Getriebene Seelen - Katharina Günter - E-Book

Getriebene Seelen E-Book

Katharina Günter

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Mutter verlässt Hauptkommissar Lasse Nagelsmann schweren Herzens seine Wahlheimat Hamburg und kehrt zurück in seine Heimatstadt Erfurt. Er beginnt sich langsam wieder einzuleben, als der Sänger der Band 4M tot am Sockel der überdimensionalen Kinderfigur »Bernd das Brot« aufgefunden wird. Anfangs ist unklar, ob es Unfall oder Mord war. Im Laufe der Ermittlungen verdichten sich jedoch die Hinweise, dass Lasse Nagelsmann und seine Kollegen nach einem Mörder suchen. Schnell macht sich der Verdacht breit, dass ein Zusammenhang zum Kindersender »Knirps-TV« besteht. Für die Senderchefin ein schrecklicher Umstand, denn plötzlich wird in ihrem Umfeld ermittelt. Sie versucht, dies so gut wie möglich zu verhindern. Zu viel liegt dort im Verborgenen, was nicht ans Licht kommen darf. Doch Lasse Nagelsmann merkt, wenn er diesen Fall lösen will, muss er seinen Blick in die dunkle Vergangenheit richten.

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Buchbeschreibung:

Nach dem Tod seiner Mutter verlässt Hauptkommissar Lasse Nagelsmann schweren Herzens seine Wahlheimat Hamburg und kehrt zurück in seine Heimatstadt Erfurt. Er beginnt sich langsam wieder einzuleben, als der Sänger der Band 4M tot am Sockel der überdimensionalen Kinderfigur »Bernd das Brot« aufgefunden wird. Anfangs ist unklar, ob es Unfall oder Mord war. Im Laufe der Ermittlungen verdichten sich jedoch die Hinweise, dass Lasse Nagelsmann und seine Kollegen nach einem Mörder suchen. Schnell macht sich der Verdacht breit, dass ein Zusammenhang zum Kindersender »Knirps-TV« besteht. Für die Senderchefin ein schrecklicher Umstand, denn plötzlich wird in ihrem Umfeld ermittelt. Sie versucht, dies so gut wie möglich zu verhindern. Zu viel liegt dort im Verborgenen, was nicht ans Licht kommen darf. Doch Lasse Nagelsmann merkt, wenn er diesen Fall lösen will, muss er seinen Blick in die dunkle Vergangenheit richten.

Über die Autorin:

Katharina Günter wurde 1983 in Nürnberg geboren, lebt aber seit etlichen Jahren in ihrer Wahlheimt Hamburg. Dennoch war es der besondere Charakter der Stadt Erfurt, der sie zu ihrer Krimireihe um Kommissar Nagelsmann inspirierte.

Für Inga, Viktoria und Lucy – drei mutige Herzen auf ihrem Weg durchs Leben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Danksagung

Prolog

Die letzten Töne waren kaum verklungen, als der Beifall ausbrach! Was für ein großartiger Auftritt.

Manuel, der Sänger der Band 4M, und seine Kollegen hatten sich sehr gefreut, mal wieder in ihrer Heimatstadt Erfurt auftreten zu dürfen. Aber dass es ein solch fulminanter Gig werden würde, damit hatten sie nicht gerechnet. Es waren über tausend Besucher zum Fest gekommen. Von jung bis alt, von spießig korrekt bis völlig ausgeflippt und mit bunten Haaren. Alles war vertreten, und das machte wahrscheinlich auch diese wunderbar gelöste Stimmung aus.

Das Wetter mit über dreißig Grad und Sonne pur tat sein Übriges. Nach der dritten Zugabe mussten sie aufgeben, zu ausgelaugt und erschöpft waren sie. Der Schweiß rann ihnen allen am Körper herab. Lolli, ihr Schlagzeuger, hatte schon nach dem vierten Stück sein T-Shirt ausgezogen, und die Anzahl der leeren Wasserflaschen am vorderen Bühnenrand sprach ebenfalls Bände. Die Hitze hatte sie nicht davon abgehalten, wie die Wilden zu hüpfen, zu tanzen und zu springen. Sie waren begeisterte Livemusiker, die mit einem enthusiastischen Publikum zur Höchstform aufliefen.

Manuel, von allen nur Manu genannt, rang nach Luft. Er hatte etwas ganz Besonderes für heute geplant. War er soeben noch berauscht von dem Jubel, so klopfte sein Herz nun aus ganz anderen Gründen. Er trat ans Mikrofon und deutete dem Publikum mit beiden Händen an, ruhig zu werden. Seine Kollegen schauten irritiert. Normalerweise wurde nach der Zugabe nur noch kurz gewinkt, sich verbeugt und abschließend die Bühne verlassen. Dass ihr Bandleader dann noch ans Mikrofon trat, kam sonst nicht oft vor.

Manu räusperte sich.

»Ihr Lieben, was für ein großartiger Tag heute! Vielen Dank, dass ihr so ein wunderbares Publikum wart!«

Wieder brach Applaus aus, der sich jedoch schnell wieder legte. Alle wollten hören, was der attraktive Sänger zu sagen hatte.

»Heute möchte ich mich aber nicht nur bei euch bedanken, sondern noch bei einer weiteren Person. Einer Person, die nun schon seit sieben Jahren in meinem Leben ist und jeden Tag wichtiger wird.«

Sein Blick richtete sich schräg nach vorne in die Menschenmenge.

»Mein besonderer Dank gilt heute meiner wunderbaren Freundin Caro. Sie ist der wunderbarste Mensch, den ich je kennenlernen durfte, und die Stütze meines Lebens. Auch wenn ich mal für ein paar Wochen auf Tour bin, so hab ich sie immer fest in meinem Herzen dabei und fühle mich in all den leeren Hotelzimmern nie einsam. Sie bringt mich zum Lachen, wenn es mal schwer ist, und holt mich zurück auf den Boden, kurz bevor ich Gefahr laufe abzuheben. Sie ist die Liebe meines Lebens, und deswegen möchte ich dich, liebe Caroline, heute fragen, ob du meine Frau werden willst!«

Mit den letzten Worten zog er ein kleines Kästchen aus der linken Gesäßtasche und kniete nieder.

Es war Mucksmäuschen still und man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so sehr wartete das Publikum auf die Antwort. Alle Augen waren auf die junge Frau vor der Bühne gerichtet, der Tränen der Rührung die Wangen hinunterliefen.

Dann endlich schob sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und nach einem zittrigen »Ja« brach tosender Jubel aus.

1

Was für ein grausamer Abend! Nie wieder würde sie das Gefühl vergessen, als sich die eiserne Hand des Schreckens um ihren Körper schloss und die Luft in ihrer Lunge stockte. Der Hall ihres eigenen Schreies tönte noch immer in ihren Ohren. Sie hatte bisher stets gedacht, dass sie nichts umhauen konnte, aber in diesem Moment war sie kurz davor, komplett die Nerven zu verlieren.

Sie hatte sich sehr auf den Abend gefreut, denn sie war von der Stadt Erfurt zu einem Festakt eingeladen worden, bei dem besondere Bürger geehrt wurden.

»Es ist für eine Region immens wertvoll, wenn eine junge, motivierte Frau beweist, wie man mit Ehrgeiz und Wille tolle Erfolge feiert. Sie sind ein Vorbild für viele Erfurter«, so stand es in der Einladung.

Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie die Einladungskarte das erste Mal in den Händen gehalten hatte und wahnsinnig stolz auf sich selbst war. Mit 36 Jahren war sie bereits die Leiterin des Fernsehsenders »Knirps-TV«, und in ihrem Job sehr erfolgreich.

Ihr ganzes Leben lang war sie enorm ehrgeizig und wollte zu den Besten gehören, daher war diese Würdigung der Stadt Erfurt Balsam für ihre Seele. Dass ihr Mann zurückhaltend auf diese Ehrung reagiert hatte, war für sie nicht überraschend und hatte sie nur kurz beeinflusst.

Kathleen Steiner war eine Powerfrau, nach der sich Männer gerne umdrehten. Ihr langes blondes Haar strahlte aus, dass es regelmäßig von einem sündhaft teuren Frisör gepflegt und geschnitten wurde, und ihre Figur war das Werk eines unbarmherzigen persönlichen Fitnesstrainers. Sie hatte blaue Augen, die leuchten konnten. Wenn sie wollten. Meistens schauten sie aber eher streng, denn in so jungen Jahren kam der Erfolg nicht von ungefähr. Sie arbeitete hart und erwartete dies auch von ihren Angestellten.

