Trügerische Macht - Katharina Günter - E-Book

Trügerische Macht E-Book

Katharina Günter

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Beschreibung

Unmittelbar nach dem gemeinsamen Urlaub von Hauptkommissar Lasse Nagelsmann und seinem Freund Tom tritt dieser mit einer außergewöhnlichen Bitte an ihn heran. Lasse soll den Tod von Toms Chef, Generalarzt Dr. Beckmus, untersuchen. Angeblich ist dieser eines natürlichen Todes verstorben. Doch Tom kann das nicht glauben. Lasse zögert, ohne offizielle Genehmigung zu ermitteln. Das Machtgefüge der Bundeswehr reicht bis in die höchsten Ebenen der Erfurter Polizei und der Polizeidirektor ist sowieso nicht gut auf ihn zu sprechen. Tom bleibt jedoch hartnäckig und so beginnt Lasse im Verborgenen zu ermitteln. Eine Entscheidung, die weitreichende Folgen hat und nicht nur Lasse an seine persönlichen Grenzen bringt. Auch sein bester Freund Tom schwebt plötzlich in Gefahr.

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Buchbeschreibung:

Unmittelbar nach dem gemeinsamen Urlaub von Hauptkommissar Lasse Nagelsmann und seinem Freund Tom tritt dieser mit einer außergewöhnlichen Bitte an ihn heran. Lasse soll den Tod von Toms Chef, Generalarzt Dr. Beckmus, untersuchen. Angeblich ist dieser eines natürlichen Todes verstorben. Doch Tom kann das nicht glauben. Lasse zögert, ohne offizielle Genehmigung zu ermitteln. Das Machtgefüge der Bundeswehr reicht bis in die höchsten Ebenen der Erfurter Polizei und der Polizeidirektor ist sowieso nicht gut auf ihn zu sprechen. Tom bleibt jedoch hartnäckig und so beginnt Lasse im Verborgenen zu ermitteln. Eine Entscheidung, die weitreichende Folgen hat und nicht nur Lasse an seine persönlichen Grenzen bringt. Auch sein bester Freund Tom schwebt plötzlich in Gefahr.

Über die Autorin:

Katharina Günter wurde 1983 in Nürnberg geboren. Nachdem sie etliche Jahre in der Hansestadt Hamburg gewohnt hat, zog es sie 2022 in ein kleines Dorf direkt an der Weser. Weiterhin ist es jedoch der besondere Charakter der Stadt Erfurt, der dazu führt, dass Hauptkommissar Nagelsmann im schönen Thüringen ermittelt.

Alle Personen und Geschichten in diesem Buch – besonders die Vorkommnisse in der Bundeswehr – sind komplett frei erfunden und haben so nie stattgefunden.

Für meine Eltern –

Danke, dass ihr immer hinter mir steht

und mich bei allem so geduldig unterstützt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

Prolog

Den ganzen Abend über hatte er schon das Gefühl, beobachtet zu werden. Unauffällig ließ er den Blick schweifen. An seinem Tisch saßen noch Generalmajor Wiedemann, Frau Generalstabsarzt Kreisel und die beiden Generalleutnante Seifert und Adams. Er kannte alle schon lange und hatte sich gefreut, sie auf der heutigen Tagung wiederzusehen. Mit Generalleutnant Seifert hatte er am Nachmittag bereits ein angeregtes Gespräch über die neuen mobilen Operationsmöglichkeiten begonnen und wollte das Thema mit ihm nach dem Essen weiter erörtern.

Das Catering war, wie immer bei solchen Veranstaltungen der Bundeswehr, hervorragend. Er hatte sich ein zartes Stück Lammfilet bestellt, dazu gebackene Rosmarinkartoffeln und Speckbohnen. Nicht besonders außergewöhnlich, aber die Zutaten waren von feinster Qualität und die Kräuterkruste auf seinem Fleisch ließ ihn ins Schwärmen geraten. Es hätte ein guter Abschluss der dreitägigen Veranstaltung werden können, wäre da nicht dieses anhaltende Gefühl, beobachtet zu werden. Er ahnte, womit es zusammenhängen könnte, doch zeitgleich wollte er es nicht wahrhaben. Hatte jemand sein geheimes Projekt entdeckt? Das konnte nicht sein, denn er war in allem, was er tat, äußerst vorsichtig. Oder war der Verfolgungswahn eine Spätfolge seiner zahlreichen Auslandseinsätze? Seit knapp vierzig Jahren diente er nun schon der Bundeswehr und hatte es bis zum Generalarzt geschafft. Während dieser Zeit war er in Afghanistan, Mali und auch im Kosovo gewesen. Es waren keine ungefährlichen Einsätze. Zweimal war er in einen heimtückischen Hinterhalt geraten und der Situation nur dank seiner umfangreichen Ausbildung und der verlässlichen Kameraden unbeschadet entkommen.

Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass ihm hier, im schönen Erfurt, Gefahr drohen könnte. Doch genau danach fühlte es sich jetzt an. Das flaue Gefühl in seinem Magen wurde immer stärker. Seine Intuition sagte ihm, dass das Unheil unabwendbar auf ihn zueilte. Und seine Intuition hatte ihn noch nie getäuscht.

Wieder ließ er den Blick unauffällig durch die Menge wandern. Es waren etwa sechzig geladene Generäle, Kommandeure und Ärzte anwesend. Darunter lediglich vier Frauen. Die Bundeswehr hatte wirklich noch einiges aufzuholen in Sachen Frauenquote.

Er sah in zahlreiche fröhliche Gesichter, als sein Blick plötzlich hängen blieb. Ihn überkam ein Schauer, und selbst die kleinsten Härchen an seinem Körper stellten sich auf. Die Lippen des Gesichts, in das er gerade schaute, verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln, doch der Ausdruck in den Augen blieb kalt und emotionslos. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und Beckmus hatte das Gefühl, als würde die Luft um ihn herum gefrieren.

Schnell wandte er den Blick ab und versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Ihm schlug das Herz bis zum Hals.

Nur noch austrinken und dann nichts wie weg hier!, dachte er. Er streckte seine rechte Hand aus, um nach dem Rotweinglas zu greifen, doch sie sollte ihr Ziel nie erreichen.

Ein stechender Schmerz schoss ihm ins Herz und breitete sich gleißend in seinem Körper aus. Statt das Glas zu umfassen, verkrampften sich seine Finger zu einer Faust. Mit entsetzten Blick griff er sich an die Brust. Mühsam sog er ein letztes Mal Luft in seine Lunge, bevor sich seine Augenlider schlossen und er in ewige Dunkelheit abtauchte. Sein letzter Gedanke galt seiner Frau, die er über alles liebte und der er so gerne noch gesagt hätte, dass sie sein Ein und Alles war.

1

Lasse saß lachend auf Dieters Schreibtisch im Erfurter Kommissariat. Die Beine des Hauptkommissars baumelten fröhlich in der Luft. In der einen Hand hielt er eine Tasse duftenden Kaffee und in der anderen sein Smartphone, auf dem er gerade eifrig durch die Fotogalerie scrollte. Vor ihm hatte es sich sein älterer Kollege Dieter in seinem Schreibtischstuhl bequem gemacht, neben ihm standen Ellen, die IT-Spezialistin, und Betti, die Organisatorin und gute Seele des Reviers. Chris und Uli, die beiden Kommissare, die das Team um Lasse Nagelsmann komplett machten, saßen hinter ihm auf der Fensterbank und teilten sich eine Tüte saftiger italienischer Kekse.

»Die sind verdammt lecker«, murmelte Chris mit vollem Mund und spuckte dabei ein paar Krümel aus. Uli warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und wischte sich mit der Hand über den Oberschenkel. Chris zuckte grinsend mit den Schultern und wandte sich an Lasse. »So wie du aussiehst, hattet ihr richtig viel Sonne, oder?«

Lasse drehte sich zu seinem Kollegen um und nickte. »Oh ja, wir haben die komplette Woche so gut wie keine Wolke gesehen. Leider gab es aber auch kaum Wind, sodass wir unsere ursprünglich geplante Segelroute nicht geschafft haben. Stattdessen haben wir öfter mal einen Badestopp eingelegt.«

»Badestopp. So nennt man das also.« Dieter grinste ihn frech an. »Bist du dir sicher, dass es nicht eher ein Trinkstopp war?«

Lasse gab ihm einen leichten Tritt vors Schienbein und schüttelte vehement den Kopf. »Getrunken wird erst im Hafen. Es geht doch nichts über einen leckeren Cuba Libre als Anlege-Getränk mit Aussicht auf das herrliche Hafenkino! Es ist immer wieder amüsant, zu beobachten, wie manch ein Skipper im Hafen anlegt.«

»Hätte mich auch gewundert, wenn es alkoholfrei geblieben wäre«, mischte sich nun auch Ellen ein und kassierte dafür eine Grimasse von Lasse.

