Gestorben wird immer - Christine Anlauff - E-Book

Gestorben wird immer E-Book

Christine Anlauff

4,8

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Eigentlich soll der Potsdamer Literaturkritiker Just Verloren sich von den Folgen eines Fahrradunfalls erholen. Doch das spurlose Verschwinden einer Krankenschwester weckt seinen kriminalistischen Spürsinn. Was zunächst wie ein einfacher Fall von Lösegelderpressung aussieht, entwickelt sich bald zu einem verwirrenden Labyrinth aus falschen Fährten und unzähligen Verdächtigen. Erst als Verloren dem Tod ins Auge blickt, weiß er, dass er auf dem richtigen Weg war ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christine Anlauff

GESTORBEN WIRD IMMER

Ein Verloren-in-Potsdam-Krimi

Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsachlichem Geschehen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbHebook im be.bra verlag, 2016

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6154-2 (epub)

ISBN 978-3-89809-543-3 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Die Autorin

1

Als ich die Augen aufschlug, blickte ich in ein Paar blaue.

»Seit wann trägst du Kontaktlinsen?«, fragte ich Anja. »Und warum hast du dir die Haare gefärbt?«

Unter den Augen bewegten sich Lippen, die um einiges voller waren als die meiner Freundin.

»Du liebe Güte«, sagten sie, und noch während ich diesen Worten einen Sinn abzuringen suchte, schlief ich wieder ein.

Beim nächsten Erwachen fand ich über mir eine weiß getünchte Decke mit Neonröhren. Demnach lag ich in einem Gebäude. Ich wollte gerade darüber nachdenken, in welchem und wieso, da kam der Schmerz. Er strömte wie glühende Lava durch meine linke Schulter und von dort weiter in den Arm. Entsetzt wollte ich mich in die nächste Ohnmacht flüchten, aber es gelang mir nicht. Mir blieb nur, mich zu ergeben und herauszufinden, was es mit meinem Zustand auf sich hatte.

Immerhin registrierte ich, dass meine Unterlage nachgiebiger war als ein Fußboden und offenbar auch um einiges höher. Vorsichtig hob ich den Kopf, was sofort einen neuerlichen Schmerzsturm auslöste.

Auf der rechten Seite sah ich eine hellgelbe Wand. Links ein Metallbett, in dem das Gesicht eines alten Weibleins aus einer Decke lugte, die viel zu voluminös für sie war. Sie schlief oder wusste die Vorteile einer kurzen Ohnmacht ebenso zu schätzen wie ich. Dass sie nicht tot war, entnahm ich nur einem piepsenden Gerät an ihrem Fußende und einem Schlauch, der von einem Beutel an einem aus der Wand ragenden Galgen unter ihre Decke führte.

In diesem Augenblick schlug die Erkenntnis in meine Benommenheit wie eine Axt. Unter Aufbietung aller Willenskraft spähte ich zum Fußende meines eigenen Bettes. Ich hörte das Piepsen, noch bevor ich den Kasten sah. Und gleich darauf entdeckte ich den dünnen Schlauch, der von meinem rechten Handgelenk zum Galgen an der Wand führte.

Krankenhaus. Schon wieder.

Die nächsten zehn Minuten waren ein blanker Albtraum. In Abständen wehten weiße oder grüne Kittel durch den Gang zwischen dem Mütterchen und mir, meist hinter einer menschlichen Fracht im Rollstuhl oder einem Bett wie meinem. Niemand klärte mich auf oder beachtete mich.

Das Pochen in meiner Schulter griff allmählich auf mein Hirn über, bis es abwechselnd nur noch »Schmerz« und »Warum?« blinkte.

Als endlich ein Schatten auf mein Gesicht fiel, war es gerade bei »Schmerz.«

»Oh, wirkt es nicht?«, fragte eine Männerstimme und ein Finger schnipste gegen den Schlauch meines Tropfes.

»Warum?«

»Tja, vielleicht zu gering dosiert.«

Das Bett ruckelte an, und kurz darauf beugten sich wieder Augen über mich. Diesmal graue.

»Dann lassen Sie uns mal Licht ins Dunkel bringen, Herr Verloren. Ich bin Doktor Mertens.«

Verständnislos starrte ich den Mann an, bis mein Hirn plötzlich ein Stück Restverstand aktivierte und mich »Ich muss in den Sender« sagen ließ.

»Das hat er dem Notarzt auch schon in Endlosschleife wiederholt«, sagte eine neue Stimme, diesmal eine weibliche, und zu den Augen des Doktors gesellten sich braune hinter schlecht geputzten Brillengläsern.

»Er war auf dem Weg zur Arbeit, als es passiert ist. Mit dem Rad. Und ohne Helm.«

»Wir haben Redaktionssitzung«, unterbrach ich sie, weil es mir gerade wieder einfiel.

»Na ja, die wird heute ohne Sie auskommen«, meinte der Doktor trocken. »Können Sie sich aufsetzen?«

»Natürlich.«

Ich stützte mich auf und fiel wimmernd zurück ins Kissen.

»Helfen Sie ihm mal, Sabine!«

Die Brille vor den braunen Augen senkte sich zu mir herab, und noch ehe ich begriff, was vor sich ging, saß ich auf der Bettkante und ließ mich von einer Frau ausziehen, die viel zu alt für mich war und auch sonst in keiner Weise meinem Beuteschema entsprach. Aber sie machte ihre Sache gut. Ich stöhnte nur zweimal; einmal, als sie meine Schulter aus dem Jackenärmel pellte, das zweite Mal, als sie meinem T-Shirt mit einer Schere zu Leibe rückte und es erbarmungslos aufschlitzte.

»Das ist ein Fair-Trade-Shirt!«, japste ich. »Haben Sie eine Ahnung, wie teuer das war?«

»Nee«, sagte sie und trat zur Seite, um dem Doktor Platz zu machen.

»Kopfschmerzen, Schwindelgefühl?«

»Beides. Ein bisschen. Schlimmer sind die Schulter und der linke Arm.«

Er wandte sich an die Schwester, die sich inzwischen von irgendwoher ein Klemmbrett besorgt hatte.

»Röntgen und CT bei Verdacht auf leichtes bis mittleres SHT.«

»Was?«, fragte ich ängstlich.

