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Vampirjägerin Elena Deveraux und ihr Geliebter, der ebenso attraktive wie tödliche Erzengel Raphael, sehen sich - kaum nach New York zurückgekehrt - einer neuen Bedrohung gegenüber. Ein Vampir hat eine Mädchenschule überfallen und ein Blutbad angerichtet. Aber das ist erst der Anfang. Immer mehr Vampire werden von einem unkontrollierbaren Blutdurst erfasst. Und dann scheint der Wahnsinn auch auf Raphael überzuspringen. Die Zeichen sind eindeutig: Eine uralte, bösartige Macht aus Raphaels Vergangenheit ist zurückgekehrt. Kann Elena ihren Geliebten retten?
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Seitenzahl: 551
Titel
Widmung
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Epilog
Impressum
Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von Cornelia Röser
Für alle, die einmal vom Fliegen geträumt haben,
und für alle, die mit mir geflogen sind.
1
Eingehüllt in die seidigen Schatten der Nacht, war New York unverändert – und zugleich nicht mehr wiederzuerkennen. Früher hatte Elena vom Fenster ihrer hübschen kleinen Wohnung aus zugesehen, wie die Engel in der Ferne von dem lichtdurchfluteten schlanken Turm abflogen. Jetzt war sie selbst einer dieser Engel und stand hoch oben auf einem Balkon, der kein Geländer hatte, nichts, was sie vor einem tödlichen Sturz bewahren würde.
Doch jetzt würde sie natürlich nicht mehr fallen.
Denn ihre Flügel waren jetzt stärker. Sie war stärker.
Diese Flügel breitete sie nun aus und atmete tief die Luft ihrer Heimat ein. Eine Mischung von Gerüchen – nach Gewürzen und Rauch, menschlich und vampirisch, erdig und raffiniert – brach mit dem wilden Fieber eines Gewitters über sie herein und hieß sie willkommen. Ihre Brust, die so lange wie zugeschnürt gewesen war, weitete sich, und sie breitete die Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus. Es war an der Zeit, ihn zu erkunden, diesen vertrauten Ort, der wieder fremd geworden, ihr Zuhause, das plötzlich wieder ganz neu war.
Sie stürzte sich von dem Balkon hinab und rauschte auf Luftströmen über Manhattan, die den kühlen Hauch des Frühlings mit sich trugen. Die helle, grüne Jahreszeit hielt nun Hof, hatte den Schnee schmelzen lassen, der die Stadt den Winter über fest im Griff gehabt hatte. Der Sommer war noch nicht einmal als pfirsichfarbenes Erröten am Horizont zu erkennen. Es war die Zeit der Wiedergeburt, des Blühens, der Vogelkinder – strahlend und jung und zerbrechlich, selbst in der wilden Hektik einer Stadt, die niemals schlief.
Zu Hause. Ich bin zu Hause.
Während sie sich von den Luftströmungen ziellos über die diamantenen Lichter der Stadt treiben ließ, probierte sie ihre Kräfte aus.
Stärker.
Aber immer noch schwach. Eine Unsterbliche, die gerade erst erschaffen worden war.
Eine, deren Herz auf schmerzhafte Weise sterblich geblieben war.
Daher war sie nicht überrascht, als sie vergeblich versuchte, vor den großen Spiegelglasfenstern ihrer Wohnung zu schweben. Sie hatte dieses Manöver noch nicht gelernt, und so sackte sie immer wieder ab und musste sich mit schnellen Flügelschlägen wieder nach oben kämpfen. Doch in den wenigen Augenblicken, in denen sie sich halten konnte, hatte sie erkannt, dass die einst zersplitterte Fensterscheibe zwar makellos repariert worden war, die Zimmer jedoch leer waren.
NichteinmaleinBlutfleckaufdemTeppichmarkiertedieStelle,andersieRaphaelsBlutvergossenhatte,andersieversuchthatte,diekarmesinrotenStrömeaufzuhalten,bisihreHändedenselbenmörderischenFarbtonangenommenhatten.
Elena.
Derfrische,wildeGeruchvonWindundRegenumhülltesieunderfülltesieganz.DannlegtensichstarkeHändeumihreHüften,undRaphaelhobsiemühelosindierichtigePosition,damitsieruhigindieWohnunghineinsehenkonnte.SiehattesichmitdenflachausgestrecktenHändenandieFensterscheibegelehnt.
Leere.
Nichts war mehr übrig geblieben von dem kostbaren Heim, das sie sich Stück für Stück geschaffen hatte.
»Du musst mir beibringen, wie man schwebt«, zwang sie sich zu sagen, obwohl ihr der Verlust wie ein Kloß in der Kehle saß. Es waren nur ein Ort und nur Gegenstände. »Es ist eine hervorragende Methode, um mögliche Ziele auszuspähen.«
»Ich habe vor, dir eine Menge Dinge beizubringen.« Der Erzengel von New York zog sie näher an sich heran, sodass ihre Flügel zwischen ihnen gefangen waren, und drückte die Lippen auf ihr Ohrläppchen. »Du bist voller Kummer.«
Der Instinkt riet ihr zu lügen, um sich zu schützen. Doch darüber waren sie hinaus, sie und ihr Erzengel. »Wahrscheinlich habe ich irgendwie erwartet, dass meine Wohnung noch da wäre. Sara hat mir nichts davon gesagt, als sie mir meine Sachen schickte.« Und ihre beste Freundin hatte sie noch nie angelogen.
»Bei Saras Besuch war auch alles noch so, wie du es verlassen hattest«, sagte Raphael und zog sich so weit zurück, dass sie ihre Flügel ausbreiten und ihren Körper wieder im Luftstrom ausrichten konnte. Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.
Die Worte waren in ihrem Kopf, ebenso wie der Wind und der Regen. Sie forderte ihn nicht auf, aus ihrem Geist zu verschwinden, denn sie wusste, dass er sich nicht dort befand. Diese Art, wie sie ihn so tief in sich spüren konnte, die Leichtigkeit, mit der sie mit ihm sprechen konnte, waren Teil dieses unbeschreiblichen Etwas, das sie miteinander verband … dieses spannende, verworrene Gefühl, das alte Narben verschwinden ließ und neue Verletzlichkeiten schuf, wenn es feurig über ihre Seele peitschte.
Doch als sie ihn durch das satte Schwarz des Himmels über der glitzernden Stadt fliegen sah, ihren Erzengel mit seinen weißgoldenen Flügeln und seinen Augen aus unerbittlich tiefem Blau, tat es ihr nicht leid. Sie wollte die Uhr nicht zurückdrehen, wollte nicht zurück in ein Leben, in dem sie nie in den Armen eines Erzengels gelegen hatte, niemals gefühlt hatte, wie ihr Herz zerrissen und zu etwas Stärkerem zusammengesetzt worden war – etwas, das zu solch rasenden Emotionen fähig war, dass es ihr manchmal Angst einflößte. Wohin bringst du mich, Erzengel?
Geduld, Gildenjägerin.
Sie lächelte. Die Trauer über den Verlust ihrer Wohnung wurde von einer Welle der Belustigung hinweggespült. Sooft er auch verfügt hatte, dass ihre Loyalität nun den Engeln und nicht mehr der Gilde der Jäger galt, konnte er doch nicht verhehlen, was er in ihr sah: eine Jägerin, eine Kriegerin. Sie stürzte sich in die Tiefe unter ihm, um sich dann mit harten, starken Flügelschlägen durch die beißende Frische der Luft emporzuschwingen. Ihr Rücken und die Muskulatur ihrer Schultern protestierten gegen diese Akrobatik, doch es machte viel zu viel Spaß, als dass sie sich darum gekümmert hätte. In ein paar Stunden würde sie mit Sicherheit dafür bezahlen, aber jetzt fühlte sie sich frei und geschützt in der Dunkelheit.
