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Wir leben in einer Zeit, die bestimmt ist von Erfahrungen und Eindrücken der Verletzlichkeit. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass Verletzlichkeit nicht nur ein Merkmal von Menschen in prekären Situationen ist, sondern eine Grundsignatur der menschlichen Existenz. Verletzlich ist der Mensch, weil bei aller Planung das Kontingente nicht abgeschafft werden kann. Wir können jederzeit mit Widrigem konfrontiert werden, niemand ist davor gefeit. In seinem neuen Buch zeigt der Medizinethiker Giovanni Maio, dass Verletzlichkeit und Angewiesenheit trotz aller Autonomiebestrebungen zu den wesentlichen Elementen menschlicher Existenz gehören.
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Seitenzahl: 163
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Giovanni Maio
Ethik der Verletzlichkeit
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
ISBN Print 978-3-451-60132-3
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83238-3
Kapitel 1: Der verletzliche Mensch – Eine Einführung
1. Die Illusion der Nichtangewiesenheit
2. Die Interdependenz mit anderen als Grundstruktur menschlichen Lebens
Literatur
Kapitel 2: Warum die Verletzlichkeit konstitutive Bedingung menschlicher Existenz ist
1. Die Unhintergehbarkeit der Verletzlichkeit
1.1 Die Leibgebundenheit der menschlichen Existenz
1.2 Das Verwiesensein auf andere
1.3 Die Unaufhebbarkeit des Unverfügbaren
1.4 Die radikale Endlichkeit des Lebens
2. Der Zusammenhang zwischen konstitutiver und situativer Verletzlichkeit
3. Verletzlichkeit als Verhältnis
Literatur
Kapitel 3: Grundelemente der Verletzlichkeit
1. Zustand der Schwebe
2. Fraglichwerden der Integrität
3. Ausgesetztheit
4. Entwicklungsoffenheit
5. Verletzlichkeit als Ressource
Literatur
Kapitel 4: Die Verletzlichkeit und die Medizin
1. Die problematische Verwendung des Vulnerabilitätsbegriffs in der Medizin
2. Für ein neues Verständnis von Verletzlichkeit in der Medizin
3. Verletzlichkeit als das Nicht-Feststehende
4. Verletzlichkeit durch die spezifische Situation der betroffenen Person
Literatur
Kapitel 5: Die Scham als Paradigma der Verletzlichkeit
1. Scham als das Gefühl, die Ganzheit zu verlieren
2. Scham als imaginierter Riss im Selbstideal
3. Scham als Erschütterung der Selbstachtung
4. Scham als existenzielle Verunsicherung
5. Scham als tief empfundene Einsamkeit
6. Scham als Ausdruck eines Schutzbedürfnisses
7. Die Scham im Kontext des Krankwerdens
8. Das Bewussthalten der Verletzlichkeit und der heilsame Takt
Literatur
Kapitel 6: Die Sorge als entscheidende Antwort auf Verletzlichkeit
1. Grundelemente der Sorge
1.1 Ungleichgültigkeit
1.2 Entproblematisierung der Angewiesenheit
1.3 Die responsive Struktur der Sorge
1.4 Sorge als Entwicklungsaufgabe
1.5 Sorge als konkretes Beziehungshandeln
1.6 Sorge als Verwirklichung situativer Kreativität
1.7 Sorge als Ermöglichung von Selbstachtung
2. Das Wechselverhältnis von Sorge und Verletzlichkeit
3. Schlussfolgerungen
Literatur
Kapitel 7: Das komplementäre Verhältnis von Angewiesenheit und Autonomie
1. Der Begriff der Autonomie
2. Relationale Autonomie
3. Autonomie als die andere Seite der Angewiesenheit
4. Die Verschränkung von Selbst und Gemeinschaft
5. Autonomie als Schwester der Angewiesenheit
Literatur
Kapitel 8: Die ausgeblendete Verletzlichkeit in der Debatte um die Eigenverantwortung
1. Strukturelle Mitbedingtheit von Gesundheit
2. Soziale Bringschuld des Staates
3. Der Reduktionismus des unternehmerischen Selbst
