Geschichte des Kapitalismus - Jürgen Kocka - E-Book

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Jürgen Kocka

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Beschreibung

Jürgen Kocka, einer der weltweit führenden Experten für das Thema, beschreibt in diesem Band die wichtigsten Formen und Veränderungen, die der Handels-, Industrie und Finanzkapitalismus vom europäischen Mittelalter bis zur heutigen Globalisierung durchlaufen hat. Kocka fragt in dieser umfassenden Einführung aber auch danach, welches Licht die letzten Krisen auf den Kapitalismus werfen und ob sich aus seiner Geschichte nicht etwas für die Gegenwart lernen lässt.

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Jürgen Kocka

GESCHICHTE DES KAPITALISMUS

C.H.Beck

Zum Buch

Jürgen Kocka, auch international einer der führenden Experten für das Thema, bietet mit diesem Band eine exzellente Einführung in die historische Entstehung und Ausdehnung des Kapitalismus seit der frühen Neuzeit sowie seine globale Ausbreitung seit dem 19. und 20. Jahrhundert. Er betrachtet aber nicht nur die Prozesse von Handel und Industrialisierung, sondern zugleich die nachhaltigen Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelten. So ist seine Einführung ein souveräner historischer Überblick und zugleich eine kritische Bestandsaufnahme jenes ökonomischen Regimes, das heute bis in den letzten Winkel des Planeten unser Handeln mitbestimmt.

Vita

Jürgen Kocka ist em. Professor für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin und zählt zu den bedeutendsten Sozialhistorikern unserer Zeit. Von 2001 bis 2007 war er Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Für seine Arbeiten wurde er u.a. mit dem Leibniz-Preis und dem Holberg-Preis ausgezeichnet.

Inhalt

I. Was heißt Kapitalismus?

1. Ein kontroverser Begriff entsteht

2. Drei Klassiker: Marx, Weber, Schumpeter

3. Andere Stimmen und eine Arbeitsdefinition

II. Kaufmannskapitalismus

1. Frühe Ansätze

2. China und Arabien

3. Europa: dynamischer Nachzügler

4. Zwischenergebnis um 1500

III. Expansion

1. Geschäft und Gewalt: Kolonialisierung und Welthandel

2. Aktiengesellschaft und Finanzkapitalismus

3. Plantagenwirtschaft und Sklaverei

4. Agrarkapitalismus, Bergbau und Protoindustrialisierung

5. Kapitalismus, Kultur und Aufklärung. Adam Smith im Kontext

IV. Der Kapitalismus in seiner Epoche

1. Industrialisierung und Globalisierung. Konturen seit 1800

2. Vom Eigentümer- zum Managerkapitalismus

3. Finanzialisierung

4. Arbeit im Kapitalismus

5. Markt und Staat

V. Bilanz

Anmerkungen

Verzeichnis zitierter Literatur

Personenregister

I. Was heißt Kapitalismus?

1. Ein kontroverser Begriff entsteht

«Kapitalismus» ist ein umstrittener Begriff. Viele Wissenschaftler vermeiden ihn. Er erscheint ihnen als zu polemisch, denn er entstand als Begriff der Kritik und ist jahrzehntelang auch als solcher verwendet worden. Der Begriff wird unterschiedlich und oft gar nicht definiert. Er umfasst sehr vieles, seine Abgrenzung ist schwierig. Ist es nicht besser, auf ihn zu verzichten und etwa von «Marktwirtschaft» zu sprechen?