»Dolce Vita, sage ich nur. Sardinien ist echt ein Traum, glaubt mir. Das Wasser ist so klar und tiefblau. Das Essen vorzüglich und ja, die eine oder andere Flasche Wein gab es auch. Der Segelurlaub war genau das Richtige, um endlich mal wieder zu entspannen«, schwärmte Lasse. Immer wieder öffnete er auf seinem Handy Fotos und zeigte sie in die Runde.

Dieter klopfte seinem jüngeren Chef freundschaftlich auf den Oberschenkel. »Das hast du dir nach unserer letzten gemeinsamen Serienmörder-Jagd auch redlich verdient!«

Dieters Satz holte Lasse zurück ins Hier und Jetzt. Er schaute sich in seinem Team um. »Was war in der Zwischenzeit hier los? Habe ich was verpasst? Gibt es einen neuen Fall?«

Betti, die stets die Organisation der Kollegen übernahm, antwortete mit einem Augenzwinkern: »Nein, du hast rein gar nichts verpasst. Als hätten die Verbrecher gewusst, dass du im Urlaub warst.«

Lasse runzelte die Stirn. »Gar nichts? Was habt ihr denn die ganze Woche über gemacht?«

»Ablage!«, ertönte es hinter Lasses Rücken.

Er wandte sich um und musste bei Ulis gequältem Gesichtsausdruck lachen. »Du Ärmster. Was haltet ihr davon, wenn wir alle heute früh Schluss machen und bei einem Bierchen meine Rückkehr feiern?«

Als Antwort kam freudiger Applaus und Gejohle.

»Perfekt. Um halb sechs ist hier Feierabend. Und bis dahin schau ich mal meine Mails durch und komme langsam wieder im Arbeitsalltag an«, beendete Lasse die fröhliche Runde. Alle bis auf Dieter, der sich das Büro mit Lasse teilte, verabschiedeten sich und begaben sich in ihre eigenen Räumlichkeiten.

Lasse wollte gerade sein Handy wegstecken, als er eine Nachricht erhielt. Sie war von Tom, seinem Segelfreund, von dem er sich erst vorgestern verabschiedet hatte. Er musste grinsen. Hatte er etwa schon Sehnsucht nach ihm? Gespannt öffnete er die Nachricht. Doch was darin stand, ließ ihn stutzig werden. Irritiert runzelte er die Stirn und las die Nachricht erneut.

Müssen uns dringend sehen. Mein Chef ist tot. Merkwürdige Geschichte. Brauche deinen Rat.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dieter, der Lasses Gesicht mittlerweile lesen konnte wie ein offenes Buch. Seit nunmehr knapp drei Jahren waren sie Kollegen. Trotz des großen Altersunterschiedes – Lasse war achtunddreißig und Dieter zweiundsechzig – verstanden die beiden sich blendend. Auch die Tatsache, dass der Jüngere der Chef war, störte sie überhaupt nicht, und so waren sie schnell nicht mehr nur Kollegen, sondern auch Freunde geworden.

Lasse legte den Kopf schief und las die Nachricht seines Freundes laut vor.

»War Tom nicht dein alter Kumpel, der eine Zeit lang mit dir in Hamburg gewohnt hat?«, fragte Dieter, der Tom gerade nicht richtig in Lasses Leben einzuordnen wusste.

»Ja, genau. Tom und mich kann einfach nichts trennen. Wir waren Sandkastenfreunde, doch dann bin ich nach Hamburg gezogen. Kurze Zeit später kam er ebenfalls nach Hamburg, um dort Medizin zu studieren. Gemeinsam haben wir damals unsere Liebe zum Segeln entdeckt. Lustigerweise ging er, kurz nachdem ich nach Erfurt zurück bin, ebenfalls zurück in unsere Heimat.«

Lasse dachte voller Wehmut an die schöne Zeit, die er mit seinem Kumpel in Hamburg verbracht hatte. So oft es ging, hatten sie sich nach der Arbeit oder am Wochenende eine kleine Jolle auf der Alster gemietet und waren mit ein paar Flaschen Flensburger Pils und einer Tüte Schokoladen-Waffeln ab aufs Wasser. Ob Wind wehte oder nicht, war nicht entscheidend. Es zählte nur die gemeinsame Zeit auf einem Segelboot. Sie hatten beide einen Segelschein gemacht und charterten seitdem jedes Jahr für mindestens eine Woche irgendwo eine Yacht.

»Kennst du seinen Chef?«, fragte Dieter und riss Lasse damit aus seinen Gedanken.

Der blickte von seinem Handy hoch und schaute Dieter an. »Nicht persönlich, aber Tom ist immer ganz begeistert und spricht nur in den höchsten Tönen von ihm.«

»Ach du Schande. Wo arbeitet Tom denn?«

»Bei der Bundeswehr.«

»Ohhhh«, stieß Dieter aus und zog dabei beide Augenbrauen nach oben.

»Da sagst du was«, antwortete Lasse mit gerunzelter Stirn. Immer noch auf sein Handy blickend, ging er zu seinem Schreibtisch, wobei er mit dem Bein gegen die Tischkante stieß und sich schmerzhaft den Oberschenkel rieb. Dennoch starrte er weiterhin auf die Nachricht.

»Antworte ihm doch mal und frag, was genau merkwürdig an der Geschichte ist«, schlug Dieter vor.

Nun löste Lasse doch den Blick vom Display. Er legte den Kopf leicht schief und setzte einen ironisch dankbaren Gesichtsausdruck auf. »Dieter! Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde. Antworten. Was für eine großartige Idee!«

Dieter verdrehte spielerisch genervt die Augen, musste dann aber herzhaft lachen. »Ich hab dich vermisst!«, gab er unumwunden zu.

Lasse stimmte in das Lachen ein, wurde aber sofort wieder ernst, als er die Nachricht noch einmal laut vorlas: »Müssen uns dringend sehen. Mein Chef ist tot. Merkwürdige Geschichte. Brauche deinen Rat.« Mit gerunzelter Stirn sah er zu Dieter. »Das muss während unseres Urlaubs passiert sein, sonst hätte er mir doch davon erzählt«, ergänzte er grübelnd. »Gab es letzte Woche in Erfurt einen Todesfall?«

»Bestimmt«, antwortete Dieter lakonisch. »Aber keinen, der uns gemeldet wurde. Ich glaube, es wäre wirklich besser, wenn du ihn nach Einzelheiten fragst, bevor du hier wild herumspekulierst.«

Lasse nickte und tippte: Hast du mehr Infos für mich?

Es dauerte keine Minute, da kam schon die Antwort: Heute Mittag um 12 Uhr? Ich hole dich ab.

Wieder legte sich Lasses Stirn in tiefe Falten.

Dieter, der das »Pling« der eintreffenden Nachricht gehört hatte, warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Scheint echt dringend zu sein«, antwortete Lasse. »Er holt mich heute um zwölf hier ab.«

»Wow! Na, da bin ich ja mal gespannt.«

»Ich auch«, gab Lasse zurück. Und nach einem letzten Blick auf die Nachricht fügte er hinzu: »Dann will ich bis dahin mal meine Mails checken.«

Doch so richtig konnte er sich nicht konzentrieren. Zu sehr hing er mit seinen Gedanken bei Tom und dessen toten Chef. Was war passiert, dass sein Kumpel so aufgewühlt schien?

2

Noch immer tobten die Erinnerungen an den heutigen Morgen in Toms Kopf, während er vor dem Kommissariat auf Lasse wartete. Er war fünf Minuten zu früh, daher lehnte er sich gegen seinen Drahtesel und ließ die Geschehnisse Revue passieren.