»Gehirnerschütterung. Sie können sich glücklich schätzen, dass es nicht schlimmer ist, nach einem solchen Sturz.«

»Welcher Sturz?«

Er runzelte die Stirn. »Ihr Fahrradunfall. Sie sind über den Lenker gegangen und Gott sei Dank mit der Schulter zuerst aufgekommen. Wissen Sie das nicht mehr?«

Ich schloss die Augen. Nach einer Weile tauchte ein zu weich gekochtes Frühstücksei vor mir auf und dann Anja, die frostig sagte, wenn es mir nicht schmecke, solle ich mir die Eier eben zukünftig von meiner Halbrussin hart kochen lassen. Dann hatte sie ihr eigenes Ei weggeworfen und war grußlos zur Arbeit gegangen. Und ich? An den Laptop, um meinen Blog mit dem Wort zum Tag zu füttern.

In meinem Kopf pochte es bedenklich. Dennoch zwang ich ihm weitere Fragmente ab. Unser inoffizieller Hauswart Pachulke im Schlafanzug am Briefkasten, in der Hand die Zeitung.

»Schon gehört? Die Investorengattin ist wieder aufgetaucht. Stand plötzlich vor ihrem Haus in Klein Glienicke und wusste von nichts. Alles weg, keine Erinnerung, können Sie sich das vorstellen?«

»Wahrscheinlich Drogen«, hörte ich mich sagen, während ich mein Rad an Pachulke vorbeischob, aufstieg und die Gutenbergstraße hinunterfuhr.

Vor dem Bagel-Shop Ecke Ebertstraße stritt sich ein Paar. Vielleicht bildete sich dessen weibliche Hälfte auch ein, dass ihr Partner ein Verhältnis mit seiner Kollegin pflegte. Wie Anja.

Auf dem Bassinplatz standen die Bauern hinter ihren Marktständen, am Straßenrand hatte es sich Drecklock, der Obdachlose, mit seiner Morgenpulle gemütlich gemacht. Den Namen hat er nicht von mir, aber er passt. Ich nickte ihm zu, dann stand die Welt plötzlich kopf und verschwand.

Die nächste Erinnerung waren die blauen Augen und die Lippen, die nicht Anja gehörten.

»Nein«, sagte ich kleinlaut. »Ich erinnere mich nicht.«

Der Doktor wandte sich an die Schwester. »Temporäre Amnesie.«

»Und was ist mit meiner Schulter?«

»Ausgekugelt. Das haben wir gleich.«

Er gab der Schwester ein Zeichen, die daraufhin ihr Klemmbrett beiseitelegte und mich rechts unterhakte, während er einen Fuß in meine linke Seite stemmte, nach der Hand meines gemarterten Arms griff und mit kräftigem Ruck daran zog.

Über die nächsten Stunden schweige ich lieber, auch wenn die Beschreibung der raumgreifenden schwenk- und fahrbaren Röntgenplatten für Technikfreaks vielleicht interessant wäre. Mir taten sie weh, denn man klemmte mich zwischen ihnen ein. Im CT merkte ich, dass ich außer unter den Folgen meines ominösen Unfalls auch unter Klaustrophobie litt, was ich bisher nicht gewusst hatte. Ansonsten lag ich hauptsächlich auf Fluren herum und staunte darüber, dass meine Schulter trotz des Schmerzmittels, das mir seit der Untersuchung durch das sadistische Duo wieder in die Venen rann, nach dem Einrenken noch höllischer wehtat als vorher.

Irgendwann holte mich ein junger Grünkittel ab, dessen ausschließliche Aufgabe im Transport von Patienten bestand, wie er mir erklärte. Er schob mich in einen Fahrstuhl und von dort über einen weiteren, diesmal mit großformatigen Fotografien dekorierten Flur in ein Zimmer. Mit seiner und der Hilfe einer älteren Schwester, die sich mir als Renate vorstellte, wechselte ich von der Transportpritsche in ein Bett, wie ich es von meinem letzten Krankenhausaufenthalt her kannte.

»Jetzt kommen Sie erst mal zu sich«, sagte die Schwester und hängte meine Jacke in einen Schrank neben der Tür. »Möchten Sie vielleicht einen Tee oder Kaffee für den Kreislauf nach der Aufregung? Wir haben auch Cappuccino und so weiter, wählen Sie einfach aus der Karte auf Ihrem Nachttisch.«

»Mehr Schmerzmittel. Und mein Telefon. Es steckt in der Jackentasche.«

Schwester Renate brachte es mir. »Die Frau?«, fragte sie zwinkernd.

»Sozusagen. Können Sie mir sagen, wo sie mich findet?«

»Zimmer 3, Belvedere. Die Station für Privatversicherte und Opfer von Arbeitsunfällen. Sie hatten sozusagen Glück im Unglück.«

»Umgekehrt wäre es mir lieber.«

»Seien Sie nicht undankbar«, rügte sie und reichte mir das Handy. »Immerhin haben Sie ein Einzelzimmer. Dafür würden andere über Scherben gehen. Wegen des Schmerzmittels warten Sie einen Augenblick, ich frage mal nach.«

Belvedere! Darunter machte es ein Krankenhaus in dieser Stadt wohl nicht. Andererseits war ein Einzelzimmer tatsächlich etwas wert. Beim letzten Mal hatte man mir nach der ersten Nacht einen Schnarcher zugeteilt, der noch dazu in regelmäßigen Abständen seltsame Klicklaute von sich gegeben hatte. Daraufhin hatte ich mich am nächsten Tag selbst entlassen.

Ich wartete, bis Renate gegangen war, schaltete das Handy auf laut und rief mit der Rechten Anjas Nummer auf, erreichte aber nur ihre Mailbox. Entweder war sie in einer Sitzung oder nachhaltig sauer. Was zumindest bedeuten würde, dass meine Erinnerungen an das Ei und Pachulke im Schlafanzug frisch waren.

Was tut man, um eine saure Frau gnädig zu stimmen?

Man gibt sich schwach. Besonders bei Anja wirkt Schwäche absolut zuverlässig; kaum sieht sie eine Träne, spielen ihre Spiegelneuronen verrückt. Deshalb ließ ich meine Stimme etwas schleppender und leiser als nötig klingen, als ich der Mailbox zuflüsterte:

»Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber mach dir keine Sorgen, ich liege auf der Belvedere des Ernst-von-Bergmann-Klinikums und werde gut versorgt. Nur falls du Zeit hast …« Ich ließ eine Pause eintreten, in der ich leise stöhnte. »… Könntest du meine Zahnbürste und den Laptop vorbeibringen? … Ich liebe dich.«

Das hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu ihr gesagt, und ich schämte mich ein bisschen. Aber nicht lange, denn kaum hatte ich aufgelegt, kam Renate wieder herein und schraubte an meinem Tropf herum.

