im Zimmer und verschlingt sie: den großen Schrank, die Bilder an der Wand, die Sessel, jetzt tappt es am Spiegel vorbei, jetzt greift es an die messingne Türklinke. Wie ein Körper ist das Licht. Wie ein Körper, aus dem alle Dinge erst sind. Wie ein Schaffender. Es streicht über den weißen Kachelofen. Und der Ofen ist. Ich spüre den Atem des Lichtes auf den weißblauen Fliesen. Zu mir kommt das Licht nicht. Ich rolle mich zusammen und blinzle durch die Lider. Als ein Andrer, Feindlicher liege ich außerhalb des Lichtes in einer engen, wohligen Dunkelheit wie in einer Wiege, die sich selber.. lang.. langsam.. hin.. und.. her.. wiegt.. hin.. und her. Die Uhr schlägt. Einmal. Ich sehe, wie der dumpfe, schöne Klang in das lichtvolle Zimmer rollt.. wie er nachzittert.. unruhig.. leise.. leise weinend, gleich einem Kind, das den Weg verloren hat. Wie die Strahlen nach ihm haschen, ihn tragen auf den silbrig goldenen Fittichen, ihn fallen lassen und wieder heben. Ich weiß nicht wie spät es ist, ich weiß es nie. Ich habe die Uhr falsch gestellt. Ich liebe das Leben zwischen den Zeiten. Eine Uhr, die pünktlich und zeitsicher in meinen Räumen die Stunden schlägt, wäre mir ärgerlich und unerträglich, eine klägliche Mahnerin. Ich habe auch keinen Abreißkalender. Die Tage sind mir so gleichgültig, der erste und der sechste und zehnte. Was sollen sie? Gewißheit ist eine unanständige Tugend, nicht einmal dem Tode steht sie an.
Ich rekle mich und strecke mich. Es hat halb geschlagen. Irgendwie halb. Halb drei oder halb vier. Und dann geht die Uhr noch zwei oder drei Stunden und soundsoviel Minuten und soundsoviel Sekunden nach oder vor. Wie schön, wie töricht schön, gar keine Wünsche, keine Hoffnung, kein Hasten, kein erzwungenes Lachen des Glaubens mehr zu haben. Nur ein Gaukeln und Treiben auf dunklen Wellen, bald auf Wellenbergen, bald in Wellentälern.
Der Widerschein eines Fensters kriecht mir aufdringlich über das Gesicht.
Ich werde wach. Was tu ich nun nachher? Geh ich ins Café? Ich wollte ja noch mit dem Geschäftsführer sprechen. Das Büffetfräulein hatte gestern eine schmutzige Schürze um. Dabei ist sie hübsch. Daß den abstrakten Dingen keine Reinlichkeit innewohnt. Daß wir sie immer erst waschen müssen.
Oder ich steige in die Stadtbahn – die erste beste – und setze mich an das Fenster – ich habe es lange nicht getan – und blicke nach einem Haus, einem Wiesenstück, einem Schornstein, einem Hinterhof. Und gefällt mir ein Bild oder Klang, steige ich auf der nächstgelegenen Station aus und suche nach diesem Fleck, der mir gefiel, in seiner traumlosen, vielleicht verlorenen Dämmerung, die niemand empfinden kann als ich, der ihm verwandte. Dieses Suchen spannt köstlich, reizt, erregt. Man weiß ja nie, ob man den Platz findet, wie man sich seiner erinnert. Inzwischen kann die Luftspiegelung anders geworden sein ... oder das Fenster an jenem Haus, wo ein Kind oder ein Mädchen oder eine Mutter heraussah, hat sich geschlossen ... oder der Veteran mit seinem Stelzbein, seinem verbogenen Grammophon und den schmutzigen Ordensbändern läßt längst in einem anderen Hofe sein knirschendes Instrument und seine kreischende Stimme erschallen. Ich suche gern nach zwecklosen Erinnerungen. Und ist uns denn ein anderes Glück gegeben, als Worte und Bilder zu sammeln?
Zwischen zwei Vorortbahnhöfen, ungefähr in der Mitte, steht im Sande am Eisenbahndamm, unsern eines Neubaus, eine verkrüppelte Kiefer. Ich sah sie zum ersten Male, als ein Gewitter über ihr hing. Im strömenden Regen bin ich zu ihr gegangen. Ich habe ihre rauhe braune Rinde gestreichelt, sie umarmt und mir von ihr die Stirn wund ritzen lassen. Als wäre ich ihr Blutsfreund. Immer und immer wieder besuchte ich sie. Am schönsten ist sie, wenn am grellsonnigen Himmel eine nachtschwarze Wolkenwand steht oder im Winter, wenn Neuschnee fiel.