Es war sein erster Tag nach einem einwöchigen Urlaub. Er war heute Morgen extra früh aufgestanden, um im Büro ausreichend Zeit zu haben, alle Mails der vergangenen Woche in Ruhe lesen zu können. Statt wie üblich um neun hatte er bereits um acht Uhr seine Bürotür aufgesperrt. Sein Chef war noch nicht da, doch für die Uhrzeit war dies nichts Ungewöhnliches. Generalarzt Dr. Werner Beckmus kam meist erst zwischen halb zehn und zehn. Ab einem bestimmten Dienstgrad durfte man sich das offensichtlich erlauben. Seit zwei Jahren war Tom jetzt schon der Assistent des Generalarztes. Seine Aufgabe bestand darin, seinem Chef bei dessen Tätigkeiten zu unterstützen und ihm den Rücken freizuhalten.

Tom arbeitete gerne mit und für Beckmus, und so schloss er voller Tatendrang die Bürotür auf, nur um sofort verwundert innezuhalten. Sein Dienstraum war eine Art Vorzimmer zum Büro seines Chefs, wobei dieser auch eine separate Tür zum Gang hatte. Wie meistens stand die Verbindungstür zwischen Beckmus‘ und seinem eigenen Büro offen, und er konnte den leeren Schreibtisch seines Chefs sehen. Doch es war nicht der leere Tisch, der ihn irritierte. Es waren die zahlreichen Blumensträuße, die auf dem kleinen, runden Konferenztisch in Beckmus‘ Büro standen und teilweise mit schwarzen Bändern versehen waren. Außerdem lagen dort etliche Karten, von denen er auf den ersten Blick erkennen konnte, dass es sich um Beileidsbekundungen handelte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Hier war ganz offensichtlich jemand verstorben. Was war in der Woche seiner Abwesenheit passiert? Doch hoffentlich nicht Silvia, die Frau seines Chefs? Er wusste aus der ein oder anderen Erzählung, dass sie etwas gebrechlich war und ihre Gesundheit nicht im allzu besten Zustand. Oh je, das würde den alten Generalarzt stark treffen, denn er liebte seine Frau. Tom hatte sie gleich zu Beginn seiner neuen Stelle bei Beckmus kennengelernt. Sie war zwar recht klein und zierlich und wirkte eher wie ein kleines verwundbares Vögelchen, aber ihr Herz war dafür umso größer und sie strahlte eine liebevolle Wärme aus, sodass Tom sie damals direkt ins Herz geschlossen hatte.

Er durchquerte den Raum und wollte gerade eine Karte in die Hand nehmen, als jemand hinter ihm an den Türrahmen klopfte. Er drehte sich um und sah seine Kameradin, Stabsgefreite Vanessa Becker. Sie gehörte ebenfalls zum Team des Generalarztes und war gut mit Tom befreundet. Sie sah schrecklich aus. Ihr sonst so fröhliches Gesicht hatte einen grauen Schleier und ihre braunen Augen jeglichen Glanz verloren.

»Nessi«, rief Tom erschrocken aus, »was ist hier passiert?« Zur Unterstreichung seiner Frage ließ er seine Hand in einer weiten Geste über all die Blumen und Karten schweifen.

»Der General. Er ist tot«, kam es dumpf von Vanessa. Sofort traten ihr Tränen in die Augen.

»Was?«, entfuhr es Tom entsetzt. »Warum? Wann? Wieso? Nein!« Tom schossen tausend Gedanken durch den Kopf und gleichzeitig breitete sich eine tiefe Leere in ihm aus.

»Herzinfarkt«, sagte seine Kollegin leise und ging einen Schritt auf Tom zu. Der kam ihr entgegen und nahm sie fest in den Arm. Er sah, wie die junge Frau krampfhaft versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

Nachdem er sie einen kurzen Moment festgehalten hatte, schob er sie ein Stück von sich weg. »Aber er war kerngesund!« Er blickte sie verwundert an.

Sie schüttelte den Kopf. »Scheinbar nicht. Letzte Woche war doch die große Tagung. Am letzten Abend, beim großen Abschlussessen, ist er einfach zusammengebrochen. Innerhalb kürzester Zeit tot.« Sie atmete schwer. »Mann, Tom, er war umgeben von den Top-Ärzten der Bundeswehr, aber keiner konnte ihn retten. Es ging wohl sehr schnell.« Erschöpft ließ sie ihren Kopf wieder gegen Toms Brust sinken.

»O Gott, wie schrecklich!« Es war mehr ein Wispern, als dass Tom es laut aussprach.

»Laut Generalstabsarzt Dr. Wallhorst war er wohl nicht mehr in bester Verfassung. Er war auch derjenige, der den Totenschein des Notfallarztes entgegengenommen hat. Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich das sein muss? Mitten in einem gemeinsamen Abendessen verstirbt einer von uns. Er war so ein guter Chef und inspirierender Mensch. Er wird mir sehr fehlen.«

Tom nickte nur stumm.

»Ausgerechnet Wallhorst«, brummte er.

»Was meinst du damit?« Vanessa hob den Kopf von Toms Brust und sah ihn fragend an.

»Ich glaube, die zwei mochten sich nicht sonderlich. In der Öffentlichkeit waren sie stets freundlich und höflich zueinander. Aber immer, wenn Generalarzt Dr. Beckmus über Generalstabsarzt Dr. Wallhorst gesprochen hat, schwang irgendwie so ein komischer Unterton mit. Wobei ich mich natürlich auch täuschen kann.«

Vanessa schaute ihn verwirrt an. »Das klingt in der Tat seltsam. Dennoch tut mir Generalstabsarzt Dr. Wallhorst leid, dass er den Tod eines Kameraden miterleben musste. So was ist nie schön.«

»Vor allem, weil die beiden sich lange kannten. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, waren sie sogar gemeinsam in der Grundausbildung.«

Während Tom mit seiner Kollegin sprach, ließ er den Blick über die zahlreichen Sträuße schweifen. Je länger er sie betrachtete, desto tiefer wurde die senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen. Dunkle Gedanken waberten ihm durch den Kopf.

Vanessa stand schweigend neben ihm. Sein Arm lag noch immer um ihre Schultern.

Mit einem tiefen Seufzer löste sich Tom von ihr. »Ich muss mich jetzt um meine E-Mails kümmern. Es liegen zahlreiche Projekte auf dem Tisch, die weitergehen. Danke für dein Update, Vanessa.« Seine Stimme klang schroffer als beabsichtigt.

Irritiert von diesem plötzlichen Stimmungswechsel legte die junge Soldatin den Kopf schief und runzelte die Stirn. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schaute sie ihn an und wartete auf eine Erklärung für sein verändertes Verhalten. Doch es kam nichts, und so verließ sie mit einem »Halt die Ohren steif« den Raum.

Um Punkt zwölf Uhr mittags verließ Lasse das Kommissariat.

Tom war schon da, doch er schien tief in Gedanken versunken. Sein Blick war ziellos in die Ferne gerichtet, sein rechter Fuß wippte unruhig auf und ab. In einer Hand hielt er eine Tüte, aus der es verdächtig nach Falafel duftete.

»Oh Essen!«, rief Lasse freudig aus.

Tom zuckte erschrocken zusammen und drehte sich zu ihm um. »Ich hoffe, du hast Hunger?«, fragte er mit einem nur halbwegs gelungenen Grinsen.

»Na, aber immer! Kennst mich doch!«, antworte Lasse und umarmte seinen Freund mit einem kumpelhaften Rückenklopfen.

Da es für Anfang November ungewöhnlich trocken und mild war, schlenderten die Männer in den nahegelegenen Venedig-Park, wo sie auf einer Bank in der Sonne Platz nahmen. Tom hatte sein Rad mitgenommen und legte es neben sie in die Wiese. Er reichte Lasse eine der beiden arabischen Köstlichkeiten und einen Stapel Servietten dazu. Spätestens zum Ende der Teigrolle gab es immer eine Kleckerei.

Die ersten Bissen aßen sie in vertrauter Schweigsamkeit, doch dann konnte Lasse seine Neugier nicht mehr zügeln.