»So, mein Lieber, gleich wird’s angenehmer. Genießen Sie’s!«

Die nächsten Stunden verdämmerte ich friedlich. Als meine Schulter und ich wieder erwachten, war das Zimmerlicht eingeschaltet und eine Frau stand an meinem Bett. Nicht Anja oder Schwester Renate, sondern Irene, Co-Moderatorin meiner wöchentlichen Sendung »Literaturscouts« und der Grund für Anjas Eifersucht.

»Du hast mich grausam erschreckt!«, sagte sie und platzierte schwungvoll einen Strauß Maiglöckchen auf meiner Decke.

»Ich dachte, dein Kopf ist kaputt. Wie du geguckt hast – so … entfernt. Und du hast mich Anja genannt!«

Es war süß, wie sie das sagte, das mit dem Kopf und dem entfernten Blick. Irenes Mutter stammt aus einem Nest bei Sankt Petersburg, und obwohl sie in Cottbus aufgewachsen ist, bedient sie sich manchmal der blumigen Sprache einer Migrantin, ich glaube, weil sie weiß, dass ich darauf stehe.

»Heute Morgen? Iri, was ist passiert? Ich erinnere mich nur an Drecklock, den Obdachlosen vom Bassinplatz. Danach habe ich einen Filmriss, bis …«

Irene lächelte, und auf einmal wusste ich, wem die blauen Augen bei meinem ersten Erwachen gehört hatten.

»Du warst das.«

»Natürlich, du hast mich doch gerufen.«

»Wie bitte?«

Sie setzte sich auf meine Bettkante und zog ungeniert die Schuhe aus, hellblaue Halbstiefel mit Plateausohlen, von denen ich gehofft hatte, sie würden nie wieder modern.

»Ich war gerade in der Einfahrt zum Sender. Erst dachte ich, du willst dich mal wieder für eine Verspätung entschuldigen, aber du hast nur Unsinn geredet, von deiner Uhr und einem Marktplatz und dem Himmel, und mich angefleht zu kommen. Dabei hast du geweint wie ein Kind. Mir ist der Schreck dermaßen in die Glieder gefahren, das kannst du dir nicht vorstellen.« Sie schüttelte sich, als durchlitte sie den Schock soeben erneut.

»Das mit dem Bassinplatz habe ich mir zusammengereimt, ich kenne ja deinen Weg zur Arbeit. Und irgendwann hab ich dich auf der Schwelle eines Ladens gefunden, schlafend oder ohnmächtig und weiß wie Hüttenkäse. Bis der Notdienst da war, bist du zweimal kurz aufgewacht und hast was von in den Sender müssen, Kontaktlinsen und gefärbten Haaren gestammelt. Neben dir lag dein Fahrrad. Es sah besser aus als du.«

Ich hatte geweint? Wie peinlich.

»Weißt du denn jetzt, was passiert ist?«, erkundigte sie sich.

»Offenbar hatte ich einen Unfall und hab mir dabei die Schulter ausgekugelt und den Schädel geprellt. Aber ich erinnere mich nicht daran. Auch nicht an das Telefonat mit dir oder wie ich auf diese Türschwelle gekommen bin. Scheinbar ist eine Sequenz meines Lebens von meiner Festplatte gelöscht worden. Das macht mir Angst, Iri.«

»Irgendwann fällt es dir sicher wieder ein«, sagte sie mütterlich, griff nach meiner linken Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, als ich zusammenzuckte. Gott sei Dank, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Anja erschien, in der Hand eine Vase mit Maiglöckchen. Als sie Irene sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Pardon, störe ich?«

»Nicht doch, schön, dass du kommst«, entgegnete ich und lächelte leidend.

Sie schloss die Tür, durchquerte das Zimmer und stellte die Blumen auf den Tisch. Dann kam sie zu mir und küsste mich auf die Stirn.

»Das ist Irene, meine Kollegin«, stellte ich Irene vor, die strahlend ein Bein unter das andere schob. »Ihr verdanke ich, dass ich hier liege. Ich meine, sie hat nach meinem Unfall den Krankenwagen gerufen«, ergänzte ich, als Anja fragend die Brauen hob. »Sonst würde ich vielleicht immer noch irgendwo am Bassinplatz sitzen.«

»Ich soll dich übrigens von Bert grüßen«, schob Irene versiert ein. Bert arbeitet als Redakteur in unserem Sender und ist seit Jahren mein bester Freund. »Er kommt, sobald er Zeit findet.«

Auf Anjas Hals und Wangen bildeten sich Flecken, ein bedenkliches Zeichen.

»Was hast du am Bassinplatz gemacht? Ich dachte, du wolltest zur Redaktionssitzung?«

»Ja. Aber unterwegs hat es mich plötzlich vom Rad gehoben, das heißt, alles deutet darauf hin, dass es mich vom Rad gehoben hat, genau weiß ich es nicht, weil ich eine Erinnerungslücke habe.«

»Er erinnert sich nicht einmal, dass er mich angerufen hat«, bestätigte Irene.

Anjas Blick wanderte von ihr zu den Maiglöckchen auf meinem Bauch und von dort zu mir. Sie lächelte, aber ihr Lächeln glich dem Schnitt einer Rasierklinge. In einer Ausnahmesituation rufst du also zuerst die kleine Halbrussin an, sagte es.

Nein!, wollte ich rufen. Ich habe in meiner Umnachtung nur die falsche Nummer erwischt, es sollte eigentlich deine sein!

Aber ich schwieg. Erstens hätte sie mir sowieso nicht geglaubt, und zweitens ging wieder die Tür auf und die Rettung in Person von Schwester Renate und einem Arzt schwebte herein.

»Na, da ist ja jemand beliebt«, gurrte Renate und kam zu mir, um mir die Manschette eines Pulsmessers um den gesunden Arm zu schnallen. Bei der Gelegenheit bemerkte ich, dass kein Schlauch mehr daran hing.

Irene räumte eilfertig ihren Platz und gesellte sich zu Anja, die daraufhin an den Besuchertisch floh.

Der Arzt stellte sich als Dr. Weber vor, und einem Weberknecht ähnelte er auch, mit seinem kahlen Schädel und den spinnenartigen Fingern, die über meine Schulter krabbelten, nachdem Renate sie aus dem Flügelhemd, einem jämmerlichen Ersatz für mein teures Shirt, geschält hatte.

»Nicht versteifen! Ich guck bloß, was die Bande in der Notaufnahme angerichtet hat.«

»Sie haben mir die Schulter eingerenkt.«

Einer der Spinnenfinger tastete sacht über mein Schlüsselbein, worauf ich mich unwillkürlich noch mehr versteifte. Schließlich trat er einen Schritt zurück und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf.

