11,99 €
In Deutschlands Krankenhäusern ist die Aufenthaltsdauer der Patienten in den letzten zwei Jahrzehnten um die Hälfte verkürzt. Über 50 000 Stellen im Pflegebereich wurden gestrichen. Kranke Menschen werden immer häufiger vorzeitig entlassen, nur um mit einem anderen Leiden gleich wieder aufgenommen zu werden. Die Anzahl gut bezahlter Operationen nimmt stetig zu, während Abteilungen, die sich nicht rentieren, geschlossen werden, unabhängig vom Bedarf. In keinem Land der Welt sind mehr Krankenhausbetten im Besitz privater Klinikkonzerne. Das Gesundheitswesen entwickelt sich zu einer Gesundheitswirtschaft, und in keinem Wirtschaftszweig sind derzeit höhere Renditen zu erwirtschaften. Was steckt dahinter? Dieses Buch ist ein Plädoyer für den Weg zu einer Heilkunst, die den Patienten als Menschen und nicht als »Kunden« im Blick hat, die Gesundheit nicht als Ware verkauft und die medizinische Versorgung als Sorge um den Kranken und nicht als Dienstleistung versteht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2015
Unser Gesundheitswesen entwickelt sich mehr und mehr zu einer Gesundheitsindustrie, bei der die Erwirtschaftung von Erlösen der zentrale Antrieb ist. Die Krankenversorgung erfolgt nach dem Vorbild industrieller Produktion und verliert dabei zunehmend den kranken Menschen aus dem Blick. Patienten werden wie eine Nummer schnell durchgeschleust, man hält sich an das Formalistische, aber eine wirklich patientengerechte Versorgung wird immer häufiger erschwert, im stationären wie im ambulanten Bereich. Das ökonomische Denken ist so vorherrschend, dass sich dadurch auch die inneren Einstellungen der Heilberufe sukzessive verändern. Wie konnte es dazu kommen, und was steckt dahinter?
Giovanni Maio ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und zugleich Direktor eines eigenen Institutes. Als ausgebildeter Philosoph und Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung ist er ein gefragtes Mitglied zahlreicher Ethikkommissionen, in denen er sowohl die Bundesregierung als auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Bischofskonferenz beraten hat und weiterhin berät.
Giovanni Maio
Geschäftsmodell Gesundheit
Wie der Markt die Heilkunst abschafft
Suhrkamp
medizinHuman
Herausgegeben von Dr. Bernd Hontschik
Band 15
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4514.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74363-8