In der Politik war es ihr gelungen, viele Fürsprecher zu gewinnen – was vor allem daran lag, dass sie immer wieder mal, wenn es sie persönlich weiterbrachte, Erfurter Einrichtungen Spendengelder zukommen ließ. Besonders der Bürgermeister, ein kleiner rundlicher Mann mit beginnender Glatze und eng stehenden, kleinen Augen, hofierte sie aufs Äußerste, in der deutlichen Hoffnung, weitere finanzielle Unterstützung zu erhalten. Kathleen genoss es und ließ sich als erfolgreiche Geschäftsfrau feiern. Der Abend hätte also perfekt werden können.

Es war kurz vor Mitternacht und der Festakt im Theater von Erfurt zu Ende. Kathleen und ihr Mann Markus gingen die Marktstraße Richtung Fischmarkt entlang.

Es war abgekühlt. Zwar zeigte das Thermometer im Schaufenster der Apotheke am Dom noch immer 21 Grad, doch im Vergleich zu den 36 Grad, die es tagsüber gewesen waren, fühlte es sich nun richtig frisch an.

Kathleen hatte ihren beigen Trenchcoat, den sie über ihrem enganliegenden roten Kleid trug, fest zugezogen und die Arme gegen das leichte Frösteln verschränkt.

Markus hingegen genoss die kühle Luft. Sein Jackett hing locker über seiner Schulter, die anthrazitfarbene Krawatte war lieblos zusammengeknüllt in die Hosentasche gesteckt und der oberste Knopf des Hemdes geöffnet.

Erleichtert atmete er auf. Er hasste sowohl diese festlichen Anzüge als auch die dazugehörigen Veranstaltungen. Alles war so steif und förmlich, und er kam sich dabei völlig verkleidet vor. Markus war eher der natürliche Typ, der es liebte, in der Natur Fahrrad zu fahren oder zu wandern. Er bevorzugte ein kühles Bier mit guten Freunden statt Champagner mit Politikern.

Der Mond stand fast voll am Himmel, und dank der sternenklaren Nacht waren die Straßen hell erleuchtet. Nicht vom warmen sonnigen Licht, das die Stadtbewohner tagsüber zum Eisessen, Im-Brunnen-Planschen oder Auf-der-Wiese-Liegen eingeladen hatte. Nein, es war ein kaltes Licht, das in den Straßen schaurige Schatten warf. Hinter den Fenstern brannten nur noch vereinzelt ein paar Lampen. Ein leichter Wind wehte durch die Gassen, und bis auf das geheimnisvolle Rauschen der Blätter lag eine Stille über der Stadt, die einem eine Gänsehaut bescheren konnte. Eine Ratte huschte aus einem umgekippten Mülleimer heraus, um anschließend in einem Gulli zu verschwinden. Im Mondlicht war sogar der lange nackte Schwanz zu erkennen.

Kathleen nahm von alledem nichts wahr – sie war bester Laune.

»Hast du gesehen, wie begeistert der Bürgermeister von mir war? Er ist fast den gesamten Abend nicht von meiner Seite gewichen. Mehrmals hat er mir heute gesagt, was für ein tolles Vorbild ich sei. Du kannst sehr stolz auf deine Frau sein.« Sie kamaus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.

Ihr Mann lief einen kleinen Schritt schräg rechts hinter ihr und genoss weiterhin die erfrischende Kühle.

»Meinst du nicht, dass es eher etwas mit deinem Geld als mit dir persönlich zu tun hat?«, fragte er leicht ironisch. Er wusste, dass er sich eigentlich für seine Frau hätte freuen sollen, aber irgendwie konnte er das nicht. War es Neid? Eifersucht? Beides würde er sofort abstreiten, dennoch bildete sich in seinem Inneren ein garstiger Klumpen, der ihn daran hinderte, stolz auf sie zu sein.

Kathleen drehte abfällig den Kopf in seine Richtung. »Lächerlich! Nur weil er dich nicht so sehr beachtet hat, brauchst du jetzt nicht eifersüchtig zu sein.«

Sie ärgerte sich über ihn, wie es in letzter Zeit immer häufiger der Fall war. Sie hatte oft das Gefühl, dass er neidisch auf sie war und ihr den Erfolg nicht gönnte. War er mit ihrer Karriere und ihrem Selbstbewusstsein überfordert? Sie hatte lange überlegt, ob sie ihn überhaupt zu der Veranstaltung heute Abend mitnehmen sollte, aber sie wollte Getuschel vermeiden, und letztendlich gaben sie ja doch zusammen, zumindest optisch, ein hübsches Paar – egal, was sie von ihm hielt.

Sie bogen in den Fischmarkt ein. Gleich waren sie zu Hause. Dort würde sie erst mal aus den unbequemen, aber todschicken High Heels schlüpfen und sich ein großes Glas Champagner gönnen. Mit Glück würde ihr Mann schnell zu Bett gehen und sie noch ein paar Minuten ihre Ruhe haben.

Ihre Gedanken schweiften zu dem jungen Produzenten, der seit ein paar Wochen bei ihnen arbeitete. Er gefiel ihr. Sie wusste, dass sie mit ihren langen blonden Haaren, dem schlanken trainierten Körper und dem stilsicheren Äußeren eine hohe Anziehungskraft auf Männer besaß. Hin und wieder war sie in der Vergangenheit auch schon der Verlockung unterlegen und hatte sich die finale Bestätigung ihrer selbst abgeholt.

Das Hochgefühl durch die Ehrung ließ sie auch jetzt wieder übermütig werden, und so kreisten ihre Gedanken schon darum, wann sie dem Produzenten ein eindeutiges Zeichen würde geben können. Sie musste Markus fragen, wann er nächste Woche mal länger unterwegs war und sie ihr Haus für sich alleine hatte.

Kathleen wandte sich ihrem Mann zu, doch statt einer Frage drang ein gellender Schrei aus ihrer Kehle.

Markus zuckte erschrocken zusammen. Verwundert blickte er seine Frau an. Diese war kreidebleich geworden und ihre Augen starrten weit aufgerissen seitlich an ihm vorbei. Er folgte ihrem Blick. Erschrocken schnappte er nach Luft.

Nur wenige Schritte von ihnen entfernt sah er einen Mann. Halb sitzend, halb liegend. Blutüberströmt. Vom Mondlicht hell beschienen. Seine offenen Augen starrten die beiden todesleer an. Der Mund war geöffnet – als wollte er noch einen letzten Schrei ausstoßen.

Und hinter ihm – »Bernd das Brot«!

2

Lachen und munteres Stimmengewirr waberten gemütlich durch den Raum und füllten jede Ecke der Kneipe mit Lebensfreude aus. Nahezu alle Tische aus dunklem, teilweise schon sehr abgenutztem Holz waren besetzt.

Das Publikum komplett durchmischt. Hippe junge Männer mit runden Brillen und Bärten fachsimpelten über Nachhaltigkeit, direkt daneben zwei ältere Damen, die kichernd ihre Köpfe zusammensteckten. Eine Gruppe Mütter diskutierte an einem großen runden Tisch, welche Kita am besten und wann das ideale Alter sei, die Kinder dort hinzugeben. Ganz hinten rechts stand ein Tisch mit einer Eckbank. Dort saßen zwei Frauen und drei Männer, im Alter von Mitte bis Ende dreißig.

Einer davon war Hauptkommissar Lasse Nagelsmann, der sich gerade sein drittes Bier bei Uschi, der älteren, lebensfrohen Wirtin bestellte. Wie immer, wenn er in seiner Stammkneipe war, hielt der 39-jährige, sportliche Blondschopf mit den lebhaften blauen Augen ein Pläuschchen mit ihr.

Lasse war ein Mensch, der sich gerne mit Leuten unterhielt. In seiner Wahlheimat Hamburg sagte man dazu »‘n lütten Schnack halten«. Er liebte diesen Ausdruck. So wie er auch Hamburg liebte und auch immer lieben würde. Sechs Jahre hatte er in der Hansestadt gelebt und jeden Moment genossen. Die Landungsbrücken mit dem Flair des Hafens, die Schanze mit ihren vielen kleinen Kneipen und die Osterstraße, die zu seinem Stadtviertel Eimsbüttel, oder »Eimsbusch«, wie die Hamburger sagten, gehörte.

