Den kranken Menschen verstehen - Giovanni Maio - E-Book

Den kranken Menschen verstehen E-Book

Giovanni Maio

4,9

Beschreibung

Krankheiten können den Menschen in eine existenzielle Krise stürzen. Die moderne Medizin reagiert darauf mit Naturwissenschaft und perfekter Technik, aber sie lässt den Menschen in seiner Lebenskrise oft allein. Giovanni Maio macht die Einseitigkeit einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin deutlich und entwirft eine Ethik in der Medizin, die auf die Kraft der Zuwendung und der Begegnung setzt. Ein überfälliger Aufruf zu einer neuen Medizin der Zwischenmenschlichkeit in einer überarbeiteten Ausgabe.

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Giovanni Maio

Den kranken ­Menschen verstehen

Für eine Medizin der Zuwendung

Überarbeitete Neuausgabe

Titel der Originalausgabe: Den kranken Menschen verstehen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

ISBN 978-3-451-30687-7

Überarbeitete Neuausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-60101-9

ISBN E-Book 978-3-451-82208-7

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

I. Moderne Medizin – oder wenn das Verstehen des Patienten zur Nebensache wird

Medizin als Industriebetrieb?

Gute Medizin sucht nach singulären Lösungen

Gute Medizin braucht behutsames Abwägen

Reflexion und Synthese

Erfahrung und Urteilskraft

Gute Medizin zwischen einer Kunst des Machens und einer Kunst des Verstehens

II. Eine kleine Phänomenologie des Krankseins – Beispiele aus der Praxis

1. Chronischer Schmerz – der widrige Stachel als Bewältigungsaufgabe

Der Stachel

Das Getroffenwerden

Vereinsamung

Die subjektive Erfahrung in einer Medizin, die auf Objektivierbarkeit setzt

Der Schmerzpatient als Gegenpol zum Unternehmer seiner selbst

Schmerzen haben als persönliches Versagen?

Gefangen und doch frei – der Schmerz als Bewältigungsaufgabe

2. Krebs – das Herausgeworfensein aus der Normalität

Diagnose Krebs als abrupte Unterbrechung der Normalität

Verlust der Kontrolle über das eigene Leben

Verlust der leiblichen Geborgenheit

Abschied von der Verlässlichkeit der Zukunft

Metamorphose

Erkennen verborgener Ressourcen

Die Neuerstellung von Normalität

3. Parkinson – die Entfremdung vom eigenen Körper

Das Fremdwerden des eigenen Körpers

Die Unüberwindlichkeit des Raumes

Das Stehenbleiben der Zeit

Herausfallen aus dem Selbstverständlichen

Weckruf für die Gesunden

4. Demenz – die fortbestehende Identität in neuer Form

Der verstellte Zugang zur eigenen Geschichte

Der Schleier der Unvertrautheit

Die Scham, andere zu enttäuschen

Die Fähigkeit zur Resonanz

Leben im Bezogensein

Das leibliche Ich

Die durch Beziehung gestiftete Identität

5. Der sterbende Mensch – Leben im Zeichen der Angewiesenheit

Autonomie als kreativer Umgang mit der Angewiesenheit

Auch der schwerkranke Mensch hat Potenziale

Der fehlende Glaube an die Solidarität der anderen

Sozial bestätigte Wertlosigkeit des Lebens

Vermittlung von Lebensbejahung als soziale Aufgabe

Der assistierte Suizid als implizite Entpflichtung der Gesellschaft

Privatisierung eines gesamtgesellschaftlichen Defizits

Für eine Kultur der Anerkennung und Reintegration Schwerkranker in die Gesellschaft

III. Wege der Bewältigung

6. Annehmen lernen – das gute Leben als Kunst des Sich-Einrichtens

Was bedeutet Schicksal?

Wir finden Gegebenes vor

Leben heißt dem Widerfahrnis ausgesetzt sein

Die moderne Unfähigkeit, das Gegebene anzunehmen

Schicksal als Aufgabe

Freiheit

Vom Wert der Selbstbejahung

7. Vertrauen – die gemeinschaftsstiftende Kraft

Vertrauen als atmosphärischer Eindruck

Entproblematisierung des Nichtwissens

Vertrauen als akzeptierte Verwundbarkeit

Das Einräumen von Freiheit

Konstituierung einer Beziehung

Vertrauen als Treueerwartung

Vertrauen als Verpflichtung zur Gegenseitigkeit

Vertrauen als gemeinschaftsstiftende Kraft

Was bedeutet das für den kranken Menschen?