»Idioten«, konstatierte er sachlich. »Wenn Ihre Schulter ausgerenkt gewesen wäre, hätten sich auf den Röntgenbildern Spuren davon an der Gelenkpfanne gefunden. Dem ist nicht so, also weiß der Himmel, was die da eingerenkt haben wollen. Hoffentlich haben sie den Schaden nicht noch verstärkt.«

»Welchen Schaden?«, flüsterte ich.

Anja verließ widerstrebend den Tisch, während Irene den Doktor mit ihren blauen Augen anhimmelte.

»Das Gelenk ist, um es mal salopp auszudrücken, zertrümmert wie die Frauenkirche nach dem Bombenangriff der Alliierten. Dabei sind die Bänder und Muskeln erstaunlicherweise unbeschädigt geblieben. Aber da sie im Augenblick nichts hält, hängen sie durch, daher der Schiefstand der Schulter. Der Arm ist in Ordnung.«

Angesichts dieser Diagnose verschlug es mir die Sprache.

Irene fasste sich schneller.

»Können Sie das in Ordnung bringen?«

Worauf Anja ihre Hände ineinander verschränkte, vermutlich, um nicht auszuholen.

»Dafür bin ich Unfallchirurg«, sagte Dr. Weber.

Renate wickelte die Manschette wieder von meinem Arm.

»Wir messen den Puls später, wenn Sie sich beruhigt haben.«

Irene ging zusammen mit dem Arzt. So wie ich sie kannte, löcherte sie ihn vor der Tür mit Fragen zu der auf den folgenden Mittag angesetzten OP.

Zurück blieben Schwester Renate und Anja, die sich allmählich entspannte, auch wenn sie mich noch immer kühl wie eine Schneekönigin behandelte. Aber unter der frostigen Miene erkannte ich ihre Sorge, das reichte mir für den Moment. Renate und ich diktierten ihr eine Liste von Dingen, die ich in den nächsten Tagen benötigen würde, unter anderem ein neues T-Shirt und eine Sporthose.

»Lassen Sie sich lieber ein Hemd zum Knöpfen bringen«, riet Renate. »Wir müssen noch öfter an Ihre Schulter. Und Hausschuhe.«

Der Schlaf floh mich in dieser Nacht. Zwar hatte Renate mir nach dem Abendbrot eine Tablette verabreicht, aber ich argwöhnte, dass es ein Placebo gewesen war. Mit jeder Minute nahm der Schmerz in meiner Schulter zu. Ich versuchte ihn zu beherrschen, indem ich mich in ihn vertiefte und seinen verschiedenen Ausprägungen nachspürte, die von einem kalten Druck bis zu heißem Pochen reichten, zuweilen ergänzt durch ein Ziehen, das sich anfühlte, als zöge mir jemand langsam eine Sehne aus dem Körper. Außerdem war ich es nicht gewohnt, auf dem Rücken zu schlafen, das Kissen war zu weich, das Bett unter dem Laken mit irgendetwas Gummierten bespannt, auf dem sich mein Schweiß in kleinen Lachen sammelte, und wenn ich die Augen schloss, dachte ich sofort an das Loch in meiner Erinnerung und riss sie panisch wieder auf. Irgendwann nach Mitternacht klingelte ich und bat die Nachtschwester um eine weitere Tablette. Eine richtige, wenn möglich.

Sie brachte eine, die genauso aussah wie die letzte. Trotzdem fiel ich gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlaf, aus dem mich kurz darauf eine Schwester zum Fiebermessen und Bettenmachen riss. Es war weder Renate noch die aus der Nacht, sondern ein durchsichtiges junges Ding mit gesträhnten Haaren und der hohen Stimme einer Rauchschwalbe. Als sie irgendwann ging, taten mir auch die Ohren weh.

Dafür erwartete mich Renate beim Erwachen aus der Narkose.

Zuerst erschien sie mir wie ein Engel in ihrer weißen Kluft und dem im Gegenlicht schimmernden Flaum auf ihren Armen. Ich fühlte mich angenehm schwer und leicht zugleich.

»Schön geträumt?«

Sie beugte sich über mich, um den Tropf zu kontrollieren, der wieder in meiner Vene hing.

Ich scannte versonnen die Details ihres Gesichts. Ohne Wertung, wie eine Landkarte oder eine Wolke, die über einen Frühlingshimmel treibt.

Alles in allem war es ein weiches Gesicht, von aschblonden halblangen Haaren umrahmt, das unter den Augen und um einen kleinen Mund herum sanfte Falten schlug. Ungleichmäßig gerötete Wangen, dank eines Netzes geplatzter Äderchen, von denen einige auch ihre Nase zierten, ansonsten glich ihre Haut verblichenem Elfenbein. An ihrem Hals entdeckte ich einen Leberfleck, den ich einen Moment lang betrachtete, ehe ich mich erkundigte, wie die OP gelaufen war. Meine Stimme fühlte sich genauso rau an, wie sie klang.

»Ohne Komplikationen. Dr. Weber hat sie wieder zusammengeschraubt. Er erklärt es Ihnen sicher bei der nächsten Visite. Jetzt schlafen Sie erst mal Ihren Restrausch aus, und danach bringe ich Ihnen eine schöne Portion Cordon bleu, die ich vom Mittag aufgehoben habe, damit Sie mir nicht vom Fleisch fallen.«

Während sie sprach, arrangierte sie einen Blumenstrauß in einer Vase auf meinem Nachttisch. Keine Maiglöckchen, sondern irgendetwas Buntes.

»Habe ich etwa einen Besucher verpasst?«

»Ihre Freundinnen. Die eine hat die Sachen gebracht und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie morgen wiederkommt. Die andere hat nur kurz nach Ihnen gesehen und wollte dann mit dem Doktor reden. Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Die zweite ist hübscher, aber an der anderen haben Sie mehr.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Und von welcher sind die Blumen?«

»Von mir. Das sind Ranunkeln.«

Wie konnte man so zarten Blumen einen Namen geben, der wie Eiterbeulen klang!

»Danke.«

»Da nicht für. Haben Sie noch einen Wunsch?«

»Eine Tageszeitung wäre nett.«

Vielleicht stand ja mein Unfall unter Vermischtes.

Renate sah amüsiert auf ihre Armbanduhr, ein klobiges Ding mit violettem Plastikarmband, vermutlich ein Werbegeschenk. Eine Minute später drückte sie mir eine Ausgabe des bürgerlicheren unserer beiden Lokalblätter in die gesunde Hand.