Der Entschluss, wieder in seine Geburtsstadt Erfurt zurückzukehren, war ihm nicht leichtgefallen. Doch nach dem Tod seiner Mutter vor zwei Jahren hatte er das Gefühl gehabt, seinen Vater und Zwillingsbruder hier in Erfurt nicht mehr länger alleine lassen zu können. Auch wenn ihm bewusst gewesen war, dass die Rückkehr alte Wunden aufreißen würde, so war es immer noch seine Familie, und er fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet.

Die innere Stärke, die er in den Jahren in Hamburg gewonnen hatte, galt es nun zu nutzen, um den seelischen Schmerz, der ihn immer wieder packte, zu verarbeiten und damit umzugehen.

Zu seinem Erstaunen hatte der Umzug auch positive Seiten mit sich gebracht. Nach einem Dreivierteljahr wieder zurück in Erfurt musste er feststellen, dass die Zeit mit all seinen alten Freunden – die meisten waren geblieben oder ebenfalls zurückgekehrt – wirklich schön war.

Er hatte immer viele Freunde gehabt, denn stets war sein innerer Drang groß, positive Emotionen wie ein Schwamm aufzusaugen und seine Seele damit zu füttern. Besonders solche Abende wie heute, an denen man sich ganz spontan auf ein Bierchen traf und nun bei fröhlichem Gelächter alte Geschichten austauschte, entschädigten für vieles und ließen ihn lebendig und gut fühlen.

Uschi stellte ihm gerade mit einem herzlichen Lächeln sein frisch Gezapftes vor die Nase, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er wollte es erst ignorieren, denn nichts fand er unhöflicher, als in geselliger Runde in einer Kneipe ans Telefon zu gehen. Aber ihm war bewusst, dass es in seinem Beruf als Hauptkommissar wichtig sein konnte.

Und tatsächlich – der kurze Blick aufs Display verriet, dass es sich bei dem Anrufer um seinen Kollegen Dieter handelte. Bei ihm konnte Lasse sich sicher sein, dass er nicht anrufen würde, wenn es nicht unbedingt sein musste. Mit einem entschuldigenden Blick in die Runde schob er sich aus der alten Holzbank und eilte vor die Tür.

»Dieter, was gibt‘s?«

»Chef, sorry, dass ich stören muss, aber es ist etwas passiert.«

Die Stimmlage seines Kollegen verriet ihm, dass die üblichen Scherze über die Anrede »Chef« diesmal unangebracht waren. Er konnte mit Dieter, auch wenn dieser mit seinen 61 Jahren fast ein Vierteljahrhundert älter war als er selbst, immer sehr gut herumalbern, und die Tatsache, dass der Jüngere der Chef des Älteren war, führte zu etlichen liebevollen Neckereien – aber niemals zu Missmut. Beide hatten sich von Anfang an bestens verstanden.

Da Lasse schon in frühen Jahren gezwungen war, die kleinsten Nuancen an Emotionen einzuordnen, hörte er sofort heraus, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

»Was ist los? Wo bist du?« Er hatte das Gefühl, dass Dieter nicht im Büro war, sondern irgendwo draußen, mit Stimmengewirr im Hintergrund.

»Wir haben einen Toten am Fischmarkt. Direkt bei dieser komischen ›Bernd-Figur‹. Kannst du schnell kommen? Die Spurensicherung hab ich auch schon informiert. Die dürfte jeden Moment hier sein. Sieht irgendwie gruselig aus.«

Keine zehn Minuten später traf Lasse vor Ort ein. Er hatte seinen Freunden zwanzig Euro hingelegt, seinen Rucksack geschnappt und sich auf sein Bike geschwungen. Es war nicht das erste Mal, dass er mit dem Rad an einem Tatort auftauchte und so langsam gewöhnten sich die Kollegen daran.

Am Fischmarkt war der Weg weitläufig um »Bernd das Brot« abgesperrt. »Bernd das Brot« war eine der überdimensionalen Figuren aus dem Bereich der Kindermedien, die in ganz Erfurt verteilt waren. Sie war knapp zwei Meter groß und wog 125 Kilogramm.

Aktuell achteten seine Kollegen vom Streifendienst darauf, dass sich kein Unbefugter dem beliebten Brot näherte. Blaulicht zuckte gespenstisch durch die Nacht. Überall war Stimmengemurmel zu hören. Keiner sprach laut, dennoch durchschnitten die Geräusche vom Tatort die Nachtstille wie ein frisch geschliffenes Messer.

Schnell schlüpfte Lasse unter dem gelbschwarzen Flatterband hindurch, drückte dem jungen Polizisten mit müden Augen seinen Drahtesel mit einem »gut drauf aufpassen!« in die Hand und eilte auf Dieter zu, den er sofort erblickt hatte.

Sein leicht untersetzter, gemütlicher Kollege mit dem schütter werdenden, graubraunen Haar und den sanften, aber stets wachsamen, braunen Augen kam ihm entgegen. Seine Entspanntheit, die fast schon als sein Markenzeichen deklariert werden konnte, hatte heute einen kleinen Dämpfer bekommen.

»Was haben wir?«, fragte Lasse ohne Umschweife.

»Komm mit. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so richtig. Auf den ersten Blick sieht es aus wie Mord. Aber es könnte auch ein ganz unglücklicher Unfall gewesen sein. Das Opfer heißt Manuel Leuwand, 29 Jahre alt, gebürtig aus der Nähe von Erfurt und Sänger einer Band, die irgend so eine moderne Musik spielt. Da kennst du dich sicher besser aus. Er hat außerdem eine hübsche blonde Freundin, die eine Fußhupe besitzt. Also du weißt schon, so einen kleinen Hund. Zwergpinscher, oder wie diese kleinen Tierchen heißen.«

Lasse schaute Dieter verdutzt an. »Kennst du das Opfer, oder warum weißt du schon so viel über ihn?«

»Na ja«, kam es zögerlich zurück, »ich hab ihn heute Nachmittag kennengelernt. Also nicht wirklich kennengelernt, aber er stand auf der Bühne. Daher weiß ich das alles. Nicht das mit dem Alter. Das steht in seinem Ausweis, den ich gefunden habe.« Mit fuchtelnden Händen versuchte Dieter, die wirren Aussagen verständlich zu machen. Ohne Erfolg.

»Dieter, ich kann dir nicht folgen. Kannst du es bitte vorher in deinem Kopf sortieren und mir dann noch mal erzählen?« Lasse wurde etwas ungeduldig.

Sein Kollege atmete tief ein, beruhigte seine Hände und startete dann einen neuen Versuch: »Heute war doch das Sommerfest am Marktplatz. Da ist der junge Mann aufgetreten. Zum Schluss hat er sich noch für die tolle Unterstützung seiner Freundin bedankt und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Also müsste ich ja sagen, seine Verlobte. Aber egal! Na ja, und daher weiß ich das alles. Ach, und am Anfang hat er gesagt, dass er sich freut, mal wieder in seiner Heimat auftreten zu dürfen, denn meistens sind sie wohl eher in anderen Städten auf Tour. Nur wie gesagt, das mit dem Alter habe ich seinem Ausweis entnommen. Konntest du mir diesmal folgen?« Die Frage war nicht zynisch, sondern hoffnungsvoll gemeint.

»Heute Nachmittag? Beim Sommerfest? Du meinst aber nicht 4M, oder?«, fragte Lasse verdutzt.

»Ja, richtig. Sag bloß, du kennst die Band. Warst du auch da? Ich hab dich gar nicht gesehen. Na ja, es waren aber auch viele Menschen dort.«

In dem Moment, als Dieter zu Ende gesprochen hatte, geriet der Tote in Lasses Blickfeld. Der Anblick entsetzte ihn. Er sog scharf die Luft ein. »Oh mein Gott, er ist es tatsächlich! Ich hab die Band in Hamburg schon zweimal gesehen. Das erste Mal auf dem Reeperbahn Festival und dann im Grünen Jäger.«

Dieter blickte ihn verwirrt an. Beides sagte ihm gar nichts, doch Lasse ging nicht auf den fragenden Blick ein. Er hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als Dieter zu erklären, dass es sich dabei um ein Musikfestival und eine Konzert-Location in Hamburg handelte.

Er trat zu dem Toten hin.

Karin, die sympathische Gerichtsmedizinerin, Anfang vierzig und Mutter von zwei zuckersüßen Kindern, wollte sich daraufhin sofort aufrichten, um ihm Platz zu machen. Durch einen leichten Griff an die Schulter signalisierte der Hauptkommissar ihr jedoch, dass sie ihre Untersuchungen fortführen sollte. Er musste erst mal die gesamte Lage in sich aufnehmen.