Schlussfolgerungen für die Medizin

8. Hoffen – das Erschließen von Zukunft im Moment der Bedrängnis

Hoffnung als realistischer Zukunftsbezug

Anerkenntnis der Grenze der eigenen Verfügungsgewalt

Das Nicht-Fixiertsein

Geduld

Hoffnung als Impuls zum Handeln

Anerkenntnis der eigenen Vulnerabilität

Vertrauen und Sinnverstehen

Alles Hoffen ist Gemeinschaft

9. Den kranken Menschen verstehen

Die Bedeutsamkeit des Verstehens am Beispiel Schizophrenie

Verstehen heißt den anderen sehen

Hineindenken aus der Distanz

Das Punktuelle in das Ganze zurückholen

Sich selbst infrage stellen

Verweilen können

Verstehen heißt das Wohin erkennen

Schlussfolgerungen für die Medizin

IV. Ohne Zuwendung ist alles nichts

Begegnung als Grundlage der Heilung

Die Zweckrationalität überwinden

Anerkennen

Zuwendung wertet auf

Zuwendung verwandelt

Die Bedeutung des Gesprächs

Die Bedeutung des Zuhörens

Medizin als Verbindung von Sachlichkeit und Zwischenmenschlichkeit

Über den Autor

Vorwort zur 3. Auflage

Dieses Buch liegt nun in einer überarbeiteten Neuausgabe vor. Ich danke dem Verlag Herder aufrichtig für die mir eingeräumte Freiheit, das gesamte Manuskript einer grundlegenden Revision zu unterziehen, nachdem die letzte Auflage vergriffen war. Dies gab mir die Möglichkeit, jede Zeile zu überprüfen und neue Gedanken in das Buch zu integrieren, die mich in Bezug auf die Phänomenologie der Krankheit und die Notwendigkeit einer Medizin der Zuwendung seit der letzten Auflage beschäftigt haben. Besonders wichtig war mir eine Erweiterung des Spektrums der phänomenologisch aufgearbeiteten Krankheiten, da ich aufzeigen wollte, dass sich mit dem Krankwerden eben nicht nur das innere Bewusstsein verändert, sondern dass die Krankheit manifeste Auswirkungen auch auf äußere Prozesse hat, sichtbare Symp­tome, die wiederum das eigene Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung von Grund auf verändern können. Paradigmatisch für diese äußeren Veränderungsprozesse schien mir die Parkinsonerkrankung zu sein, da gerade bei dieser Krankheit der Körper seine Gefolgschaft und seine Ausdrucksmöglichkeiten versagt und den kranken Menschen damit vor Herausforderungen stellt, die seine Identität bis ins innerste Mark erschüttern. Die Parkinsonerkrankung steht beispielhaft auch für weitere Krankheiten, die sich in der Bewegungsökonomie des Körpers und damit seinem leiblichen In-der-Welt-Sein niederschlagen, allen voran die Multiple Sklerose. Das neu überarbeitete Buch enthält also ein zusätzliches Kapitel zur Parkinsonerkrankung, die ich phänomenologisch zu erfassen versuche. Es enthält aber auch ein komplett umgeschriebenes Kapitel zu dem für mich wichtigen Thema Vertrauen, das in dieser neuen Auflage noch weiter ausgebaut wird. Aber auch alle anderen Kapitel sind gründlich durchgesehen und an verschiedenen Stellen überarbeitet und ergänzt worden. Damit verbinde ich das Anliegen, dass dieses Buch auch heute noch seinen Zugang zu den Leserinnen und Lesern findet. Es ist ein grundlegendes Buch, das zum Nachdenken anregen will.

Es ist mir ein großes Anliegen, dem Verlag Herder für diese großzügige Investition in eine umfassende Neuerstellung des Manuskripts aufrichtig zu danken. Allen voran danke ich in diesem Zusammenhang Herrn Dr. German Neundorfer, der sich dafür starkgemacht und das Manuskript mit großer Geduld und Professionalität betreut hat. Aufrichtig zu danken habe ich Frau Dr. Cathrin Nielsen, die auch die überarbeitete Auflage mit ihrer besonderen Akribie und Sachkenntnis bereichert hat. Sehr viele ihrer Korrektur- und Ergänzungsvorschläge haben Eingang in das finale Manuskript gefunden. Ich bin froh, dass sie fast alle meine Bücher so treu begleitet hat.

Schließlich danke ich den vielen Leserinnen und Lesern, die mir durch ihre Zuschriften zahlreiche Anregungen gegeben haben. Ich habe versucht, ihnen in dieser Neuausgabe Rechnung zu tragen. Möge das Buch weiterhin Nachdenklichkeit stiften!

Freiburg, im Juni 2020

Vorwort zur 1. Auflage

Dieses Buch ist erwachsen aus einer langjährigen Beschäftigung mit den Fehlentwicklungen der modernen Medizin, die ich in vielen anderen Büchern beschrieben habe. Irgendwann verspürte ich den Drang, die kritische Beleuchtung zu übersteigen und mich aufzumachen zu dem, was mir im positiven Sinne wichtig ist. Ich erlebe überall junge wie auch erfahrene Ärztinnen und Ärzte, die trotz der widrigen Verhältnisse glücklich sind, diesen Beruf gewählt zu haben, weil sie spüren, dass sie als Ärztin oder Arzt jeden Tag die Chance bekommen, Sinn zu stiften durch ihr Dasein für andere. Es gibt so viele Ärzte, die sich in dem Bestreben, anderen zu helfen, jeden Tag neu dem Leid kranker Menschen aussetzen und versuchen, deren Probleme zu lösen, sich etwas auszudenken, damit es ihnen, den anderen, besser geht. In einer Zeit, in der die Medizin vor allem im Zuge ihrer Durchökonomisierung zunehmend das öffentliche Vertrauen verliert, ist es wichtig, deutlich zu machen, dass sie als soziale Praxis im Dienste des hilfsbedürftigen Menschen auch heute noch tagtäglich gelebt wird – aber diejenigen, die sie leben, leben sie nicht wegen der Strukturen, in denen sie arbeiten, sondern trotz der Strukturen, die bezogen auf den zwischenmenschlichen Charakter der Medizin so entgleist sind wie selten zuvor. Es erschien mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es die Medizin, die sich kranke Menschen erhoffen, noch immer gibt. Sie befindet sich jedoch immer stärker in der Defensive, da sie nach Kriterien bewertet wird, die mit Zuwendung, Verstehen und Begleiten kaum noch etwas zu tun haben.