4. Politik der Vulnerabilisierung der besonders Vulnerablen
5. Remoralisierung von Gesundheit
6. Eigenverantwortung durch Sorge
Literatur
Kapitel 9: Für eine Ethik der Verletzlichkeit
1. Wiederentdeckung der Autonomie in ihrem Verhältnis zur Angewiesenheit
2. Verletzlichkeit als Befähigung zur Sensibilität
3. Einsicht in die Kostbarkeit des Verletzlichen
4. Verletzlichkeit als Aufruf zur Verantwortungsübernahme
5. Verletzlichkeit als Impuls zur Wahrung von Integrität
6. Verletzlichkeit als Aufruf zur Förderung der Fähigkeiten des anderen
7. Die geteilte Verletzlichkeit als das Verbindende
8. Abschließend
Literatur
Anmerkungen
Über den Autor
Wir leben in einer Zeit, die bestimmt ist von Erfahrungen und Eindrücken der Verletzlichkeit. Da ist die Verletzlichkeit der Natur, deren Bewusstsein so viele Menschen auf die Straße treibt, und da ist die Verletzlichkeit des Menschen, an die uns zunächst die Corona-Pandemie mit aller Wucht neu erinnert hat. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass Verletzlichkeit nicht nur ein Merkmal von Menschen in prekären Situationen ist, sondern eine Grundsignatur der menschlichen Existenz. Verletzlich ist der Mensch, weil bei aller Planung das Kontingente nicht abgeschafft werden kann. Wir können jederzeit mit Widrigem konfrontiert werden, niemand ist davor gefeit. Nach der Pandemie sind es nun die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die uns überaus schmerzhaft daran erinnern.
Mit der Pandemie und mit den Kriegen ist das schon für überwunden Geglaubte zurückgekehrt, und diese Ereignisse fordern uns zu einem neuen Denken auf. Hatte man lange geglaubt, der Mangel an selbstverständlich Notwendigem würde in unserer modernen Gesellschaft der Vergangenheit angehören, so erleben wir heute den Zusammenbruch dieser lang gehegten Gewissheit. Die Pandemie bedeutete eine Provokation für den Fortschrittsoptimismus der westlichen Länder und war zugleich ein deutlicher Fingerzeig auf die begrenzte Beherrschbarkeit der Welt. Dieser Hinweis wird durch die Kriege verstärkt, stellt sich doch mit diesen ein Grundgefühl der Unsicherheit und existenziellen Bedrohung ein. All diese Erfahrungen kommen einem Bruch des bisherigen Glaubens an die restlose Planbarkeit des Lebens gleich und durchkreuzen die Kontinuitätserwartungen unserer westlichen Gesellschaften. Der moderne Mensch unserer Epoche fühlt sich in einer radikalen Weise ausgesetzt.
Diese Entwicklungen stellen wie ein Brennglas etwas scharf, was schon vorher und eigentlich immer schon da war, aber gerne verdrängt wurde: die Grundverletzlichkeit des Menschen. Der Mensch ist von Grund auf verletzlich – und nicht nur der Mensch: Mit ihm ist es auch das Tier, alles Lebendige, die gesamte Natur. All das zeigt sich in unseren Tagen. So liegt es mehr als nahe, den Menschen von seiner Grundverletzlichkeit her neu zu denken. Warum ist der Mensch, warum sind wir verletzlich? Wie ist diese Verletzlichkeit anthropologisch zu begreifen? Was ist Verletzlichkeit überhaupt? Und was bedeutet diese Verletzlichkeit speziell für den Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen? Wozu fordert sie uns auf? Und schließlich mit Blick auf die Medizin, von der dieses Buch seinen Ausgang nimmt: Wie können wir im Bewusstsein der Verletzlichkeit des Menschen eine humane Medizin praktizieren? Welche Kultur ist hierfür notwendig, und wie müssen wir unser Bild vom Menschen und von der Medizin ändern, wenn wir den verletzlichen Menschen zum Ausgangs- und Zielpunkt einer modernen Medizin machen wollen?