Zu Beginn seiner Ausbildung als Polizist hatte er gelernt, dass die Phase, die als »Erster Angriff« bezeichnet wurde, enorm wichtig für den Erfolg einer Aufklärung war. Alle Spuren am Tatort sichern, Identitäten feststellen, Informationserhebung durchführen und sicherstellen, dass kein Unbefugter den Tatort verunreinigt. Lasse liebte diesen Moment.

Auch wenn es im Angesicht des Toten makaber war, so durchzog seinen Körper ein Kribbeln der Aufregung. Er fühlte sich wie ein Hund, der wusste, dass es nun auf Jagd ging. In diesem Moment waren all seine Sinne auf Anschlag. Er saugte jedes Detail, jede Stimmung, jedes Wort, das gesagt wurde, in sich auf. Das, was er hier wahrnahm, bildete die Grundlage, auf der all seine Ermittlungen aufbauen würden. Es war ihm schon häufig passiert, dass sein Unterbewusstsein in diesem ersten Moment viel mehr abspeicherte, als er selbst merkte, und dieses Wissen dann zu einem späteren Zeitpunkt hochkam und ihm beim Lösen der Fälle den entscheidenden Hinweis gab. Daher blieb er einen kurzen Moment stehen und ließ alles auf sich wirken.

Die Stühle des Restaurants schräg hinter »Bernd« waren durch Ketten mit den Tischen zusammengebunden. Pro Tisch vier Stühle. Vor ein paar Stunden hatte hier noch munteres Treiben geherrscht. Appetitlich duftende Flammkuchen und riesige Schnitzel hatten leere Mägen gefüllt, große kühle Saftschorlen den Sommerdurst gestillt und Eiskugeln Kinderherzen höherschlagen lassen. Touristen waren in der Fußgängerzone auf und ab geschlendert und hatten die wunderschönen alten Barockhäuser bewundert. Zahlreiche Kameras hatten die zierlichen, liebevollen Schnitzereien an den Fassaden, gepaart mit der üppigen Blumenpracht vor den Fenstern, eingefangen, während die kleinen Dachgauben mit ihren Turmspitzen wie Zinnsoldaten in Reih und Glied standen und zur jetzigen Stunde den Dachbewohnern zu etwas frischer Luft verhalfen.

Dort, wo tagsüber noch Sommer, Sonne und Lebensfreude geherrschte hatten, schoben sich jetzt flackernde Schatten durch die Giebel und Winkel.

Ein einsames Fahrrad stand mit einer dicken Kette gesichert ein paar Schritte von »Bernd« und dem Toten entfernt.

Nach etlichen Minuten des Schweigens und In-sich-Aufnehmens der Umgebung zückte Lasse sein schwarzrotes Notizbüchlein, wie es Schüler häufig besaßen. Auch wenn es stets ein Quell an Neckereien durch seine Kollegen erntete, behielt er diese Gewohnheit stur bei.

Er wollte gerade die ersten Notizen eintragen, als Karin sich aufrichtete und teilweise zu Lasse, teilweise zu sich selbst sprach: »Hm, ich kann auf den ersten Blick tatsächlich nicht sagen, ob es Mord war. Auch, wenn es so aussieht.«

In dem Moment wurde ihm wieder einmal bewusst, warum er so gerne mit ihr zusammenarbeitete. Im Gegensatz zu der klischeehaften Vorstellung über Rechtsmediziner, die nur grummelig ihre Arbeit taten und keinen daran teilhaben lassen wollten, bis sie nicht komplett fertig waren, sprach Karin von Anfang an ihre Gedanken aus. Ihm war klar, dass es nur Überlegungen waren, die sich auch als irrtümlich herausstellen konnten, aber so war es ihm lieber, als wenn sie so lange schwieg, bis sie das hundertprozentig richtige Ergebnis hatte.

»Denkst du, es war ein Unfall?« Lasses Erstaunen war ihm deutlich anzumerken.

»Ich kann dir das zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht genau sagen. Es ist durchaus möglich, dass er schlimm gestürzt ist, oder aber, dass er eins über den Schädel bekommen hat. Fakt ist, dass er eine riesige Wunde am Hinterkopf aufweist. Fakt ist auch, dass hier an der Kante von ›Bernds‹ Sockel viel Blut, Haut und Haar kleben. Der Sockel ist massiv!«

Lasse konnte sich noch erinnern, dass die Stadt der Figur nach ihrer Entführung im Jahr 2009 einen gewichtigen Betonsockel verpasst hatte. Somit sollte verhindert werden, dass die massive Skulptur noch einmal von ihrem Standort geklaut wurde.

»Dementsprechend kann ich nicht ausschließen, dass er tatsächlich einfach nur sehr unglücklich gefallen ist. Vielleicht hat er dann noch versucht, wieder aufzustehen, es aber nicht mehr weit geschafft. Das würde zumindest seine Haltung erklären. Ich weiß es einfach nicht. Der Todeszeitpunkt, so meine Vermutung, ist maximal zwei Stunden her. Der Körper ist noch nicht völlig kalt, die Totenstarre beginnt gerade erst und die Leichenflecken fangen erst langsam an zu konfluieren.«

Lasse blickte sie verständnislos an. »Konfluieren?«

»Zusammenfließen. Das alles sind Merkmale, die mir eindeutig sagen, dass es noch nicht so lange her sein kann, dass dieser arme Mann zu Tode kam. Ich würde vorschlagen, dass ich, sobald das Team von der Spurensicherung mir ihre Erlaubnis gegeben hat, ihn in die Rechtsmedizin bringen lasse und ihn dort genauer unter die Lupe nehme.«

Während ihrer gesamten Erklärung hatte sie für keine Sekunde den Blick von dem Toten gelöst. Es schien, als hoffte sie, er würde ein letztes Mal den Mund aufmachen und erklären, was passiert war.

»Ja, mach das, Karin. Gib Bescheid, sobald du neue Infos hast.«

Lasse hatte, während sie sprach, schon die ersten Anmerkungen in sein Büchlein notiert. Er schaute sich den Toten noch einmal genau an, aber außer viel Blut und den weit aufgerissenen Augen fiel ihm nichts Besonderes auf – bei dem Mann, dem er vor zwei Jahren auf der Bühne noch zugejubelt hatte.

Er konnte sich noch genau an die beiden Auftritte erinnern. Seine damalige Mitbewohnerin war ganz ins Schwärmen geraten, weil Manuel stets eine natürliche gute Laune verbreitet hatte. Zudem passte er mit seiner Größe von 1,87 Meter, seinem sportlichen Körper und seinem charmanten Lächeln genau in ihr Beuteschema.

Aber nicht nur die Frauen waren von dem charismatischen Sänger der Band ganz hingerissen. Auch die Männer mochten ihn, weil er eine gute Portion frechen Humor mitbrachte. Er hatte es stets genossen, sich nach einem Konzert mit einem Bier in der Hand in die Menge zu mischen.

Auch Lasse hatte damals kurz mit ihm geplaudert und konnte sich partout nicht vorstellen, dass jemand diesen liebenswürdigen Menschen umbringen wollte. Auch an seine Freundin konnte er sich erinnern. Eine sehr hübsche Frau, die unaufgeregt wirkte. Die Liebe zwischen den beiden war deutlich zu spüren gewesen.

Ihm graute es jetzt schon, ihr mitteilen zu müssen, dass ihr Verlobter am Tage der Verlobung durch einen unglücklichen Unfall zu Tode gekommen war. Oder handelte es sich doch um einen Mord?

»Wer hat ihn gefunden?« Mit dieser Frage wandte sich Lasse wieder seinem älteren Kollegen Dieter zu.

»Eine gewisse Kathleen Steiner. Sie sitzt dort drüben im Krankenwagen. Die Frau hatte wohl einen kleinen Nervenzusammenbruch. Sie scheint sich aber schon wieder gut zu erholen – so gut, dass bald die Sanitäter einen Nervenzusammenbruch erleiden werden.«

Mit einem Schmunzeln blickte er zu dem Fahrzeug hinüber, in dem eine energische blonde Frau saß und mit lauter Stimme auf die Mediziner einredete. Vor dem Rettungswagen stand ein Mann, dem die ganze Situation sichtlich an die Substanz ging und der ebenfalls von der Blondine genervt zu sein schien.