Mit diesem Buch verbinde ich die Hoffnung, einerseits den Patienten Zuversicht zu vermitteln, andererseits den Ärztinnen und Ärzten, den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, den Heilpraktikern, den Pflegenden, den Hebammen, den Physiotherapeuten und allen, die in den ambulanten und stationären Einrichtungen tagtäglich ihren Dienst am Menschen verrichten, Mut zu machen, bei ihrer Sache zu bleiben und sich ihre inneren Werte nicht durch die Ökonomie rauben zu lassen. Ich hoffe und wünsche mir, die in den allermeisten heilkundlich Tätigen innerlich schlummernden Antriebe zu bekräftigen, sich als Mensch dem leidenden Menschen zuzuwenden. Dieses Buch soll nach all meinen medizinkritischen Büchern der letzten Jahre ein Ermutigungsbuch sein, denn das größte Kapital, das wir haben, ist der innere Antrieb, die hohe intrinsische Motivation der Heilberufe, die jedoch durch das System sukzessive abgebaut wird. Dieser Abbau muss gestoppt werden, und das kann nur durch eine Schärfung des Bewusstseins dafür gelingen, wie wertvoll dieses innere Anliegen ist, für den anderen da zu sein. Denn der Mensch ist kein egologisches Wesen, sondern von Grund auf ausgerichtet auf den anderen, er erlernt nahezu alles, was er kann, nur durch andere Menschen und kann nichts allein aus sich selbst. In der Möglichkeit, einem anderen Menschen das Gefühl zu geben, dass er nicht allein ist in seiner Not, hat jeder Mensch die Chance, das, was er von anderen empfangen hat, in vielfacher Weise zurückzugeben – und genau diese Chance bietet die Medizin.

Auch ich habe alles anderen Menschen zu verdanken, da­rüber bin ich mir im Klaren. Es ist hier nicht der Ort, all denen zu danken, die mir das ermöglicht haben, was ich ­heute tun darf, aber es ist der Ort, denen zu danken, die es mir ermöglicht haben, dieses Buch, das in den letzten Jahren in meinem Kopf heranreifte, nun Wirklichkeit werden zu lassen. Allen voran gilt mein Dank dem sehr geschätzten Verlag Herder! Er hat sich sofort offen gezeigt für meine Idee, hat mich darin bestärkt und nach allen Kräften unterstützt. Es war die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit diesem Verlag, die meine Freude am Schreiben potenziert hat, und dafür möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich danken, allen voran Herrn Dr. German Neundorfer für sein umsichtiges Lektorat, für all seine wegweisenden Ratschläge und seine so engagierte und vertrauensvolle Begleitung in der langen Schaffensphase. Danken möchte ich insbesondere auch Herrn Dr. Tobias Winstel, der mir als Verlagsleiter viele Anregungen gegeben und mich immer wieder neu ermuntert hat, genau den Duktus beizubehalten, auf den wir uns rasch verständigt hatten. Danken möchte ich nicht zuletzt Herrn Manuel Herder selbst, dessen Unterstützung durch Wertschätzung mir viel bedeutet.

Zu danken habe ich ebenso aufrichtig Frau Dr. Cathrin Nielsen. Sie hat nahezu alle meine Bücher begleitet, kennt mein Denken wie kaum eine andere, und ohne ihre akribische Erstdurchsicht meiner Manuskripte und ihre unzähligen inhaltlichen Anregungen hätte das Buch nicht die Form angenommen, die es jetzt hat. Ich danke ihr aufrichtig für all die Zeit, die sie sich für mich genommen hat, und für all ihre Sensibilität, sich auf mein Denken in dieser wahrlich verstehenden Weise einzulassen.

Wichtig ist mir, Herrn Dr. Raphael Rauh zu danken, der in einer kaum zu überbietenden Gewissenhaftigkeit und Gelehrsamkeit das Manuskript am Ende gegengelesen hat; die Zusammenarbeit mit ihm hat mir wie immer große Freude bereitet.

Schließlich danke ich all den Ärztinnen und Ärzten, allen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, allen Pflegenden und auch allen Patientinnen und Patienten, die mir täglich schreiben und denen ich auf meinen Vortragsreisen begegnen darf, denn ihre Anliegen, ihre Anregungen, ihre Sorgen und ihre Bestärkungen haben Eingang gefunden in die Seiten, die jetzt folgen. Nichts denken wir allein aus uns selbst heraus – letzten Endes ist es immer der Dialog mit anderen, der uns dazu anstiftet, uns zu neuen Gedanken aufzumachen. Ich hoffe, dass die Gedanken in diesem Buch denen zugutekommen, für die sie entfaltet worden sind, den kranken Menschen.