»Glaubst du, dass uns jemand zusieht?«, fragte sie außer Atem vor Anstrengung, als sie wieder auf gleicher Höhe waren.
»Vielleicht. Aber die Dunkelheit wird deine Identität vorerst verbergen.«
Morgen bei Tagesanbruch, das wusste sie, würde der Zirkus losgehen. Ein erschaffener Engel … Selbst für die Ältesten unter den Vampiren und Engeln war sie ein Kuriosum. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die menschliche Bevölkerung reagieren würde. »Kannst du nicht deine Gruselnummer abziehen, um sie auf Abstand zu halten?« Doch schon während sie das sagte, wusste sie, dass es nicht die Reaktionen der Allgemeinheit waren, die ihr Sorgen bereiteten.
Ihr Vater … Nein. Sie würde nicht über Jeffrey nachdenken. Nicht heute Nacht.
Gerade schob sie die Gedanken an den Mann, der sie verstoßen hatte, als sie kaum achtzehn gewesen war, gewaltsam beiseite, da flog Raphael in einem Bogen über den Hudson und stieß so schnell und unvermittelt in die Tiefe, dass sie kurz aufschrie, bevor sie es schaffte, sich wieder zu beruhigen. Der Erzengel von New York war ein teuflisch guter Flieger – er glitt so dicht über das Wasser, dass er mit den Fingern durch die tosende Kälte hätte streifen können, bevor er wieder steil hochstieg. Angeberei.
Für sie.
Ihr wurde leicht ums Herz, ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Während sie sich ein Stück tiefer sinken ließ, um gemeinsam mit ihm in geringerer Höhe weiterzufliegen, beobachtete sie, wie der Nachtwind ihm das glatte, ebenholzfarbene Haar ins Gesicht wehte, als könne er der Versuchung, ihn zu berühren, nicht widerstehen.
Das würde nichts bringen.
»Was?« Fasziniert von der fast grausamen Schönheit dieses Mannes, den sie ihren Geliebten zu nennen wagte, hatte sie ganz vergessen, was sie ihn gefragt hatte.
Dass ich ihnen Angst einjage und sie verscheuche – du bist keine Frau, die zurückgezogen leben kann.
»Leider. Da hast du recht.« Sie wand sich unter dem beunruhigenden Ziehen ihrer Schultermuskeln. »Ich glaube, ich muss gleich landen.« Ihr Körper war im Kampf gegen Lijuan verwundet worden, in einer Schlacht, die Peking in einen Krater verwandelt hatte und deren Stimme der stumme Schrei des Todes war. Ihre Verletzungen waren inzwischen verheilt, aber durch die erzwungene Ruhepause hatte sie einen Teil der Muskeln, die sie vor der Schlacht aufgebaut hatte, wieder verloren.
Wir sind fast zu Hause.
Sie konzentrierte sich darauf, geradeaus zu fliegen, und bemerkte, dass er seine Haltung verändert hatte, damit sie in seinem Windschatten fliegen konnte. So musste sie nicht mehr so viel Kraft aufwenden, um sich in der Luft zu halten. Ihr Stolz ließ sie die Brauen zu einem finsteren Blick zusammenziehen, doch zugleich fühlte sie diese tiefe Wärme, die aus dem Wissen entsprang, dass sie Raphael wichtig war, sehr wichtig.
UnddannerblicktesiedasausgedehnteAnwesen,RaphaelsHausaufderFelsenklippeamanderenUferdesFlusses.ObwohlsichdasLandbiszumHudsonhinzog,warderOrtdurcheinedichteBaumreihevorzufälligenBlickengeschützt.Jetztjedochkamensievonoben,undvondortsahdasHausindersamtenenDunkelheitwieeinJuwelaus,denninjedemFensterstrahltewarmes,goldenesLicht–unddort,woesaufdieklarenLiniendesBuntglasesaufdereinenSeitedesHausestraf,verwandelteessichinpulsierendeFarben.DieRosensträucherwarenausdiesemBlickwinkelnichtzusehen,dochsiewusste,dasssiedawaren,mitihrenprächtigenBlättern,diesichglänzendvordemelegantenWeißdesHausesabzeichneten,undmitHundertenvonKnospen,dienurdaraufwarteten,inverschwenderischerFarbenprachtzuerblühen,sobalddasWetterwärmerwurde.
Sie folgte Raphael, als dieser im Hof landete. Das Licht aus den Buntglasfenstern ließ seine Flügel wie ein Kaleidoskop aus stürmischem Blau, kristallklarem Grün und Rubinrot erscheinen. Du hättest auf einem der Balkone landen können, sagte sie, zu sehr auf eine gute Landung konzentriert, um die Worte laut auszusprechen.
Raphael widersprach nicht und wartete, bis sie neben ihm auf der Erde gelandet war, bevor er sagte: »Hätte ich.« Als sie ihre Flügel zusammenlegte, streckte er die Hand nach ihr aus und legte sie sanft um die Rundung, in der ihr Hals in ihre Schultern überging, dabei drückte er gegen den empfindsamen inneren Rand ihres rechten Flügels. »Aber dann wären deine Lippen den meinen nicht so nah.«
Sie wurde rot, als er sie an sich zog, und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. »Nicht hier«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Ich will Jeeves keinen Schrecken einjagen.«
Raphael küsste ihr die Worte mit einer bedächtigen Gründlichkeit von den Lippen, die sie den Butler ganz und gar vergessen ließ und ihren Körper mit einem flauen, köstlichen Gefühl der Vorfreude erfüllte. Raphael.
Du zitterst, Elena. Du bist müde.
Für deine Berührungen bin ich niemals zu müde. Es erfüllte sie mit Furcht, wie abhängig sie von ihm geworden war. Erträglich wurde es allein dadurch, dass auch sein Verlangen nach ihr eine wilde, fast grausame Begierde war.
Der Anflug eines Sturmes streifte ihre Sinne, bevor er sich mit einem heißen, erotischen Versprechen zurückzog. Später. Ein langsamer, inniger Strich über die obere Wölbung ihres Flügels. Dafür möchte ich mir viel Zeit nehmen. Seine Lippen öffneten sich, und die gesprochenen Worte waren weit weniger aufreizend. »Es wird Montgomery gefallen, dass du seine Herrin wirst, Elena.«
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, versuchte zu atmen – und hörte ihren Herzschlag rasend gegen ihre Rippen trommeln. Oh ja, der Erzengel verstand sich auf das Küssen. »Warum?«, brachte sie endlich hervor, als sie ihn auf dem Weg zur Tür eingeholt hatte.