Andererseits gibt es eine lange Reihe sehr ernst zu nehmender Sozial- und Kulturwissenschaftler, die zur Diskussion über Kapitalismus viel Substantielles beitragen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs, der auch ein Krieg um Schlüsselbegriffe war, ist der Begriff voll in den wissenschaftlichen Diskurs zurückgekehrt. Die internationale Finanz- und Schuldenkrise von 2007–2009 heizte das kritische Interesse am Kapitalismus zusätzlich an. Dazu trägt auch die verstärkte Beschäftigung mit dem Erbe des Kolonialismus und mit den sich abzeichnenden Klima- und Umweltkrisen bei, denn mit beidem hat Kapitalismus viel zu tun. Man beobachtet einen Boom von Lehrveranstaltungen zur Geschichte des Kapitalismus vor allem an amerikanischen Universitäten. Die Zahl der Bücher und Artikel mit «Kapitalismus» im Titel nimmt zu. Mittlerweile gibt es eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich ausschließlich mit der Geschichte und Problematik des Kapitalismus befasst. Der Begriff ist auch in Europa so aktuell wie schon lange nicht, wenn auch mehr bei Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern als bei Ökonomen.[1] Aber wenn man ihn benutzt, muss man seine Geschichte kennen und ihn scharf definieren.

Das Substantiv «Kapitalismus» setzte sich im Französischen, Deutschen und Englischen nach vereinzelten Vorläufern erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Aber die Begriffe «Kapital» und «Kapitalist» waren da bereits eingebürgert. Nehmen wir zum Beispiel das Deutsche. Hier ging der Begriff «Kapital» aus der Kaufmannssprache (dort spätesten im frühen 16. Jahrhundert häufig) in die Terminologie der im 17. und 18. Jahrhundert entstehenden Sozial- und Wirtschaftswissenschaften über. Er meinte zunächst das (investierte oder verliehene) Geld und später das aus Geld, Geldwerten, Papieren, Waren und Produktionsanlagen bestehende Vermögen, durchweg aber «in Rücksicht auf den Gewinn, den es erbringen sollte» (1776), statt konsumiert oder gehortet zu werden.

«Kapitalist» stand seit dem 17. Jahrhundert für den «capitalreichen Mann, der bare Gelder und großes Vermögen hat und von seinem Interesse (d.h. Zinsen, J. K.) und Renten leben kann». Als «Kapitalisten» bezeichnete man des Näheren Kaufleute, Bankiers, Rentner und andere Personen, die Gelder ausleihen, also «mit Capitalien handeln oder makeln» (1717). Zwischenzeitlich stand «Kapitalist» aber auch für alle Erwerbende, «wenn sie den Überschuss ihrer Arbeit, ihres Verdienstes über ihre nötige Konsumption (hinaus) sammeln, um ihn aufs Neue auf Production und Arbeit zu verwenden» (1813). Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Kapitalisten überdies immer häufiger im Unterschied, bald im Gegensatz zu Arbeitern gesehen und als «Klasse der Lohnherren (Verlagseigner, Fabrikunternehmer und Kaufleute)» bezeichnet, die nicht von Lohn oder Rente, sondern von Profiten lebten (1808). Die hier bereits sichtbare klassengesellschaftliche Einfärbung des Begriffs verschärfte sich in den folgenden Jahrzehnten, als die öffentliche Armut wuchs, revolutionäre Spannungen 1848/49 ausbrachen und die Industrialisierung mit Fabrikwesen und Lohnarbeit auch in Deutschland sich durchsetzte, während die Beobachter bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein ihr Anschauungsmaterial vor allem aus dem bereits kapitalistisch industrialisierenden England bezogen.[2]

Abgesehen von wenigen frühen, den Sprachgebrauch nicht prägenden Verwendungen spiegelte das Substantiv «Kapitalismus» zunächst vor allem diese klassengesellschaftlich-kritische Einfärbung wider, als es sich seit Mitte des Jahrhunderts zunächst im Französischen, seit den 1860er Jahren auch im Deutschen und etwas später im Englischen durchsetzte. Der Sozialist Louis Blanc kritisierte um 1850 den Kapitalismus als «Aneignung des Kapitals durch die Einen, unter Ausschaltung der Anderen». Pierre Joseph Proudhon geißelte 1851 den Grund und Boden auf dem Pariser Wohnungsmarkt als «Festung des Kapitalismus», als er sich für Maßnahmen gegen Mietwucher und Spekulation einsetzte. 1867 notierte dann ein repräsentatives Wörterbuch den Begriff «capitalisme» als Neologismus, umschrieb ihn mit «Macht der Kapitalien oder der Kapitalisten» und verwies auf Proudhon. In Deutschland wetterte 1872 der Sozialist Wilhelm Liebknecht auf den «Moloch des Kapitalismus», der auf den «Schlachtfeldern der Industrie» sein Unwesen treibe.[3]