»Na, mal sehen, wie viele Zeilen sie schaffen«, sagte sie grinsend.

Sie war die Erfahrenere von uns beiden, was die Aufnahmefähigkeit eines frisch Operierten betraf. Immerhin schaffte ich einen ganzen Artikel über die entführte Investorengattin, die vor ihrem überraschenden Wiederauftauchen offenbar ebenso geblitzdingst worden war wie ich bei meinem Unfall, und begriff davon mindestens die Hälfte. Beim Rest zwang ich mich, mir wenigstens die Buchstaben anzusehen, um Renate etwas vorweisen zu können, obwohl mir nicht recht klar war, was, bis ich mir schließlich eingestand, dass ich von Klarheit jeder Art weit entfernt war.

Ich schrak erst auf, als Renate mir die Zeitung vom Gesicht hob.

»War wohl nicht so spannend?«

»Ging so«, murmelte ich, roch den Duft von Gebratenem, und zum ersten Mal seit zwei Tagen fühlte ich mich wieder wie ein Mensch.

Von da an ging es aufwärts. Zwar tat meine geflickte Schulter noch immer weh, aber ich lernte, den Schmerz erfolgreich mit Tabletten zu bekämpfen, nachdem der Tropf entfernt worden war. Bei allem anderen half mir Schwester Renate. Die Aufmerksamkeit, mit der sie sich um mich kümmerte, rührte mich. Zum Beispiel kredenzte sie mir bereits am zweiten Morgen nach der OP einen mit Kardamom gewürzten Frühstückskaffee, nachdem ich meine Vorliebe dafür am Abend zuvor beiläufig erwähnt hatte, begutachtete einen nach meiner Ansicht zu dunklen Leberfleck auf meinem gesunden Unterarm und beruhigte mich, indem sie mir eine Batterie schwarzer Leberflecken auf ihrer rechten Schulter zeigte, die mich sofort zum nächsten Hautarzt gejagt hätten. Das sei normal, sagte sie, eine Frage der Veranlagung und des Alters. Besonders hoch rechnete ich ihr an, dass sie sich jedes Mal, wenn sie in meinem Zimmer zu tun hatte, einige Minuten für einen Plausch nahm, als sei ich der einzige Patient der Station. Ich erkundigte mich, woher sie die Zeit dafür nähme. Die übrigen Schwestern rauschten immer nur herein, sagte ich, täten ihren Dienst am Menschen und verschwänden so eilig wieder, als müssten sie ein überfülltes Lazarett versorgen.

Darauf seufzte Renate und sah plötzlich selbst ein bisschen krank aus. Wie sie da vor mir am Besuchertisch saß, zwischen uns ein Schachbrett, auf dem soeben eine Partie Blitzschach zu meinen Gunsten ausgegangen war, wirkten ihre Augen umschattet, ihre Haare noch farbloser, und auf ihrer Unterlippe entdeckte ich knospenden Herpes.

»Für nur je zwei diensthabende Schwestern kann sich auch eine Station wie das Belvedere zuweilen wie ein Lazarett anfühlen.«

»Und trotzdem spielen Sie mit mir Schach? Das heißt, irgendwer stirbt vielleicht, während Sie überlegen, ob Sie Ihren Läufer ziehen?«

Sie sah mich tadelnd an. »Sicher nicht. Meine Läufer ziehe ich vor Dienstbeginn oder nach Dienstschluss oder in meiner Pause. Abgesehen davon ist das Belvedere im Vergleich mit anderen Stationen natürlich schon um einiges ruhiger.«

Dann erzählte sie von ihren Vorgängerstationen: der Inneren und der Intensivstation. Auf letzterer wäre es noch ganz erträglich gewesen. Aber auf der Inneren sei sie kaum einmal zum Hinsetzen gekommen, und für eine Patientenpflege, die den Namen verdiene, wären ihr nur die Stunden nach den Überstunden ihrer regulären Dienstzeit geblieben. Wenn überhaupt, denn der Krankenstand sei wegen der Belastung derart hoch gewesen, dass die noch verbliebenen Schwestern die Dienste der fehlenden mit übernehmen mussten und sie daher häufig zwei Schichten hintereinander gehabt hätte. Wie ich mir denken könne, habe die Dauerüberlastung auch das Klima innerhalb der Belegschaft vergiftet, was letztlich wiederum die Patienten zu spüren bekommen hatten.

»Und nur, weil die Leitung sich weigert, den Personalschlüssel zu erhöhen. Stattdessen trickst sie jetzt auch noch an den Tarifen der neuen Mitarbeiter in der Diagnostik herum. Aber nicht mehr lange, dafür sorgen wir schon.«

»Wer, wir?«

Sie schürzte die Lippen.

»Vor einem halben Jahr habe ich mit einer Kollegin eine Mitarbeitervertretung gegründet. Die ›Bergfrauen‹, weil wir überwiegend Schwestern sind. Unser Ziel ist eine Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen und eine ordentliche Tarifentlohnung der Diagnostik-Kolleginnen und Kollegen, wenn’s sein muss auch an der Gewerkschaft vorbei. Inzwischen hat sich uns schon knapp ein Drittel der Belegschaft angeschlossen. Daran merken Sie, wie es hier brodelt. Nur immer expandieren und technisch aufrüsten reicht nicht, wenn die Pflege dabei auf der Strecke … Entschuldigung«, unterbrach sie sich. »Bei dem Thema geht es jedes Mal mit mir durch.«

»Lassen Sie es ruhig weiter durchgehen«, sagte ich. »Ich betreibe in meiner Freizeit einen Blog, der sich mit brisanten Stadtthemen beschäftigt und von den unterschiedlichsten Leuten gelesen wird, auch von Landeskriminalbeamten und Radioredakteuren. Ihre Gruppe klingt spannend, vielleicht interviewe ich Sie einmal dazu und schreibe einen Artikel, sobald ich meine Finger wieder bewegen kann.«

Ich winkte lasch mit der Hand aus der Schlinge meines bandagierten linken Arms. »Eine Revolution hat umso mehr Aussicht auf Erfolg, je mehr Gewehre geladen werden. Fidel Castro, glaub ich. Vielleicht ist es aber auch von mir.«

»Herrje!« Renate sah mich erschrocken an. »Sagen Sie doch nicht so was! Das klingt ja, als wollten wir die Regierung stürzen.«

»Na und?« Ich lächelte aufmunternd. »Eine kleine Palastrevolution bewirkt manchmal Wunder. Ich hab etwas übrig für rigorose Maßnahmen. Bei allen anderen läuft man Gefahr, untergebuttert oder korrumpiert zu werden.«

Dazu sagte sie nichts, aber als sie mir eine Viertelstunde später den Nachmittagskaffee à la Verloren brachte, wirkte sie in sich gekehrt. Ich kam gerade von der Toilette und eierte mit weichen Knien zum Bett.