»Die Chancen stehen gut, dass du dich regelmäßig schmutzig machen und deine Kleider ruinieren wirst.« Raphaels Humor war trocken, seine Stimme eine köstliche Zärtlichkeit in der Nacht. »Aus dem gleichen Grund mag er es, wenn Illium manchmal hier ist. Mit euch beiden hat er eine Menge zu tun.«
Sie schnitt ihm eine Grimasse, doch ihre Mundwinkel zeigten nach oben. »Wird Illium auch kommen?« Der blau geflügelte Engel war einer von Raphaels Sieben, jener Truppe aus Vampiren und Engeln, die dem Erzengel von New York treu ergeben waren – so ergeben, dass sie ihr Leben für ihn opfern würden. Illium war der Einzige von ihnen, der Elenas menschliches Herz nicht als Schwäche, sondern als Gabe betrachtete. Und sie sah in ihm eine Art von Unschuld, die den anderen Unsterblichen abhandengekommen war.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und gab den Blick auf das strahlende Gesicht von Raphaels Butler frei. »Sire«, sagte er mit vornehmem britischen Akzent, der, davon war Elena überzeugt, auf Kommando kalt und furchteinflößend werden konnte. »Schön, dass Sie zu Hause sind.«
Elena lächelte den Butler an und war wieder einmal völlig von ihm bezaubert. »Hallo.«
»Herrin.«
Sie blinzelte. »Elena«, sagte sie bestimmt. »Ich bin niemandes Herrin, nur meine eigene.« Und dann war da noch die Tatsache, dass Montgomery, auch wenn er sich entschieden hatte, in die Dienste eines Erzengels zu treten, ein starker, jahrhundertealter Vampir war.
Der Butler wurde steif vor innerer Ablehnung und suchte ratlos Raphaels Blick – der ihm ein mattes Lächeln schenkte. »Du darfst Montgomery nicht so erschrecken, Elena.« Er nahm sie bei der Hand und zog sie zu sich heran. »Vielleicht erlaubst du ihm, dich Gildenjägerin zu nennen?«
Elena sah auf, überzeugt davon, den Erzengel lachen zu sehen. Doch sein Gesichtsausdruck war ernst, und auf seinen Lippen lag nichts als die vertraute, sinnliche Anmut. »Ähm, ja, einverstanden.« Sie nickte Montgomery zu und fühlte sich genötigt zu fragen: »Ist das in Ordnung?«
»Selbstverständlich, Gildenjägerin.« Er machte eine kleine Verbeugung. »Ich war nicht sicher, ob Sie etwas essen möchten, Sire, aber ich habe eine Kleinigkeit auf Ihre Zimmer bringen lassen.«
»Das wäre dann alles für heute Abend, Montgomery.«
Während sich der Butler lautlos zurückzog, betrachtete Elena in der Eingangshalle mit wachsender Verwunderung eine große chinesische Vase, die gegenüber dem Buntglasfenster in einer Ecke neben der Tür stand. Sie war mit einem Sonnenblumenmuster verziert, das ihr seltsam vertraut vorkam. Sie ließ Raphaels Hand los und trat näher … und näher. Ihre Augen weiteten sich. »Das ist meine!« Sie hatte sie in China als Geschenk von einem Engel erhalten, nachdem sie eine besonders schwere Jagd erfolgreich beendet hatte – eine Jagd, die sie in das tiefste Innere der Unterwelt von Shanghai geführt hatte.
Raphael legte ihr die Hand auf den Rücken, eine brennende Berührung, die sie zu versengen drohte. »All deine Sachen sind hier.« Er wartete, bis sie ihn anschaute, bevor er sagte: »Sie wurden in dieses Haus gebracht, damit sie bis zu deiner Rückkehr in Sicherheit waren.«
»Allerdings«,fuhrerfort,alssienichtsdarauferwiderte,weilsieeinenKloßimHalshatte,»siehtessoaus,alshättesichMontgomerybeidieserVasenichtbeherrschenkönnen.Ichfürchte,erhateineSchwächefürschöneDingeundhatschonöfterGegenständeumgeräumt,wennerderAnsichtwar,dassihnennichtdieangemesseneAufmerksamkeitzukam.EinmalhatereineantikeStatueausdemHauseinesanderenErzengels›umgeräumt‹.«
Elena starrte in den Korridor, in dem der Butler mit kultivierter Geräuschlosigkeit verschwunden war. »Das glaube ich dir nicht. Dazu ist er viel zu korrekt.« Es war einfacher, so etwas zu sagen, sich auf einen Scherz zu konzentrieren, als sich auf diese Enge in ihrer Brust und die Gefühle, die ihr die Kehle zuschnürten, einzulassen.
»Du würdest dich wundern …« Er legte ihr wieder die Hand auf den Rücken und geleitete sie durch die Eingangshalle und dann die Treppen hinauf. »Komm mit, du kannst dir deine Habseligkeiten auch morgen noch ansehen.«
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen. »Nein.«
Raphael betrachtete ihren Gesichtsausdruck aus Augen, wie sie kein Sterblicher jemals besitzen würde, eine sichtbare Erinnerung daran, dass er niemals ein Mensch gewesen war, niemals auch nur annähernd sterblich sein würde. »Diese Willenskraft.« Er führte sie zu einem Zimmer, das von ihrem Hauptschlafzimmer abging, und öffnete die Tür.
Alles aus ihrer Wohnung war ordentlich aufgestapelt, die Möbelstücke mit Schonbezügen versehen, die Kleinigkeiten in Schachteln verstaut.
WieerstarrtbliebsieinderTürstehenundwusstenicht,wassieempfindensollte–Erleichterung,ÄrgerundFreuderangeninihrmiteinander.Siehattegewusst,dasssieniemehrinihreWohnungzurückkehrenkonnte,dieihreinsichererHafengewesenwar,mehrnoch:einegrimmigeFestunggegendenVater,dersieverstoßenhatte.IhrHeimwarnichtfüreingeflügeltesWesengeeignet,dochseinVerlusttatweh.Furchtbarweh.
Und nun … »Warum ist alles hier?«
Er legte die Hand um ihren Nacken, ohne auch nur zu versuchen, den Ausdruck von Besitz in dieser Geste zu verbergen. »Du gehörst mir, Elena. Wenn du beschließt, in einem anderen Bett zu schlafen, werde ich dich einfach abholen und wieder nach Hause bringen.«
Hochmütige Worte. Aber er war ein Erzengel. Und sie selbst hatte ebenfalls ihre Ansprüche gestellt. »Das gilt für beide Seiten, falls du dich erinnerst.«
»Akzeptiert, Gildenjägerin.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Schulter, und seine Finger schlossen sich eine Spur fester um ihr Genick. Komm mit ins Bett.
Erregung durchfuhr sie, ihr Körper wusste nur zu gut, welche Freuden sie von diesen starken, tödlichen Händen zu erwarten hatte. »Damit wir über Messer und Scheiden sprechen können?«
Sinnliches, männliches Lachen, noch ein Kuss und die zärtliche Berührung seiner Zähne. Doch er lockerte den Griff und sah ihr schweigend dabei zu, wie sie das Zimmer betrat und einen der Schonbezüge anhob, um leicht über die zart bestickte Decke ihres ehemaligen Bettes zu streichen. Dann ging sie zu ihrer alten Frisierkommode und betrachtete die Sammlung hübscher Glasfläschchen, Bürsten und Pinsel, die säuberlich in einer kleinen Schachtel lag. Sie kam sich vor wie ein Kind, wollte sichergehen, dass wirklich alles da war, das Verlangen war so drängend, dass es schmerzte.
Als sie diesem emotionalen Wunsch nachgab, spie ihre Erinnerung die Bilder einer anderen Heimkehr aus, Bilder des Entsetzens und der Demütigung, die in ihrer Kehle gebrannt hatten, als sie ihre Sachen auf der Straße fand, fortgeworfen wie Müll. Nichts konnte diese Verletzung jemals heilen, den Schmerz über die Erkenntnis, dass ihr Vater genau das in ihr sah: Müll. Doch heute Nacht hatte Raphael diese Erinnerung unter dem Gewicht einer viel machtvolleren Tat zermalmt.