Zumindest im Deutschen wuchs der Begriff rasch über seine polemische Stoßrichtung hinaus. Karl Marx benutzte das Substantiv «Kapitalismus» zwar kaum, schrieb aber in den 1850er und 1860er Jahren ausgiebig und wirkungsvoll über die «kapitalistische Produktionsweise». Der mit staatssozialistischen Ideen sympathisierende Ökonom Johann Karl Rodbertus stellte 1869 fest: «Der Kapitalismus ist ein soziales System geworden». 1870 veröffentlichte Albert Eberhard Friedrich Schäffle, ein liberal-konservativer Professor der Nationalökonomie, sein Buch «Kapitalismus und Socialismus mit besonderer Rücksicht auf Geschäfts- und Vermögensformen». Darin ging er ausführlich auf den Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital ein. Auf Schäffle verwies Meyers Konversations-Lexikon, als es 1876 erstmals von «Kapitalismus» handelte, noch im Eintrag über «Kapital». 1896 enthielt dieses weit verbreitete Nachschlagswerk einen eigenen, differenziert argumentierenden Eintrag für «Kapitalismus» als «Bezeichnung für die kapitalistische Produktionsmethode gegenüber der sozialistischen und kollektivistischen».

1902 erschien Werner Sombarts großes Werk «Der moderne Kapitalismus», das entscheidend zur Einbürgerung des Begriffs beitrug. Seitdem nahm die sozialwissenschaftlich-historische Literatur rasch zu, die sich mit Theorie, Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus befasste, zu einem erheblichen Teil in Auseinandersetzung mit Sombart, der sein Werk zwar als Fortsetzung und Vollendung des Marxschen Werkes verstand, tatsächlich aber durch Betonung der Rolle von Unternehmern und Unternehmen, mit seinem Konzept des «kapitalistischen Geistes» und seiner bis ins italienische Hochmittelalter zurückreichenden Perspektive deutlich über Marx hinausging.[4] Im Englischen spielte der Begriff «Kapitalismus» spätestens seit den 1890er Jahren eine gewisse Rolle. Die kontroverse Diskussion um ihn schwoll dort aber erst in den Jahren um den Ersten Weltkrieg herum an. In der Encyclopaedia Britannica wurde der Begriff in der 11. Auflage (1910–11) im Artikel über «Capital» kurz erwähnt und in der 12. Auflage von 1922 ausführlich in einem eigenständigen Eintrag behandelt, jetzt als Bezeichnung für ein «System», in dem die Produktionsmittel privaten Eigentümern gehören, die zum Zweck der Produktion Manager und Arbeiter beschäftigen.[5]

Insgesamt: Der Begriff entstand aus dem Geist der Kritik und der Perspektive des Vergleichs. Gewöhnlich verwendete man ihn, um Beobachtungen der eigenen Zeit zu beschreiben, die man in betonter Absetzung von früheren Verhältnissen als neu und modern begriff. Oder man verwendete ihn, um die Gegenwart mit der vorgestellten Idee und dann mit den beobachtbaren Anfängen des Sozialismus zu konfrontieren. Erst im Licht der bisweilen verklärenden Erinnerung an andersartige vergangene Verhältnisse und im Licht der Vorstellungen von einer besseren zukünftigen, nämlich sozialistischen Alternative entstand der Begriff «Kapitalismus», meist im Kontext einer kritischen Sicht auf die damalige Gegenwart. Doch gleichzeitig diente er der wissenschaftlichen Analyse. Diese Doppelfunktion des Begriffs machte ihn den einen suspekt, den anderen umso interessanter. Die beiden Funktionen konnten, aber mussten sich nicht im Weg stehen. Das gilt bis heute.