www.suhrkamp.de
Vorbemerkung des Herausgebers
I. Einleitung
II. Die Medizin auf dem Weg zu Fallpauschalen und Budgetierung. Eine Hinführung
1. Zur Notwendigkeit ökonomischen Denkens in der Medizin
2. Von der dienenden zur bestimmenden Ökonomie
III. Praktische Auswirkungen einer ökonomisierten Medizin
1. Aufnahme: Kategorisierung der Patienten nach ökonomischen Kriterien
2. Diagnostik: Parallelität von Über- und Unterdiagnostik
3. Therapie: Fragmentierung und Ziffer im Kopf
4. Entlassung: Kein sanftes Hinausbegleiten
5. Patientenkontakt: Handwerklich-technische Qualität vor Beziehungsqualität
6. Strategie der Simplifizierung
7. Wettbewerbsfähigkeit als neues Qualitätskriterium
8. Entsolidarisierung von den Schwächsten
9. Subtile Disziplinierung der Ärzte durch die Kostenträger
10. Innere Umprogrammierung der Ärzte
11. Sinnentleerung ärztlicher Tätigkeit
IV. Theoretische Implikationen einer ökonomisierten Medizin
1. Abschaffung der Geduld und Abwertung der Sorgfalt
2. Verlust der Rücksicht
3. Vernachlässigung der Ausbildung
4. Abschaffung des ärztlichen Ermessensspielraumes
5. Einfassen des Patienten in standardisierte Module
6. Austauschbarkeit des Arztes
7. Vorstellung herstellbarer Beziehungen
8. Abschaffung der Kreativität
9. Legitimierung der Gleichgültigkeit
10. Entlegitimierung des Nichtmessbaren
11. Machen statt Versehen
12. Verlust der Ganzheitlichkeit
13. Abwertung der ärztlichen Qualität
14. Etablierung einer Misstrauenskultur
15. Moralische Dissonanz und Verlust der Freude
16. Individualisierung struktureller Defizite
17. Kalküle des Eigennutzes statt Dasein für andere
18. Verlust des Vertrauens in die Medizin
V. Vom Patienten zum Kunden
1. Unzulänglichkeit des Kundenbegriffs für die Medizin
2. Ignorierung der Angewiesenheit des kranken Menschen
3. Von der Leidenslinderung zur Weckung neuer Bedürfnisse
4. Werbung für ärztliche Hilfe?
5. »Nichts ist unmöglich«– Kultivierung der Machbarkeit
VI. Vom Vertrauensverhältnis zum Vertragsverhältnis
1. Der Vertrag als das Vorgefertigte
2. Unpersönlichkeit des Vertrages
3. Egologik des Vertrages
4. Verlust des sozialen Bandes durch den Vertrag
5. Zur Notwendigkeit eines sozialen Bandes zwischen Arzt und Patient
6. Das Arzt-Patient-Verhältnis geht nicht im Rechtsverhältnis auf
VII. Problemfeld Bonuszahlungen: Belohnung für das Falsche
1. Bonusverträge als Entwertung ärztlicher Hilfe
2. Einkalkulierte Korrumpierbarkeit der Ärzte
3. Profanierung des Arztberufs
4. Die medizinische Indikation als Kernstück ärztlicher Ethik
5. Helfen aus innerer Motivation und nicht aufgrund äußerer Gratifikation
6. Monetäre Unbeeinflussbarkeit als zentraler Wert
VIII. »Lohnt es sich zu helfen?« – Der Irrweg in die Priorisierung
1. Notwendigkeit setzt eine Festlegung des Behandlungsziels voraus
2. Notwendigkeit setzt Zweckmäßigkeit voraus
3. Helfen unter Vorbehalt
4. Unersetzbarkeit ärztlicher Beurteilungserfahrung
5. Kosten-Nutzen-Analysen benachteiligen die Schwächsten
6. Verschwendung durch eine sprachlose naturwissenschaftliche Medizin
IX. Gesundheit als Pflicht? Krankheit als Schuld?
1. Der moderne Patient als »Nutzer«
2. Der Mensch als Gesundheitsmanager seiner selbst?
3. Eigenverantwortung erfordert strukturelle Voraussetzungen
4. Individualisierung der Gesundheitsrisiken
5. Kranke und alte Menschen als Verlierer
6. Eigenverantwortung braucht gemeinsame Verantwortung
7. Eigenverantwortung braucht Vertrauen in das soziale Band
8. Der kranke Mensch oder: Das Recht, schwach zu sein
9. Gesundheitskompetenz ist mehr Haltung als Wissen
10. Nicht Eigenverantwortung statt Sorge, sondern Eigenverantwortung durch Sorge
X. Für eine Aufwertung der Beziehungsmedizin
1. Notwendige moralische Anreize für eine Beziehungsmedizin
2. Ärzten muss ermöglicht werden, medizinisch zu entscheiden und nicht ökonomisch
3. Medizin braucht Anreize für eine ganzheitliche Betreuung
4. Krankenkassen: Sprechender Dialog mit den Ärzten statt formalisierter Kontrolle
5. Dialog zwischen Medizin und Ökonomie
6. Ermöglichung von Zeit, Aufmerksamkeit, Gespräch und Wertschätzung
Literatur
Gelegentlich schleichen sich neue Worte in die gesellschaftlichen Diskurse, deren Sinn man erst erfasst, wenn es bereits zu spät ist. Es geschieht gleichzeitig vor unseren Augen und hinter unserem Rücken. Eines dieser neuen Worte heißt: »Gesundheitswirtschaft«. Sprach man vor noch gar nicht allzu langer Zeit von dem »Gesundheitswesen«, ist nun von der »Gesundheitsindustrie« die Rede. Doch was ist das eigentlich? Was wird in dieser Wirtschaft hergestellt? Und wie heißen die Hersteller, was sind die Waren, wer sind die Käufer?
Neue Worte stehen für neue Konzepte: Ein Gesundheitswesen ist Teil des Sozialsystems unserer Gesellschaft. Ein Teil unseres Reichtums wird in das Gesundheitswesen investiert, zum Wohle aller. Eine Gesundheitsindustrie hingegen ist Teil des Wirtschaftssystems. Kapitaleigner investieren in diese Gesundheitsindustrie, und sie erwarten Rendite, zum Wohle weniger. Beides gleichzeitig kann man nicht haben, denn die Ziele dieser beiden Systeme widersprechen sich fundamental.
Das Wort »Gesundheitsindustrie« ist also ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Es gibt das Gesundheitswesen, und es gibt Industrien, die die dafür notwendigen Waren zur Verfügung stellen. Wenn das industrielle Produktionskonzept aber Besitz ergreift von der eigentlichen medizinischen Tätigkeit, wenn der Erfolg ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit am Bilanzgewinn gemessen wird, dann hat die Gesundheitsindustrie gewonnen, das Gesundheitswesen tritt ab. Das Gesundheitswesen entwickelt sich zur Gesundheitswirtschaft, und in keinem Wirtschaftszweig sind derzeit höhere Renditen zu erwarten. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte werden zu Leistungsanbietern, Krankenhäuser treten in Konkurrenz zueinander, Patientinnen und Patienten werden zu Kundinnen und Kunden, und Dienstleistungen werden – wie Waren – nur noch da angeboten, wo sie Gewinn versprechen, aber nicht für die Ärztinnen, die Ärzte, die Pflegekräfte oder die Patientinnen und Patienten, sondern für die Investoren. Wenn es darauf ankommt, wird eine Industrie immer die Priorität der Rendite durchsetzen, während ein Sozialsystem nur die Priorität der Bedürfnisse der ihm anvertrauten Menschen kennt. Dieses Buch handelt von der gegenwärtigen Humanmedizin in unserem Land, die sich zwischen diesen beiden Polen zu behaupten sucht.