Sie machte sich keine Illusionen über ihren Erzengel, sie wusste, dass er es zum Teil genau aus dem Grund getan hatte, den er ihr genannt hatte: damit sie nicht in Versuchung käme, ihre Wohnung als Schlupfloch zu benutzen. Doch wenn das sein einziger Beweggrund gewesen wäre, hätte er ihre Sachen auch einfach auf die Mülldeponie bringen lassen können. Stattdessen war jedes einzelne Stück sorgfältig verpackt und hierhergebracht worden. Einige von ihnen waren in jener Nacht, als ihr Fenster zerbrach, schutzlos den vier Elementen ausgesetzt gewesen, doch jetzt sahen sie vollkommen unversehrt aus, was für eine äußerst sorgfältige Restaurierung sprach.
Das Herz tat ihr weh bei dem Gedanken, dass sie jemandem so viel bedeutete. »Jetzt können wir gehen.« Sie würde später zurückkommen und entscheiden, was mit den einzelnen Stücken geschehen sollte. »Raphael – danke.«
Sein Flügel streifte den ihren in stummer Zärtlichkeit, als sie die Hauptsuite betraten. Niemand sonst bekam diese Seite von ihm zu sehen, dachte sie, während sie beobachtete, wie er an das Bett herantrat und begann, sich auszuziehen, ohne das Licht einzuschalten. Sein Hemd fiel zu Boden und gab den Blick auf die prächtige Brust frei, die sie schon so oft über und über mit Küssen bedeckt hatte. Die überwältigende Last der Gefühle war verschwunden, niedergewalzt von einer Lawine brennenden Verlangens.
In diesem Augenblick sah Raphael auf, und in seinen Augen glänzte ein irdisches Verlangen, aus dem sie las, dass er ihre Erregung gespürt hatte. Sie hatte gerade beschlossen, das Reden auf später zu verschieben, und hob die Arme, um sich das Oberteil auszuziehen, da prasselte Regen – nein, Hagel – in stakkatoartigen Salven gegen die Fenster und ließ sie zusammenfahren. Sie versuchte, sie zu ignorieren, doch die kleinen, harten Eisperlen schlugen immer weiter gegen die Scheiben. »Muss ein Sturm sein.« Sie ließ die Arme sinken und trat an eines der Fenster, nachdem sie nachgesehen hatte, ob die Balkontüren fest geschlossen waren.
Die teuflischen Zacken eines Blitzes leuchteten vor ihr auf, und stürmischer Wind begann mit unerbittlicher Wut am Haus zu rütteln. Von einem Augenblick zum anderen wurde der Hagel zu strömendem Regen. »Ich habe noch nie erlebt, dass das so schnell und so heftig geschieht.«
Raphael kam zu ihr und stellte sich neben sie. Auf seinem nackten Oberkörper zeichnete sich das Muster der Regentropfen am Fenster ab. Da er nichts sagte, hob sie den Blick und sah die Schatten, die seine Augen unerwartet aufgewühlt wirken ließen, als würde sich in ihnen der Sturm spiegeln. »Was ist es? Was kann ich nicht sehen?« Denn der Ausdruck in seinen Augen …
»Was weißt du über das aktuelle Wettergeschehen auf der Welt?«
Elena folgte mit den Augen einem Regentropfen, der die Scheibe hinabkroch. »Im Turm habe ich einen Wetterbericht mitbekommen. Der Reporter sagte, ein Tsunami habe gerade die Ostküste Neuseelands erreicht, und die Überflutungen in China würden schlimmer.« Sri Lanka und die Malediven waren offenbar schon evakuiert worden, aber so langsam gingen die Orte aus, an die die Menschen gebracht werden konnten.
»Elias’ Herrschaftsgebiet wird von Erdbeben erschüttert«, sagte Raphael, er sprach von dem Erzengel Südamerikas, »und er befürchtet, dass mindestens einer der großen Vulkane kurz vor dem Ausbruch steht. Das ist jedoch noch nicht alles. Von Michaela habe ich gehört, dass der Großteil von Europa unter einem Eissturm zittert, der für diese Jahreszeit völlig untypisch ist und so heftig wütet, dass er das Leben Tausender Menschen bedroht.«
Die Muskeln in Elenas Schulter versteiften sich, als der Name des schönsten – und bösartigsten – aller Erzengel fiel. »Nach allem, was ich in den Nachrichten gehört habe«, sagte sie und zwang sich dazu, sich zu entspannen, »scheint zumindest der Nahe Osten einer größeren Katastrophe entgangen zu sein.«
»Ja. Favashi unterstützt Neha dabei, mit den Unglücksfällen in ihrem Gebiet fertigzuwerden.«
Der Erzengel von Persien und der Erzengel von Indien hatten schon bei früheren Gelegenheiten zusammengearbeitet, wie Elena wusste. Und jetzt, da Neha fast alle anderen Mitglieder des Kaders hasste, schien sie nur noch Favashi akzeptieren zu können – was womöglich daran lag, dass der andere Erzengel so viel jünger war. »Sie haben etwas zu bedeuten, nicht wahr?«, fragte sie und wandte sich Raphael zu, um ihm die Hand auf die wilde Hitze seiner Brust zu legen. Die schemenhaften Regentropfen glitten lautlos über ihre Haut. »All diese extremen Wetterphänomene.«
»Es gibt da eine Legende«, sagte Raphael leise, seine Flügel loderten auf, als er Elena an sich zog – ganz so, als wollte er sie beschützen. »Sie besagt, dass die Berge erbeben und die Flüsse überquellen werden, während Eis über die Erde kriecht und die Felder von Regen überschwemmt werden.« Er sah aus seinen unwirklichen, unmenschlichen, chromblauen Augen zu ihr herab. »All das tritt ein … wenn ein Uralter erwacht.«
Die Kälte in seiner Stimme ließ ihr jedes einzelne Haar zu Berge stehen.
2
Sie schüttelte die Kälte ab, die ihr bis ins Mark gekrochen war, und sagte: »Einer der Schlafenden?« Raphael hatte ihr von ihnen erzählt, jenen seiner Art, die so alt waren, dass sie der Unsterblichkeit müde geworden waren. Und so hatten sie sich hingelegt, die Augen geschlossen und waren in einen tiefen Schlaf gefallen, der nur unterbrochen wurde, wenn irgendetwas sie zwang, wieder zu Bewusstsein zu kommen.
»Ja.« Ein einziges Wort, in dem tausend ungesagte Dinge lagen.
SieschmiegtesichfesteranihnundschlangdieArmeumseinenLeib.MitdemHandrückenstreiftesiedierohseideneTexturseinerFedern,einestille,überwältigendeIntimitätzwischeneinemErzengelundeinerJägerin.»EskannnichtjedesMalsosein,wennsiegewecktwerden.EsmussdochvieleSchlafendegeben.«
»Ja.« Seine Stimme klang weit entfernt, wie die eines Unsterblichen, der ein Jahrtausend und viele Jahrhunderte erlebt hat. »Wir werden möglicherweise Zeuge der Wiedergeburt eines Erzengels.«
Sie sog die Luft ein, eine Erkenntnis flackerte an den Rändern ihres Bewusstseins auf. »Wie viele Erzengel befinden sich im Schlaf?«
»Das weiß niemand. Doch im Laufe unserer Geschichte sind schon mehrere verschwunden. Antonicus, Qin, Zanaya. Und …«
»…Caliane«,brachtesiedieAufzählungfürihnzuEnde.Siedrehtesichso,dasssieihnansehenkonnte,ohnesichdenHalszuverrenken.IhrErzengelwarsogutdarin,seineGefühlezuverbergen,dochsielerntelangsam,diewinzigenVeränderungeninseinenAugenzulesen,diemehrTagehattenanbrechensehen,alssiesichjemalswürdevorstellenkönnen.DieseAugenhattendieEntstehungunddenUntergangganzerZivilisationengesehen.