Freiburg, im Juli 2015

I. Moderne Medizin – oder wenn das Verstehen des Patienten zur Nebensache wird

»Keine Methode ersetzt persönliche Wärme, Toleranz und [die] positive Einstellung zum Menschen.«

(Ruth C. Cohn)

Im Klinikalltag erlebt man es immer wieder, dass gerade schwerkranke Menschen sich beim Abschied geradezu überschwänglich bedanken und voll des Lobes sind ob der Betreuung vonseiten der Ärzteschaft und der Pflegenden. Bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass dieses Lob weniger dem Heilungserfolg gilt als vielmehr der Tatsache, dass diese Patientinnen und Patienten1 Gelegenheit bekamen, ihre Sorgen und Nöte loszuwerden. Sie sind dankbar dafür, dass sie über sich und ihre Ängste sprechen konnten. Allein das Gefühl, verstanden worden zu sein, verleiht ihnen diese Grundempfindung der Dankbarkeit. Auch wenn nach wie vor viele Menschen dieses Gefühl, bei ihrem Arzt oder bei ihrer Ärztin ein offenes Ohr zu finden, teilen – eine Selbstverständlichkeit ist dies nicht mehr. Denn von ihrem Aufbau, von ihren strukturellen Bedingungen, von ihrem ganzen Leitbild her ist die moderne Medizin mehr auf das Machen ausgerichtet als auf das Verstehen. Das hat viele Gründe.

Medizin als Industriebetrieb?

Die moderne Medizin setzt auf Naturwissenschaft, auf Technik, auf Reparatur, als wäre die Krankheit lediglich ein Defekt, den es zu beheben gelte. Innerhalb einer solchen Konzeption von Medizin wird alle Kraft auf das Machen, auf die Anwendung von Verfahren gerichtet und deswegen verkannt, dass dem kranken Menschen oft eher durch das Verstehen und durch die Beziehung geholfen werden kann. Dass die moderne Medizin die heilsame Kraft des Verstehens aus den Augen zu verlieren droht, hängt damit zusammen, dass wir in einer Zeit leben, in der die Zahl, das Messen, das Nachweisen, das Berechnen eine ganz neue und sehr wirkmächtige Bedeutung erlangt haben. Zwar versteht sich die Medizin schon seit 150 Jahren vornehmlich als angewandte Naturwissenschaft, womit sie das Primat des Messens gewissermaßen zu ihrer Tradition gemacht hat. Diese Orientierung an den Naturwissenschaften erfährt heute jedoch eine Verstärkung insofern, als sie sich paart mit einer folgenschweren Orientierung an der Ökonomie. Ökonomie und Naturwissenschaft bilden eine so starke Allianz, dass sich unter der Vorherrschaft dieser beiden Paradigmen die gesamte Medizin grundlegend wandelt. Dieser Wandel vollzieht sich fast unmerklich, da er in erster Linie Haltungen verändert. Möglicherweise mehr noch als die äußeren Abläufe betrifft dieser Wandel das Bewusstsein der Medizin, ihre innere Identität. Verrichten, Messen, Prüfen, Nachweisen – all das wird heute verlangt, und erstaunlicherweise nicht allein dort, wo tatsächlich nur Prozesse ablaufen wie in der Industrie, sondern auch dort, wo es ausschließlich um Menschen geht. Auch die Behandlung des kranken Menschen folgt zunehmend den gedanklichen Vorgaben der industriellen Produktion. Das ist das eigentliche Eintrittstor einer Umwertung der Werte in der Medizin. Daher ist es wichtig, sich über den Unterschied zwischen der Produktion von Gegenständen und der Behandlung von Menschen eingehender Gedanken zu machen. Warum und inwiefern ist Medizin gerade kein Produktionsprozess? Weshalb ist das über die Medizin verhängte industrielle Denken so ungenügend und schädlich?