Es geht hier nicht darum, wie dieser Destruktionsprozess, dieser Diebstahl am Gemeineigentum aufgehalten werden kann. Aber wer es gelesen hat, wird keinen Zweifel mehr daran haben, dass er aufgehalten werden muss – ein Ziel, das dieses Buch mit allen bisherigen 14Bänden der Reihe medizinHuman gemeinsam hat.
Frankfurt am Main, im Dezember 2013
Bernd Hontschik
»In dem Augenblick, in dem Fürsorge dem Profit dient,
hat sie die wahre Fürsorge verloren.«
Bernard Lown
Vor kurzem bin ich zufällig auf folgende Stellenanzeige gestoßen: »Möchten Sie Ihre Kompetenzen einbringen, um das Wachstum eines innovativen Unternehmens auszubauen? Zur Fortsetzung der erfolgreichen Wachstumsstrategien suchen wir Sie als engagierten Teamplayer mit Führungsqualitäten.« Bei dieser Anzeige, so sollte sich herausstellen, handelte es sich um die Annoncierung einer Chefarztstelle. Der gleiche Text hätte auch für einen Betriebswirt, also für einen Geschäftsmann, verwendet werden können. Kein Wort über den Patienten war dort zu lesen, kein Wort davon, dass es in der Medizin um Hilfe geht und nicht um Expansion. Diese Annonce ist symptomatisch für unsere Zeit und für die gegenwärtigen Veränderungen der modernen Medizin. So wird heute innerhalb der Medizin immer weniger vom Helfenwollen, vom Dienst am Menschen gesprochen als vielmehr von Dienstleistungen, von Kunden, von Benchmarking, Wettbewerbsfähigkeit, ja, auch von Marketing. Die Begriffe ändern sich, und mit ihnen verändert sich auch die Identität der Medizin: von einem sozial-karitativen zu einem ökonomisch-kalkulierenden Selbstverständnis, von der Zuwendung zur Dienstleistung, vom Mitfühlen zur Kundenfreundlichkeit.
In den gegenwärtigen Debatten richtet sich der Argwohn der Öffentlichkeit gegen Oberflächenphänomene wie die Boni der Chefärzte, aber mit der Fokussierung auf möglicherweise rein ökonomisch motivierte Operationen wird häufig ausgeblendet, dass sich die gesamte Medizin in einem Transformationsprozess befindet. Es ist nicht der Bonus allein, der als Sinnbild des Überschwappens einer ökonomischen Rationalität auf die Medizin eine problematische Ausformung haben kann, sondern es ist das Denken, das den Bonus überhaupt erst als Selbstverständlichkeit aufkommen lässt, das Denken, das auch andere Formen ökonomischer Logiken immer weiter salonfähig macht.
Absicht dieses Buches ist, einen Überblick über die Auswirkungen dieser ökonomischen Rationalität mit besonderem Bezug auf die inneren Veränderungen der modernen Medizin zu gewinnen. Hierbei sei gleich Folgendes vorweggenommen: Ein Zurück-in-die-Vergangenheit kann nicht die Lösung für heutige Probleme sein. Aber eine Grundreflexion auf das Eigentliche kann sehr heilsam sein und am Ende vielleicht die Medizin und das gesamte Gesundheitssystem selbst dazu anhalten, nach neuen Wegen zu suchen, um die ökonomische Überformung zu durchbrechen und der Medizin das zurückzugeben, was von Seiten des Patienten von ihr erwartet wird: nämlich vor allen Dingen die Ermöglichung der Sorge um den kranken, hilfsbedürftigen Menschen, für die der vielerorts praktizierte »Kundendienst« ein schlechter Ersatz ist.
Ich möchte in diesem Buch die Auswirkungen einer Bemächtigung der Medizin durch die Ökonomie näher beleuchten, Schritt für Schritt, um aufzuzeigen, wie sehr sich die Identität der Medizin dabei von innen her verändert. Dabei wird sich erweisen, dass diese inneren Veränderungen so subtil sind und sich so allmählich einschleichen, dass man es kaum merkt. Im ersten Teil dieses Buches werde ich zunächst die Unzulänglichkeiten der unreflektierten Übertragung ökonomischen Denkens auf die Medizin darlegen, angefangen mit einer Schilderung der Veränderungen der stationären Medizin, wie sie sich durch die Einführung der DRGs, der Fallpauschalen, eingestellt haben, um dann unter der Berücksichtigung der ambulanten Medizin den Blick etwas zu weiten und sichtbar zu machen, wie sich mit den Veränderungen im Alltagsablauf vor allem die Wahrnehmungen und Grundeinstellungen der Heilberufe gewandelt haben. Zweck dieses Buches ist nicht die Aufzählung pragmatischer Handlungsvorschläge, auch wenn sich aus meinen Überlegungen einige ableiten lassen. Es verschreibt sich vielmehr der grundlegenden Reflexion und mündet in eine Erarbeitung der ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns und in die Formulierung von Kernmaximen für eine Medizin der Zukunft.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!