Als sie jetzt mit dem Rücken an der gläsernen Kälte des Fensters lehnte, ließ sie zu, dass er sich vorbeugte, um seine Hände rechts und links neben ihrem Kopf auf die Scheibe zu stützen. Sie strich mit den Fingern über seine glatte, muskulöse Brust und hinunter bis zu seinen Hüften, wo sie verharrte. Sie wollte ihn im Hier und Jetzt verankern, ihn ganz bei sich haben, wenn sie ihn nach seinem Albtraum fragte. »Würdest du es wissen, wenn es deine Mutter wäre, die erwacht?«
»Als ich ein Kind war« – auf seiner Haut spürte sie eine Andeutung von Hitze, doch seine Augen behielten diesen unmenschlich metallischen Farbton – »gab es zwischen uns eine mentale Verbindung. Doch sie verlor sich, als ich heranwuchs und sie wahnsinnig wurde.« Sein Blick ging an ihr vorbei, hinaus in das tiefe Pechschwarz der Nacht.
Elena war es gewohnt, für alles zu kämpfen, was sie wollte, was sie brauchte. Das hatte sie lernen müssen, um zu überleben. Es hatte sie abgehärtet. Doch was sie für diesen Mann, diesen Erzengel empfand, war ein stärkeres, mächtigeres Bedürfnis, eines, das ihr ein inneres Wissen vermittelte, das sie als Jägerin allein nie gehabt hätte. »Hör auf damit.«
Ein stummer Blick, umrahmt von einer dünnen Eisschicht aus Myriaden dunkler Echos, die in den Erinnerungen eines Erzengels widerhallten.
»Wenn du zulässt, dass die Erinnerung an sie das hier zerstört«, sagte sie, nicht bereit nachzugeben, »uns zerstört, dann macht es keinen Unterschied, ob sie die Schlafende ist. Dann ist der Schaden angerichtet – von dir.«
Ein langer Augenblick des Schweigens, doch jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. »Du«, sagte er und breitete die Flügel aus, bis sie den Rest des Zimmers vor ihren Blicken verbargen, »manipulierst mich.«
»Ich kümmere mich um dich«, verbesserte sie ihn. »Genau wie du dich um mich gekümmert hast, indem du heute Morgen, als mein Vater anrief, nicht zugelassen hast, dass ich ans Telefon ging.« Da war sie schnippisch geworden – weil sie Angst gehabt hatte. Und sie hasste es, Angst zu haben. Besonders vor den Verletzungen, die Jeffrey Deveraux mit solch grausamer Leichtigkeit austeilte. »So läuft das ab jetzt, also gewöhne dich daran.«
Raphael strich mit dem Daumen über ihre Wange. »Und wenn nicht?« Die Frage klang gleichgültig.
»Hör auf, dich mit mir anzulegen.« Sie wusste, was ihn so quälte – dass der Wahnsinn seiner Eltern sich eines Tages auch in seinem Geist manifestieren und ihn in ein Monster verwandeln könnte. Aber das würde Elena niemals zulassen. »Wenn wir fallen, fallen wir gemeinsam.« Eine sanfte Mahnung, ein feierliches Versprechen.
Elena. Er ließ die Hand sinken, legte sie auf die Wölbung ihrer Rippen, direkt unter ihrer Brust, und strich mit dem Daumen der anderen Hand über ihre Lippen, fuhr die Umrisse nach und streichelte sie.
»Wenn deine Mutter wirklich erwacht«, murmelte sie, und ihr Oberteil rieb sich plötzlich rau an ihren Brustwarzen, »was wird dann mit ihr geschehen?«
»Manche sagen, langer Schlaf würde den Alterswahnsinn heilen, also könnte sie wieder Teil des Kaders werden.« Doch an Raphaels Stimme hörte sie, dass er das eher für unwahrscheinlich hielt.
»Werden andere aus dem Kader im Voraus versuchen, sie ausfindig zu machen und zu töten?«
»Die Schlafenden sind sakrosankt«, erklärte ihr Raphael. »Wer einen Schlafenden verletzt, bricht ein Gesetz, das so alt ist, dass es sich im Gedächtnis der unseren fest verankert hat. Aber es gibt kein Gesetz, das eine Suche verbieten würde.«
Auch ohne ihn zu fragen, wusste sie, dass er sich auf eine solche Suche begeben würde, und sie konnte nur hoffen, dass er am Ende keinen Wirklichkeit gewordenen Albtraum vorfinden würde.
»Ich werde mich bei Jason erkundigen«, fügte er hinzu, »ob er irgendetwas gehört hat, das mir entgangen ist.«
»Istergeheilt?«RaphaelsMeisterspionwarinderselbenbrutalenExplosionvonMachtverwundetworden,dieeineganzeStadtdemErdbodengleichgemachtundElenaamBodenzerschmetterthatte.»UndAodhan?«BeideEngelhattensichgeweigert,siezurückzulassenundsichinSicherheitzubringen,obwohlsieesgeschaffthätten,dasievielstärkerundschnellerwarenalssie.AlssieaufdenerbarmungslosenErbodengestürztwaren,hattendiebeidenversucht,siemitihrenKörpernzuschützen.
»Wenn du geheilt bist«, sagte Raphael und ließ seine Hand zu ihrer Taille hinunterwandern, »dann sind natürlich auch sie gänzlich wiederhergestellt.«
Schließlich war sie eine neu erschaffene Unsterbliche, während Jason schon Hunderte von Jahren alt war. Bei Aodhan wusste sie es nicht genau – er war so ganz anders, dass sie sein Alter nur schwer einschätzen konnte –, doch die Tatsache, dass er zu Raphaels Sieben gehörte, sprach für sich. »Peking … gibt es irgendwelche Anzeichen eines Aufschwungs?« Nach den Ereignissen jener blutigen Nacht waren von dieser Stadt nur noch Erinnerungen übrig geblieben. Es hatte so viele Tote gegeben, dass Elena schon bei dem Gedanken daran das Gefühl überkam, ein erdrückendes Gewicht mit dem Geruch und dem Geschmack von altem Tod laste schwer und schwarz auf ihrer Brust.
»Nein.« Eine eindeutige Aussage. »Es kann Jahrhunderte dauern, bis sich dort wieder Leben ansiedelt.«
Die strafende, machtvolle Gewalt, die in dieser Bemerkung mitschwang, war schwindelerregend. Bis tief in ihrem Inneren spürte sie die Stärke dieses Mannes, aus dessen Umarmung sie sich auch dann niemals würde befreien können, wenn er sie als Gefangene hielt. Das hätte Angst in ihr auslösen müssen, doch wenn sie eines wusste, dann das, dass ein Kampf gegen Raphael schonungslos und offen sein würde. Es würde keine Stilette im Dunkeln geben, keine gefährlichen Klingen, die sich hinter einer freundlichen Fassade verbargen … ganz im Gegensatz zu den schneidenden Worten eines anderen Mannes, der einst behauptet hatte, sie zu lieben.
Sie spürte ein Ziehen in ihrer verwundeten Seele. »Ich kann meinem Vater nicht für immer aus dem Weg gehen«, sagte sie, bevor sie sich wieder an das Fenster lehnte und die Kälte des Glases fast schmerzhaft an ihren Flügeln spürte. »Was meinst du, was er sagen wird, wenn er mich sieht?« Jeffrey war davon überzeugt, dass Raphael ihren zerschmetterten, sterbenden Körper gerettet hatte, indem er sie in eine Vampirin verwandelt hatte.