Gute Medizin sucht nach singulären Lösungen

Wenn die ärztliche Leistung ein Produktionsprozess sein soll, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass sie auf das Zusammenaddieren von Vollzügen reduziert wird. Allerdings ist im Vollzug selbst all das, was ein Arzt oder eine Ärztin tatsächlich geleistet hat, nicht vollumfänglich enthalten, denn vor dem Vollzug stand der gedankliche Prozess des Zusammenführens verschiedener Informationen aus verschiedenen Bereichen – Anamnese, Diagnostik, Betrachtung des Umfelds. Die Fokussierung auf den Vollzug bedeutet somit eine Entwertung der eigentlichen ärztlichen Leistung, die mehr im reflektierten Abwägen liegt als in der Handlung selbst. Die Leistung der Ärzte wird im Zuge der Ökonomisierung zu Unrecht auf den dokumentierbaren Eingriff reduziert – der ihm vorausgehende Prozess des sich an die Diagnose Herantastens, die vielen informellen Gespräche, der Prozess des Nachdenkens und Abwägens, all das wird nicht in Anschlag gebracht. Aber was wäre der Eingriff ohne diese ihm vorangestellten Leistungen? Je mehr man die Ärztinnen und Ärzte allein nach der Zahl der Eingriffe und der ausweisbaren Parameter bewertet, desto mehr werden sie selbst Zug um Zug vergessen, dass sie eigentlich viel mehr leisten als das, was gezählt wird. Und wenn dieses qualitative »Mehr« nicht mehr abgerufen wird, wächst ihre Anfälligkeit dafür, sich in die Menge, in das rein quantitativ Fassbare zu flüchten. Ich meine aber, sie bräuchten nicht zu flüchten, sondern sollten mit Rückgrat ihre eigene reflexive Identität verteidigen. Die Kernqualifikation des Arztberufes liegt im reflexiven Umgang mit Komplexität, in der Bewältigung von Unsicherheit, in der professionellen Handhabung von Unwägbarkeiten und durch diese Qualifikationen hindurch letzten Endes in der sorgsamen Erkundung dessen, was für den konkreten Patienten, die konkrete Patientin das Beste ist. All diese Abwägungsprozesse machen die Leistung des Arztes aus, und sie zeigen auf, dass der Arzt, um ein guter Arzt zu sein, jeden Tag Probleme lösen und sich jeden Tag immer wieder neu etwas einfallen lassen muss, um dem jeweiligen Patienten individuell zu helfen.

Gute Medizin braucht behutsames Abwägen

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, genauer über den Unterschied zwischen Produktion und dem, was die Medizin leistet, nachzudenken. Die Ärztin oder der Arzt bewirken ja etwas durch ihre Behandlung, aber das, was sie da bewirken, unterscheidet sich vom Produktionsprozess darin, dass sie kein eigenes Werk herstellen, sondern in etwas eingreifen, was bereits da ist. Sie greifen in einen Körper ein, nicht etwa, um etwas Neues zu produzieren, sondern um etwas Bestehendes zu unterstützen oder so zu verändern, dass der gesamte Körper wieder in ein Gleichgewicht gelangt. Der Arzt greift in Lebendiges ein, und ein guter Arzt weiß genau, dass wenn der lebendige Körper nicht seinen Beitrag zu der Behandlung leistet, alles Bemühen vergebens sein wird. Der Arzt greift also ein, um das Bestehende zu unterstützen, und bei dieser Unterstützung gibt es ganz schnell ein Zuviel und ein Zuwenig. Wäre das, was Ärzte leisten, ein schlichtes Herstellen wie in der Industrie, müssten sie einfach nur wissen, wie der Schaltplan aussieht, und könnten nach Gebrauchsanweisung vorgehen. Beim Therapieren hingegen kann es nicht um Gebrauchsanweisungen gehen – es geht um ein Abwägen, ein gemeinsames Ausjustieren, es geht schlicht um ein sorgsames Vorgehen.

Der Organismus ist komplex und das Eingreifen in einen lebenden Organismus unendlich viel diffiziler als das Herstellen einer Sache. Während bei der Herstellung einer Sache perfekte Anordnung und Standardisierung ausschlaggebend sind, liegt das Wesentliche der Therapie von Menschen darin, das richtige Maß zu finden, das Maß, das genau zu diesem Patienten passt und zu diesem individuellen Befund, zu dieser Patientengeschichte. Zu Ende gedacht liegt der Wert des Behandelns somit nicht (wie bei der Produktion) im perfekten Schema, sondern im behutsamen Herausfinden dessen, was dem Kranken dient. In das Zentrum der Behandlung von kranken Menschen gehört daher Behutsamkeit. Dass genau dieser Wert heute delegitimiert und ihm keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wird, liegt an der grundlegend falschen Auffassung von Medizin als einem Produktionsbetrieb. Nur vor dem Hintergrund eines derart fehlgeleiteten Denkens können wir auch verstehen, warum in der Medizin heute so selbstverständlich falsche Anreize gesetzt und Kontrollsysteme eingeführt werden, die unweigerlich reduktionistisch sind.

Reflexion und Synthese

Es ist der politisch gewollte und durch Kontrollsysteme eta­blierte Fokus auf die reine Performanz, der die moderne Medizin zum Aktionismus anhält. Denn wenn man ­implizit davon ausgeht, das Eigentliche der Medizin ließe sich in messbaren Daten fassen, wird das Messbare immer weiter potenziert, ohne dass man merkt, dass damit gerade keine Steigerung von Qualität einhergeht, da die eigentliche Qualität des ärztlichen Tuns nicht das sichtbare und messbare Machen ist, sondern der unsichtbare und nicht messbare Reflexionsprozess. Ein Grundproblem der modernen Medizin liegt daher in der unleugbaren Tatsache begründet, dass man durch den verhängten Kontrollimperativ, den man aus der Industrie entlehnt hat, den größten Teil der ärztlichen Leistung schlichtweg aus den Augen verliert.

