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Gestrandet im Pazifik
Manche stimmen überein mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Flexibel sind sie und zufrieden mit ihren Berufen und Gehältern. Ihre Beziehungen erscheinen ihnen nicht als Gefängnisse, wenn sie an die Kürze des menschlichen Lebens denken. Nichts zieht sie weg, sie bleiben. Ihnen kommt nicht in den Sinn, dass es Regionen geben könnte, in denen die Melodien des Lebens deutlicher zu vernehmen sind als in Berlin, Köln oder Hamburg, mochten die Rhythmen dort auch härter ausfallen. Andere gehen hin und wieder einmal ums Eck, um wieder einen klaren Kopf zu haben. Und einige brechen bewusst auf. Auch er fürchtete keinerlei Gefahr und fieberte dem schnellen Aufbruch entgegen. Er würde die Welt umfliegen, sich Expeditionen anschließen, zu Kreuzfahrten einschiffen, die Länder und Kontinente erkunden.
Nach dem Diner hatte er einen Blick in die Bar auf dem Oberdeck geworfen, es wurde getanzt. Er war müde und wollte anschließend zurück in seine Kabine. Als er nach seinem Drink zum Ausgang ging, sah er sie. Sie hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, aus hellbraunen Augen traf ihn ihr interessierter Blick. Dem hatte er wenig entgegenzusetzen. Mit einem Schlag war er hellwach. Und blieb. Nach einem weiteren Drink tanzten sie zusammen. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie hatte sehr weiche Haut. Er verspürte einen seltsamen Duft, als sie wie in einer Blase über die Tanzfläche schwebten. Später standen sie an der Reling und blickten auf den Pazifik. Sie war nicht allein auf dieser Kreuzfahrt, sie begleitete ihre Eltern, die als Diplomaten in Brüssel arbeiteten. Im Herbst würde sie ein Studium an der Sorbonne beginnen. Eine auffrischende Brise streifte ihre Haut, unter der strahlenden untergehenden Sonne des Südens begannen sich dunkle Wolken zu türmen. Er griff unter einem psychedelischen Himmel nach ihrer Hand. Seine Anwesenheit in der Welt war wichtiger geworden, seine Gedanken wurden zu Gefühlen, zu Wahrnehmung, die sich ganz auf ihr Gesicht konzentrierte. Wie in den Zeitlupeneinstellungen mancher Filme veränderte sich die Tiefenschärfe, der Hintergrund verschwamm und er sah nur noch ihre Lippen, die Veränderung der Wasseroberfläche bemerkten beide nicht. Bis zum Einbruch des Orkans sollte nicht mehr viel Zeit vergehen.
Als er das Bewusstsein wieder erlangte, spürte er zuerst den stechenden Schmerz im linken Oberschenkel. Sein Fuß war gänzlich taub. Er holte Luft und ging mit dem Kopf unter Wasser, um mühsam nach seinem Schienbein und Fuß zu fassen. Sie waren zwar fühllos, aber noch vorhanden. Er versuchte sich zu erinnern, doch da waren nur Bruchstücke. Nach einem ohrenbetäubenden Lärm war plötzlich überall Wasser gewesen, es wirbelte von unten und prasselte schmerzhaft von oben. Er schnappte verzweifelt nach Luft und erhielt einen Schlag auf den Kopf, der zugleich Dunkelheit und Ruhe gebracht hatte. Jetzt eben erst endete die Stille, er vernahm leise plätscherndes Wasser. Ringsum waren keine Rettungsboote, Salzwasser brannte in seiner Stirnwunde, über ihm war eine sengende Sonne und um ihn die Weite des pazifischen Ozeans. Er trug eine Rettungsweste und schwamm auf dem Rücken, gottseidank war das Wasser nicht kalt. In regelmäßigen Abständen überrollten ihn kleine Wellen, er versuchte sie abzupassen, den Kopf zu heben und die Luft anzuhalten. Der helle Strich am Horizont war vermutlich das afrikanische Festland. Die letzten Kräfte mobilisierte er in diese Richtung. Er konnte leicht die Arme bewegen und mit dem gesunden Bein gelang ihm ein Kraulschlag. Drehte er sich auf den Bauch, musste er gleich wieder Wasser schlucken. Er merkte, dass er sich nicht aus eigener Kraft dem Festland näherte, sondern dank einer Strömung, die ihn in Richtung Ufer trieb. Je näher das Ufer kam, umso schwächer wurde sie, bevor sie die Richtung änderte. Parallel zum Strand wurde er gezogen, dann schien die Strömung sich im Halbkreis wieder ins offene Meer zu bewegen. Er drehte sich auf den Bauch und kraulte mit den letzten Kräften, bis er mit einer sanften Brandung den Strand erreichte, vorwärts robbte, bis in den trockenen Sand. Halb ohnmächtig und vollkommen erschöpft lag er dort die nächsten Stunden, bis die Nacht einbrach.