Die Notwendigkeit, sich dieser Fragen anzunehmen, ergibt sich schon aus der Beobachtung, dass es der modernen Medizin an einer bewussten anthropologischen Fundierung fehlt. In Ermangelung einer Reflexion der eigenen anthropologischen Grundlagen wurde die Medizin anfällig dafür, bestimmte Menschenbilder implizit vorauszusetzen, ohne sich über diese Vorannahmen eigens Rechenschaft zu geben. Der Organismus des Menschen als zu reparierende Maschine, der Mensch als souveräner Unternehmer seiner selbst, der Mensch als von anderen losgelöstes und sich selbst genügendes Individuum – Menschenbilder wie diese haben in den letzten Jahrzehnten das Denken in der Medizin bestimmt, ohne dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Vorannahmen erfolgt wäre. Die Krisen unserer Zeit führen uns klarer denn je vor Augen, dass diese stillschweigend vorausgesetzten Vorstellungen vom Menschen zu einseitig gewesen sind. Sie bedürfen einer umfassenden Erweiterung, wenn nicht gar einer grundlegenden Revision.
Mit diesem Buch soll als Korrektiv zu der beschriebenen Einseitigkeit der Vorschlag gemacht werden, die Verletzlichkeit als Grundmerkmal des Menschseins in den Mittelpunkt der Medizin zu stellen und danach zu fragen, wie die Identität der Medizin und damit auch die Ethik in der Medizin vor diesem Hintergrund neu zu bestimmen wären. Die mit diesem Buch zu leistende Hinwendung zur Verletzlichkeit ergibt sich nicht nur aus der bisherigen Vernachlässigung dieser Perspektive, sondern auch aus der Beobachtung, dass wir in einer Zeit leben, in der wir eine Zunahme von Verletzlichkeitsstrukturen verzeichnen können. Diese Zunahme ergibt sich einerseits aus einer komplexer werdenden Welt, die sich im Zuge ihrer Globalisierung vom Moment der Verletzlichkeit nicht etwa emanzipiert, sondern die mit zunehmender Verflechtung immer verletzlicher wird. Zugleich erleben wir einen Trend zur Vulnerabilisierung des Einzelnen im Gefolge einer allgemeinen Flexibilisierung von sozialen Beziehungsstrukturen, insbesondere der Arbeitsbeziehungen. Resultat dieser Flexibilisierung ist eine wachsende Individualisierung der Arbeitsprozesse und eine verstärkte Übertragung der Verantwortung auf den Einzelnen.1 Durch diese Individualisierung der Verantwortung wird der Einzelne immer verletzlicher, weil er einer zunehmenden Unsicherheit im Arbeitsleben ausgesetzt ist. Je mehr aber eine Gesellschaft einseitig auf die Individualisierung von Verantwortung setzt und die strukturellen Bedingtheiten einer mangelnden Fähigkeit zur Eigenverantwortung übersieht, desto mehr schafft sie bereits durch diese gesellschaftlichen Strukturen Verlierer des Systems. Diese befinden sich in einer Situation verschärfter Verletzlichkeit, denn je nachdrücklicher suggeriert wird, jeder habe der Unternehmer seiner selbst zu sein, desto unnachgiebiger fällt dann auch alles auf einen selbst zurück. Folge dieser gesellschaftlich propagierten Selbstdeutung ist die Angst davor, Verlierer zu sein, die Angst, ausgeschlossen zu werden, die Angst vor dem Verlust an Anerkennung.