Von diesem falschen Denken aus wird den Ärztinnen und Ärzten suggeriert, ihre medizinischen Entscheidungen wären – wenn sie sich nur an den richtigen Ablauf hielten – ohnehin stets eindeutig ableitbar und algorithmisch klassifizierbar. Aber so funktioniert Medizin nun einmal nicht. Und zwar nicht nur, weil die Entscheidung, was zu tun ist, letztlich beim Patienten liegt, sondern weil sich die gute Entscheidung nicht ohne einen Dialog ergeben kann. Situationen in der Medizin sind selten so eindeutig, wie es die Theorie nahelegt; in den allermeisten Fällen handelt es sich um solche der Unsicherheit, um Situationen, in denen es um einen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten geht und nicht um einen Umgang mit absoluten Sicherheiten. Und gerade weil die Situationen immer einen Rest an Unbestimmtheit lassen, braucht der Arzt, um situationsgerecht zu entscheiden, einen Ermessensspielraum. Er braucht Entscheidungsfreiheit, um eine gute Abwägung vornehmen zu können, eine Abwägung, die von vornherein primär auf den Patienten ausgerichtet sein muss und nicht auf die Kongruenz mit einer starren Regel oder mit vorgegebenen Algorithmen oder Dokumentationspflichten. Dieser Ermessensspielraum wird den Ärztinnen und Ärzten heute genommen, weil das System nicht verstanden hat, was ärztliche Betreuung wirklich ist.

Erfahrung und Urteilskraft

Es ist wichtig, sich neu klarzumachen, was medizinische Behandlung eigentlich bedeutet. Die Behandlung bedeutet nicht per se Aktion – vielmehr geht es darum, patienten- und situationsgerecht zu entscheiden. Um das zu können, bedarf es eines formalisierten Sachwissens; das ist all das, was man im Studium lernt und was dann in Leitlinien kondensiert wird. Aber die praktische Situation, auf die der Arzt oder die Ärztin stoßen, ist immer eine einmalige und unverwechselbare Situation, eine, die in dieser Konkretheit in keinem Lehrbuch beschrieben worden ist und die man in keinen Leitlinien finden wird. Das lässt sich angesichts der Vielfalt der Menschen und Situationen nicht reduzieren. Der Arzt stößt also immer auf eine Situation, die im Vergleich zu seinem abgespeicherten Sachwissen zwangsweise überkomplex ist; sie ist komplexer als das formalisierte Wissen und stellt immer wieder eine ganz besondere Gegebenheit dar. Daher muss der Arzt nicht nur über Sachwissen verfügen, er muss auch wissen, wie je neu mit dieser oder jener Situation umzugehen ist. Aus dem formalen Sachwissen allein lässt sich nicht ableiten, was konkret zu tun ist; für diesen Sprung vom allgemeinen Wissen zur konkreten Handlung braucht man praktische Urteilskraft. Man braucht eine Urteilskraft, die über das bloße Wissen hinausgeht, und diese Fertigkeit macht die eigentliche Qualität der ärztlichen Betreuung aus. Immanuel Kant hat die Urteilskraft als »das Talent der Auswahl des in einem gewissen Falle gerade Zutreffenden« definiert, als das Vermögen, »den Punkt zu treffen, […] worauf es ankommt« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht BA 166).

Je formalisierter die Vorgaben sind, desto mehr wird die Fähigkeit des Arztes, eine singuläre und auf den einzelnen Patienten abgestimmte Entscheidung zu treffen, in Abrede gestellt. Die Kontrolle, die über diese Fähigkeit verhängt wird, ist demotivierend, weil sie implizit suggeriert, als wüsste die Ärztin oder der Arzt nicht, wie zu entscheiden ist, und müssten daher unterfüttert werden mit formalen Modellen, die aber als Modelle bereits vom Grundsatz her zu abstrakt sind, um dem einzelnen Patienten gerecht zu werden. Die Fähigkeit zur reflektierten Abweichung vom statischen Modell – das macht die ärztliche Könnerschaft aus, und je mehr die Ärzte daraufhin überprüft werden, ob sie Modelle einhalten, desto mehr empfinden sie diese zu Recht als Bevormundung, weil sich die Güte der ärztlichen Therapie nicht aus der 1:1-Übertragung abstrakter Schemata ergeben kann, sondern nur aus der erfahrungsgesättigten Einzelentscheidung. Die Leitlinien und Vorgaben können dabei eine Richtschnur geben, aber sie können dem Arzt die individuelle Entscheidung nicht abnehmen. Sie sind eine Richtschnur und nicht der Weisheit letzter Schluss. Letztlich sind sie wie Stützräder, die man gerade am Anfang der Tätigkeit braucht, die jedoch, je erfahrener man wird, immer mehr an Bedeutung verlieren. Wer sehr erfahren ist und sehr gut fahren kann, wird solche Hilfsstützen zu Recht eher als hinderlich denn als hilfreich empfinden. Formalisierungen gehen stets mit Vereinfachungen einher, aber die Kunst der Behandlung liegt gerade nicht im Einfachmachen, sondern in der Vergegenwärtigung der Komplexität sowie in der Fähigkeit, auch im Angesicht von Unsicherheit und bloßen Wahrscheinlichkeiten – also im Angesicht einer konkreten Situation, die nie restlos geklärt sein kann – dennoch eine gute Entscheidung zu fällen.