Dieter, der Lasses fragenden Blick bezüglich des Mannes gesehen hatte, meinte mitleidig: »Ihr Mann. Er war ebenfalls dabei, als sie den Toten entdeckt hat. Ich weiß nicht, was ihm gerade mehr zu schaffen macht – der Tote oder seine Frau.«

Lasse lachte leicht auf und ging dann schnellen Schrittes zum Rettungswagen.

»Dann wollen wir doch mal sehen, ob in dem Redeschwall auch etwas Brauchbares auf uns wartet«, murmelte er Dieter zu, der ihm deutlich unwillig zu der quäkenden Frau folgte.

»Guten Tag, Frau Steiner, mein Name ist Lasse Nagelsmann, ich leite hier die Ermittlungen. Ich habe gehört, Sie haben den Toten gefunden?« Der Hauptkommissar legte ganz viel Freundlichkeit in seine Stimme und gab sich große Mühe, unvoreingenommen in das Gespräch zu gehen.

»Sie leiten die Ermittlungen?« Ungläubigkeit war deutlich aus ihrer Stimme zu hören. »Sie sehen mir nicht gerade aus wie jemand, der solch ein Verbrechen aufklären könnte. Sie wirken eher, als wären Sie gerade erst mit der Ausbildung fertig geworden!«Mit diesen Worten wandte sie sich an Dieter.

Dieser hatte sich halb hinter Lasse versteckt. Er hatte sich offensichtlich vor dem Gespräch mit der herrischen Dame drücken wollen.

»Ähm, also …«, begann dieser.

Lasse schmunzelte in sich hinein.

Es war nicht das erste Mal, dass er nicht ernst genommen und deutlich jünger geschätzt wurde, als er tatsächlich war. Wie in den meisten Fällen, wenn ihm das passierte, stellte er es auch diesmal nicht richtig. Er fühlte sich wohl in der Rolle des Unterschätzten und wusste, dass deswegen der ein oder andere Verdächtige nicht so auf der Hut war, wie er es vielleicht wäre, wenn ein bulliger alter Polizist vor ihm stünde. Also schob er Dieter unauffällig nach vorne und überließ es ihm, die aufgebrachte Frau zu befragen.

In solchen Momenten war Lasse sehr dankbar, dass er und sein Kollege ein perfekt eingespieltes Duo waren.

Er konnte sich noch gut an das erste Mal erinnern, als Dieter anstelle von Lasse für den leitenden Kommissar gehalten wurde. Doch statt darüber sauer zu sein und es klarzustellen, hatte er damals die Situation sogar noch befeuert. Ein Verhalten, mit dem Dieter nicht gerechnet hatte. Bei der Polizei wimmelte es nur so von Alphamännern, die penibel darauf achteten, dass die Rangordnung korrekt eingehalten wurde. Daher war er sehr verwundert, mit welch einer Freude Lasse die Rolle des Untergebenen einnahm. Schnell hatte Dieter verstanden, dass es bei Vernehmungen ein hilfreicher, taktischer Schachzug sein konnte, und so kam es seither des Öfteren vor, dass sie die Rollen tauschten. Bei den beiden Kommissaren zählte nur, dass sie ihre benötigten Informationen erhielten.

Dieter räusperte sich, straffte die Schultern, reckte das Kinn leicht nach vorne und nahm schließlich die dominierende Haltung eines leitenden Hauptkommissars ein.

»Frau Steiner, entschuldigen Sie bitte das forsche Auftreten meines jungen Kollegen, er ist manchmal etwas übereifrig.«

Lasse musste bei Dieters Worten schmunzeln. Frau Steiner schien in einem ähnlichen Alter wie er zu sein, dennoch war ihr deutlich anzumerken, dass sie es bevorzugte, mit dem Älteren und in ihren Augen damit scheinbar auch kompetenteren Mann zu sprechen.

»Sie haben natürlich völlig recht, dass solch eine schreckliche Sache, wie Sie sie erlebt haben, von einem erfahrenen Polizisten behandelt werden muss. Mein Name ist Dieter Kurz. Hallo.«

Der Blick, den Lasse ihm daraufhin zuwarf, war eindeutig. Er gönnte seinem Kollegen den kleinen Scherz, denn er vermutete, dass das Gespräch alles andere als amüsant werden würde.

»Frau Steiner, bitte erzählen Sie mir doch einmal ganz genau und von Anfang an, wie Sie den Toten gefunden haben. Ich bin mir sicher, dass Ihr Bericht für unsere Ermittlungen sehr wertvoll sein wird und wir somit schnell aufklären können, was hier passiert ist!«

Kathleen Steiner atmete tief ein und begann zu erzählen: »Ich war auf dem Rückweg einer Veranstaltung im Theater. Wissen Sie, ich wurde heute geehrt für meine tolle Vorbildfunktion in Erfurt. Speziell für Frauen, aber auch im Allgemeinen für junge Menschen. Ich bin erst 36 Jahre alt und dennoch eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau. Ich leite den Fernsehsender ›Knirps-TV‹. Der Bürgermeister persönlich hat mich zu dieser Ehrung eingeladen und mir mehrfach am Abend versichert, wie begeistert er von meiner Arbeit ist.«

Dieters rechte Augenbraue wanderte unmerklich nach oben. Er war kein Freund von Selbstbeweihräucherung, blieb aber höflich zurückhaltend. »Herzlichen Glückwunsch, Frau Steiner. Wenn Sie mir …«

Sie fiel ihm einfach ins Wort: »Es ist wichtig, dass man in seinem Leben etwas erreicht, und ich kann von mir mit Stolz behaupten, dass ich etwas erreicht habe!«

Nun wurde Dieter doch etwas ungeduldig: »Frau Steiner, der Tote?Wann haben Sie ihn entdeckt?«

Die Frau blickte ihn kurz irritiert an. Sie hatte scheinbar in ihrer eigenen Bewunderung glatt vergessen, weswegen sie befragt wurde. Ihre Gesichtszüge, die sich bei ihrer eigenen Lobeshymne entspannt hatten, verzogen sich nun wieder entsetzt. »Oh Gott, ja, wie furchtbar. Also, ich war mit meinem Mann auf dem Rückweg.« Sie warf diesem einen leicht verächtlichen Blick zu. »Ich freute mich schon darauf, endlich aus den Schuhen herauszukommen. Ich wollte doch einfach nur nach Hause.«

Sie sprach es vorwurfsvoll aus, als ob sie es dem Toten übel nahm, dass er sie von ihrer verdienten Erholung abhielt.

»Na ja, jedenfalls wollte ich gerade etwas zu Markus sagen, als ich diesen widerlichen Mann entdeckte. Oh Gott, nein, also Sie wissen, was ich meine. Nicht der Mann war widerlich, aber das alles. Das Blut« – sie musste schlucken und tief durchatmen – »diese toten Augen. Ich hatte das Gefühl, er würde mich direkt anschauen.« Dieser Satz war nur noch ein Wispern. »Ich hab mich natürlich zutiefst erschrocken. Ich glaube, ich habe ziemlich laut geschrien. Markus hat sofort die Polizei gerufen.«

»Konnten Sie denn direkt sehen, ob der Mann tot war? Oder sind Sie erst noch zu ihm hin und haben das überprüft? Haben Sie ihn vielleicht sogar angefasst?«

Nun schaltete sich auch der Ehemann ein, der bisher regungslos dabeigestanden und kein Wort von sich gegeben hatte: »Ich bin ein paar Schritte hin und habe ihn laut angesprochen. Aber diese starren Augen haben schon sehr deutlich gezeigt, dass er tot ist.«

Dieter und auch Lasse wandten sich dem Mann zu.

»Sie sind Herr Steiner, nehme ich an?«

»Markus Steiner. Wie meine Frau gerade schon berichtet hat, war ich auch mit dabei, als sie den Toten entdeckte.«

»Ohne mich wärst du einfach blind daran vorbeigelaufen«, kam es vorwurfsvoll von der Seite.

Dieter und Lasse tauschten einen kurzen Blick. Welch harmonische Ehe.

»Aber sie haben ihn nicht berührt, Herr Steiner, oder?«, fragte Dieter.

»Nein, ich hab sofort die Polizei gerufen, die auch echt schnell da war.«

»Wissen Sie noch genau, wie viel Uhr es war, als Sie den Notruf getätigt haben?«

»Es dürfte etwa zehn Minuten nach Mitternacht gewesen sein. Aber ich kann gerne in meinem Handy nachschauen.« Markus Steiner zog sein Mobiltelefon aus der Tasche.