Damit soll verdeutlicht werden, dass das Ausmaß der Verletzlichkeit nicht nur aus einem individuellen Mangel an inneren Ressourcen herrührt, sondern in gleicher Weise auf verletzlich machende äußere Strukturen zurückgeführt werden muss. Jedenfalls erleben wir durch den Rückbau von Sozialstrukturen eine zunehmende Vulnerabilisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Dieser Trend wird durch die Übernahme eines Wettbewerbsdenkens noch verstärkt, denn je mehr wir in einer Wettbewerbsgesellschaft leben, desto größer wird das Risiko, zu den Verlierern zu gehören und durch das soziale Netz zu fallen.
Wir leben also in einer Zeit, in der die Grundverletzlichkeit des Menschen durch äußere Bedingungen eine Verdichtung erfährt, was es notwendig macht, vertiefter auf sie zu reflektieren. Es gilt, den Menschen vor dem Hintergrund der angedeuteten Vulnerabilisierungsprozesse neu und anders sehen zu lernen, ihn zunächst einmal von seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit her zu denken, um davon ausgehend speziell zu fragen, wie sich die Medizin in ihrem Umgang mit hilfesuchenden Menschen verstehen muss. Eine solche Vertiefung der verletzlichen Grundsignatur des Menschen wird im Folgenden mit dem Ansinnen erfolgen, aufzuzeigen, dass Verletzlichkeit kein Gegenpol zu Autonomie ist, sondern dass es einen inneren Zusammenhang zwischen beiden gibt, den es herauszuarbeiten gilt. Erst wenn erkannt wird, dass Verletzlichkeit nicht die Gegenseite von Souveränität und menschlicher Fähigkeit zur Selbstbestimmung darstellt, sondern ihr eigentliches Zentrum, wird man einen Umgang mit der Verletzlichkeit erlernen können, der dem Menschen zu bewusster Freiheit verhilft. Dieser Zugewinn an innerer Freiheit ist jedoch nicht ohne ein Zutun anderer zu erreichen und daher kann uns die Verletzlichkeit – unsere eigene, aber auch und gerade die des oder der anderen – nicht unberührt lassen. Worin diese Verletzlichkeit besteht und wie eine ethische Antwort auf sie aussehen könnte, gilt es im Folgenden zu vertiefen.
Wie notwendig eine Grundreflexion auf die Verletzlichkeit geworden ist, zeigt sich deutlich an den vorherrschenden individualistischen Menschenbildern in der Gesellschaft wie in der Medizin, die mit einer Huldigung der Unabhängigkeit einhergehen und mit einer Ausblendung der Perspektive, den Menschen als grundsätzlich angewiesenes Wesen zu betrachten. Die Angewiesenheit – als Teil von Verletzlichkeit – gilt seit geraumer Zeit als Ausnahme von Autonomie, ja als Gegenbegriff zur Autonomie und damit als etwas, was möglichst überwunden werden sollte. Und so verfiel man zunehmend der Illusion der Nichtangewiesenheit. Mit ihr schien die einzig vernünftige Strategie darin zu bestehen, sich gegen jede Form von Angewiesenheit zu immunisieren und diese möglichst vollständig aus dem Alltag zu verbannen. Stattdessen fand zunehmend eine Selbstdeutung Akzeptanz, wonach der Mensch sich allein aus sich selbst heraus schaffen könne, losgelöst von allem und allen anderen. Damit etablierte sich eine Anthropologie des autarken Individuums im Sinne einer bindungslosen Monade, und die relationale und soziale Verfasstheit der inneren Bewusstseinsprozesse trat weitgehend in den Hintergrund. Der selbstmächtige, autopoietische Mensch wurde zum erstrebenswerten Idealbild stilisiert, verbunden mit einer regelrechten Stigmatisierung jeglicher Form von Verwiesenheit auf andere. Verletzlichkeit und Angewiesenheit galten als Schwäche, als Makel, als Grenze, ja als Schuld – eine Deutung, die nur einen Schluss nahezulegen schien, nämlich den, sich aus der Verstrickung in das Angewiesensein möglichst restlos zu befreien. Im selben Zuge wurde eine Tendenz zur Unsichtbarmachung von Verletzlichkeit befördert: Verletzlich zu sein galt zunehmend als mit Scham besetzt.2
Das Bild des Menschen als Urheber seiner selbst, der alles nur aus sich entwirft und der sich für alles, was in ihm vorgeht, als selbstursächlich wähnt, ist die Grundlage für den ausgeprägten liberalen Individualismus, der das Selbstverständnis der Moderne bestimmt hat. Der französische Philosoph Michel Dupuis hat dieses so beherrschende Menschenbild unserer Zeit treffend als „auto faber“ beschrieben.3 Am Ende einer solchen atomistischen Selbstdeutung des Menschen als „Verwirklicher seiner selbst“4 steht ein Unabhängigkeitsmythos. Dieser verbannt nicht nur Themen wie die menschliche Angewiesenheit aus dem öffentlichen Raum, sondern projiziert sie zugleich auf bestimmte Personengruppen, um sie nicht auf sich beziehen zu müssen, sich selbst also aus dem Spiel herausnehmen zu können. Auf diese Weise wird nicht nur restlose Nicht-Abhängigkeit zum Standard erhoben, sondern auch Nicht-Verwundbarkeit – und suggeriert, es handle sich bei beidem um erstrebenswerte Ziele.