»Wo sind denn Ihre Hausschuhe?«, fragte sie zerstreut.

Achselzuckend deutete ich auf ein paar gelbe Badelatschen, die Anja mir mitgebracht hatte.

»Zu Hause laufe ich barfuß. Und die da sind mir zu labberig. Meine Freundin wollte mir Hausschuhe kaufen, aber das wäre eine unnötige Geldausgabe für die paar Tage, die ich noch hier bin.«

»Und wenn Sie mal zu einer Untersuchung auf eine andere Etage müssen?«

»Dann ziehe ich meine Straßenschuhe an.«

»Aha. Wie denn?«

Am nächsten Morgen servierte Renate mir mit dem Frühstück und der Morgenzeitung ein Paar schlammgrüne Filzboote von der ungefähren Größe meiner Füße.

»Selbst gemacht. Nach einer Anleitung in der Schönes Land. Sie brauchen nur reinzuschlüpfen.«

Ich betrachtete die Boote erschüttert. »Vielen Dank, aber das kann ich auf keinen Fall annehmen!«

»Und ob Sie können. Mein Mann hat sie nicht mal anprobiert. Einfach unter dem Weihnachtsbaum liegen gelassen hat er sie, bis ich sie schließlich ins Schuhregal geräumt hab. Da lagen sie bis heute früh, und dort werden sie irgendwann die Motten fressen, wenn sich niemand ihrer erbarmt.«

Sie hob meine Bettdecke am Fußende ein Stück an und hielt eines der Ungetüme an meinen rechten Fuß.

»Na also. Ich hab doch geahnt, dass Sie die gleiche Größe wie Jürgen haben. Nur dass sie Ihnen viel besser stehen. Sie passen zu Ihren Augen.«

Ihre Freude war so überschwänglich, dass ich wider Willen lächeln musste.

»Ich werde sie schonen und in Ehren halten.«

»Tragen sollen Sie sie! Und denken Sie dabei ab und zu an mich.«

Den ersten Teil des Vormittags verbrachte ich damit, meinen Blog-Freunden zu erklären, warum ich mich bis auf Weiteres nur sporadisch zu Wort melden würde, und bestimmte meinen Lieblingsfollower Mindbeard, dem ich nach den Ereignissen vom Herbst Administratorenrechte eingeräumt hatte, zum Interims-Blogwart. Nach meiner Genesung, versprach ich, würde ich mich mit einer umso brisanteren Story zurückmelden. Es war nur eine kurze Notiz, aber da ich sie mit einem Finger tippte, brauchte ich dafür beinahe eine halbe Stunde.

Danach ging ich an meine tägliche Zeitungslektüre.

Zunächst suchte ich Neues über meine Leidensgenossin, die Investorengattin ohne Gedächtnis, und wurde auf Seite zwei fündig. Die Polizei ging inzwischen davon aus, dass ihre Entführer sie mit einer einschlägig bekannten Partydroge vollgepumpt und irgendwo hinter dem Babelsberger Karl-Liebknecht-Stadion abgeladen hatten, von wo sie nach ihrem Erwachen bar jeder Erinnerung nach Hause gestolpert war. Nachweisen ließ sich die Droge nicht, da sie sich bereits nach wenigen Stunden restlos abbaute, aber alles wies auf sie hin. Dank einer Schlafbrille, die die Dame während ihres Aufenthalts bei den Entführern durchgehend hatte tragen müssen, und deren Marotte, in ihrer Anwesenheit zu schweigen, gaben auch ihre verbliebenen Gedächtnisfetzen wenig her. Nur fernes Hundegebell und eine quietschende Federkernmatratze, auf der man sie zu schlafen genötigt hatte. Außerdem äußerte sie den Verdacht, die Entführer seien Vegetarier gewesen, denn man habe ihr ausnahmslos Müsli zu essen gegeben. Dagegen führte der Journalist ins Feld, dass die Entführer möglicherweise nur keine Lust oder Zeit zum Kochen gehabt hätten.

Oder, dachte ich, sie hatten umgekehrt die Investorengattin für eine Vegetarierin gehalten. Vielleicht waren es übers Ohr gehauene Vertragspartner ihres Mannes, die sich nun ihr Geld über Bande wiedergeholt hatten. 300 000 Euro, die er seiner Frau jetzt sicher vom Haushaltsgeld abziehen würde.

Im Grunde interessierte mich die Investorengattin nicht sonderlich. Mich beschäftigte etwas anderes: nämlich ob hinter meiner Umnachtung am Ende auch eine Droge steckte. Was schlechterdings hieß, dass Anja sie mir verabreicht haben musste, weil ich außer zwei Marmeladenbrötchen, dem flüssigen Ei und drei Tassen Kaffee an jenem unseligen Morgen nichts zu mir genommen hatte.

Absurd! Und obendrein ein perfider Verrat an meiner Freundin!

Aber wie eine lästige Mücke kam der Gedanke immer wieder und mit ihm ketzerische Fragen. Hatten Anjas Verhalten, ihre zynische Bemerkung über »die Halbrussin« und ihr brachialer Abgang an jenem Morgen nicht auf zersetzende Eifersucht hingedeutet? Des Weiteren fiel mir ein, dass sie an diesem Morgen kaum über ein Ei und eine halbe Tasse Tee hinausgekommen war. Warum? Und warum Tee? Sonst trank sie Kaffee zum Frühstück.

Einmal angestoßen, begann die Spule sich zu drehen. Den Kaffee hatte ich gekocht. Nein, ich hatte nur das Wasser aufgesetzt und die Kaffee-Kardamom-Mischung in die Kanne getan, aufgegossen hatte sie ihn. Dann die Marmelade. Es handelte sich um Pflaumenkonfitüre aus dem Heimlaboratorium von Anjas Mutter, ein frisch angebrochenes Glas. Anja hatte sie in eine Schale gefüllt, weil sie Gläser und sonstige Verpackungen auf dem Esstisch unästhetisch fand. Kein langer Weg von der Küchentheke bis zum Tisch, aber ausreichend, um alles Mögliche dort hinein zu befördern. Und es waren sicher unter den Verrückten in Anjas Bürgerhaus alle nur denkbaren Drogen im Umlauf.

Mit Mühe hielt ich die Spule an.