»Nun sag schon! Was ist los mit deinem Chef?« Hastig fügte er hinzu: »Und natürlich mein herzliches Beileid.«

Tom verdrängte die Bilder der zahlreichen Blumensträuße mit den schwarzen Bändern, die sich erneut vor sein inneres Auge geschoben hatten, und sah Lasse an.

Dieser lächelte und schenkte ihm ein aufmunterndes Nicken.

Für einen kurzen Moment zögerte Tom. Er war sich unsicher, ob er seinem Freund seine wilden Theorien mitteilen konnte. Schließlich war dieser Hauptkommissar. Doch dann gab er sich einen Ruck, denn er hatte ihn ja gerade deswegen treffen wollen.

»Ich glaube, mein Chef wurde ermordet!«

Schweigen.

Etliche Sekunden hallten die Worte in Toms Ohren nach und am liebsten hätte er sie wieder zurückgenommen. Was spann er sich nur in seinem Kopf zusammen?

Auch Lasse sagte erst einmal nichts. Er wartete ab, ob Tom noch eine Erklärung für seine Behauptung lieferte. Doch es kam nichts. Die Stille wurde lediglich vom Brummen eines Autos auf der Weidengasse und dem Rauschen des Windes, der die letzten Blätter von den Bäumen fegte, durchbrochen.

»Tom. Du weißt, dass es eine schwerwiegende Aussage ist, oder?«, brach er nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen. »Wie kommst du darauf?«

Tom zuckte mit den Schultern.

Als Lasse schon befürchtete, dass nichts mehr kommen würde, hörte er ein leise gemurmeltes »Bauchgefühl«.

Im ersten Moment hätte der Hauptkommissar am liebsten aufgestöhnt und gefragt, ob Tom ernsthaft wegen eines Bauchgefühls so eine Welle schlug. Doch dann fiel ihm ein, wie oft er schon wegen einer vagen Intuition einem Verdacht nachgegangen war, und schwieg. Ihm war es nur allzu vertraut, wenn sich ein Gefühl in einem ausbreitete, von dem man weder wusste, wo es herkam, noch, wie man es beschreiben konnte. Daher schenkte er Tom, der ihn zögernd anschaute, ein erneutes aufmunterndes Nicken.

Sein Freund atmete erleichtert auf. Er hatte für einen kurzen Moment Sorge gehabt, Lasse würde ihn auslachen.

»Ich weiß, es klingt komisch«, startete er seinen Erklärungsversuch, »aber als ich heute Morgen gehört habe, dass er an einem Herzinfarkt verstorben sein soll, hatte ich sofort ein ungutes Gefühl im Bauch. Als ob eine Bedrohung kommt, von der man noch nicht weiß, wie sie aussieht.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und ausgerechnet Generalstabsarzt Dr. Wallhorst hat den Totenschein entgegengenommen.«

»Wer ist Wallhorst? Und was ist daran so schlimm, dass er den Totenschein entgegengenommen hat?«, hakte Lasse nach.

»Generalstabsarzt Dr. Wallhorst. Mein Chef kannte ihn schon lange und immer wenn er über ihn gesprochen hat, klang irgendwie ein komischer und leicht negativer Unterton mit. «

»Missgunst und Neid unter Alphamännern?«, mutmaßte Lasse und zog dabei eine Augenbraue nach oben.

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, nicht bei Generalarzt Dr. Beckmus. Er ist absolut kein Alphamann. Auch wenn so etwas bei uns in der Bundeswehr in höheren Positionen eher ungewöhnlich ist. Aber er ist, oder eher gesagt war, ein fairer und grundanständiger Mann. Er strahlte stets so eine Würde und Souveränität aus, dass ihn die allermeisten als geschätzte Respektsperson betrachteten. Generalarzt Dr. Beckmus war wirklich durch und durch ein toller Mensch.«

Lasse musste grinsen. Tom nannte seinen Chef nie einfach nur Beckmus oder gar bei dessen Vornamen Werner. Es war immer »Generalarzt Dr. Beckmus«. Lasse, der eine starke innere Abneigung gegen jegliches Hierarchiegehabe hegte, war hin- und hergerissen zwischen Faszination über diese uneingeschränkte Disziplin und Entsetzen über so viel Gehorsam. Auch jetzt war er wieder kurz davor, Tom deswegen aufzuziehen, doch dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass der Generalarzt tot war. Kein guter Moment, um Scherze darüber zu machen.

»Kennst du diesen anderen General?«, fragte er stattdessen.

»Generalstabsarzt Dr. Wallhorst? Na ja, kennen ist übertrieben. Ich bin ihm hin und wieder bei Veranstaltungen begegnet. Gesprochen habe ich ihn maximal ein- oder zweimal. Und dann auch nur sehr kurz.«

»Und warum hat er den Totenschein entgegengenommen? Waren sie gemeinsam unterwegs oder wie kam es dazu?«

»Letzte Woche fand eine dreitägige Tagung hier in Erfurt statt. Generalarzt Dr. Beckmus und Generalstabsarzt Dr. Wallhorst waren beide dort. Am letzten Abend gab es ein Dinner, bei dem Generalarzt Dr. Beckmus am Tisch tot zusammengebrochen ist. Der Notarzt, der gerufen wurde, war wohl ein Kamerad, der das als Nebentätigkeit macht. Generalstabsarzt Dr. Wallhorst stand angeblich in der Nähe, hat Generalarzt Dr. Beckmus für die Ausstellung des Scheins offiziell identifiziert und dann den Schein entgegengenommen. Zumindest sind das die Gerüchte, die durch die Flure kursieren.« Hilflos zuckte Tom mit den Schultern.

»Und jetzt glaubst du, dass Wallhorst deinen Chef umgebracht hat?«

Trotz der Vorbehalte, die Tom gegen Wallhorst hatte, klang seine Antwort sehr entschieden: »Nein! Das glaube ich nicht. Er ist ein hochgradiger General. Er würde nicht so weit gehen und einen Kameraden umbringen. Allerdings befürchte ich, dass er die Todesursache nicht genau genug untersucht hat, weil ihm Generalarzt Dr. Beckmus egal ist.«

Lasse hatte in der Zwischenzeit sein schwarzrotes Notizbüchlein aus der Hosentasche gezogen und sich ein paar Stichworte notiert. Nun starrte er schweigend darauf und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute er Tom zweifelnd an.

»Wirklich viel ist das nicht«, sagte er zögernd.

»Ich weiß. Es tut mir leid. Vielleicht übertreibe ich mit meinen Sorgen und bin einfach nur schockiert über den plötzlichen Tod.«

Lasse wollte gerade etwas erwidern, da unterbrach ihn Tom aufgeregt: »Ach und eins noch!«

»Jaa?«, fragte Lasse gedehnt, in der Hoffnung, doch noch etwas Relevantes zu erfahren.

»Nach Aussage meiner Kollegin hat Generalstabsarzt Dr. Wallhorst behauptet, Generalarzt Dr. Beckmus sei gesundheitlich in keiner guten Verfassung gewesen. Was aber so nicht stimmt. Kurz vor meinem Urlaub hatte er einen Gesundheitscheck, bei dem alles in Ordnung war.«

»Das hat er dir erzählt?«, fragte Lasse mit einer Portion Skepsis in der Stimme.

»Ja. Er war da ganz offen. Zeigt das nicht, dass Generalstabsarzt Dr. Wallhorst meinen Chef gar nicht richtig untersucht haben kann?«

Lasse schwieg erneut. Er überlegte, wie er seinem Freund am besten antwortete. Er startete einen vorsichtigen Versuch: »Meinst du wirklich, er hätte dir von seinen gesundheitlichen Problemen berichtet? Letztlich war er immer noch dein Vorgesetzter.« Bei diesen Worten verzog er das Gesicht zu einer entschuldigenden Grimasse und hob beschwichtigend die Hände.

Resigniert zuckte Tom mit den Schultern. »Ich weiß doch auch nicht, was ich glauben soll.«

»Tom, es tut mir wirklich leid, dass Beckmus gestorben ist. Aber ich kann gerade nichts erkennen, was gegen einen natürlichen Tod spricht.«

»Ach scheiße!«, rief Tom aus, zerknüllte das Papier seiner aufgegessenen Falafel und warf es verzweifelt auf die Wiese. Keine fünf Sekunden später stand er auf und sammelte seinen Müll ordnungsgemäß wieder ein. Er setzte sich jedoch nicht wieder neben Lasse auf die Bank, sondern blieb davor stehen.