Raphael hob das Kinn seiner Jägerin und stützte sich wieder neben ihrem Kopf ab. »Er wird in dir eine günstige Gelegenheit sehen.« Eine ehrliche Antwort, denn er wollte sie nicht belügen. »Eine Möglichkeit, Zugang zu den höchsten Kreisen der Engel zu erhalten.« Wenn es nach Raphael gegangen wäre, würde Jeffrey Deveraux längst in einem namenlosen Grab verrotten, doch Elena liebte ihren Vater trotz seiner Grausamkeit.
Jetzt schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, und als die Worte aus ihrem Mund kamen, waren sie scharfkantige Splitter aus Schmerz. »Ich wusste es, bevor ich gefragt habe … Aber ein Teil von mir kann nicht anders, als zu hoffen, dass er mich dieses Mal vielleicht doch wieder so gernhat wie früher.«
»Genauso wie ich nicht anders kann, als zu hoffen, dass meine Mutter auferstehen und wieder die Frau sein wird, bei deren Schlafliedern meine Welt zur Ruhe kam.« Er zog sie in eine erdrückende Umarmung und presste seine Lippen auf ihre Schläfe. »Wir sind beide Dummköpfe.«
Ein Donnerschlag krachte, gleißend flackerte ein Blitz in der tiefen Finsternis der Welt jenseits der Fensterscheibe. Er ließ Elenas Haar wie funkelndes Silber und ihre Augen wie Quecksilber erscheinen. Diese Augen, dachte er, während er den Kopf senkte und seine Lippen die ihren suchten, würden sich mit den Jahrhunderten verändern, bis sie genau das sein würden, wonach sie im Licht des Unwetters aussahen. Komm jetzt, Gildenjägerin. Es ist spät.
»Raphael.« Ein inniges Flüstern an seinen Lippen. »Mir ist so kalt.«
Er küsste sie und ließ seine Hand bis knapp über ihre Brust sinken. Dann zog er sie beide in das Auge eines Sturms, der in seinem reißenden Verlangen noch viel wilder war als das Unwetter, das draußen wütete.
Der Albtraum kam in dieser Nacht wieder. Sie hätte damit rechnen können, doch er riss sie mit solcher Geschwindigkeit hinab in die blutigen Ruinen dessen, was einst ihr Elternhaus gewesen war, dass sie keine Chance hatte, sich dagegen zu wehren.
»Nein, nein, nein.« In kindlichem Trotz verschloss sie die Augen.
Doch der Traum zwang sie, sie wieder zu öffnen. Was sie sah, ließ sie erstarren und ihr das Herz panisch und wild bis zum Hals schlagen.
Es lagen keine misshandelten Leichen auf dem Boden, der mit einem dunklen, dunklen Rot überzogen war. Blut. Überall, wo sie hinsah, war Blut. Mehr Blut, als sie jemals gesehen hatte.
In diesem Moment erkannte sie, dass sie nicht in der Küche war, in der Ari und Belle ermordet worden waren. Sie war in der Küche des Großen Hauses, des Hauses, das ihr Vater gekauft hatte, nachdem ihre Schwestern … nachdem. Glänzende Kochtöpfe hingen an Haken über einer steinernen Arbeitsfläche, und in einer Ecke summte leise ein riesiger Kühlschrank. Der Herd war eine schimmernde Konstruktion aus Stahl, die ihr immer Angst eingeflößt und sie auf Abstand gehalten hatte.
In dieser Nacht jedoch war der Stahl mit einer matten, rostroten Schicht überzogen, bei deren Anblick ihr übel wurde; sie stolperte und wandte den Blick ab. Zu den Messern. Sie waren überall. Auf dem Boden, auf dem Tresen, in den Wänden. Von allen tropften dicke, schwere Kleckse aus dunkelstem Rot herab … und etwas anderes, Dickeres. »Nein, nein, nein.« Sie schlang die Arme fest um sich, um den dünnen, zerbrechlichen Körper eines Kindes, ihr Blick jagte auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort durch den albtraumhaften Raum.
Das Blut und die Messer waren verschwunden.
Die Küche lag wieder makellos und rein da. Und kalt. So kalt. Es war immer so kalt im Großen Haus, so sehr sie die Heizung auch aufdrehte.
Der Traum veränderte sich – sie musste sich geirrt haben, dachte sie. Dieser kalte Ort war nicht mehr unberührt. Da stand ein einzelner hochhackiger Schuh auf dem glänzenden Weiß des Fußbodens.
Dann sah sie den Schatten an der Wand, der hin und her schwang.
»Nein!«
»Elena.« Sie fühlte sich fest an den Armen gepackt, der saubere, klare Geruch des Meeres drang ihr ins Bewusstsein. »Gildenjägerin.«
Die scharfen Worte durchbohrten die Überreste des Traums und rissen sie in die Gegenwart. »Es geht mir gut. Es geht mir gut.« Die Worte kamen stoßweise, abgehackt. »Es geht mir gut.«
Als sie versuchte aufzustehen, zog er sie in seine Arme. Sie wusste zwar nicht, was sie tun wollte, doch einschlafen konnte sie nie gut, wenn die Erinnerungen mit solcher Macht über sie hereinbrachen. »Ich muss …«
Er beugte sich über sie und hob die Flügel, um sie mit tiefer, dunkler Vertrautheit zu umhüllen. »Schhhh, Hbeebti.« Sein Körper lastete schwer auf ihrem und bildete einen undurchdringlichen Schutzschild gegen den sanft schwingenden Schatten, der sie die ganze Zeit verfolgte.
Als er den Kopf senkte und weitere leise, leidenschaftliche Worte in dieser Sprache flüsterte, die Teil des Vermächtnisses ihrer Mutter war, hob sie die Arme und schlang sie ihm um den Hals, um ihn mit sich herabzuziehen. Um in ihm zu ertrinken. Doch er stützte sich auf den Arm, damit er sie von oben betrachten konnte. »Erzähl es mir.«
Elena hatte seit dem Tag, an dem ihre Familie zerbrochen war, immer darauf geachtet, Beth immer wieder in den Arm zu nehmen, damit ihre jüngere Schwester nie diese Kälte zu spüren bekam. Sie selbst aber hatte niemanden gehabt, der sie umarmt hätte, niemanden, um den Eisblock zu zertrümmern, der ihr Inneres nach einem solchen Albtraum für Stunden einschloss. Daher dauerte es einige Zeit, bis sie sprechen konnte. Doch er war unsterblich, und Geduld war eine Lektion, die er schon vor langer Zeit gelernt hatte.
»Es ergab keinen Sinn«, sagte sie schließlich mit rauer Stimme, als hätte sie lange geschrien. »Nichts davon ergab einen Sinn.« Ihre Mutter hatte das, was sie getan hatte, nicht in der Küche getan. Nein, Marguerite Deveraux hatte das Seil säuberlich um das stabile Geländer des Zwischengeschosses geknotet. Ihr hübscher, glänzender Pumps war auf das Schachbrettmuster der schimmernden Kacheln in der Eingangshalle des Großen Hauses gefallen.
Mit seinem strahlenden Kirschrot hatte dieser Schuh Elenas Herz für den Bruchteil einer Sekunde mit Hoffnung erfüllt. Sie hatte gedacht, ihre Mutter wäre endlich zu ihnen zurückgekehrt, hätte endlich aufgehört zu weinen … endlich aufgehört zu schreien. Dann hatte sie hochgesehen und etwas erblickt, das nie wieder von der Leinwand in ihrem Kopf verschwinden sollte. »Es war einfach alles ein einziger Wirrwarr.«
Raphael sagte nichts, doch sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie voll und ganz im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand.