Diese Entwicklung hatte ihren Ursprung zunächst in einem durchaus legitimen Anliegen, nämlich darin, den Menschen von Fremdbestimmung und einengender Abhängigkeit zu emanzipieren. Im Zuge dieses zweifellos notwendigen Emanzipationsbestrebens wurde jedoch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und so kam es zu einer undifferenzierten Negativbewertung sämtlicher Angewiesenheitsformen menschlichen Lebens als vermeintlich autonomiegefährdende und damit abzuwehrende Lebensumstände – freilich ohne dabei zu bedenken, dass es auch Verhältnisse von Angewiesenheit gibt, die Lebensbedingungen darstellen und die als solche keine zu eliminierenden Umstände sind, sondern unhintergehbare Voraussetzungen. Stattdessen verstand man pauschal jede Form von Angewiesenheit als Erniedrigung, als Unterordnung, als Verlust an Souveränität. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Negativdeutung von Angewiesenheit wird es verständlich, warum die Moderne so strukturiert ist, als müsste in ihr der Mensch das Angewiesensein per se überwinden und hinter sich lassen. Angewiesenheit und Verletzlichkeit wurden und werden als Bedrohung der eigenen Autonomie wahrgenommen.
Mit diesen Gedanken soll verdeutlicht werden, dass wir in einer Zeit leben, in der Autonomie mit Unabhängigkeit gleichgesetzt und jedwede Abhängigkeit von der Hilfe anderer als Bedrohung der Selbstbestimmung wahrgenommen wird. Dies führt unweigerlich zu einer Stigmatisierung des Angewiesenseins. Mit dieser Stigmatisierung wird zugleich ein Seinsideal propagiert, das den Menschen als frei agierenden Unternehmer seiner selbst betrachtet, der aus einer souveränen Ausgangsposition heraus interessenmaximierende Kooperationen eingeht. Insofern in einer solchen Logik jedes Kooperieren der Nutzenmaximierung zu dienen hat, wird eben nicht auf Verbundenheit, sondern auf größtmögliche affektive Neutralität zum anderen gesetzt und damit jede Kooperation einem berechnenden Kalkül unterworfen. In einer solchen Logik wechselseitiger Instrumentalisierung erfährt das individualistische Menschenbild seine Bestätigung und Verstärkung.