Doch nicht Anja! Außerdem hatte ich nach dem Frühstück noch eine Weile am Laptop zugebracht, ohne irgendetwas Ungewöhnliches an mir zu bemerken.

Dennoch wurde ich eine leichte Unruhe nicht los, als ich zum nächsten Artikel wechselte. Irgendein Bericht über eine Einbruchserie in einer Kleingartensiedlung südlich des Stadtbahnhofs. Die wütenden Gärtner hatten eine Bürgerwehr gegründet.

… nachdem es der Polizei bisher nicht gelungen war, die Einbrecher dingfest zu machen …

Ich war verrückt, Anja auch nur im Entferntesten zu verdächtigen, mir eine Droge ins Essen gemischt zu haben!

»Ich will ja niemanden beschuldigen«, so einer der Pächter, »aber es ist nun einmal ein Fakt, dass unsere Sparte ein friedliches Fleckchen Erde war, bis man die ganzen Asylanten hier in die Nachbarschaft gesetzt hat.«

Der Mann entwickelte ein beängstigendes Szenario von geplünderten Ernten und entkernten Lauben und schloss, man müsse als Bürger ja wohl noch kausal denken dürfen, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden.

Wenn nicht Anja, wer dann?

Ich war drauf und dran, Schwester Renate zu fragen, als sie hereinkam. Leider war sie in Begleitung Dr. Webers. Während er Puls- und Fieberkurven und die Narbe auf meiner Schulter besichtigte, warf Renate mir verschwörerische Blicke zu.

»Sieht doch gut aus«, sagte Weber. »Ich würde sagen, wir machen morgen die Abschlussuntersuchung und werfen Sie übermorgen raus. Genießen Sie bis dahin unsere gute Küche.«

Er kritzelte etwas auf das Patientenbrett. Schwester Renate nutzte die Gelegenheit, um mein Kissen aufzuschütteln.

»Ich habe über Ihr Angebot mit dem Artikel über die Bergfrauen nachgedacht«, murmelte sie. »Vielleicht könnten wir uns nach meinem Dienstschluss kurz zusammensetzen? Oder, falls …«

»Keine konspirativen Gespräche während der Arbeit«, sagte Dr. Weber gleichmütig und hängte das Brett ans Fußende des Bettes. »Auf geht’s. In Nummer vier wartet die Hüfte.« Er seufzte. »Und die wird uns länger beschäftigen als diese Schulter hier.«

Als Renate um zehn nach vier hereinschneite, saß ich mit Anja vor dem Fenster mit dem Panoramablick, dem die Station seinen Namen verdankte, und schlürfte Latte macchiato.

»Oh … ich wollte mich nur in den Feierabend verabschieden.« Sie blinzelte mir zu. »Hätten Sie morgen vielleicht Lust auf eine letzte Partie Schach?«

»Sehr gern.«

»Gut.« Renate schob den Läufer vor meinem Bett gerade und ging.

»Schach?«, wiederholte Anja. »Und handgefilzte Hausschuhe. Kann es sein, dass du dir die Langeweile hier damit vertreibst, ältere Krankenschwestern um den Finger zu wickeln?«

»Ach, die wickeln sich ganz von allein«, erwiderte ich und hob mein summendes Handy vom Fensterbrett, um eine SMS zu überfliegen. Irene wollte wissen, ob sie mich gefahrfrei besuchen könne.

»Grüße von Bert«, sagte ich zu Anja, die mich argwöhnisch beobachtete, und schaltete das Handy aus. Bert könnte sich wirklich mal melden. Hatte er nicht vorbeikommen wollen?

»Jedenfalls solltest du aufpassen, dass Schwester Renate dich im Ringen um meine Gunst nicht aussticht. Wo waren wir stehen geblieben?«

Anja warf mir einen Zuckerwürfel an den Kopf.

»Die umnachtete Investorengattin und ihre K.o.-Tropfen. Ich sagte gerade, dass man für Leute, die andere derart manipulieren und in ihre Gewalt bringen, den Pranger neu erfinden sollte. Ich wäre die Erste, die davorsteht und mit Eiern wirft.«

Ich zupfte mich hüstelnd am Ohr. Entweder Anja war gerissener, als ich dachte, oder wirklich unschuldig an meiner Amnesie. Besser, ich ließ das Thema erst einmal ruhen.

»Hast du übrigens schon von der jüngsten Entführung gehört?«, erkundigte sie sich und trank einen Schluck Latte. »Es kam heute früh in den Nachrichten. Die sechzehnjährige Tochter eines Werderaner Hoteliers. Nach dem Ballettunterricht nicht zu Hause angekommen.«

Ich hob die Brauen. Was gingen mich die Töchter von Werderanern an? Ich hatte mich noch nie für Boulevardnachrichten begeistert, Anja wusste das.

»Woher willst du wissen, dass sie entführt worden ist? Sie könnte genauso gut abgehauen sein. Soll vorkommen in dem Alter.«

»Bei den Eltern ging eine Lösegeldforderung ein.«

Oha.

»Wie hoch?«

»Haben sie nicht erwähnt.«

Anja trank ihr Glas aus und stand auf. Dabei sah sie sich um. Überhaupt spähte sie bei jeder Gelegenheit in alle Richtungen.

»Falls du nach Rückständen von Irene suchst, die habe ich beseitigt.«

»Ich suche mein Halstuch, du Idiot.«

»Wie wär’s mit dem da?«

Ich deutete auf die Garderobenhaken neben dem Kleiderschrank. Sie riss es herunter und warf es sich um den Hals.

»Bis morgen.«

»Kriege ich keinen Kuss?«

Ich bekam einen, der sich wie die Zwischenlandung einer Fliege anfühlte.

Als sie gegangen war, wartete ich noch eine Sicherheitsminute, dann rief ich Irene an.

»Die Gefahr ist gebannt. Bist du gerade in der Nähe?«

2

Der Gesetzmäßigkeit vom kongruenten Gegensatz bezüglich Erwartungen und ihrer Erfüllung folgend, verzögerte sich die Abschlussvisite am nächsten Vormittag.

Es war weit nach elf, als Dr. Weber und die blasse junge Schwester vom ersten Morgen an mein Bett traten. Offenbar war Renate zur Spätschicht eingeteilt. Immerhin sprach der Doktor mich für den nächsten Morgen unter der Auflage frei, mich eigenständig um eine Physiotherapie zu kümmern.