Beide Kommissare sahen, dass seine Hand leicht zitterte. Ihn schien die ganze Sache deutlich mehr mitzunehmen als seine Frau. Oder er konnte es nur nicht so gut verbergen.

»Hier. Ja, es war 0.05 Uhr, als ich die 110 gewählt habe.«

»Danke, Herr Steiner. Wir werden Ihre beiden Aussagen zu Protokoll nehmen und dann bitte ich Sie, morgen Vormittag aufs Revier zu kommen, um alles noch einmal gegenzulesen und zu unterschreiben. Sollte Ihnen bis dahin noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte umgehend bei mir.« Mit diesen Worten reichte Dieter dem Ehepaar Steiner seine Karte.

Kathleen nahm sie entgegen.

»Das heißt, wir dürfen nun endlich gehen? Es war doch ein anstrengender Abend für mich.«

»Mein Kollege nimmt noch schnell Ihre Formalien auf und dann dürfen Sie nach Hause gehen, Frau Steiner. Vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe!«

Dieter winkte einen Streifenpolizisten heran, bat ihn, die persönlichen Daten des Ehepaares aufzunehmen, und verabschiedete sich.

Lasse murmelte ebenfalls noch ein leichtes »Danke« und folgte dann seinem Kollegen.

Kaum waren die beiden außer Hörweite des Ehepaars, schnaubte Lasse unwirsch auf: »Die Frau ist ja nicht gerade der Inbegriff von Empathie und Mitgefühl. Die ist kalt wie ein Fisch. Und so eine ist Leiterin eines Fernsehkanals für Kinder. Traurige Welt.«

Dieter blickte seinen Chef verwundert an. »Was ist denn mit dir los? Weil sie nicht mit dir reden wollte? Den Assistenten zu spielen, macht dir doch sonst immer Spaß.«

»Nein, ach Quatsch, das ist es nicht. Ich weiß auch nicht warum, aber ich finde sie irgendwie unsympathisch. Klar, sie hat etwas Schlimmes erlebt, aber sie tut so, als sei der Tote eine Beleidigung gegen sie persönlich. Und wie sie ihren Mann behandelt. Der arme Kerl kann einem leidtun. Ich meine, der hat den Toten schließlich auch gesehen. Aber statt für ihn da zu sein, macht sie ihm nur den Vorwurf, dass er ohne sie an dem Opfer vorbeigelaufen wäre. Was ist das denn für eine Art?«

»Na ja, sicher nicht die feine, aber vielleicht ist es einfach der Situation geschuldet, oder die beiden hatten einen Streit oder sonst was. So kenne ich dich gar nicht, dass du Menschen so schnell verurteilst«, wunderte sich Dieter.

Lasse dachte für einen Moment über die Worte seines Kollegen nach. »Hm, du hast ja recht, Dieter. Ich weiß auch nicht. Das Schlimme ist, dass ich das Gefühl habe, wir werden noch öfter mit dieser Frau sprechen müssen.«

Wie recht er damit haben sollte, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Gerade, als sie bei »Bernd das Brot« ankamen, wurde der schwarze Leichensack zugezogen.

»Die Spurensicherung meinte, ich könne ihn mitnehmen. Die wichtigsten Spuren an der Leiche sind gesichert und für den ganzen Rest hier brauchen sie den Toten nicht mehr. Das heißt, wir machen uns mal auf den Weg nach Jena«, berichtete Karin.

Erfurt selbst verfügte über keine eigene Rechtsmedizin, weswegen sämtliche Fälle in Jena untersucht werden mussten. Dort befand sich das Universitätsklinikum, in dem die Rechtsmedizin für ganz Thüringen angesiedelt war.

»Ich versuche, euch morgen früh schon etwas vorlegen zu können. In erster Linie natürlich die Erkenntnis, ob es sich um einen Mord oder ein Unfall handelte. Gut, dass mein Mann gerade mit einer gebrochenen Hand zu Hause ist, so kann er sich um die Kinder kümmern und ich in aller Ruhe das Date mit der Leiche abhalten«, schob sie noch hinterher.

»Danke dir, Karin!« Lasse musste schmunzeln.

Die Gerichtsmedizinerin sah einfach in allem etwas Positives – selbst an einer gebrochenen Hand.

»Na, komm Dieter, dann befragen wir mal die Anwohner. Vielleicht schlafen ein paar bei offenem Fenster und haben etwas mitbekommen«, schlug er vor.

»Willst du jetzt bei allen Häusern klingeln?«, fragte Dieter entsetzt. »Du siehst doch, dass es fast überall dunkel ist. Wir werden wahrscheinlich sehr viele wecken. Ich weiß nicht, ob du von schlaftrunkenen Menschen wirklich hilfreiche Antworten bekommst. Die meisten werden dich einfach nur verfluchen, oder gar nicht erst aufmachen.«

Lasse schaute Dieter an, ließ seinen Blick dann noch einmal die dunklen Fensterreihen entlangschweifen und sah wieder zurück zu Dieter. »Vielleicht hast du recht, lass uns das gleich morgen früh machen, bevor die Leute zur Arbeit aufbrechen. Die Kollegen von der Streife sollen uns unterstützen, damit es möglichst schnell geht. Ich gebe Betti Bescheid, dass sie alles organisiert.«

Bettina Weiß, oder Betti, wie sie von allen nur genannt wurde, war die gute Seele und vor allem das Organisationstalent im Kommissariat. Zudem besaß sie ein Insiderwissen über Erfurt und die Bewohner, über das die Kollegen immer wieder staunen konnten. Wusste sie etwas nicht, so schaffte sie es – auf welche Weise auch immer –, es innerhalb kürzester Zeit herauszufinden.

Lasse hatte anfangs versucht, hinter ihr Geheimnis zu kommen, aber letztendlich hatte er es irgendwann aufgegeben. Seitdem freute er sich einfach nur, wenn er davon profitieren konnte. Er wusste auch, dass er sich zu hundert Prozent auf Betti verlassen konnte, und so schrieb er ihr schnell eine Nachricht, dass morgen früh eine Anwohnerbefragung am Fischmarkt und in der Marktstraße durchgeführt werden sollte. Vielleicht hatten die Bewohner ja gegen Mitternacht irgendetwas Auffälliges mitbekommen.

Er hatte die Nachricht gerade abgeschickt, als sein Name ertönte: »Kommissar Nagelsmann!«

Sein Körper durchzog bei der Stimme ein Schauer der Abneigung. Er hatte bereits vorhin aus dem Augenwinkel gesehen, dass auch diesmal wieder das Team der Spurensicherung von Sven Büchler geleitet wurde und nicht, wie sonst, von seinem alten Freund Detlev.

Büchler war dessen Vertretung und alles andere als sympathisch. In Lasses Augen ein furchtbarer, überkorrekter Mensch, der zum Lachen in den tiefsten und dunkelsten Keller ging und dessen Leben erfüllt war von Regeln und Ordnung.

»Herr Büchler?« Lasse zog das Ü im Nachnamen seines Kollegen stark in die Länge, drehte sich dabei um und sah ihn zu sich eilen – selbstverständlich mit Anstand und Würde.

»Hier das Smartphone der verstorbenen Person. Es hat bereits dreimal geklingelt, seitdem wir es als am Tatort befindliches Asservat identifiziert haben.« Mit diesen für ihn typischen gestelzten Worten überreichte er Lasse einen Asservatenbeutel mit einem Handy.

»Und, Herr Büchler? Haben Sie einen netten Plausch geführt? Wer war denn am anderen Ende der Leitung?«, fragte Lasse todernst und blickte dabei den hageren Mann von der Spurensicherung an, dem das Entsetzen über die Frage sofort ins Gesicht sprang. »War ein Scherz, sparen Sie sich die Schnappatmung. Ich weiß doch, dass Sie sich so ein unkorrektes Verhalten niemals erlauben würden! Geben Sie mir das Ding her.« Er konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, und auch Dieter, der die ganze Szene mitbekommen hatte, versuchte, ein Lachen hinter einem vermeintlichen Husten zu verbergen.

Mit Blick auf das Display wandte sich Lasse seinem Kollegen zu. Sofort wurden beide wieder ernst.

»Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle drei von einer Person, abgespeichert unter dem Namen ›Schatz‹. So ein Mist. Das ist bestimmt die Verlobte, die sich wundert, warum Manuel nicht nach Hause kommt. Wir müssen dringend …«

In dem Moment leuchtete das Display erneut auf und wieder erschien ein Anruf von »Schatz«. Lasse sah kurz zu Dieter hinüber, beide nickten sich zu.