Es klingelt. Scharf. Zweimal. Was ist? – ..., der Depeschenbote ... »Komme heute abend. Selma.«
Wie kann man nur ein Verhältnis haben, das Selma heißt? Der Name tut weh. Ihr selber auch. Er riecht so entsetzlich nach wollener Unterwäsche und ungelüfteter Stube, die zugleich Küche, Wohnstube und Werkstätte ist, wo Mutter die Bratkartoffeln brät, die ungewaschenen Kleinen sich herumbalgen und Vater Kürschnermeister und Mützenmacher die Pelze aufbewahrt und Hutkrempen näht.
Dazwischen Selma. Es steckt Altjüngferlichkeit und glatte Gemeinheit zugleich in diesem verfluchten Namen. Ich habe sie Fritzi getauft. Ich taufe überhaupt alle Mädchen. Es ist ein unterhaltendes Geschäft und für einen Laien in der Psychologie sehr lohnend. Sie hat mich sehr lieb. Am nächsten Morgen habe ich immer Lungen- und Rippenschmerzen. Ich liebe sie nicht. Ich will nur, daß meine Freunde mich um das schöne Mädchen beneiden. Ich bin überhaupt nur für Mädchen, wenn man sich mit ihnen sehen lassen kann und ich mit ihnen gesehen werde. Ich bin ihr gut. Ich kann ihre wohltuende Zärtlichkeit nicht missen. Was hätte ich sonst? Der ich mich selber wenig, andere gar nicht zu lieben vermag? Vielleicht würde ich Menschen töten können, wenn ich in den Krieg zöge. Aber ich habe Plattfußanlage, Krampfadern, Herzerweiterung (mein Herz ist so weit, daß die Welt wie eine runzelige Nuß darin verschwindet), Lungendefekte und einen doppelseitigen Bruch.
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Weißt du, daß von den Verwundeten, die aus der Front zurückkehren, keiner mehr singen will? Wir haben eine ganze Anzahl Leichtverwundeter, die schon wieder Garnisondienst tun, in der Kompagnie, aber wenn wir singen: ‘Drei Lilien’ oder ‘Heimat, o Heimat, ich muß dich verlassen…’, schweigen sie und haben große Augen. Die beiden Reber – du kennst sie doch? die Söhne vom Hauptlehrer Reber – stehen schon im Feld … in Galizien oder Polen … und haben fünf Tage nichts als rohe Rüben gegessen … Hans ist am 28. Oktober nach Belgien gekommen. Kaum auswaggoniert, mußten sie bei Dixmuiden zum Sturm vor. Dreimal in 36 Stunden. Dixmuiden brodelte wie der Hexenkessel in Goethes ‘Faust’… Hans ist verwundet … Bauchschuß… Er ist schon wieder zurück und liegt im Lazarett … Ich habe ihn gestern besucht … Sie lagen zu zwölfen im Zimmer, und einer saß auf dem Bettrand und spielte Harmonika. Es war ein Pole, und er spielte eine schwermütige Melodie. Einige lasen Zeitung und einem, dem der Kopf ganz verpackt war, flößte die Schwester durch eine Glasröhre warme Milch ein. Er lächelte dankbar … Hans’ Aussehen hat sich derartig verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte und betroffen anstarrte. »Guten Tag, Hans.« »Guten Tag, Jochen.« »Wie geht’s?« »Man so.« Sein Gesicht war blaßblau, gläsern, etwa wie das Weiße eines gekochten Kiebitzeis. Seine Augen brannten in einem fremden Feuer, und ein kleiner blonder Bart hing in Fransen um sein Gesicht … Ich habe einmal in Berlin einen bulgarischen Offizier gesehen, der die beiden Balkankriege mitgemacht hatte. Ich wußte nicht, weshalb er so tote weiße Augen machte. Jetzt weiß ich es … Hans sagte: »Ich habe viel erlebt.« Bei dem Wort »erlebt« stutzte er, dachte nach und meinte: »Man müßte eigentlich sagen: ersterben, statt erleben … Und ich war nur zwei Tage draußen.« Er drehte sich zur Wand. »Als wir mit fiebernden Händen die Bajonette aufpflanzten … wir waren zum erstenmal im Feuer … wir gingen gegen englische Kerntruppen wie die Teufel los … Aber niemand schrie hurra … Willst du mir das glauben? … Die Schrapnells platzten wie Mehlsäcke … die Granaten zischten, als strichen Millionen Geiger über das höchste Fis … die Maschinengewehre gackerten wie überlaute Hennen … und einer von uns schrie, schrie sein ganzes Herz hinaus: ‘Mutter!’ Und wie ein Echo rollte dieser Schrei unsere Reihen entlang … Mutter! … Mutter! … Mutter! … Unter diesem Kampfruf, immer wilder, immer heftiger hinausgestoßen, rannten wir gegen die feindlichen Stellungen… Und wir nahmen sie… Ich weiß nicht, wie lange ich so gelaufen bin … Jahre müssen vergangen sein … meine Beine stampften wie eine Maschine … Auf einmal bekam ich einen Schlag gegen den Bauch, brüllte noch: ‘Du verfluchter Hund’ und fiel um … Ich erwachte auf einer Tragbahre, sah ein rauchgeschwärztes Dorf, und einen belgischen Pfarrer in Soutane an einem Baum hängen … Dann schlief ich wieder ein … Und wieder nach vielen Jahren erwachte ich hier … Ich muß so alt geworden sein… Grüße Lilly von mir, sie möchte mich besuchen, wenn es ihre Eltern erlauben … Wie schade, daß wir uns nicht werden heiraten können, und daß ich kein Kind von ihr haben werde.« Dann drehte er sich wieder von der Wand weg, gab mir die Hand und sagte: »Adieu.« Ich schnallte mein Koppel um, der Pole spielte wieder auf seiner Mundharmonika, und ich ging so leise, wie ich’s mit meinen Kommißstiefeln fertig brachte. Hans ist nicht älter als ich. Siebzehn Jahre. Er wird sterben. Was er sagte, hat mich sehr nachdenklich gestimmt, besonders, daß er gern ein Kind haben möchte. Aber ich begreife es. O, wie sehr ich es begreife. Ich bin ja zum letztenmal auf Urlaub hier. Nächste Woche muß ich hinaus. Nach Ostpreußen. Oder nach Arras. Wie es der Zufall schickt. Dann grüße Ruth von mir und erzähle ihr das, was Hans mir von Lilly erzählt hat.
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Es war in der letzten Hälfte des August 1914, als man den Korporal Georges Bobin vom III. französischen Linienregiment gefangen einbrachte.
Er sah wie aus dem Ei gepellt aus: schmuck, reinlich, rasiert, mit erdbeerroten Hosen und einem blauen Frack von tadellosem Schnitt.
Er stellte sich dem Husarenoffizier, der ihn verhörte, verbindlich lächelnd vor: als Monsieur Georges Bobin vom III. französischen Linienregiment, gebürtig da und da her … natürlich aus dem Süden …, im Privatberuf Sprachlehrer. Er kenne die Deutschen. Oh là là. Er werde die Deutschen nicht kennen. Drei Jahre hintereinander war er vor Ausbruch des Krieges in Deutschland. Eine lange Zeit. Drei Jahre. Wenn man drei Jahre das Mittelländische Meer nicht sieht. Und Marseille, dieses romantische Drecknest, nicht riechen darf. Denn: es gibt Städte, die man sieht. Florenz zum Beispiel. Und Städte, die man hört. Berlin zum Beispiel. Und Städte, die man riecht. Marseille gehört zu den letzteren. Und da der Geruchs-mit dem Geschmackssinn Hand in Hand gehe, wenn das kühne Bild erlaubt sei, so esse man in Marseille so gut und billig wie nirgends in der Welt. Für ein paar Sous, für ein Nichts Austern und Fische in verwegener Zubereitung, gedünstet, gebraten, gebacken und gesoßt, wie sie sich der phantasievollste Gaumen des ausschweifendsten Feinschmeckers nicht vorzustellen vermag. In Deutschland, wo er an dem Realprogymnasium einer kleinen brandenburgischen Stadt zuletzt tätig gewesen sei, habe er immer Kohlrouladen und Königsberger Klops essen müssen. Nun: wie dem auch sei. Er habe sich daran gewöhnt. Er finde besonders das erstgenannte Gericht, abends zum Souper noch einmal aufgewärmt, recht appetitlich und schmackhaft. Auch der Landschaft, in der die kleine Stadt lag, könne er eine gewisse Anmut nicht absprechen. Ein wenig nüchtern. Ein wenig preußisch. Aber freundlich belebt von den Dampfern und Kähnen der schiffbaren Oder und sanft gemildert von den zärtlichsten Sonnenuntergängen. Und Weinberge stiegen am östlichen Ufer empor: mit rotem und gelbem Wein bepflanzt. Und wenn man den roten ein wenig mit Italiener verschnitte, so bekäme man den schönsten Bordeaux. Nun: er übertreibe. Gewiß. Aber ein guter Crossener ist besser als ein schlechter Bordeaux. Pardon: man wolle das alles wohl von ihm nicht wissen.