Solcherart motiviert, schäkerte ich bis zur Mittagsruhe mit der blassen Schwester, tippte eine erste Andeutung über eine geplante Palastrevolution in einer bedeutenden kommunalen Einrichtung in meinen Blog, sah bei der Gelegenheit, dass Mindbeard sein Stellvertreteramt ernst nahm, und überlegte lange, welches Gericht ich für mein letztes Mittagessen wählen sollte. Ich erinnere mich, dass ich mich am Ende für Szegediner Gulasch entschied und es zu lasch war. Szegediner Gulasch muss sauer sein, und zwar so, dass es in die Mundschleimhaut beißt. Das tat dafür die Quarkspeise zum Dessert.

Die Pause bis zu Renates Dienstantritt verbrachte ich über diversen Ausgaben der Tagespresse. Führendes Thema in allen war die gekidnappte Werderaner Hoteliertochter, die im Vergleich zur Investorengattin überraschend günstig wieder abgegeben werden sollte, nämlich für nur 100 000 Euro. Die Journalisten fragten sich verhalten nach einem Zusammenhang zwischen den beiden Entführungen und erwogen den Beginn einer Serie.

Um zwei trug ich das Schachbrett zum Tisch und ging das Repertoire meiner Eröffnungen durch.

Um drei schwebte die blasse Schwester noch einmal herein und brachte Kaffee und Kuchen. Den Kaffee natürlich ohne Kardamom. Ich dankte ihr und wünschte ihr einen schönen Feierabend, worauf sie seufzend auf die Uhr blickte.

Kurz darauf rief Anja an und teilte mir mit, dass ihre wöchentliche Teamsitzung sich zog und sie deshalb erst um halb fünf kommen würde.

»Lass dir Zeit«, sagte ich und versuchte, nicht allzu heiter zu klingen. Je später sie kam, desto mehr Zeit blieb mir für Renate.

In stiller Vorfreude auf meine Freiheit aß ich mein letztes Stück Klinikkuchen. Eierschecke. Erstaunlich, welche Details sich einem am Rande außergewöhnlicher Erlebnisse einprägen. Zum Beispiel weiß ich noch, dass ich bis zehn nach vier wartete, um Renate Gelegenheit zum Akklimatisieren und Umziehen zu geben, ehe ich nach ihr klingelte.

Zwei Minuten später erschien die blasse Schwester.

Was machen Sie denn noch hier, hätte ich beinahe gezischt, stattdessen hob ich meine Tasse.

Sie eilte servil auf mich zu. »Das Gleiche noch mal?«

Als sie mir den Kaffee einige Minuten später brachte, wirkte sie leicht verspannt.

»Wurde Ihnen der Feierabend gestrichen?«, fragte ich scherzhaft, um meine Ungeduld zu überspielen.

»Malen Sie bloß den Teufel nicht an die Wand«, sagte sie und hastete wieder hinaus.

Bis zu Anjas Besuch um Punkt halb fünf passierte nichts weiter. Ich googelte zwei Autoren, die Irene mir für unsere übernächste Sendung empfohlen hatte, und zwang mich, nicht noch einmal zu klingeln. Renate würde sich schon melden, wenn sie kam.

Sie kam aber nicht. Gut, dachte ich, vielleicht war ein schwieriger Patient eingetroffen oder sie wollte mein Tête-à-Tête mit meiner Freundin nicht stören, das im Wesentlichen darin bestand, dass Anja über die jüngsten Probleme in den Deutschkursen für Migranten jammerte, die täglich vormittags in ihrem Bürgerhaus stattfanden. Ich hörte mit halbem Ohr zu, brummte hin und wieder verständnisvoll und schielte zur Tür.

Als sie schließlich aufbrach, bot ich ihr an, sie zum Fahrstuhl zu begleiten. Unterwegs warf ich einen beiläufigen Blick ins Schwesternzimmer und sah eine mir unbekannte grauhaarige Frau in Schwesternkluft mit Hilfe einer Liste Tabletten in Schälchen sortieren.

»Schaffst du es morgen wirklich allein?«, fragte Anja beim Warten auf den Fahrstuhl zum zehnten Mal. Ich gab ihr einen Nasenstüber.

»Da ich nicht vorhabe, auf meinen Schultern nach Hause zu gehen, ja.«

»Na gut.«

Ihr Blick streifte mich. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, darin außer Sorge und Erleichterung noch etwas anderes zu sehen. Dann kam der Fahrstuhl und sie stieg ein.

Auf dem Rückweg prallte ich beinahe gegen eine junge Frau in einem blauen Mantel, die eben das Schwesternzimmer verließ. Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich in ihr die Blasse erkannte. In Windeseile rechnete ich mir aus, was es bedeutete, sie in Zivil zu treffen.

»Na endlich, was?«

»Ja, der Kindergarten schließt gleich«, flüsterte sie und wehte davon.

Im Schwesternzimmer war die Fremde inzwischen mit den Tabletten fertig und telefonierte. Vielleicht wartete Renate schon in meinem Zimmer?

Aber dort wartete nur das Schachbrett. Und plötzlich beschlich mich eine Ahnung, dass meine letzte Partie mit Renate ausfallen würde.

Sie verstärkte sich, als die Tür aufging und die fremde Schwester mit einem Tablett hereinkam.

»Das letzte Abendmahl!«

»Für elf reicht es aber nicht«, sagte ich und versuchte, das Namensschild auf ihrem Busen zu entziffern. Gudrun.

Gudrun verzog keine Miene. Entweder hatte sie den Spaß nicht verstanden oder fand, dass sie allein das Monopol auf flache Witze besaß. Renate hätte reagiert. Und das gab den Ausschlag.

»Wo ist eigentlich Schwester Renate?«

»Wüsste ich auch gern«, brummte sie. »Dann könnte ich vielleicht wieder nach Hause in meinen verdienten Ruhestand. Ich bin nur eingesprungen, weil Jenny ihren Sohn abholen muss. Schlimm, wenn man sich auf die Kollegen nicht mehr verlassen kann.« Ihrem Ton entnahm ich, dass sie einen derartigen Abfall der Arbeitsmoral in ursächlichem Zusammenhang mit ihrer Pensionierung sah. Ich spürte das dringende Bedürfnis, meine Lieblingsschwester zu verteidigen.

»Vielleicht ist sie krank. Sie wirkte in den letzten Tagen schon etwas angeschlagen.«

»Keiner ist so krank, dass er es nicht einmal bis zum Telefon schafft«, schnaufte Gudrun und ließ, ohne mich zu fragen, die Jalousien herunter.

Während ich Abendbrot aß, dachte ich über ihren letzten Satz nach. Und je länger ich kaute, desto fader schmeckte es mir.