»Also muss ich den Tod von Generalarzt Dr. Beckmus einfach akzeptieren?«

Lasse legte den Kopf schief und hob entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid, Tom. Ich kann gerne versuchen, etwas über deinen Chef und diesen anderen General herauszufinden, aber viel versprechen kann ich dir nicht.«

Tom legte Lasse eine Hand auf die Schulter und ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist mehr, als ich mir erhofft hatte. Vielen Dank, dafür! Und ich werde ebenfalls ein bisschen bei uns herumstöbern.«

Sorgenvolle Runzeln bildeten sich auf Lasses Stirn. »Sei aber bitte vorsichtig, Tom. Solltest du tatsächlich recht haben, stocherst du vielleicht in ein Wespennest. Und zwar in eines, das schon für jemand anderen tödlich ausging.«

3

Nachdem Tom sich verabschiedet hatte, blieb Lasse noch ein paar Minuten nachdenklich auf der Bank sitzen. Tausend Fragen geisterten ihm durch den Kopf. Konnte etwas an dem Bauchgefühl seines Freundes dran sein? War es ernst zu nehmen oder kam es doch eher durch den Schock über den plötzlichen Todesfall? Was, wenn er wirklich ermordet worden war? Brachte sich Tom in Gefahr, wenn er auf eigene Faust ermittelte? Wie weit sollte er, Lasse, überhaupt ohne offizielle Befugnis gehen? Noch dazu bei einer Institution wie der Bundeswehr, die unter einem besonderen Status und Schutz stand.

Es war keine einfache Situation, in die Tom Lasse gebracht hatte. Am liebsten hätte er sich sofort mit Dieter darüber ausgetauscht, um dessen Meinung dazu zu hören. Sein älterer Kollege hatte deutlich mehr Berufsjahre auf dem Rücken und dadurch auch mehr Erfahrung. Doch Tom hatte ihn bei der Verabschiedung eindringlich darum gebeten, mit niemand anderem darüber zu reden. Auch wenn es ihm schwerfiel, würde sich Lasse daran halten.

Mit einem tiefen Seufzer stand er auf, schüttelte sich ein kleines Stück Eisbergsalat von der Hose und machte sich auf den Rückweg ins Büro.

Dort angekommen, erwartete Dieter ihn bereits mit einem gespannten Blick.

Mist!, dachte Lasse. Hätte ich doch vorhin nur nicht die Nachricht vorgelesen. Jetzt musste er sich etwas einfallen lassen, wie er Dieters Neugier befrieden konnte, ohne das Versprechen an Tom zu brechen.

Um etwas Zeit zu schinden, ging er erst einmal an die Kaffeemaschine, goss sich eine Tasse ein und hielt sie seinem Kollegen mit einem Grinsen hin.

»Oh je, so schlimm?«, fragte Dieter zurück und der gespannte Blick wich einem sorgenvollen.

Lasse schüttelte den Kopf und musste lachen. »Ach, Dieter, dir kann ich auch gar nichts vormachen, oder?«

Nun musste auch Dieter grinsen. »Nö! Aber den Kaffee nehme ich trotzdem gerne.« Sofort wurde er wieder ernst. »Nun sag schon, was ist passiert?«

Nachdem Lasse sich schweigend ebenfalls eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, setzte er sich gegenüber von Dieter an seinen eigenen Schreibtisch und beobachtete die Dampfwolken, die sich sanft emporkräuselten und im weichen Licht einen verspielten Tanz aufführten.

Dieter gab ihm Zeit, sich zu sortieren. Auch wenn Lasse erst vor knapp drei Jahren zurück in seine Heimatstadt Erfurt gekommen war, um dort als Hauptkommissar die Dienstgruppenleitung zu übernehmen, kannte Dieter seinen Chef schon ganz gut. Je mehr er ihn zu etwas drängte, desto verschlossener wurde er. Daher rührte er einfach in seiner Tasse herum und blickte anschließend wieder auf seinen Bildschirm. Sobald Lasse bereit wäre zu reden, würde er es tun. Dessen war er sich ganz sicher.

Es dauerte fast fünf Minuten, in denen Lasse unbeweglich dasaß und in seinen Kaffee stierte, bevor er zu sprechen begann. »Ich weiß nicht, was ich von der Geschichte halten soll, Dieter. Ich kann das alles nicht richtig einschätzen. Allerdings bat Tom mich, mit niemand anderem darüber zu reden. Kannst du daher bitte vergessen, dass ich die Nachricht vorgelesen habe?« Zerknirscht blickte er zu Dieter.

Dieser wunderte sich, bislang hatten sie über alles reden können. Aber er akzeptierte den Wunsch seines Chefs. »Na klar. Und solltest du später darüber reden wollen – du weißt, wo ich arbeite.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und wo ich wohne!«

»Danke, Dieter! Du bist halt doch der Beste!« Lasse grinste seinen Kollegen frech und gleichzeitig erleichtert an und die drückende Stimmung, die sich kurz im Raum breitgemacht hatte, war augenblicklich verflogen.

Während Lasse sich im Kommissariat der Recherche widmete, ging Tom schweren Herzens zurück in die Kaserne. Normalerweise war er voller Freude und Stolz über seine Arbeit bei der Bundeswehr. Heute war seine Stimmung jedoch stark getrübt. In seinem Kopf tobte ein Gedankenkarussell, das er nicht zu stoppen vermochte. Immer wieder fragte er sich, woher dieses ungute Gefühl kam. War Generalarzt Dr. Beckmus ermordet worden? Damit würde er allerdings die Glaubwürdigkeit von Generalstabsarzt Dr. Wallhorst anzweifeln. Und das wollte er sich nicht anmaßen.

Er stieß einen letzten verzweifelten Seufzer aus, schüttelte sich und betrat mit einem tiefen Atemzug das Gelände.

Wie in jeder Kaserne musste er beim wachhabenden Kameraden vorbei, der kontrollierte, dass kein Unbefugter das Areal betrat. Er kannte den alten Obermeyer, der dort schon etliche Jahre saß und auf seinen Ruhestand wartete. Meistens wechselte er mit ihm ein freundliches Wort, doch heute gab es nur ein Nicken. Auch Obermeyer verkniff sich jeglichen frechen Spruch, der sonst stets für gute Laune bei den Soldatinnen und Soldaten sorgte. Stattdessen blickte er mitfühlend zu Tom. Ein Blick, den er vermutlich jetzt häufiger bekommen würde. Viele hier wussten, dass er die rechte Hand von Generalarzt Dr. Beckmus gewesen war und dass sie ein fast schon freundschaftliches Verhältnis gepflegt hatten.

Mit jedem Schritt, mit dem sich Tom dem weißen kastenförmigen Gebäude näherte, in dem sich sein Büro befand, fiel es ihm schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als zöge ihn eine unsichtbare Kraft nach hinten. Aber es half nichts. Er musste dort hinein. Außerdem hatte er Lasse zugesagt, sich umzuschauen. Vielleicht entdeckte er bei Generalarzt Dr. Beckmus etwas, was einen Mord erklären könnte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die Worte seines Freundes dachte.

»… stocherst du vielleicht in ein Wespennest. Und zwar in eines, das schon für jemand anderen tödlich ausging.«

Ich werde aufpassen, versprach Tom im Geiste. Aber er wollte unbedingt herausfinden, was passiert war. Das schuldete er Generalarzt Dr. Beckmus.

Mit diesen Gedanken betrat er das Gebäude und ging zu seinem Büro. Als er die Bürotür öffnete, blieb er so abrupt stehen, als wäre er gegen eine imaginäre Wand gelaufen.

Vor den Blumensträußen auf dem kleinen Besprechungstisch stand eine zierliche Dame ganz in Schwarz gekleidet. Ihre braunen Haare, die von deutlich sichtbaren grauen Strähnen durchsetzt waren, waren zu einem Dutt hochgesteckt und mittels einer schwarzen Klammer zusammengehalten. An den Ohren baumelten zwei kleine Kugeln traurig hin und her.