Vor dem Hintergrund dieser weit verbreiteten Selbstdeutung des modernen Menschen ist zunehmend der Gedanke vernachlässigt worden, dass das menschliche Leben sich stets in der Grundstruktur der Interdependenz mit anderen vollzieht. Man hat sich gegen die Einsicht verschlossen, dass die Freiheit des Einzelnen sich nicht aus seiner Unabhängigkeit ergibt, sondern aus seiner Fähigkeit, zu lernen, mit Verhältnissen der Angewiesenheit kreativ umzugehen. Daher gilt es, Angewiesenheit gerade nicht als Ausnahmefall und Kontrapunkt zur Autonomie zu betrachten, sondern als eine Grundverfasstheit des Menschen, die Autonomie allererst ermöglicht. Angewiesen zu sein stellt eine Form der Verletzlichkeit des Menschen dar, von der man sich nie restlos befreien kann. Gleichwohl leben wir in einer Gesellschaft, die beides aus dem öffentlichen Raum zu verbannen versucht und dabei völlig übersieht, dass Verletzlichkeit immer besteht – auch in Situationen der Handlungsmacht und Entscheidungsfähigkeit. Der Mensch ist eben in seiner Autonomie immer zugleich auch verletzlich.5 Unsere Autonomie ist per se von Verletzlichkeit durchzogen, und zwar nicht nur, weil Autonomie selbst fragil und zerbrechlich ist, sondern weil unsere Verletzlichkeit auch in den Momenten höchster Souveränität nicht abgestreift werden kann. Auch wenn alles gut geht, bleibt man verletzlich. Dieser Gedanke der Verletzlichkeit als nicht ablegbare Verfasstheit des Menschen soll im Folgenden vertieft werden. Denn je mehr man der Verletzlichkeit des Menschen auf den Grund geht, desto mehr bietet sich die Chance, zu verstehen, welche Medizin wir im Angesicht der Grundverletzlichkeit des Menschen brauchen.
Daniel Burghardt, Markus Dederich, Nadine Dziabel, Thomas Höhne, Diana Lohwasser, Robert Stöhr, Jörg Zirfas: Vulnerabilität. Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer, 2017.
Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Hamburger Edition, 2005.
Michel Dupuis: Perfectibilité, vulnérabilité, dignité. Trois aspects de l’énigme anthropologique. In: David Doat, Laura Rizzerio (Hrsg.): Accueillir la vulnérabilité. Approches pratiques et questions philosophiques. Toulouse: Éditions Érès, 2020, S. 67–84.
Paul Ricœur: Autonomie et vulnérabilité. In: ders.: Le Juste 2. Paris: Éditions Esprit, 2001, S. 85–106.
Ruth Waldeck: Verletzlichkeit als produktives Potenzial. Erfahrungen und Reflexionen im Kontext einer Krebserkrankung. In: Zeitschrift für Psychoanalyse 2020; 74: 949–974.
Man kann Verletzlichkeit als eine Daseinsstruktur bezeichnen, da sie unsere Art und Weise beschreibt, in der Welt zu sein. Sie geht jeder menschlichen Erfahrung voraus und bleibt nach jeder Erfahrung weiter bestehen. Die Tatsache, verletzlich zu sein, ist eine geteilte Vorbedingung des Lebens (und nicht nur des menschlichen) und damit konstitutives und unhintergehbares Grundelement unserer Existenz – keine Kehrseite, sondern die Hintergrundfolie, vor der sich das gesamte Leben abspielt. Das bedeutet ja im Grunde, dass der Mensch eben nicht nur in außergewöhnlichen Situationen verletzlich ist, sondern dass seine Verletzlichkeit ihn immer begleitet, auch dann, wenn alles gut geht. Das Wesensbestimmende an unserer Verletzlichkeit ist somit ihre Unaufhebbarkeit, denn auch wer nicht verletzt wird, legt seine Verletzlichkeit nicht ab. Judith Butler weist prägnant auf dieses Element hin, wenn sie schreibt: „Keine Übernahme der Handlungsmacht kann die Verletzlichkeit durch den anderen überwinden“,6 womit sie klarmacht, dass auch der Mensch, der handlungswirksam vorgeht, versehrbar bleibt. Auch Martha Fineman spricht von der Verletzlichkeit als Grundbedingung des Menschseins,7 und Miriam Leidinger bezeichnet sie gar als „Metapher für die conditio humana“.8 Damit verweisen alle drei Autorinnen auf die universelle Struktur von Verletzlichkeit, die als Grundkonstante des Menschseins betrachtet werden muss. Sie ist Ausdruck eines vorgängigen Verhältnisses des Menschen zur Welt, insofern sie unsere Welterfahrung strukturiert. Dieser Vorgängigkeit von Verletzlichkeit soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Worin bestehen die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, die den Menschen verletzlich machen, genauer?