2. Drei Klassiker: Marx, Weber, Schumpeter

Zahlreiche Intellektuelle, Sozial- und Kulturwissenschaftler haben im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den Kapitalismus als das bestimmende Epochenmerkmal ihrer Gegenwart begriffen. Zahlreiche Historiker haben den Begriff schon damals benutzt, um die Geschichte des Kapitalismus in früheren Jahrhunderten zu erforschen, in denen der Begriff noch nicht existierte. An der wissenschaftlichen Diskussion über Kapitalismus haben sich deutschsprachige Autoren mehr als englische oder französische beteiligt. Sie trugen dazu bei, dass sich der Kapitalismusbegriff aus einem politischen Kampf- in einen analytisch anspruchsvollen Systembegriff erweiterte.[6] Im Folgenden sei auf drei Klassiker der Kapitalismus-Diskussion eingegangen, die die Diskussion und die Definition von «Kapitalismus» bis heute prägen: Karl Marx, Max Weber und Joseph A. Schumpeter.

Karl Marx hat das Substantiv «Kapitalismus» selten und nur am Rande benutzt. Aber Marx schrieb so ausführlich und eindringlich über die kapitalistische Produktionsweise, dass sein Kapitalismusverständnis die folgenden Generationen stärker geprägt hat als der Beitrag irgendeiner anderen einzelnen Person. Die Hauptbestandteile des Marxschen Kapitalismusbegriffs lassen sich in vier Punkten zusammenfassen.

Marx sah den Arbeitsteilung und Geldwirtschaft voraussetzenden, entwickelten Markt als zentralen Bestandteil des Kapitalismus. Er betonte die gnadenlose, Grenzen überschreitende Konkurrenz, die den technischen und organisatorischen Fortschritt vorantrieb, aber zugleich die Marktteilnehmer gegeneinander in Stellung brachte. Er arbeitete den zwanghaften Charakter der «Gesetze» des Marktes heraus, die Kapitalisten und Arbeiter, Produzenten und Konsumenten, Verkäufer und Abnehmer bei Strafe des Untergangs einzuhalten haben, wie immer ihre individuellen Motive auch beschaffen sein mögen.

Marx behandelte ausführlich die prinzipiell grenzenlose Akkumulation als Merkmal des Kapitalismus, d.h. die Bildung und andauernde Vermehrung des Kapitals gewissermaßen als Selbstzweck, anfänglich als «ursprüngliche Akkumulation» aufgrund von Transfers aus anderen Bereichen (nicht ohne Enteignung und nicht ohne Gewalt), später dann als Reinvestition von Gewinnen, die aber letztlich aus dem Wert stammten, den die Arbeit schuf: Kapital als geronnene Arbeit.