Bei seinem Eintreten hob die Frau den Kopf und schaute in Richtung Tür. Zwei traurige Augen, in denen Tränen schimmerten, blickten Tom an. Es war Silvia Beckmus, die Ehefrau seines Chefs.

Tom eilte auf sie zu.

Silvia streckte ihm ihre Hände entgegen und Tom ergriff sie voller Traurigkeit.

»Frau Beckmus! Es tut mir so leid. Mein herzliches Beileid!«

Für einen kurzen Moment zögerte Silvia Beckmus, dann zog sie den jungen Assistenten ihres Mannes an sich heran. Sie war ihm ein paarmal begegnet und mochte den aufgeweckten und fröhlichen Oberstabsarzt. Auch ihr Mann hatte stets nur positiv von ihm gesprochen.

Trotz der Sorge, die zierliche Witwe in seinen Armen zu zerbrechen, drückte Tom sie fest an sich und spürte, wie Silvia Beckmus die Umarmung dankbar annahm.

Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, sprach Silvia Beckmus mit zittriger Stimme: »Auch Ihnen mein herzliches Beileid. Ich glaube, die letzten Jahre haben Sie fast mehr Zeit mit meinem Mann verbracht als ich. Es war für Sie sicher ebenfalls ein Schock.«

Tom nickte. Er spürte einen Kloß im Hals und musste die Tränen wegzwinkern. Nur mit Mühe gelang es ihm, ein Schluchzen zu unterdrücken.

»Wir werden ihn vermissen«, flüsterte Silvia Beckmus, während sie die Blütenblätter einer dunkelroten Rose durch die Finger gleiten ließ.

Erneut brachte Tom nur ein Nicken zustande. Hilflos stand er da und wusste nicht, was er tun sollte.

»Herzliches Beileid auch von mir!«, ertönte es plötzlich von links.

Erschrocken drehte er den Kopf und blickte zum Schreibtisch seines Chefs, der im hinteren Bereich des Büros stand. Sein Herz setzte einen Schlag aus, denn kurz dachte er, Generalarzt Dr. Beckmus säße wie gewohnt in seinem schon recht abgenutzten alten Ledersessel. Doch im Gegensatz zu seinem Chef, der im Alltag stets den grünen Feldanzug getragen hatte, trug der Mann am Schreibtisch einen formellen Dienstanzug. Aus einem hoch zugeknöpften Hemdkragen, ergänzt durch einen perfekt gebundenen Krawattenknoten, ragte ein kantiges Gesicht. Die graumelierten Haare waren auf akkurate Weise kurzgeschnitten und das Kinn glattrasiert. Ein leicht grauer Schatten lag auf dem sonnengebräunten Gesicht. Die Augen wirkten erschöpft. Es waren die Augen von Generalstabsarzt Dr. Albert Wallhorst.

Wortlos und irritiert starrte Tom ihn einen Moment lang an. Was machte der Generalstabsarzt hier? Er hatte ihn noch nie in Beckmus‘ Büro gesehen.

Silvia Beckmus, die Toms Verwirrung nicht zu bemerken schien, schaute zum Schreibtisch und lächelte müde, aber freundlich. Dann sagte sie: »Wie nett von Ihnen, Herr Generalstabsarzt Dr. Wallhorst. Oberstabsarzt Tom weiß das sicher zu schätzen.«

Tom musste schmunzeln. Mehrfach hatte der General seiner Frau erklärt, dass sie entweder Tom oder Oberstabsarzt Kruhse sagen musste. Doch sie ignorierte das konsequent. Er würde den General sehr vermissen.

Seit über einer Stunde durchwühlte Lasse das Netz und wünschte sich einmal mehr, er könnte sein Team einweihen. Wie sehr hätte er jetzt Dieters Einschätzungen und Ellens IT-Kenntnisse gebraucht. Alles, was er über Generalarzt Beckmus und Generalstabsarzt Wallhorst fand, waren Artikel über Einsätze in Krisengebieten, Hilfsaktionen bei Hochwasser und die Entwicklung der Bundeswehr. Auffallend war, dass Generalarzt Beckmus häufig in Zusammenhang mit sozialen Stiftungen und Projekten genannt wurde. So fand unter seiner Schirmherrschaft jährlich die Aktion »Gemeinsam stark« statt, bei der unterschiedliche Einrichtungen und Personen ausgewählt und mit Spendengeldern finanziert wurden.

Generalstabsarzt Wallhorst hingegen wurde eher im Zusammenhang mit beratenden Tätigkeiten in der Bundesregierung, aber auch bei Einsätzen in Mali und Afghanistan erwähnt. Zudem machte er sich seit Jahren für eine stärkere Modernisierung der Bundeswehr stark und forderte immer wieder modernere Waffen und bessere Ausrüstung, vor allem im Bereich der Medizin.

Beide gemeinsam wurden lediglich in einem einzigen Artikel genannt. Aber auch nur, weil sie gleichzeitig eine Auszeichnung für ihr besonderes Engagement erhalten hatten.

Nichts ließ darauf schließen, ob die beiden sich kannten, oder gar, ob sie befreundet oder verfeindet waren.

Verzweifelt fuhr sich Lasse mit kreisenden Bewegungen über den Kopf und brachte seine blonden Haare durcheinander. Dass er dabei von Dieter beobachtet wurde, bemerkte er nicht.

Sein älterer Kollege hatte bereits Minuten zuvor festgestellt, wie sein Chef mithilfe von Wischbewegungen auf dem Kopf seine Gedanken zu sortieren versuchte. Es war eine typische Bewegung von Lasse und normalweise unterbrach ihn Dieter dabei nie. Er wusste, wie verärgert Lasse werden konnte, wenn er beim Denken gestört wurde und damit womöglich eine gute Idee verlor. Heute jedoch war Dieter kurz davor, etwas zu sagen. Er hatte das Gefühl, seinen Chef von dem, was ihn quälte, erlösen zu müssen. War es immer noch die seltsame Geschichte von Tom, die Lasse beschäftigte? Dieter atmete tief ein und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch bevor der erste Ton über seine Lippen kam, entschied er sich dagegen. Als Ablenkung widmete er sich wieder seinem Computer und kümmerte sich um den Bericht des letzten Falles. Da fehlten noch ein paar Informationen in der digitalen Akte.

Lasse durchsuchte währenddessen weiterhin das Internet. Er erweiterte seine Nachforschungen auf Skandale bei der Bundeswehr, doch bei keinem tauchten der Name Beckmus oder Wallhorst auf. Auch über das Privatleben der beiden Herren waren keinerlei Informationen zu finden. Egal, wie er es drehte und wendete, er fand nichts, was als Mordmotiv an Beckmus hätte dienen können. Was also hatte es mit dem Tod des Generalarztes auf sich? Falls es etwas im Netz gab, war es gut versteckt. Er brauchte Ellen. Die verrückt fröhliche IT-Expertin fand alles, was jemals ins Internet eingegeben worden war. Er musste dringend mit Tom reden und ihn bitten, sein Team einbinden zu dürfen.

Sein Freund trug in dem Moment für Silvia Beckmus den Großteil der Blumensträuße und etliche Privatgegenstände ihres Ehemannes zu ihrem Auto. Darunter befanden sich zahlreiche Erinnerungsgegenstände von Auslandseinsätzen wie beispielsweise eine Totenmaske aus Mali oder eine goldene kleine Kaffeekanne aus dem Jemen. Aber auch zahlreiche Anstecknadeln und Ehrenabzeichen, die Generalarzt Dr. Beckmus in seiner Schublade aufbewahrt hatte. Und natürlich nahm Silvia Beckmus das Familienfoto mit, das auf dem Schreibtisch des Generals gestanden hatte. Darauf zu sehen war das Ehepaar Beckmus, zusammen mit den zwei Töchtern und zwei Söhnen sowie den sieben Enkelkindern. Das achte war bereits auf dem Weg und befand sich im Bauch der jüngsten Tochter. Generalarzt Dr. Beckmus hatte seine Großfamilie geliebt und mittlerweile am liebsten Zeit mit ihnen verbracht. Tom wusste, dass er es manchmal bereut hatte, seine Kinder, als sie noch klein waren, so selten gesehen und somit Teile ihres Heranwachsens verpasst zu haben. Er war beruflich viel unterwegs gewesen und hatte mehr Zeit im Ausland als in Erfurt verbracht. In den letzten Jahren hatte er viel nachzuholen versucht. Vor allem über die Zeit, die er mit seinen Enkeln verbrachte, war er regelmäßig ins Schwärmen geraten.