Am nächsten Tag brauchte er bis gegen Mittag, um seine Sachen zu trocknen und sich ein notdürftiges Lager einzurichten. Am Strand fand er Muscheln und Krebse. Er hatte keine Wahl, er musste sie roh essen. Nach einer Woche begann er Wanderungen entlang der Küste und ins Hinterland. Er suchte nach Straßen, Dörfern, nach Rauch oder anderen Hinweisen auf bewohnte Gegenden. Nach zwei Wochen hatte er mit großer Anstrengung die höchste Felsformation der Gegend erklommen. Von diesem Zeitpunkt an war er sich sicher, dass er auf einer südlichen Insel gestrandet war. Auf dem Rückweg überkam ihn plötzlich das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Er war sich ganz sicher, hob den Kopf und sah eine Bewegung in einem Buschwerk.
„Welcome, bon jour, willkommen!“ Ein dunkelblonder schlaksiger Junge trat siebzehn Jahre später hinter demselben Busch hervor und hob die Hand zum Gruß. Kapitän Dreyer war völlig überrascht, denn diese pazifische Insel wurde in sämtlichen Navigationsgeräten und Karten als unbewohnt geführt. Aber er wäre nicht zum Leiter des Forschungsschiffes „Polarstern“ avanciert, wenn er solche Situationen nicht handzuhaben wüsste. Er ließ das Beiboot auf den Strand ziehen und begrüßte den jungen Mann mit Handschlag: „Ich freue mich, auf einer unbewohnten Insel so freundlich empfangen zu werden.“ Der Junge zeigte auf eine Erhebung: „Kommen Sie mit, ich stelle Ihnen meine Eltern und meine drei kleineren Geschwister vor. Meine Eltern sind hier vor siebzehn Jahren nach dem Untergang des Kreuzfahrtschiffes Pacific Queen gestrandet.“ Er lachte: „Übrigens nacheinander.“ Er musste den fragenden Blick des Kapitäns bemerkt haben. „Sie sind hier im Abstand von einigen Tagen angeschwemmt worden.“
Einige Schuten und Ewer kamen mit der auflaufenden Flut vom Alten Land her die Elbe hochgesegelt, wahrscheinlich, um im Hafen Obst und Gemüse für die Märkte am Dom auszuladen. Sonst war auf dem Wasser nicht viel Verkehr. Am Rumpf der Kogge staute sich die Strömung und drückte das Schiff, einen eher schlanken Zweimaster aus einer Lübecker Werft, sachte gegen die Kaimauer, die Taue verloren Spannung und die Ankerkette scheuerte in den Klüsen. Aus dem Hintergrund war der nachmittägliche Trompeter von St. Michaelis zu hören. Der Kapitän ließ seinen Blick von dem frisch gemalten Schiffsnamen „Annette von Droste“ zur noch kräftigen Sonne schweifen, die aber schon irgendwo hinter den Schwarzen Bergen auf der anderen Stromseite in Richtung Stade stand. Eigentlich sollte die Beladung schon längst abgeschlossen sein, denn er wollte mit dem Tidenwechsel in jedem Fall auslaufen. Doch noch hasteten die Schauerleute mit Kisten und Säcken auf das Schiff, wichtige Ware, die gegen Gewürze, vor allem Pfeffer, auf der Rückfahrt aber auch gegen spanischen und französischen Rotwein eingetauscht werden sollte. Die Passagiere standen noch an Land, hielten sich verabschiedend mit Angehörigen und Freunden an den Händen oder scherzten, um sich die Zeit bis zu ihrer Einschiffung zu vertreiben. In der eleganten Sänfte musste der reiche portugiesische Kaufmann Geronimo sitzen, der - schwer erkrankt – zurück in seine Heimat wollte. In Lissabon würde er von Bord gehen.