Ja, was er für Gefechte mitgemacht habe? Eigentlich gar keine. Dies, in dem er gefangen genommen worden sei, sei sein erstes Gefecht. Er habe fünfzig Patronen verschossen, habe dann vorgehen müssen, seine Kompagnie sei in flankierendes Feuer geraten. Voilá.
Übrigens: er habe zu viel gesagt. Oder vielmehr zu wenig. Er habe doch noch ein zweites Gefecht mitgemacht. Ein sehr merkwürdiges Gefecht. Vielleicht das merkwürdigste des ganzen Krieges.
Das Regiment war auf dem Marsch. Man näherte sich der feindlichen Zone. Ein Dorf lag plötzlich vor ihnen. Ein unansehnliches und höchst gleichgültiges Dorf, wie ein längliches Brot in den Backofen einer engen Talmulde geschoben.
War das Dorf vom Feind besetzt?
Zwei Züge mit Patrouillen an den Spitzen wurden ausgeschickt, das Dorf zu sondieren. Der eine Zug unter dem Befehl des Korporals Georges Bobin kam von der linken, der andere von der rechten Höhe. Das Dorf sollte wie von einer Kneifzange gefaßt werden.
Schleichend und äugend kam Korporal Bobin mit seiner Spitze bis dicht an das erste Haus. Er war vielleicht noch zwanzig Schritte entfernt, als plötzlich Schüsse ertönten.
Pfff … flog ihm auch schon eine Kugel an der Nase vorbei.
Sehr ungeinütlicher Zustand das. Aber weiter. In Deckung vor.
Woher kamen die Schüsse? Er befragte seine Leute. Sie sagten übereinstimmend: aus dem Hause da vorne.
Also mußte das Haus vom Feinde besetzt sein.
Er kroch fünf Schritte näher.
Pfff … neue Schüsse … ein leiser Schrei … einer seiner Leute war am Schenkel verwundet … das Blut rann ihm in die Hose … Er schickte ihn zurück zum Regiment. Die übrigen wurden unruhig und knallten unaufhörlich in das Haus hinein.
Kein Fenster im Hause war mehr ganz. Wieder ein Verwundeter … Noch einer … Der erste Tote … Was sollte er machen?
Es war unmöglich, das Haus, das stark besetzt schien, frontal zu stürmen.
Er gab den Befehl zum vorsichtigen Rückzug.
Kriechend und knallend zogen sie sich zurück.
Als sie den Ausgang des Dorfes erreichten, sahen sie von der anderen Seite die zweite Kolonne sich ebenfalls knallend und kriechend zurückschrauben.
Und nun wußte er – und während er erbleichte, brach er in ein krank-und krampfhaftes Gelächter aus.
Die beiden Züge hatten sich gegenseitig beschossen!
Zwischen den Häusern und durch die Häuser hindurch.
Das Geknalle hatte aber nicht nur das Regiment, sondern die ganze Division, bei der sich auch Artillerie befand, nervös gemacht.
Den ganzen Nachmittag und Abend böllerte es noch die Täler und Dörfer entlang.
Die Artilleristen, welche eifersüchtig darauf waren, daß die Infanterie »ihr Gefecht hatte«, zogen die Revolver und begannen ebenfalls zu knallen.
Und da es keine Feinde zu erschießen gab, so schossen sie auf alles Lebende, was ihnen in den Dorfstraßen in den Weg kam.
Alle Hühner, alle Enten, Kühe, Schweine, Katzen, Hunde, Kaninchen, Tauben fielen ihrer Kampfwut zum Opfer.
Die Gräben lagen voll zerfetzter und wimmernder Tiere. Pferde brüllten wie Tiger. Eine tote Katze hing wie der Kasperle im Kasperltheater nach der Vorstellung über der Rampe eines Zaunes. Eine Muttersau verblutete mitten auf der Gasse und drei lebende Ferkel sogen quietschend an ihren toten Brüsten.
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Hier spürt man an einem Tage mehr vom Krieg als in München in fünf Monaten. Kaum war ich in C. eingetroffen, sah ich schon einen Zug von etwa dreihundert gefangenen Russen, die in einem langsamen schläfrigen Marsch, von Landsturmleuten mit aufgepflanzten (erbeuteten französischen) Bajonetten eskortiert, durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstätte zogen. Einmal faßten sie Tritt. Sie schmeißen nicht die Beine wie unsere Soldaten, sondern stampfen mit gebogenem Knie den Boden. Wie Pferde bei verhaltenem Trab. Eine unpraktische und sicher sehr ermüdende Art zu marschieren.