Tom hatte Silvias gebrochenen Blick gesehen, als sie das Foto in dem von Kindern und Enkelkindern bunt bemalten Rahmen betrachtet hatte. Ihnen allen stand eine schwere Zeit bevor. Sicherlich hatte keiner von ihnen damit gerechnet, so plötzlich Ehemann, Vater und Großvater zu verlieren. Doch er war sich sicher, dass es in dieser Familie genug Liebe gab, um sich gegenseitig in der Trauer zu unterstützen und aufzufangen.

Das wäre in meiner Familie anders, dachte Tom bei sich, und der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Er war Einzelkind und seine Eltern hatten sich mehr mit ihren Karrieren beschäftigt, anstatt sich um Tom zu kümmern. Daher hatte er als Kind auch so gerne Zeit mit Lasse und dessen Familie verbracht. Vor allem Lasses Mutter Monika war eine bezaubernde Frau und voller Herzenswärme. Sie hatte den kleinen Tom genauso fürsorglich behandelt wie ihre eigenen beiden Söhne, und so wurde Lasse wie ein Bruder, den er nie gehabt hatte. Ein Bruder, dem man bedingungslos vertrauen konnte. Und genau aus diesem Grund hatte er ihm von seinem unguten Bauchgefühl erzählt.

Noch bevor Oberstabsarzt Tom Kruhse und die Witwe mit dem Einpacken privater Gegenstände fertig waren, hatte sich Generalstabsarzt Wallhorst aus dem Staub gemacht.

»Wenn etwas ist, melden Sie sich gerne bei mir«, hatte er Silvia Beckmus angeboten und anschließend das Büro verlassen. Nun schritt er den langen Korridor entlang. Er musste zweimal das Stockwerk wechseln und einmal nach links abbiegen, um zu seinem Büro zu gelangen. Es war das komplette Gegenteil zu dem von Generalarzt Beckmus. Bei ihm waren die Wände zugepflastert mit Auszeichnungen, Urkunden und Würdigungen. Dazwischen hingen Fotos, die ihn mit zahlreichen Staatsoberhäuptern zeigten. Das gesamte Büro war ein Ausdruck seiner großartigen Karriere und stellte ihn in den Mittelpunkt. Er kam von ganz unten und hatte sich diesen Erfolg hart erarbeitet. Sein Vater war Angestellter bei der Stadtreinigung, seine Mutter Hausfrau. Er hatte drei Geschwister, und allesamt waren sie in armen Verhältnissen aufgewachsen. Der Vater war regelmäßig betrunken und bei seiner Mutter hatte er den Verdacht, dass sie sich nebenbei noch anderen Männern hingab. Es hatte keinerlei Struktur in seinem und dem Leben seiner Geschwister gegeben. Ganz oft waren sie auf sich allein gestellt gewesen. Seine beiden Brüder kompensierten das mit Gewalt und waren früher regelmäßig in Prügeleien verwickelt worden. Seine Schwester war die meiste Zeit mit Freundinnen unterwegs gewesen und teilweise tagelang nicht aufgetaucht – was in der Familie jedoch niemanden gestört hatte.

Er, als jüngster Spross, hatte die Flucht in Büchern gesucht, was ihm in der Familie immer wieder Hohn und Spott eingebracht hatte. Doch sie schenkten ihm einen Ausweg aus der Realität und verhinderten, dass er ebenfalls sozial abrutschte. Von klein auf wusste er, dass er ein Leben, wie es seine Eltern führten, niemals haben wollte. Er fühlte sich dazu berufen, etwas Größeres zu werden, und so hatte er sich schon zu Schulzeiten ins Zeug gelegt. Dank seiner eisernen Disziplin, gepaart mit guten Aussehen und seiner charmanten Art, schaffte er es aufs Gymnasium, wo er mit einem Schnitt von zwei Komma neun sein Abitur machte. Anschließend wollte er studieren, wusste aber nicht so recht was. Die Einberufung zur Bundeswehr war für ihn ein Glücksfall. In den hierarchischen Strukturen hatte er sich sofort wohlgefühlt und es verstanden, sich unterzuordnen. Aber auch Regeln für sich zu nutzen. Die Möglichkeiten, die sich ihm dort boten, waren umfangreich, und so hatte er sich bereits nach kurzer Zeit für den dauerhaften Dienst an der Waffe verpflichten lassen. In der Grundausbildung lernte er dann Generalarzt Gipfel kennen, der ihn so stark inspirierte, dass er beschloss, Medizin zu studieren.

Es war ein langer und schwerer Weg gewesen, doch er war ihn mit zäher Ausdauer gegangen und schaffte es schließlich bis zum Generalstabsarzt. Ein Titel, auf den er jeden Tag aufs Neue stolz war. Geheiratet hatte er nie, denn an erster, zweiter und mindestens dritter Stelle standen für ihn sein Beruf und seine Karriere. Natürlich führte er die ein oder andere Beziehung, aber sie hielten nie besonders lange, denn es mangelte ihm an einer entscheidenden Eigenschaft. Er war kein Mensch, der lieben konnte. Die Gefühle seiner Kindheit und Jugend waren geprägt von Wut und Enttäuschung. Die Enttäuschung hatte er mittlerweile abgelegt, doch die Wut tief in ihm war er nie losgeworden. Immerhin hatte er über all die Jahre gelernt, dass er mit Freundlichkeit, Charme und Eloquenz deutlich weiter kam. Es entsprach zwar nicht seiner wahren Natur, doch auf diese Weise hatte er sich Macht und Einfluss erarbeitet. Und das war für ihn das Einzige, was zählte.

Doch nun beschlich ihn ein bitteres Gefühl, dass diese Macht ins Schwanken geraten könnte, was er unter allen Umständen vermeiden musste. Hastig schritt er zu seinem Schreibtisch, ließ sich nieder, griff zum Telefon und rief seinen Assistenten zu sich.

Keine fünf Minuten später erschien ein schmaler, hochgewachsener Mann Anfang dreißig. Sein Gesicht war glattrasiert und auch er hatte die bundeswehrübliche Kurzhaarfrisur. Die grauen Augen waren leicht zusammengekniffen, was dem Gesicht einen verschlossenen Ausdruck verlieh. Wie nahezu alle in dem Gebäude trug er Uniform. In seinem Fall war es der camouflagefarbene Feldanzug für den Alltag. Es war Oberleutnant Denker, seit fünf Jahren der persönliche Assistent von Generalstabsarzt Wallhorst. Denker war unglaublich stolz gewesen, als er erfahren hatte, dass er die rechte Hand des Generals werden sollte. Die beiden Männer verband eine ähnliche Herkunft. Auch Denker war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hatte, genau wie Wallhorst, beschlossen, aus diesem Leben auszusteigen und sich etwas Besseres aufzubauen. Allerdings wollte er, im Gegensatz zu seinem Chef, nicht in der ersten Reihe stehen. Ihm behagte es mehr, unauffällig im Hintergrund zu arbeiten. Eine Eigenschaft, die ihm bei Wallhorst zahlreiche Pluspunkte einbrachte, da dieser ungern jemanden unter sich hatte, der mit ihm zu konkurrieren versuchte.

Mit Block und Stift in der Hand betrat Denker zurückhaltend diskret Wallhorsts Büro.

»Oberleutnant Denker!«, schallte ihm als Begrüßung entgegen.

Der Angesprochene nahm Haltung an, um militärisch zu grüßen. Egal, wie oft sie sich am Tag bereits gesehen hatten, dies war seine Pflicht. Und sein Chef bestand darauf.

Die meisten Generäle wollten nur beim ersten Treffen am Tag gegrüßt werden. Schließlich mussten sie zurückgrüßen und das konnte auf die Dauer anstrengend werden. Aber Generalstabsarzt Wallhorst war diese Respektbekundung wichtig, und so würde Oberleutnant Denker einen Teufel tun und den Salut vergessen oder gar verweigern.