Als Kern der kapitalistischen Produktionsweise begriff Marx das Spannungsverhältnis zwischen den Kapitalisten als Produktionsmittelbesitzern und den von ihnen abhängigen Unternehmern und Managern einerseits, von vertraglich gebundenen, aber sonst freien, für Lohn oder Gehalt beschäftigten Arbeitern ohne Produktionsmittelbesitz andererseits. Die beiden Seiten waren zum einen durch ein Tauschverhältnis (Arbeitskraft oder -leistung gegen Lohn oder Gehalt, die Arbeit bzw. Arbeitskraft als Ware) und zum andern durch ein Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis miteinander verbunden, das die «Ausbeutung» der Arbeiter durch die Kapitalisten ermöglichte: Ausbeutung in dem Sinn, dass ein Teil des von den Arbeitern erwirtschafteten Wertes, der sog. Mehrwert, ihnen nicht zur Verfügung gestellt bzw. ausgezahlt wurde. Dieser Teil ging in den Besitz des Kapitalisten/Unternehmers über, der damit teils die Akkumulation vorantrieb, teils seinen Konsum bestritt. Das so verstandene Kapital-Lohnarbeit-Verhältnis trieb nach Marx nicht nur die Dynamik des Systems an. Es provozierte zugleich auch Klassenkämpfe, die dazu führten, dass sich langfristig Bourgeoisie und Proletariat als unversöhnliche Gegner gegenüberstanden. Das war nach Marx die Bedingung der Revolution, die, vom Proletariat getragen, das System des Kapitalismus abschaffen werde, zugunsten einer anderen, nämlich sozialistischen oder kommunistischen Alternative, auf deren nähere Beschreibung sich Marx allerdings nicht einließ. Mit dieser Prognose, die zugleich als Aufruf ans Proletariat zur Wahrnehmung seiner historischen Aufgabe gelesen werden konnte, verwandelte Marx seine theoretische Konzeption in eine praktisch-politische Handlungsanweisung, als die sie seit dem späten 19. Jahrhundert auch von vielen verstanden worden ist.

Marx beschrieb die ungeheure Dynamik des kapitalistischen Systems, das, getragen von der Bourgeoisie, alles Überkommene auflöse, sich weltweit ausbreiten werde und nicht nur den Drang, sondern auch die Fähigkeit besitze, seine Logik in andere als ökonomische Lebensgebiete hinein auszudehnen. Marx war davon überzeugt, dass die kapitalistische Produktionsweise die Tendenz besaß, Gesellschaft, Kultur und Politik maßgeblich zu prägen. Was der Ökonom Adam Smith noch als «commercial society» und der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel als «bürgerliche Gesellschaft» beschrieben hatten, stellte Marx als «kapitalistische Gesellschaftsformation» dar.

Mit dieser Umschreibung definierte Marx, der in enger Verbindung mit Friedrich Engels nicht nur die deutschen, sondern auch die schon weiterentwickelten westeuropäischen Verhältnisse beobachtete, die Industrielle Revolution als epochale Umwälzung wahrnahm und den sozialen Sprengstoff der sich anstauenden Arbeiterfrage erkannte, den Kapitalismus in einer Weise, dass er in voller Ausprägung erst als Industriekapitalismus in Erscheinung trat, mit der «großen Industrie» und massenhafter Lohnarbeit im Zentrum. Die Existenz von älteren Varianten des Kapitalismus vor der Industrialisierung leugnete Marx nicht, doch er untersuchte sie nicht. Er war am Kapitalismus in seiner modernen, industriewirtschaftlichen Ausprägung und an seiner Entstehung (in England seit dem 16. Jahrhundert) interessiert.

Die Kritik an der Marx’schen Konzeption ist Legion. Mit guten Gründen hat man ihr vorgeworfen, die zivilisierende Wirkung der Märkte unter-, Arbeit als einzige Quelle neu geschaffener Werte dagegen überschätzt zu haben. Kritisiert wurden Marxens mangelnde Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Wissen und Organisation als Quellen von Produktivität, seine fehlgehenden Prognosen der sozialen Folgen des Industriekapitalismus und sein geradezu alteuropäisch anmutendes Misstrauen gegenüber Markt, Tausch und Eigeninteresse. Dennoch bleibt die Marxsche Analyse ein origineller, faszinierender und grundlegender Entwurf, auf den sich die meisten späteren Interpreten des Kapitalismus bis heute, und sei es kritisch, beziehen.[7]

Max Weber behandelte das Thema Kapitalismus im Kontext einer umfassenden Geschichte der okzidentalen Modernisierung. Vor diesem Hintergrund löste er den Begriff aus der Fixierung auf das Industriezeitalter. Anders als Marx erwartete er nicht, dass der Kapitalismus an seinen Krisen untergehen werde, vielmehr befürchtete er die Gefahr der Erstarrung seiner Dynamik aufgrund von allzu viel Organisation und Bürokratisierung. An die Überlegenheit eines künftigen sozialistischen Systems glaubte er nicht. Seine Analyse griff thematisch weiter aus und reichte historisch weiter zurück als die von Marx.