»Ich hatte gedacht«, sagte sie und krallte sich an seinen Schultern fest, »dass die Albträume aufhören würden, nachdem ich Slater getötet hatte. Er wird nie wieder jemandem wehtun können, den ich liebe. Warum hören sie denn nicht endlich auf?« Ihre Stimme zitterte, nicht vor Angst, sondern vor erdrückender, hilfloser Wut.
»Unsere Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind, Elena«, antwortete Raphael und zitierte damit sie selbst. »Selbst die dunkelsten von ihnen.«
Elena hatte ihm die Hand auf die Brust gelegt und spürte das Schlagen seines Herzens, stark, gleichmäßig, für alle Zeit. »Ich werde sie niemals vergessen«, flüsterte sie. »Aber ich wünschte, sie würden aufhören, mich zu verfolgen.« Als sie diese Worte aussprach, kam sie sich wie eine Verräterin vor. Wie konnte sie es wagen, sich so etwas zu wünschen, während der Albtraum für Ari und Belle zur Realität geworden war? Während ihre Mutter ihm nicht hatte entkommen können?
»Das werden sie.« In seiner Stimme lag Gewissheit. »Das verspreche ich dir.«
Und da er noch nie ein Versprechen gebrochen hatte, das er ihr gegeben hatte, ließ sie zu, dass er sie den Rest der Nacht in seinen Armen hielt. Die Morgendämmerung kroch auf zarten Fingern aus Gold und Rosa ins Zimmer, als das süße Nichts des Schlafs sie empfing.
Doch der Frieden währte nicht länger als einen Wimpernschlag, jedenfalls kam es ihr so vor.
Elena. Eine Welle schlug in ihrem Kopf zusammen, eine neue Sturmbö.
Schlaftrunken blinzelnd schlug sie die Augen auf und stellte fest, dass sie allein in dem von der Sonne geküssten Bett lag. Der Regen hatte sich verzogen, und der Himmel jenseits der Fenster war zu einem umwerfenden Azurblau aufgeklart. »Raphael.« Ein Blick auf die Nachttischuhr verriet ihr, dass es schon mitten am Vormittag war. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Was ist?«
Es ist etwas geschehen. Deine Fähigkeiten werden gebraucht.
Ihre Sinne reckten und streckten sich erwartungsvoll, als sie die Arme hob, den Rücken durchbog und ihren Oberkörper dehnte. Ihre geistigen Muskeln schienen mit dem gleichen angenehmen Ziehen zu erwachen wie ihre physischen. Wo brauchst du mich?
Eine Schule im Norden. Sie heißt Eleanor Vand…
Sie ließ die Arme sinken, Angst lag ihr schwer im Magen. Ich weiß, wie sie heißt. Meine Schwestern gehen dorthin.
3
DiezehnjährigeEvelynsahsiezuerst.IhreAugenweitetensich,alsElenasichvondemEngelverabschiedete,dersieaufdemkürzestenWegzudieserschickenPrivatschulebegleitethatte,undihreFlügelausbreitete,umeineglatteLandungaufdemSchulhofhinzulegen.NurwenigeverirrteBlätterverunziertendiesamtgrünePerfektiondesRasens.WinzigeWirbelwindeausFrühlingsgrünundraschelndemBraunstiegenindemLuftzugauf,denihrAbstiegverursachthatte.KleineDerwischevollerUnruhe.
WährendsiedieFlügelzusammenlegte,nickteElenaihrerjüngstenHalbschwesterzurBegrüßungzu.EvelynwolltedieHandzueinemvorsichtigenGrußheben,dochAmethyst,diedreiJahreälterwaralsihreSchwester,ergriffdieseHandundzogEvelynanihreSeite.IhredunkelblauenAugen,diesosehrdenenihrerMutterGwendolynähnelten,rietenElena,aufDistanzzubleiben. Elena verstand ihre Reaktion.
Jeffrey und Elena hatten seit einem Jahrzehnt nicht mehr miteinander gesprochen, seit er sie aus der Wohnung hinausgeworfen hatte – bis kurz vor den grauenvollen Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass sie mit diesen Flügeln aus Mitternacht und Morgengrauen erwacht war. Und bevor sie verstoßen worden war, war Elena für einige Zeit auf ein Internat geschickt worden, was dazu geführt hatte, dass sie zu ihren Halbgeschwistern keinen richtigen Kontakt hatte. Sie kannten sich zwar, aber darüber hinaus wussten sie so wenig voneinander, dass sie genauso gut Fremde hätten sein können.
Nicht einmal an äußerlichen Ähnlichkeiten wurden die Familienbande erkennbar – Elena war groß, hatte helles, fast weißes Haar und einen Teint, der an den Sonnenaufgang in Marokko erinnerte. Im Gegensatz dazu hatten die Mädchen das erlesene, rabenschwarze Haar und den zierlichen Körperbau ihrer Mutter, ihre Haut hatte einen satten beigen Ton, der auch einer Englischen Rose gut gestanden hätte. Evelyn hatte noch ein wenig Babyspeck, doch ihr Knochenbau war der von Gwendolyn, filigran und aristokratisch.
Jeffreys Frauen hatten beide ihre Spuren in den Kindern hinterlassen.
Sie wandte sich von den beiden kleinen Gesichtern ab, die sie mit einer Mischung aus Unsicherheit und kühlen, leicht vorwurfsvollen Minen betrachteten, und wandte sich den anderen Menschen unter dem Vordach zu. Einige weitere Mädchen standen in einem Grüppchen direkt hinter Evelyn und Amethyst, alle in die Schulfarben Kastanienbraun und Weiß gekleidet. Es gab noch eine Reihe von Erwachsenen, das mussten die Lehrer sein. Nirgends konnte Elena eine Spur von Raphael erkennen, was bedeutete, dass er sich entweder im Inneren des massiven Baus aus hellen Ziegeln oder hinter den mit Efeu bewachsenen Mauern aufhielt – in dem großen Innenhof, in dem die Mädchen zu Mittag aßen, im Gras saßen und ihre Spiele spielten.
Das alles wusste Elena, weil sie sich die Mühe gemacht hatte, es herauszufinden. Es spielte keine Rolle, dass die einzige Verbindung zwischen ihnen Jeffreys gefühlloses Blut war – Evelyn und Amethyst waren trotz allem ihre Schwestern, also musste sie auf sie aufpassen. Wenn sie Elena brauchten, würde sie da sein … wenn sie schon nicht für Ari und Belle hatte da sein können.
Mit schwerem Herzen, das von Tausenden von spitzen, stechenden Eisenspänen umgeben schien, näherte sie sich dem Eingang. In diesem Augenblick sah sie, wie Evelyn die Hand ihrer älteren Schwester abschüttelte und die Stufen hinunter auf sie zulief. »Du bist kein Vampir!«
Die Kampfansage in diesem kleinen, rebellischen Gesicht und die geballten Fäuste ließen Elena zurückweichen. »Nein.«
Während des brennenden Blickkontaktes zwischen ihren grauen Augen, den sie für einen Moment aufrechterhielten, hatte Elena das Gefühl, abgeschätzt zu werden. »Willst du wissen, was passiert ist?«, fragte Evelyn schließlich.