Die Formalisierung geht von klaren »Fällen« und Situationen aus, aber die reelle Praxis liefert diese absolute Klarheit nur selten. Wir brauchen den Arztberuf als Profession, gerade weil sich die Entscheidungen nicht allein aus den Fakten ergeben. Denn die Fakten sprechen meist nicht für sich, sondern es geht immer darum, sie zu interpretieren, sie mit dem Patienten und in seinem Sinne so zu deuten, dass sie in eine weitsichtige Entscheidung überführt werden können. Und diese Entscheidung kann der Eingriff sein, sie kann die weitere Diagnostik bedeuten, aber sie kann ebenso in der Einsicht bestehen, dass es vernünftiger ist, zu warten, oder auch in der, dass alle weitere Diagnostik nur noch unnötige Risiken bedeuten würde. Was aber tatsächlich in einem konkreten Fall unnötig ist oder nicht, ergibt sich aus dem direkten Gespräch, aus der Verknüpfung von Fakten und Lebenswelt, aus der reflexiven Kompetenz der Ärztin oder des Arztes und nicht aus der deduktiven Ableitung von formalen Modellen. Die ärztliche Profession ist also da, um die Kluft zwischen dem allgemeinen Wissen und der unverwechselbaren Situation des Patienten zu überbrücken. Die dafür notwendige Urteilskraft kann durch kein Behandlungsschema ersetzt werden, und alle Kontrollen, die über die Ärzte verhängt werden, gehen mit einer Geringschätzung dieser Urteilskraft einher und setzen ein vereinfachtes Bild von Medizin voraus. Denn sie tun so, als gäbe es in der Wirklichkeit nur typische Fälle und keine Besonderheiten, während das Gegenteil der Fall ist. Das Hinweggehen über die Besonderheit des einzelnen Menschen ist ein bedrohlicher Zug der ökonomisierten Medizinwelt. Daher ist es für die Ärztinnen und Ärzte wichtig, sich der unabdingbaren Besonderheit zuzuwenden und sich ihrer bewusst zu bleiben – den falschen Kontrollsystemen zum Trotz.

Gute Medizin zwischen einer Kunst des Machens und einer Kunst des Verstehens

Aus all diesen Gründen geht es in der Medizin nicht um das Umsetzen eines vorgegebenen Produktionsprozesses, sondern um das immer neue Erfassen der konkreten Situation eines kranken Menschen, die stets eine singuläre Entscheidung verlangt. Eine solche Entscheidung ist im gelungensten Fall das Resultat eines Zusammenführens von extern überzeugendem Sachwissen und einer internen Evidenz, die sich aus der Erfahrung des Arztes und der konkreten Lage und Person des Patienten ergibt. Dies ist die eigentliche Könnerschaft ärztlicher Behandlung, dieser synthetische und unweigerlich kreative Prozess, der nicht restlos vorgegeben werden kann, sondern der stets in der Unmittelbarkeit zu leisten ist. Für diesen Moment braucht man Erfahrung, Geduld und Gesprächsbereitschaft – alles Werte, die heute abgebaut werden und die doch neu aufgewertet werden müssen. Je mehr man diese Werte ignoriert und die Medizin als einen reinen Produktionsprozess betrachtet, desto mehr werden der Aktionismus befördert, das Machen belohnt, das Zuhören bestraft, die Interventionszeit berechnet, die Beratungszeit übersehen, die Steigerung des Durchlaufs zum Wert erhoben und die Behutsamkeit und Sorgfalt als etwas angesehen, was den Betrieb nur aufhält.

Daher ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die ärztliche Behandlung letzten Endes eine Verbindung aus Rechnen und Verstehen darstellt, einen Bund aus der Kunst des Machens und der Kunst des Sprechens, der Kunst des Hinhörens. Vor diesem Hintergrund gilt es in diesem Buch eine Vorstellung von Medizin entwerfen, welche die Rolle der Medizin nicht als etwas von der Existenz des Menschen Abgekoppeltes betrachtet, also nicht als etwas, was erst dann von außen in das Leben eingreift, wenn ein »Reparaturbedürfnis« eintritt. Medizin ist vielmehr zu begreifen als situative Antwort auf die konkrete Not menschlichen Seins, und für diese Antwort ist das Verstehen des Patienten gerade keine Nebensache, sondern die Sache selbst. Der französische Phänomenologe Michel Henry drückt das so aus: »Die Medizin ist niemals eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne gewesen – nicht, weil ihr die Strenge abgeht. Obwohl sie auf den harten Wissenschaften wie der Biologie, Chemie usw. beruht, bleibt sie jedoch in ihrem Prinzip ›humanistisch‹. Darunter ist zu verstehen, daß alle ins Spiel gebrachten objektiven Erkenntnisse von einem Blick durchquert werden, der über diesen hinaus auf dem Röntgenbild einer Verletzung oder eines Tumors, folglich über den objektiven Körper hinaus, das sieht, was die Folge davon für das Fleisch ist, für jenes lebendige und leidende Sich, welches der Kranke ist. Ohne beständigen Bezug auf dieses transzendentale Leiden – als für die menschliche Realität konstitutiv – bleibt die Medizin unverständlich.«2