Er zog sich einen blauen Handschuh über und holte das Smartphone aus dem Beutel. Mit einem Fingerwisch nahm er das Gespräch an.

Bevor er etwas sagen konnte, hörte er schon eine aufgeregte Frauenstimme. Schnell aktivierte er den Lautsprecher, sodass er zum einen nicht mit seinem Ohr das Asservat verunreinigen musste, aber auch, damit Dieter alles mitbekam.

»… vierte Mal schon an. Warum gehst du nicht an dein Handy? Ich habe mir echt große Sorgen gemacht. Du meintest, dass du spätestens um zehn Uhr zu Hause bist. Es ist doch völlig in Ordnung, wenn du noch irgendwo versackt bist, aber sonst gibst du mir auch immer Bescheid.«

Kurze Stille.

»Manu?«

Da die Frau nun schwieg, musste Lasse aktiv werden.

»Ähm, hallo? Wer ist denn dort?« Sein Bauch zog sich zu einem Knoten zusammen. Er hasste das, was jetzt kommen würde.

Die Stille kratzte an seinen Nerven. Nichts. Keine Antwort. Er hörte es nur am anderen Ende stockend atmen.

»Hallo? Mit wem spreche ich denn? Mein Name ist Lasse Nagelsmann. Sind Sie die Verlobte von Manuel Leuwand?«

Stille.

Er blickte erneut seinen Kollegen an. Der zuckte nur hilflos mit den Schultern. Noch mal ein eindringlicheres »Hallo?«

Nach weiteren Sekunden drückender Stille endlich ein zögerliches »Ja, das bin ich.«

So sanft, wie er nur konnte, fragte er: »Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«

Ein Räuspern am anderen Ende der Leitung. Dann der Versuch, mit fester Stimme zu sprechen: »Wer sind Sie? Warum haben Sie das Handy meines Verlobten?«

Lasse legte etwas mehr Nachdruck in seine Stimme. »Können Sie mir bitte erst mal Ihren Namen nennen?«

Wieder ein Moment dieser drückenden Stille.

»Hallo?« Langsam wurde er ungeduldig.

»Wurde es ihm gestohlen? Hat er es verloren und konnte sich deswegen nicht bei mir melden? Ich möchte mit Manu sprechen. Bitte!« Ihre Stimme war ein Wechselbad der Gefühle. Zuerst Verwunderung, dann Sorge, gefolgt von Angst, und zum Schluss fast so etwas wie Verärgerung.

»Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«, versuchte Lasse es ein letztes Mal.

»Caroline.«Mehr kam nicht.

»Hallo, Caroline. Wie schon erwähnt, ich bin Lasse Nagelsmann. Ich bin von der Polizei. Wir haben das Handy Ihres Freundes gefunden und würden gerne mit Ihnen persönlich sprechen. Caroline, wo halten Sie sich gerade auf? Es klingt bei Ihnen im Hintergrund so, als seien Sie irgendwo draußen unterwegs.«

»Ja, ich habe mir Sorgen um Manu gemacht und bin gerade noch mal in Richtung Sommerfest losgelaufen, um zu schauen, ob er vielleicht noch dort ist.«

»Wo genau befinden Sie sich denn gerade?«

»Ich bin hier gerade … warten Sie … in der Kirchhofgasse. Wo haben Sie das Handy gefunden?«

Lasse und Dieter blickten sich kurz in die Augen. Sie war ganz in der Nähe.

»Caroline, hören Sie. Können Sie zur Marktstraße gehen und dort auf uns warten? Wir sind um die Ecke.«

»Was ist mit Manu?« Mittlerweile war nur noch Angst in ihrer Stimme zu hören.

»Wir sehen uns gleich, Caroline!« Lasse legte auf.

Er wusste, dass es grausige Minuten für sie sein würden, aber er wollte ihr auf gar keinen Fall am Telefon mitteilen, dass ihr Verlobter tot war. Das musste er persönlich machen.

Sie sahen die Frau schon von Weitem an der Ecke warten. Besser gesagt zwei. Die eine hatte der anderen den Arm um die Schulter gelegt und schien sie zu stützen.

Lasse atmete kurz auf. Jemand zum Trösten war gut. Sonst hätte Dieter einspringen müssen. Er wusste, dass er sich in den nächsten Minuten darauf konzentrieren musste, selbst die innere Fassung zu halten und seine Professionalität zu wahren. Früher hatte ihm das Überbringen schlechter Nachrichten nicht so viel ausgemacht.

Er war immer sehr sensibel und feinfühlig vorgegangen und konnte selbst gut Trost spenden. Doch seitdem er, kurz bevor er Hamburg verlassen hatte, auf der anderen Seite des Geschehens gestanden hatte, war es für ihn eine Qual. Damals war die Polizei, seine Kollegen, zu ihm gekommen und hatten ihm mitteilen müssen, dass ein sehr enger Freund Opfer einer Gewalttat geworden war und es leider nicht überlebt hatte. Das Gefühl, wie ihm ein weiteres Mal der Boden unter seinen Füßen weggerissen wurde und er erneut in ein tiefes schwarzes Loch fiel, hatte er bis heute nicht vergessen. Es war eine weitere Narbe auf seiner geschundenen Seele. Er wusste also ganz genau, wie die Verlobte gleich empfinden würde, und es zerriss ihm schon jetzt das Herz.

»Caroline?« Er ging auf die blonde Frau zu.

Ihr herzförmiges Gesicht stach weiß aus der dunklen Nacht heraus. Ein harter Kontrast, der die Schmerzlichkeit in ihren Augen und die angstvoll zusammengepressten Lippen noch stärker hervorhob.

Sie nickte, während die andere Frau den Griff um ihre Schultern verstärkte und sich vorstellte: »Ich bin Leslie Eberl, die Schwester von Caro. Sagen Sie bitte, was ist mit Manu? Wir machen uns große Sorgen.«

Die Schwester schien die Ältere von beiden zu sein. Sie war ungeschminkt, ihre dunkelbraunen Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden und T-Shirt und Hose sahen aus, als wären sie nur kurz übergeworfen. Scheinbar war sie schon zu Bett gegangen oder zumindest kurz davor.

»Caroline …« Lasse suchte nach Worten und wandte sich dann mit einem hilfesuchenden Blick an seinen Kollegen.

»Caroline, das ist Hauptkommissar Lasse Nagelsmann, mit ihm haben Sie gerade telefoniert. Mein Name ist Dieter Kurz. Vielen Dank, dass Sie hier auf uns gewartet haben«, übernahm nun Dieter, der versuchte, die beiden Frauen durch seine Einleitungsworte erst mal ein wenig zu beruhigen. »Wir haben leider die Vermutung, dass Ihrem Verlobten etwas zugestoßen ist.« Anschließend zog er sein Handy aus der Tasche und öffnete ein Foto.

Das Entsetzen in den Augen der jungen Frau wurde größer.

»Können Sie sich dieses Bild bitte einmal anschauen und mir sagen, ob es sich dabei um Ihren Freund Manuel Leuwand handelt?«

Auch wenn sie sein Smartphone und sein Portemonnaie mit Ausweis bei ihm gefunden hatten, musste die Leiche erst klar identifiziert werden.

»Ich muss Sie allerdings vorwarnen – es ist kein schöner Anblick.«

Sie hatten zwar extra versucht, möglichst wenig von der Wunde und des Blutes zu fotografieren, doch allein die toten Augen waren schon schrecklich genug anzusehen.

Zögernd reichte Dieter ihr das Handy und der markerschütternde Aufschrei war Antwort genug. Ihre Schwester konnte gerade noch mit der zweiten Hand zupacken, bevor Caroline auf den Boden sank und sich bebend zusammenkauerte. Lasse, Dieter und Leslie gingen automatisch mit ihr in die Knie. Keiner wollte sie in ihrem Schmerz dort unten auf der Straße alleine lassen.

Nach ein paar Sekunden, die allen wie eine Ewigkeit vorkamen, blickte Leslie die beiden Kommissare an, ihre Schwester immer noch fest im Arm. »Was ist passiert?« Ein Flüstern, das Lasse durch Mark und Bein kroch.

Er räusperte sich. Die ganze Situation machte ihm wahrlich zu schaffen und die Bilder seines toten Freundes tauchten wieder vor seinem inneren Auge auf.