Sie waren zum größten Teil vorzüglich mit hohen schwarzen Juchtenstiefeln und dicken lehmfarbenen Mänteln ausgerüstet. Einige wenige gingen in Holzpantinen und hatten sich aus umgeworfenen Tüchern phantastische Uniformen hergestellt. Einige sahen wie Mönche oder fromme Pilger aus, die mit leidenden Gesichtern wie zur Melodie eines unhörbaren Trauermarsches marschierten. Einer in dottergelbem Umhang leuchtete, gleichsam ihr Götze und wie die Inkarnation ihrer gefangenen Sehnsucht, der braunen Kolonne weit voraus. Am Schluß krochen kleine greisenhafte Kerle mit gelben zerknitterten Masken: Kirgisen und Mongolen aus den sibirischen Regimentern. Kosaken sah ich keine. Auch später bei meinem Besuch im Lager nicht. Es sind sicher welche darunter, aber sie haben sich unkenntlich gemacht. Wenn man nach Kosaken fragt, glauben sie, man wolle sie für die Kosakengreuel in Ostpreußen verantwortlich machen und spießen oder hängen. Ein hagerer, verkommener Bursche in schwarzer Pelzmütze, den ich als Kosak anredete, hob beschwörend wie ein Heiliger auf frühmittelalterlichen Kirchenfenstern beide Hände gegen mich und sagte: »Oh, oh, nix Kosack, nix Kosack.«
Die Holzbaracken, in denen die Russen wohnen, sind hoch und luftig und sehr gut ventiliert. Einige Baracken gehen halb in den Erdboden. Die Lagerstätten oder Betten sind dreifach übereinander gestaffelt: die Gefangenen schlafen auf Holzwollsäcken und erhalten als Oberbett feste Wolldecken. jede Baracke wird von einem großen Ofen geheizt. In einigen Baracken sind noch einige kleine Kochöfen vorhanden, wo die Leute sich ihr Essen aufwärmen oder Tee kochen können. Die hölzernen Tische, auf denen sie essen und arbeiten, lassen sich durch sinnreiche Vorrichtung (Umklappen der Platte) in große, mit Zinn ausgeschlagene Waschschüsseln verwandeln.
In der Küche kam ich gerade dazu, wie das Mittagessen ausgeteilt wurde. Ein Koch eines großen Berliner Hotels ist Oberkoch; ihm unterstehen zwei Dutzend russische Köche. Es gab heute Reisfleisch, das heißt Rindfleisch in einer dicken Reissuppe. Zehn Zentner Fleisch waren dazu verarbeitet.
Jeder Mann empfängt einen Liter, Leute, die den Vormittag streng gearbeitet haben, anderthalb Liter. Dazu erhält jeder den Tag ein Pfund (in der Stadt gebackenes und auch von den Einwohnern gern gegessenes) »Russenbrot« –- mit Kartoffelmehl durchsetztes Roggenbrot.
In der Hauptbaracke sang uns der russische Gesangverein, der unter Leitung eines gefangenen Petersburger Musikdirektors steht, einige slawische Lieder vor. Zuerst das Glockenlied. Der Vorsänger führt die Melodie. Alle anderen singen im Baß wie Glocken. Zuletzt sangen sie das schwermütige Lied ihrer Erinnerung an die Heimat:
Sag, wo bist du nur, geliebte Heimat? Wo die Sterne sind, bist du gewiß. Mädchen, liebes Mädchen, ich muß reiten In die Ferne und die Finsternis. Wenn die goldnen Augen nachts vom Himmel sehen, Denk an mich, der in die Fremde ritt. Alle Wolken, die von Westen wehen, Bringen meine Sehnsucht mit.
Ein blutjunger Russe, Infanterist eines Odessaer Korps und bei Suwalki gefangen genommen, stand an die Wand gelehnt, für sich allein, stützte den Kopf in die Hand, schloß die Augen und sprach die Verse leise mit. Seine Lippen bebten und seine Wimpern zitterten. Einige, die faul auf ihren Betten lagen, hielten den Atem an und wußten nicht, wohin sie sehen sollten.