Mit den vorangestellten Gedanken soll deutlich gemacht werden, dass das Behandeln kranker Menschen nicht in der unpersönlichen Einhaltung von formalen Normen aufgehen, sondern nur dann glücken kann, wenn die Handlungen eingebettet sind in eine gelingende Interaktion. Im Zeitalter einer unheilvollen Allianz von Ökonomie und Naturwissenschaft erscheint es umso wichtiger, für eine neue Grundorientierung in der Medizin zu plädieren. Diese soll in den nächsten ­Kapiteln in einem Wechselspiel von theoretischer Fundierung und konkret-praktischer Phänomenologie der Lebenswelt kranker Menschen entfaltet werden. Ich starte mit fünf großen Herausforderungen der modernen Medizin, die ich exemplarisch für viele andere ausgewählt habe: dem chronischen Schmerz, dem Krebs, der Parkinsonerkrankung, der Demenz und dem Sterben. Diese Auswahl soll auf den Kern der Aufgabe der Medizin verweisen, nämlich die Betreuung von Menschen, die an Symptomen und Krankheiten leiden, die man nicht einfach mit einer entsprechenden Handhabung aus der Welt schaffen kann. Mir war es wichtig, den Fokus auf chronische, ja gar unheilbare Krankheiten zu richten, da sich die Medizin vor allem für diese Menschen zuständig fühlen muss, denn sie sind es, die aus dem Raster einer ökonomisierten Medizin herauszufallen drohen.

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch neben der Doppelnennung auch verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen; alle sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

2 Michel Henry: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Rolf Kühn. Freiburg/München: Alber 2002, S. 350, Anm.

II. Eine kleine Phänomenologie des Krankseins – Beispiele aus der Praxis

1. Chronischer Schmerz – der widrige Stachel als Bewältigungsaufgabe

»Wenn sich eine Lektion aus alledem ableiten lässt, so ist es die, dass mit dem Schmerz nichts anzufangen ist, dass man ihn aber ebenso wenig auf sich beruhen lassen kann.«

(Christian Grüny)

Der Umgang mit dem chronischen Schmerz sagt viel über die Schieflage der modernen Medizin aus und darüber, in welcher Gesellschaft wir leben. Es gibt hier gegenwärtig zwei Tendenzen. Die eine zielt darauf ab, den Schmerz als etwas grundsätzlich Überwindbares und Vermeidbares darzustellen. »Schmerzen müssen nicht sein« – so lautet das eingängige Credo. Die andere betrachtet den Schmerz als ein rein kognitives Phänomen und überlässt es dem Einzelnen und seiner richtigen Einstellung, den Schmerz in seine Schranken zu weisen. Der Patient wird also mit seinem Schmerz alleingelassen, weil er selbst daran schuld ist, wenn es ihm nicht gelingt, zu einer solchen Einstellung zu gelangen. Beide Tendenzen sind in sich problematisch und werden dem Phänomen Schmerz nicht gerecht. Warum das so ist, soll in diesem Kapitel näher aufgezeigt werden.

Der Stachel

Das Besondere des Schmerzes liegt darin, dass er von Anfang an zwei Aspekte in sich birgt, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. So ist der Schmerz einerseits eine Sinneswahrnehmung, andererseits – und untrennbar damit verknüpft – ein Affekt. Man kann vom Schmerz nicht sprechen, ohne ihn zugleich als das Widrige anzusprechen, als das, was einen berührt, bewegt, bedrängt und was man unbedingt weghaben will. Der Schmerz ruft einen Affekt hervor und stellt sofort eine Motivation her, nämlich die, ihn schleunigst loszuwerden. Er ist wie ein Stachel, der gerade dadurch charakterisiert ist, dass er stört und in dieser Störung so lange keine Ruhe gibt, bis er entfernt wird. Pendant zum Schmerz ist der Schrei: Der Schmerz lässt uns aufschreien, er kann den Menschen nicht gleichgültig lassen. Insofern sind Schmerzen nichts, womit man ganz abgeklärt und nüchtern umgehen kann. Christian Grüny hat den Schmerz treffend als »Inbegriff des Widrigen«1 beschrieben. Wo es um Patienten geht, die chronische Schmerzen haben, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht sagen, dass sie lernen sollten, sich mit ihrem Schmerz anzufreunden. Es ist für den Schmerz geradezu konstitutiv, dass man sich nicht mit ihm versöhnen kann, weil in der Erfahrung des Schmerzes unweigerlich der Impuls zu seiner Aufhebung verankert ist. Um Patienten mit ständigen Schmerzen zu helfen, gilt es anzuerkennen, dass der Schmerz immer das Widrige ist und bleibt.

Das Getroffenwerden

Das Dramatische am Schmerz ist seine tyrannische Erscheinung. Meist ohne große Vorankündigung bricht er ein in die Welt und macht sich in ihr breit. Wie der Arzt, Psychologe und Philosoph Frederik J. J. Buytendijk sehr schön herausgearbeitet hat, tritt der Schmerz nicht einfach auf, der Mensch wird vielmehr vom Schmerz getroffen.2 Mit dem Schmerz macht man die Erfahrung des Getroffenwerdens und damit des Ausgeliefertseins. Ab dem Moment, da der Schmerz da ist, okkupiert er alles. Er duldet keinen Freiraum, er zwingt sich dem Menschen radikal auf und lässt ihm, wie Grüny dies ausdrückt, keinerlei Rückzugsmöglichkeit.3