»Wir wissen es leider noch nicht genau. Fußgänger haben ihn in dieser Position gefunden. Aber wir tun alles, um herauszufinden, was passiert ist.«

Er sah im Augenwinkel, wie Carolines schmaler zierlicher Körper immer mehr zitterte. Seltsame Geräusche drangen zwischen den Armen ihrer Schwester hervor.

Lasse, Dieter und Leslie blickten sich verwundert an. Caroline schien zu lachen. Erst leise, dann lauter und immer lauter. Leslie löste die Umarmung und richtete ihre Schwester auf. Tatsächlich. Aus dem tränenverschmierten Gesicht kam Gelächter. Ein Lachen, das allen einen eisigen Schauer über die noch vom heißen Sommertag gewärmte Haut jagte. Es war das schmerzerfüllte Lachen einer Frau, die einen Nervenzusammenbruch erlitt. Sie schaute auf Dieters Hand, als befände sich dort noch immer das Smartphone.

»Hihihi … war das … hihihi … also war da … ›Bernd‹? Hahaha, wirklich ›Bernd‹?«

Im ersten Moment begriff Lasse nicht, was sie meinte, doch dann wurde ihm klar, dass sie scheinbar darüber lachen musste, dass ihr Verlobter an der berühmten Statue lehnte.

»Er war ein riesiger Fan von diesem bescheuerten Brot.« Mit diesen Worten verwandelte sich das verrückte Lachen zurück in ein qualvolles Weinen.

Lasse horchte auf. Was hatte sie da gerade gesagt? Er war riesiger Fan der Figur, und ausgerechnet an ihr lehnte der Tote? War das Zufall? Als Polizist lernte man schnell, dass es nur sehr selten wirkliche Zufälle gab. War Manu vielleicht ganz bewusst dort abgelegt worden? Wollte der Mörder etwas damit sagen? Hatte jemand Hass auf den smarten Musiker?

Er musste Caroline Fragen stellen, die er am liebsten vermieden hätte. Aber ihm blieb nichts anderes übrig. Sanft legte er der mittlerweile leise, aber immer noch sehr schmerzvoll vor sich hin schluchzenden Frau die Hand auf die Schulter.

»Caroline.« Er legte so viel Sanftmut und Trost in seine Stimme, wie er nur konnte. »Ich weiß, Sie wollen das jetzt alles nicht hören, aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Leider auch Unangenehme.«

Sie blickte auf und der tränenverschleierte Blick ließ sein Herz verkrampfen.

»Wann haben Sie Ihren Verlobten das letzte Mal gesehen?«

»Das war nach dem Konzert. So gegen 18 Uhr vermute ich. Heute war doch dieses Sommerfest und da ist er aufgetreten. Kurz danach bin ich nach Hause gegangen. Ich wusste, dass er sich noch mit seinen Fans unterhalten und das ein oder andere Bierchen trinken wollte. So etwas kann immer lange werden, daher habe ich mir auch erst keine Gedanken gemacht, als er nicht nach Hause gekommen ist. Gegen halb elf habe ich ihn dann das erste Mal angerufen, ohne Erfolg. Das zweite Mal um elf. Wissen Sie, ich bin nicht so eine Freundin, die kontrollieren muss und eifersüchtig ist. Aber normalerweise schickt er mir eine Nachricht, wenn er ungefähr weiß, wann er nach Hause kommt. Erst recht, nachdem wir uns heute verlobt haben und darauf noch anstoßen wollten. Als er dann um halb zwölf immer noch nicht ans Handy gegangen ist, habe ich mir Sorgen gemacht und meine Schwester angerufen. Ich wollte ihn suchen. Wir waren kaum unterwegs, als Sie abgenommen haben.«

Jedes Wort, jeder Satz war ein gesprochener Schmerz. Dabei umklammerte sie die Hand ihrer Schwester so stark, dass ihre Fingerknöchel völlig von der Blutzufuhr abgeschnitten waren.

Lasse hatte große Sorge, dass die junge Frau gleich wieder zusammenbrechen würde, denn die wirklich unangenehmen Fragen kamen erst noch: »Hatte Manuel irgendwelche Feinde? Oder hatte er in letzter Zeit mit irgendjemandem Streit? Sei es im Beruflichen oder Privaten.«

»Manuel? Nein. Er ist sehr beliebt. Ein geselliger Typ, der sich immer freut, andere Künstler kennenzulernen. Er versucht oft, Kollegen zu unterstützen, und tritt bei seinen Konzerten gerne mit anderen Musikern auf. Und privat? Auch da nicht. Sein Freundeskreis ist riesig. Na ja, also ganz enge Freunde hat er nicht so viele. Aber so ist das wohl, wenn man immer unterwegs ist und nicht viel Zeit hat. Aber er liebt sein Leben und alles drum herum!«

Ihr Blick war bei den Worten weich geworden und Lasse wusste, dass sie noch nicht ansatzweise begriffen hatte, dass Manuel tot war.

Er kannte dieses Gefühl und wusste, dass noch ein langer beschwerlicher Weg vor ihr lag. Er hatte den Verlust seines Freundes bis heute nicht richtig verarbeitet.

Umso schwerer fiel ihm die nächste Frage: »Caroline, bitte denken Sie jetzt erst nach, bevor Sie antworten, und vor allem – bitte antworten Sie ehrlich. Auch wenn Sie frisch verlobt waren: Hatte Manuel vor Kurzem noch eine Affäre, oder gab es aufdringliche, weibliche Fans?«

Die Worte hallten wie Donnergrollen zwischen den Häuserwänden der engen Gasse wider.

Es dauerte einen Moment, bis Caroline begriff, was Lasse sie da gerade fragte.

»Niemals! Wir haben uns geliebt.« Funken sprühten aus ihren Augen. »Wir wollten heiraten, eine Familie gründen. So ein Mensch war er nicht. Er flirtete nicht mal mit seinen Fans, obwohl das wahrscheinlich für seinen Erfolg viel besser gewesen wäre!«

Lasse blickte Dieter kurz an. Die Antwort war sehr schnell und sehr nachdrücklich gekommen.

Sie beließen es erst mal dabei. Beide Kommissare sahen, dass die junge Frau kurz davor war, völlig zusammenzubrechen. Sie würden sie am nächsten Tag im Präsidium ausführlich und in Ruhe befragen. Für heute sollte es gut sein.

Dieter wandte sich an ihre Begleitung: »Leslie, können Sie bei Ihrer Schwester bleiben und auf sie aufpassen? Wir würden sie gerne morgen bei uns im Präsidium sprechen, aber jetzt sollten Sie beide wohl besser nach Hause gehen und schauen, ob Sie noch eine Mütze Schlaf finden. Ich gebe Ihnen meine Karte, sollte noch etwas sein, und ansonsten bitten wir Sie, im Laufe des Tages zu uns zu kommen. Ist das in Ordnung?«

Leslie nickte schwer, nahm ihre Schwester am Arm und entfernte sich trauerbepackt von den Kommissaren.

3

Es war noch relativ früh am Morgen, doch Kathleen konnte einfach nicht mehr schlafen. Sobald sie die Augen schloss, tauchte immer wieder das Bild des toten Mannes, gelehnt an »Bernd das Brot« in ihrem Kopf auf.

Sie hatte daher um kurz nach fünf Uhr beschlossen, aufzustehen und eine Runde Joggen zu gehen. Bei schlechter Laune, oder wenn sie sich über irgendetwas sehr ärgerte, half ihr das immer. Heute hatte sie vor allem gehofft, es würde ihren Kopf freimachen.

Und tatsächlich, als sie nach einer Stunde und sieben Minuten wieder das Haus betrat, ging es ihr schon deutlich besser. Besonders die letzten zwei der zwölf Kilometer war sie nur noch darauf konzentriert gewesen, das Tempo zu halten und die Atmung zu kontrollieren, und hatte überhaupt keine Möglichkeit mehr gehabt, an das Geschehene zu denken. Sie sprang daher vollkommen ausgepowert und etwas leichter ums Herz unter die Dusche und freute sich schon auf einen leckeren Himbeer-Bananen-Smoothie danach.

Frisch geduscht nahm sie auf dem Sofa Platz und wollte gerade den ersten Schluck nehmen, als das Telefon läutete. Kathleen erschrak. Wer rief denn so früh am Morgen an? Widerwillig drückte sie auf den grünen Hörer und meldete sich.

Keine fünf Minuten später tigerte Kathleen unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Das sommerlich luftige Kleid mit den zarten Blüten, in das sie nach dem Duschen geschlüpft war, stand in hartem Kontrast zu ihrer unglücklichen Miene.