Der merkwürdigste Insasse des Lagers und wert, namentlich genannt zu werden, war der Hund Samuel. Er wurde (eine Art Terrier mit leichtem Einschlag von Dackel) vom Osteroder Landsturmbataillon in der Schlacht bei Tannenberg »erbeutet«. Da man sich mit ihm nicht zu verständigen vermochte, gab man ihn an die Russen zurück und internierte ihn im Lager von C. Aber auch die Russen wußten mit ihm nichts anzufangen: er hörte weder auf Russisch noch auf Polnisch. Bis ein Jude, Kaufmann aus Lodz, auf den Gedanken kam, jiddisch mit ihm zu reden. Der Hund sprang, halb irrsinnig vor Freude, verstanden zu werden, an seinem neuen Freunde empor, wedelte mit dem Schwanz, und seine braunen Augen leuchteten wie die eines fröhlichen Kindes. Der Hund mußte im Besitze einer alten jüdischen Familie gewesen sein und war wahrscheinlich mit mehreren Juden bei Tannenberg zu den Deutschen übergelaufen. Er wurde von den Russen spöttisch Samuel genannt. Er vertrug sich mit keinem rechtgläubigen Russen, bellte sie tapfer an und nahm nicht die verlockendsten Bissen von ihnen.
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Wir vom … ten Landsturmbataillon sind der x-ten Etappen-Inspektion zugeteilt und haben zurzeit als Garnison eine kleine Stadt in Nordfrankreich. Wir brennen Tag und Nacht Posten: auf den Bahndämmen, vorm Lazarett, unter den Brücken. Von abends Sechs bis morgens Zehn steht eine Wache auch vorm Bordell. Jeden Morgen um halb Zehn werden die Mädchen durch unsern Stabsarzt untersucht und kontrolliert. Es sind neun an der Zahl. Acht Französinnen und eine Deutsche. Die Deutsche ist ein kleines blondes Ding aus Hamburg. Wenn Leute von uns das Bordell besuchen, hält sie den Kopf gesenkt und sucht mit den Augen zu flüchten. Um keinen Preis der Welt würde sie sich einem Deutschen verkaufen. Wenn wir sie sehen, erröten wir. Um der schmerzlichen Situation zu entgehen, reißen wir dumme und überlaute Witze und lachen, blechern wie Grammophone. Oder einer setzt sich ans Klavier und spielt: »Die schwarzbraunen Mädchen, die hab’ ich so gern.« Dann geht sie hinaus und weint. Sie ist ja blond. Die Einwohner der Stadt, Magistratssekretäre, kleine Steuerbeamte, bessere Kaufleute bevorzugen offensichtlich die Deutsche. Sie sehen sie in den Augen ihrer eigenen Landsleute erniedrigt und weiden sich an ihren Qualen. Madame ist entzückt von ihr, denn sie macht das meiste Geld. »Wo ist die deutsche Kuh?« brüllen die Steuerbeamten, und einer nach dem anderen will ihr für sein Geld einen Tritt versetzen. Ich sprach sie neulich. Sie heißt Leni. Sie will sich die Pulsadern durchschneiden. Sie erträgt dieses viehische Leben nicht mehr. Ich überlegte, wie ihr zu helfen sei. Sie mußte heraus aus dem Bordell. Aber Madame wird sich kreischend wehren. Man müßte ihr Geld, viel Geld bieten. Ich sprach mit dem Major, und er gab gern die Erlaubnis für eine Sammlung zu ihren Gunsten innerhalb unseres Bataillons. Er zeichnete als Erster zehn Mark. Und nach ihm alle Offiziere und alle die gesetzten bärtigen Landsturmmänner, größtenteils würdige Familienväter. Keiner, auch der ärmste nicht, schloß sich aus. So kauften wir Leni um den Preis von 1200 Franken von Madame los, kleideten sie von Kopf bis zu Fuß neu ein und schickten sie mit dem nächsten Lazarettzug, der zurückging, nach Aachen. Kaum, daß sie ihr Glück zu fassen vermochte. Sie wollte uns allen einzeln die Hand küssen und steckte jedem, den sie in der Eile erreichen konnte, eine bunte Papierblume an den Rock.