Einige Stunden später lief die Kogge aus, vorbei an vielen winkenden und rufenden Menschen auf der Hafenpromenade, segelte mit noch wenig Tuch an der Kehrwieder-Spitze mit den dort auf Pfählen gespießten oder genagelten Köpfen vorbei, die die Henker gefangenen Piraten in der letzten Zeit vom Rumpf getrennt hatten und die zur Abschreckung öffentlich ausgestellt wurden – neuerdings Wahrzeichen der Freien und Hanse-Stadt. Klaus Störtebecker und Konsorten sollten auch dabei sein, aber an den Schädeln war nicht mehr viel zu erkennen. Der Wind, die Möwen und die Raben hatten ganze Arbeit geleistet. Seitdem die Verluste unter den Kauffahrtei-Schiffen in den letzten Jahren stark zugenommen hatten, hatte der Senat zusätzliche friesische und holländische Kapitäne angeheuert, die keine andere Aufgabe hatten, als die Routen der Hanse-Schiffe mit ihren mit Mannschaften und Waffen gut ausgerüsteten Seglern vor Piraten zu schützen.
In Schulau wurden die Frischwasserbottiche und Fässer mit Süßwasser aufgefüllt, das hier sauberer war als im verschmutzten Hafenbereich. Weitere Segel wurden gesetzt und mit einem sanften Südost-Wind und der zunehmenden Fließgeschwindigkeit des Stromes ging es in Richtung untergehender Sonne, in Richtung Nordsee. Am Morgen wollten sie Cuxhaven passieren. Der Kaptein stand neben seinem Steuermann und dem Lotsen auf der Kommando-Brücke. Alles verlief wie gewöhnlich. Als der kranke Kaufmann von seinen beiden Dienern auf einer eigens für ihn vorbereiteten großen und verstellbaren Holzbahre an Deck zu den übrigen Reisenden getragen wurde, gesellte sich der Kapitän zu ihm und machte einen Scherz über die holsteinischen Kühe, die gut sichtbar gerade in dem Auenland vor den Wedeler Deichen grasten. Ja, antwortete, Geronimo, er müsse sich wohl wieder an die kleinen schwarzen Kühe und Stiere in Portugal gewöhnen, zumindest für die nächsten ein bis zwei Jahre.“Denn dann“, sagte er in bestem Deutsch und schnippte dazu mit den Fingern, „dann haben sich in dem wärmeren Klima hoffentlich meine Lunge und mein Körper wieder erholt und ich kann zurückkehren, um auf meine alten Tage das hanseatische Wohlleben zu genießen.“ Zu der Gruppe der Reisenden gehörten noch die beiden adligen Damen, die bis Antwerpen mitfahren wollten, um dort Verwandte zu besuchen, der junge kräftige und große Passagier mit den dunklen Locken, der aus Nürnberg kam und bis in den äußersten Süden mitreisen wollte, der Kaufmann Mister Slow, der in Calais umsteigen wollte sowie Monsieur Jacques Bonvin, der auf seine Weingüter bei Bordeaux zurück wollte.