Ohne seinem Assistenten einen Sitzplatz anzubieten, begann Generalstabsarzt Wallhorst das Gespräch.

»Wie Sie ja sicherlich mitbekommen haben, ist unser geschätzter Kamerad Generalarzt Dr. Beckmus letzte Woche tragischerweise an einem Herzinfarkt verstorben. Es war ein schwerer Schlag für mich, da ich ihn schon seit der Grundausbildung kannte und sich unsere Wege immer wieder gekreuzt haben. Leider ist mir kurz vor seinem Tod etwas zu Ohren gekommen, das mir nicht gefällt und weswegen ich nun etwas besorgt bin.«

Da Denker von der Verbindung der beiden Generäle nie etwas mitbekommen hatte, wunderte er sich über diese Aussage, ließ sich jedoch nichts anmerken.

Wallhorst fuhr fort: »Es gibt Gerüchte, laut denen Generalarzt Dr. Beckmus nicht immer ganz … sagen wir mal … korrekt gehandelt haben soll. Finden Sie heraus, was an den Gerüchten dran ist. Und haben sie dabei auch seinen Assistenten im Blick. Diesem Oberstabsarzt Kruhse traue ich keinen Zentimeter über den Weg.«

Es war nicht das erste Mal, dass Oberleutnant Denker einen eher außergewöhnlichen Auftrag erhielt. In der Regel nahm er diese reaktionslos entgegen. Diesmal fiel es ihm jedoch schwer, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Er wusste, dass das, was er jetzt tat, nicht clever war, doch er konnte nicht anders. Er begann einen Satz mit dem Wort »Aber«.

»Aber, Herr Generalstabsarzt, wie soll ich das denn machen?« Die Ungläubigkeit zog sich von seinem Gesicht bis hin zu seiner Stimmlage.

Hatte er aufgrund seiner Gegenfrage mit einer harschen Zurechtweisung gerechnet, passierte nun etwas vollkommen Unerwartetes. Wallhorst faltete die Hände wie zum Gebet und betrachtetet sie einen Moment, bevor er mit geduldiger Stimme und einem angedeuteten Lächeln auf dem Gesicht antwortete: »Oberleutnant Denker, als Soldat sind Sie dazu erzogen worden, Lösungen zu finden. Ihnen wird ganz sicher etwas einfallen. Ich freue mich jetzt schon auf Ihren Bericht. Und Oberleutnant Denker, seien Sie sich gewiss, es wird sich für Sie auszahlen.«

Verunsichert blickte Denker seinen Chef an. So freundlich hatte er ihn noch nie erlebt. Setzte ihm tatsächlich der Tod seines langjährigen Kollegen so zu oder steckte etwas anderes dahinter?

Ihm blieb keine Möglichkeit, dies herauszufinden, denn bevor er den Mund aufmachen konnte, wedelte Generalstabsarzt Wallhorst mit der Hand und bedeutete ihm unmissverständlich, den Raum zu verlassen. Denker salutierte kurz, und bereits beim Verlassen des Büros begann es in seinem Kopf zu rattern. Was würde er über Beckmus herausfinden?

Tom war in der Zwischenzeit in sein Büro zurückgekehrt. Wie üblich stand die Verbindungstür zu Beckmus‘ Büro offen. Es fühlte sich komisch an. Die meisten Blumensträuße waren mittlerweile weggeräumt und es wirkte fast wieder normal. Doch Tom wusste, dass nichts mehr normal war. Der Anblick des leeren Büros seines Chefs stimmte ihn traurig. An den Stellen, an denen bis vorhin noch die Bilder gehangen hatten, waren die Grauschattierungen an den Wänden erkennbar. Der Schreibtisch, auf den er freie Sicht hatte, wirkte einsam und trostlos. Jegliches Leben war aus dem Zimmer seines Chefs gewichen.

Für einen kurzen Moment setzte sich Tom hinter seinen eigenen Schreibtisch, doch lange hielt er es dort nicht aus. Die Unruhe und vor allem die Ungewissheit quälten ihn. Er musste herausfinden, was mit seinem Chef geschehen war. Leise stand er auf und schlich ins Nachbarbüro. Er hatte bereits den halben Raum durchquert, als ihm bewusst wurde, was er da tat. Sowohl seine als auch Beckmus‘ Tür zum Gang waren geschlossen und er war ganz alleine im Büro. Dennoch schlich er auf Zehenspitzen und versuchte, keinen Mucks zu machen. Er hielt kurz inne und schüttelte über sich selbst den Kopf, schließlich war es nicht unüblich, dass er sich in diesem Büro aufhielt. Wieder in normaler Lautstärke steuerte er den Aktenschrank an, um dort mit seiner Suche zu beginnen. Er wusste, dass Generalarzt Beckmus in diesem Schrank sämtliche wichtigen Unterlagen verwahrt hatte, weshalb er stets abgeschlossen war. Allerdings kannte Tom das Versteck des kleinen silbernen Schlüssels. Der Generalarzt bewahrte ihn direkt unter dem Schrank auf der linken Seite auf. Das wusste Tom nicht etwa, weil er seinen Chef dabei beobachtet hatte, sondern weil ihm dieser das selbst erzählt hatte.

Nach einem letzten sich vergewissernden Blick, dass die Tür zum Gang zu war, schloss Tom den Schrank auf. Der etwa ein Meter achtzig hohe und sechzig Zentimeter breite Metallschrank war von oben bis unten mit Akten gefüllt. Tom seufzte enttäuscht. Aber was hatte er erwartet? Dass obenauf ein Schriftstück lag, in dem jemand gestand, dass er Beckmus ermordet hatte?

Leicht frustriert zog er die oberste Mappe heraus und blätterte darin herum. Überrascht stellte er fest, dass es sich um Gesundheitsakten handelte. Im ersten Moment wunderte er sich, dass Beckmus diese besaß. Normalerweise befanden sich solche Akten ausschließlich im Sanitätsversorgungszentrum und sind dort nur vom zuständigen Personal einsehbar. Aber dann erinnerte Tom sich dunkel daran, dass eine Qualitätskontrolle der Gesundheitsakten stattgefunden hatte, bei der Akten aus den unterschiedlichsten Abteilungen stichprobenartig geprüft worden waren. Und offensichtlich war sein Chef Teil dieses Kontroll-Teams gewesen. Aber warum hatte Beckmus die immer noch? Die Kontrolle lag schon fast ein halbes Jahr zurück. Die Akten hätten längst wieder zurückgegeben werden müssen.

Neugierig las er den Inhalt. Es war die einer gewissen Linda Trauter. Sie war vor zehn Jahren der Bundeswehr beigetreten und hatte Karriere im Sanitätsdienst gemacht. Vor zwei Jahren war ihr nach erfolgreicher Promotion der Doktortitel verliehen worden und nun arbeitete sie als Intensivärztin am Hamburger Bundeswehrkrankenhaus.

Obwohl Tom sich alles genau durchlas, konnte er keinen Grund erkennen, warum Beckmus diese Akte noch immer besaß. Er legte sie beiseite und blätterte die nächste durch. Andere Frau, ähnlicher Werdegang. Der Bundeswehr beigetreten und anschließend eine beachtliche Karriere hingelegt. War sein Chef auf der Suche nach Talenten gewesen? Etwa nach Kameraden oder Kameradinnen, die in Hamburg an der Führungsakademie zum General ausgebildet werden sollten?

Die Person aus der dritten Akte kannte Tom. Es war Maja Liebknecht, eine sehr erfolgreiche Soldatin, die drei Büros weiter ein Team der Sanitätsunterstützungsdienste leitete. Sie war vom Typ her eher ruhigerer, und man konnte gute Gespräche mit ihr führen. Tom mochte sie und hatte schon öfter mit ihr zu Mittag gegessen. Konnte er sie unauffällig fragen, warum ihre Akte bei Generalarzt Dr. Beckmus lag? Wieder schossen ihm Lasses warnende Worte in den Kopf. Er musste verdammt vorsichtig sein. Keiner durfte bemerken, dass er hier herumschnüffelte.