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Ein Zurückgebliebener saß im Café, bestellte einen Eierpunsch und erzählte:
Ich habe eine unmenschliche Sehnsucht zu sterben. Jeder Feldpostbrief, den ich von draußen bekomme, erweckt in mir das Gewissen einer schmerzlichen Scham, weil ich noch lebe. Was rede ich noch? Was schreibe ich noch? Der Streusand der Schrapnells trocknet jede Tinte. Und jede Träne. Manchmal, in dem kleinen stillen Zimmer der Vorstadt, drei Treppen hoch, abends, wenn das Hupen eines fröhlichen Automobils, das Kreischen einer deflorierten Katze oder der klappernde Huf eines betrübten Pferdes gedämpft durch die geschlossenen Fensterläden lärmen, schreie ich nach einer Erlösung vom Leben, das mir nur noch wert ist, weil man es wegwerfen kann. Wie eine angerauchte Zigarette. (Zu einer Zigarre langts bei mir nicht.) Was sind alle Leiden unseliger Liebe gegen die qualvolle Begierde nach dem Tod. Ich könnte mich hier zu Hause hinter den Kulissen erschießen – aber ich ränge nicht mit dem Tod, ich verblutete nicht, ich würde nicht um seine Liebe. Und ich könnte mich mit meiner schönen Geliebten auch nicht sehen lassen. (Was hat es für einen Sinn zu lieben, wenn andere Leute nicht sehen, daß man geliebt wird?) Ich hätte mir hier zu Hause den Tod wie ein schmutziges Straßenmädchen erkauft. Um den Preis meines Revolvers. (Ein guter Browning kostet 80 Mark. Ich würde also auf den Wert des Mädchens beträchtlich draufzahlen.) Ich will werben um den Tod. Um das Fräulein Tod. Sie soll mich lieben lernen. Ich werde ihr schmeicheln müssen. Geschenke machen. Kostbare Geschenke. Beispielsweise ein hübsches Gedicht, das ich noch schreiben würde. Oder einen treuen Freund, den ich ehre wie keinen anderen Menschen. (Aber ich habe die Pferde ja viel lieber als die Menschen. Auch die Schildkröten.) Oder ich muß ihr meine Mutter opfern. Eine Frau hat immer am liebsten, daß man ihr eine Frau opfert. Und welche Frau haßt sie inniger als die Mutter des Geliebten? (Weil sie ihn nicht selbst auch noch gebären durfte.)
Ich werde in einem Bauernhaus sitzen, an der Marne, heiter mit einigen Kameraden. Plötzlich fällt eine Granate durchs Dach. Alle meine Kameraden sind auf der Stelle tot. Richard hat keinen Kopf mehr, und von Hagen sieht man nur noch eine beschmutzte Litewka. Ich selber aber blieb am Leben. Ich allein: heil an allen Gliedern. Meine Angehörigen, denen ich den Vorfall geruhsam auf einer Feldpostkarte berichte, jubeln und geben die Anekdote in die Zeitung. Ich bin unglücklich. Ich fühle, daß man mich noch verschmäht. Daß ich mein Herz noch nicht völlig entschleiert habe. Man glaubt mir noch nicht. Man mißtraut meiner Liebe.
Nun versuche ich es mit dem Hohn. Ich höhne die Geliebte: frech, bitter, schamlos. Ich gehe auf die gefährlichsten Posten. Vermeide beim Patrouillenreiten jede Deckung. Ich sitze ab. Die Kugeln scharen sich pfeifend um mich. Ich stehe wie ein Indianer am Marterpfahl und kein Pfeil trifft. Ich stecke meinen Kopf über den Schützengraben. Wie man einen Kürbis an einer Stange als Zielscheibe hinhält, zum Spaß und Zeitvertreib. Der Feind langweilt sich nur. Er schießt gar nicht.
Aber ich werde ein Mittel finden, den Tod zur Gegenliebe zu zwingen. Und wenn ich mutterseelenallein gegen eine ganze Batterie angaloppieren sollte. (Die Franzosen werden glauben, ich sei ein Parlamentär und werden das Feuer einstellen.)
Ich halte es nicht mehr aus daheim. Wenn der Krieg noch lange dauert, werden die Zurückgebliebenen nicht mehr wissen, was sie vor Verlangen nach dem Tod im Feld machen sollen. Sie werden den Größenwahn bekommen und glauben, sie seien unsterblich. Sie kennen den Tod nur aus den Zeitungen. Es wird eine Selbstmordepidemie ausbrechen. Man wird sich gegenseitig zum Dessert totschlagen.
*
Ein kleiner buckliger Herr, mit roten Haaren und einer Hornbrille, der in einer Schale Nuß rührte, schwappte wie ein Frosch von seinem Sitz auf und kreischte:
So wird die schwarze Fahne über uns wallen und der Himmel wird von Nacht dunkel bersten.
Millionen und Abermillionen Freiwilliger, Männer, Frauen, Greise, Kinder werden dem Rauschen des schwarzen Banners folgen. Verliebt wie Tänzer vor dem ersten Walzer und streng und heilig wie Priester der Verklärung.