Der erste Grund für unsere Verletzlichkeit liegt in unserer Körperlichkeit. Dass wir verletzlich sind, ergibt sich aus der Tatsache, dass unser Körper ständig einem Bedarf, einem Mangel, einer Angewiesenheit unterliegt. Durch ihn sind wir in jedem Moment neu auf Umstände angewiesen, die es uns erlauben, überhaupt zu handelnden Wesen zu werden. Der Körper ist geradezu per definitionem verletzlich, ist doch im Begriff der Verletzlichkeit der körperliche Integritätsverlust bereits enthalten. Bernhard Waldenfels bezeichnet die Leiblichkeit insgesamt als „Sphäre der Verletzlichkeit“.9 Unsere Körperlichkeit bringt die Grundsituation der Verletzlichkeit insofern mit sich, als es von Geburt an keinen unversehrten und gänzlich integren Körper geben kann. Sinnbildlich dafür steht die Durchtrennung der Nabelschnur: Es ist erst dieser integritätsauflösende, verletzende Akt, der den Menschen in seine eigene Entwicklungsfähigkeit entlässt. Denn wir entwickeln uns nicht trotz unserer Verletzlichkeit, sondern aus unserer Verletzlichkeit heraus. Und so ist unser Körper immanenter Ausdruck dafür, dass es keine menschliche Existenz ohne Versehrbarkeit gibt. Pascal Ide bringt das treffend zum Ausdruck, wenn er schreibt, die Primärverletzung durch das Durchtrennen der Nabelschnur stelle nicht nur den Anfang der menschlichen Existenz dar, sondern zugleich deren Ursprung.10 Erst aus dieser Verletzung entspringt unsere Weiterentwicklung als Individuum. So bedeutsam ist der Körper als Grundbedingung menschlicher Verletzlichkeit.
Der Körper ist aber auch deshalb Bedingung menschlicher Verletzlichkeit, weil sich der Mensch durch seinen Körper in der Grundsituation der Ausgesetztheit befindet. In diesem Ausgesetztsein sind wir sowohl verletzbar als auch berührbar, da wir nicht anders können, als uns zu zeigen und uns damit in gewisser Weise auszuliefern, und sei es nur den Blicken anderer.
Die Leiblichkeit des Menschen macht ihn somit von Grund auf verletzlich, da er sich über seine Körperlichkeit als ,ausgestellt‘ empfinden kann. Jean-Luc Nancy fasst dieses Verhältnis von Körperlichkeit und Ausgesetztheit in dem Neologismus der „ex-peau-sition“11 – der körperlichen Ausgesetztheit entlang der Haut (frz. peau) – zusammen. Was im Moment der Scham als außerordentliche Situation in Erscheinung treten mag, ist bei Lichte besehen ein Hinweis auf die Grundsituation des Menschen schlechthin, denn diese Blöße tritt nicht nur in dieser oder jener Situation zutage, sondern sie bezeichnet eine vorgängige Grunddimension unseres Seins. Wir können nicht anders als über unseren Leib in der Welt sein. Mit anderen Worten, vom leiblichen Ausgesetztsein in der Welt im Sinne einer Grundblöße des Menschen können wir uns gerade deshalb nicht distanzieren, weil es den Grundmodus unserer Existenz darstellt. Daher lässt sich mit Rebekka A. Klein sagen, dass im Angesicht seiner unhintergehbaren Leibgebundenheit die Verletzlichkeit des Menschen nicht einfach sekundär zum menschlichen Leben hinzutritt, sondern den primären Ausgangspunkt seiner Existenz darstellt und ihm daher nicht erspart bleiben kann.12