Scharf arbeitete Weber die Eigenarten des kapitalistischen Wirtschaftshandelns mit seiner Orientierung am Tausch und an Marktpreisen heraus, die er als Ergebnis von Marktkämpfen und -kompromissen verstand. Er betonte die «formale rechnungsmäßige Rationalität» des kapitalistischen Wirtschaftens. Diese sah er vor allem durch die Struktur des kapitalistischen Unternehmens gewährleistet, dessen Trennung vom Haushalt der Wirtschaftssubjekte, systematisch-zweckrationale Organisation als Herrschaftsverband und langfristige Rentabilitätsorientierung er betonte. Zur systematisch zweckrationalen Organisation des Unternehmens rechnete er Arbeitsteilung und Arbeitskoordination, formell freie Arbeit von Arbeitern ohne Produktionsmittelbesitz und deren Unterordnung unter die Betriebsdisziplin, d.h. unter die Anordnungsbefugnisse der letztlich durch Kapitalbesitz legitimierten Unternehmer und Manager. Er arbeitete heraus, dass die effektive Leitung eines kapitalistischen Unternehmens einerseits Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte voraussetzte. Andererseits hielt er eine spezifische Wirtschaftsgesinnung für unabdingbar. Diese war nach seinem Urteil gerade nicht mit schrankenloser Erwerbsgier gleichzusetzen, sondern verlangte deren «rationale Temperierung», und zwar als langfristig kalkulierte Bereitschaft zur Investition und Reinvestition mit dem Ziel des langfristigen Unternehmenserfolges als solchen. Eine wichtige Quelle dieses «Geistes des Kapitalismus» sah Weber in der calvinistisch-puritanischen Ethik seit dem 16. Jahrhundert (im Gegensatz zu Werner Sombart, der für die Entstehung dieser Wirtschaftsgesinnung die Rolle der Juden seit dem Mittelalter betonte).

Weber hat theoretisch und historisch herausgearbeitet, dass der so verstandene Kapitalismus eine gewisse Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dabei die relative Autonomie des Teilsystems «Wirtschaft» vor allem gegenüber der Politik voraussetzt: eine Autonomie, die sich in Vertrags-, Arbeitsmarkt-, Gütermarkt- und Unternehmungsfreiheit konkretisiere. Anderseits hat er überzeugend gezeigt, wie sehr der Aufstieg des Kapitalismus über die Jahrhunderte von außerökonomischen Faktoren abhing: vor allem von Politik und Recht, von den Staaten, ihren Kriegen und ihrem Finanzbedarf. Und er war von der riesigen «Kulturbedeutung» des Kapitalismus überzeugt, der seine Dynamik und seine Prinzipien auch in vielen nicht-ökonomischen Lebensbereichen zur Geltung bringe. Er wusste, dass der vollentwickelte, alle genannten Merkmale aufweisende Kapitalismus ein Phänomen der Neuzeit war, und er unterschied deshalb den modernen Kapitalismus von älteren, weniger entwickelten Formen («Frühkapitalismus», «politisch orientierter Kapitalismus», «Rentenkapitalismus», «Beutekapitalismus»). Weber war überzeugt, dass der moderne Kapitalismus nur im Okzident entstanden sei, nicht zuletzt wegen der nur hier auftretenden Form von Staatsbildung. Er war kein unkritischer Bewunderer des modernen Kapitalismus. Er arbeitete zwar dessen «formale rechnungsmässige Rationalität» heraus, doch unterstrich er auch, dass die dadurch dauerhaft erzielte Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz nicht mit dauerhafter Wohlstandsmehrung in allen Bevölkerungsteilen einhergehen müsse. Vielmehr werde, so fasst Wolfgang Schluchter Webers Überzeugung zusammen, im Kapitalismus «nicht Begehr befriedigt, sondern ausschließlich kaufkräftige Begehr.» Darin sah Weber eine «grundlegende und letztlich unentrinnbare Irrationalität».[8]