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Hauptmann R. schied ungern von seiner schönen jungen Frau, die er vor einem Jahre geheiratet hatte, und die, 18 Jahre alt, noch heute ein Kind war. Er brachte ihr jene väterlichen Gefühle entgegen, die dem Manne über 35 Jahren so leicht werden. Wie sollte er aus der Ferne für sie sorgen? Sie war seiner Sorge ewig bedürftig. Und ein hilfloses kleines Mädchen ohne seine leitenden Blicke, Gebärden und Worte, mit denen er sie bald zärtlich, bald streng wies oder verwies. Sollte er sie ihren Eltern, dem Zahnarzt P. und seiner Gattin, für die Dauer des Krieges anvertrauen? Er war froh, daß er sie deren seelischen Plombierapparaten und Kneif-und Brechzangen entrissen hatte. So ließ er sie in der Obhut einer älteren Tante, welche schlecht hörte, aber vortrefflich und ausdauernd Klavier spielte. Er hoffte, daß Annette (so hieß die schöne junge Frau) den Tröstungen der Musik nicht unzugänglich sei und mit ihrer holden Hilfe die Trennung leichter überwinden werde. Nun ist Chopin nicht die rechte Musik, jemand auf helle Gedanken zu bringen. Aber was blieb dem älteren Fräulein übrig, als Chopin zu spielen? Da sie ihn und nur ihn seit 43 Jahren spielte? Sie spielte Chopin, und Annette lauschte, seufzend und strickend.
Zum Abendbrot erschien jeden Mittwoch und Samstag ein entfernter Vetter von ihr, ein junger Postreferendar, welcher entweder als unabkömmlich erklärt war oder dem ungedienten Landsturm angehörte. Er erzählte ihr von seiner Briefmarkensammlung, und sie lachte gern mit ihm. Eines Mittwochabends küßte er sie im Korridor. Und den Samstag darauf wußten sich ihre Lippen kaum zu trennen. So ineinander verbrannt waren sie.
Hauptmann R. machte Namur und Charleroi mit. Er wurde in den Straßenkämpfen schwer verwundet und in das Lazarett von Lüttich eingeliefert. Hier lag er nun und träumte fiebernd von seiner jungen, schönen Frau, welche noch ein Kind war. Sollte er ihr schreiben lassen, wie es um ihn stünde? Eine nie zuvor begriffene Eifersucht ließ ihn heftiger glühen, da er sein Weib blühend und gesund und sich selber für alle Zeit verkrüppelt und verstümmelt fühlte. Er diktierte der Schwester eine Feldpostkarte: »Liebe Annette, ich liege leichtverwundet im Lazarett von Lüttich, Du brauchst Dir keine schlimmen Gedanken zu machen. Sei umarmt von deinem getreuen Gerd.« Aber auf die Feldpostkarte klebte er eine belgische Briefmarke. In den Tagen ihrer Verlobung hatten sie ihre heimlichen Liebesgeständnisse immer in winziger Schrift unter der Briefmarke verborgen.
Die Feldpostkarte langte eines Samstagabends an. »O,« sagte Annette bedauernd, »er ist leicht verwundet. Aber es geht ihm gut.« »Zeig einmal die Briefmarke«, sagte der Postreferendar. »Willst du sie für deine Sammlung haben?« fragte Annette und begann, sie vorsichtig abzutrennen. Leise erschrak sie und las: »Wenn es Dich treibt, im Gedächtnis unserer Brautzeit die Marke zu entfernen, so weiß ich, daß Du mich noch liebst wie einst, und daß Du stark genug bist, auch das Entsetzlichste zu vernehmen und mit heiligem Herzen zu tragen: meine Augen sind erblindet, meine Füße von einer Granate zerrissen. Ich bin nur noch ein Stumpf. Sei stark. Es liebt Dich wild wie je Dein Gerd.« Annette faßte sich an die Brust. Sie wollte schreien. Der Postreferendar war erblaßt. Im Nebenzimmer spielte die Tante einen Chopinschen Walzer. Wie zwei zerschossene Vögel fielen die Augen der Annette tot in sich zusammen.
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(Für Ira)
Ich bekam von der Lazarettinspektion eine Karte, ob ich nicht einen schwerverwundeten polnischen Jungschützen besuchen wolle, der vor drei Tagen eingeliefert sei. Er verweigere jede Nahrungsaufnahme. Glaube sich noch immer in Feindesland. Deliriere. Da niemand polnisch spreche, könne man sich mit ihm nicht verständigen.
Ich machte mich auf den Weg.
Er lag in einer Einzelkammer. Auf seinem Nachttisch stand ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum mit winzigen roten Lichtern besteckt. Es war der zweite Advent.
»Wer da?« sagte er auf polnisch und krümmte seine linke Hand auf der Bettdecke wie einen Revolver gegen mich.
»Gut Freund,« gab ich polnisch zurück.