Auch an Weber ist viel Kritik geübt worden. Seine These vom Zusammenhang zwischen der Ethik des puritanischen Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus ist empirisch immer wieder in Frage gestellt und stark relativiert worden (das gilt erst recht für Sombarts Betonung der jüdischen Herkunft des kapitalistischen Geistes, die überholt ist). Weber saß bei der Beurteilung der Kapitalismusfähigkeit nicht-westlicher Zivilisationen, etwa der islamischen Gesellschaften, manchem Vorurteil auf und fußte auf einem Forschungsstand, der nach einem Jahrhundert selbstredend überholt ist.[9] Doch seine Analysen gehören bis heute zum Besten, was über Kapitalismus jemals geschrieben worden ist.

Joseph A. Schumpeter hat nicht nur den Begriff «Kapitalismus» für seine eigenen Forschungen benutzt, sondern auch mit seinem Buch «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie» (erstmals 1942) die wissenschaftliche Diskussion über den Kapitalismus nachhaltig beeinflusst. Privateigentum, Marktmechanismus und Unternehmenswirtschaft gehörten für ihn zur Definition von «Kapitalismus» dazu. Er definierte: «Kapitalismus ist jene Form privater Eigentumswirtschaft, in der Innovationen mittels geliehenen Geldes durchgeführt werden, was im allgemeinen …. Kreditschöpfung voraussetzt.» Mit der Betonung der Kreditvergabe – und damit des Schuldenmachens, aber auch der Spekulation – als eines zentralen Merkmals des Kapitalismus leistete Schumpeter einen Beitrag, der nach dem überproportionalen Wachstum des Finanzkapitalismus in den letzten Jahrzehnten heute besondere Aktualität besitzt.

Schumpeter ging es vor allem um die Erklärung wirtschaftlicher Dynamik. Er suchte nach dem Mechanismus, durch den sich die Wirtschaft aus sich selbst heraus verändert. Er fand ihn in der Innovation, also in der Kombination von Elementen, Ressourcen und Möglichkeiten in einer Weise, dass daraus wirtschaftlich Neues entsteht: neue Methoden der Produktion und Verteilung, neue Organisationsformen in oder auch zwischen den Unternehmen, die Erschließung neuer Beschaffungs- und Absatzmärkte, die Herstellung neuer oder doch stark verbesserter Güter, die Weckung neuer Bedürfnisse u.a.m. Schumpeter machte deutlich, dass die Einführung von Neuem mit Notwendigkeit die Ablösung und oft die Zerstörung von Altem bedeutet. Er sprach in diesem Zusammenhang – in begrifflicher Anlehnung an Sombart – von «kreativer Zerstörung» als dem Kern der kapitalistischen Entwicklung.

Aus dieser Perspektive entwickelte er seine Theorie des Konjunkturwechsels, denn Innovationen stellen aus seiner Sicht Wachstumsschübe dar und bewirken Wellen des wirtschaftlichen Ausbaus, an denen nach den innovationstragenden Pionier-Unternehmern dann auch viele andere Unternehmer «scharenweise» teilnehmen, bevor die Welle ihre Anschubkraft verliert, ausläuft und in einen Abschwung übergeht, bis ein neues Bündel von Innovationen zum Beginn eines neuen Zyklus führt. Von daher ergab sich das große Interesse Schumpeters am Unternehmer, den er als Träger des untersuchten Veränderungsmechanismus sah.