Elena runzelte die Stirn und sah zu dem Vordach hinüber – um festzustellen, dass niemand sonst Anstalten machte, auf sie zuzugehen. Die Erwachsenen wirkten ebenso verstört wie die meisten der Mädchen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Schwester zu, wobei sie gegen den Drang ankämpfen musste, sie in die Arme zu nehmen und ganz fest an sich zu drücken. »Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?«
»Es war schrecklich.« Ein Flüstern. Pures Entsetzen lag auf dem sanften Gesicht, das noch das eines Kindes war, noch nicht das der Frau, die sie einmal sein würde. »Ich kam in den Schlafsaal, und da war überall Blut, und Celia war nicht da, obwohl wir uns dort treffen wollten. Und ich kann Bets…«
»Du hast es entdeckt?« Ein wilder Beschützerdrang bleckte die Zähne. Nein, dachte sie, nein. Die Monster würden ihr nicht noch eine Schwester nehmen. »Was hast du gesehen?« Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie spürte die aufsteigende Galle im Hals.
»Danach nichts mehr«, gab Evelyn zu, und Elena wäre vor Erleichterung fast in die Knie gegangen. »Ms Hill hat mich schreien gehört und mich sofort aus der Tür gezerrt. Dann hat sie uns alle nach draußen geschickt, und ich hörte Flügel … aber deinen Erzengel habe ich nicht gesehen.«
In diesem Moment erkannte Elena einen Scharfsinn in diesen blauen Augen, der sie an Jeffrey erinnerte. Er löste ein Ziehen in ihrer Brust aus – denn auch sie selbst war die Tochter ihres Vaters, zumindest in einem Teil ihrer Seele. »Ich werde mich darum kümmern«, versprach sie. »Aber du musst jetzt wieder zurückgehen und bei Amethyst bleiben, bis ich herausgefunden habe, was hier los ist.« Wenn Raphael nach ihr geschickt hatte, konnte es sich nur um einen wild gewordenen Vampir handeln.
Evelyn drehte sich um und lief zurück unter das Vordach, wo sie neben die steife Gestalt ihrer Schwester schlüpfte.
Raphael.
Für einen Augenblick war unendliche Stille das Einzige, was sie hörte. Keine tiefe Stimme, die von der Arroganz eines mehr als tausendjährigen Lebens durchdrungen war. Kein Hauch von Wind und Regen in ihrem Kopf. Dann setzte der Donner ein, bis sie unter der entfesselten Macht beinahe taumelte. Unter seiner Macht.
Fliege über das erste Gebäude und …
Ich kann nicht. Ich bin schon gelandet. Sie war noch nicht stark genug, um einen Senkrechtstart zu schaffen, für den nicht nur beachtliche Muskelkraft, sondern auch ein großes Maß an Übung und Geschicklichkeit erforderlich war.
Komm durch die Vordertür. Du wirst den Weg finden.
Dass er sich da so sicher war – und das Wissen, dass es dafür nur eine Ursache geben konnte –, ließ ihren Magen sich verkrampfen und ihren Rücken steif werden. Nur mit Mühe konnte sie die Empfindungen beiseitedrängen und sich auf die bevorstehende Jagd konzentrieren. Sie zog ihre Flügel so weit wie möglich ein, damit sie nicht versehentlich die vor dem Haupteingang zusammengedrängten Menschen streifte. Dann stieg sie die Stufen hinauf, alte, solide Backsteine derselben Art, aus der auch das Gebäude selbst erbaut war.
Flüstern umgab sie von allen Seiten.
»Ich dachte, sie sei tot …«
»… Vampir …«
»Ich wusste gar nicht, dass sie Engel erschaffen!«
Dann war das verräterische Klicken zu hören, das die Benutzung von Handykameras verriet. Diese Bilder würden binnen Minuten, wenn nicht Sekunden, im Netz sein, und die Medien würden sie, ohne zu zögern, sofort übernehmen. »Auch gut«, murmelte sie vor sich hin, »wenigstens wäre die Bekanntgabe meiner Existenz damit erledigt.« Jetzt musste sie nur noch mit dem Medienansturm fertigwerden, der sie sicher wie ein durchgedrehter Tornado treffen würde.
Das Flüstern von Eisen in der Luft.
Sie warf den Kopf in den Nacken und stellte ihre Sinne auf diese Spur ein, die von Blut und Gewalt kündete. Dieser Spur folgte sie durch den verlassenen, mit einem burgunderroten Teppich ausgelegten Korridor, an dessen Wänden sich die Klassenfotos mehrerer Jahrzehnte gebügelter und gestärkter Schülerinnen aneinanderreihten, bis zu einer geschwungenen Treppe, die zu ihrer Linken nach oben führte.
Trotz der alten und schwerfälligen Bauweise des Hauses war der Korridor lichtdurchflutet. Den Grund dafür erkannte sie, als sie auf der ersten Stufe stehen blieb und nach oben sah: Prachtvoll wölbte sich ein gläsernes Oberlicht über ihr, beschlagen mit Gold und verziert mit ein paar verirrten Efeuranken. Die Blätter sahen aus wie Smaragde, die auf dem Glas zerschellt waren. Doch das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregte.
Wieder Eisen, so schwer und stark und dick, dass es nur eine Ursache haben kann.
Tod.
»Oben.«
Erschrocken wandte Elena sich um und stand vor einer klapperdürren Frau in einem eleganten Kostüm, dessen Farbton irgendwo zwischen blassem Oliv und dunklem Grau lag. Im Kontrast zu ihrem bleichen, papierweißen Gesicht wirkte die Farbe fast grell. »Ich bin Adrienne Liscombe, die Rektorin«, sagte die Fremde auf Elenas fragenden Blick hin. »Ich habe gerade nachgesehen, ob auch wirklich alle Mädchen draußen sind.«
Da Elena die Schilder an den Türen gesehen hatte, die zur rechten Seite des Korridors abgingen, fragte sie: »Ist das hier das Bürogebäude?«
»Nur diese Etage«, entgegnete Ms Liscombe spröde und akzentuiert. »In der zweiten befinden sich die Bibliothek und die Arbeitsbereiche für die Mädchen. Darüber liegen einige Schlafsäle, und im dritten Stock sind die zusätzlichen Waschräume. Für viele unserer Schülerinnen ist diese Schule ihr Zuhause. Die Büros der Lehrer sind als Studios eingerichtet, da ein großer Teil von ihnen auch darin wohnt. Die Mädchen können jederzeit aus ihren Zimmern herunterkommen, um mit einem Mitglied des Lehrkörpers zu sprechen.«
Elena stellte fest, dass die Rektorin trotz ihrer klar geschliffenen Aussprache, ihres makellosen Kostüms und des sorgfältig gewählten Goldschmucks durcheinander war. Bei der Vorstellung, was eine Frau, die allem Anschein nach einen fast asketisch zähen Charakter haben musste, in einen solchen Zustand hatte versetzen können, drehte sich ihr der Magen um. »Vielen Dank, Ms Liscombe«, sagte sie. Da sie an dem beißenden Gestank des Blutes – und dickerer, zäherer Flüssigkeiten – fast erstickte, kostete es sie einige Mühe, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen. »Ich glaube, die Mädchen draußen könnten Ihre Führung und Hilfe gebrauchen.«
Ein scharfes Nicken, bei dem das Licht auf dem glatten Silber ihres Haares glänzte. »Ja. Ja, ich sollte wohl gehen.«
»Warten Sie.« Sie musste diese Frage stellen. »Wie viele Ihrer Schülerinnen werden vermisst?«
»Es gab noch keinen vollständigen Appell. Das soll jetzt geschehen.« Sie straffte sich, im Angesicht der konkreten Aufgabe kehrte ihre professionelle Ruhe zurück. »Einige der Mädchen sind auf einem Ausflug, und wir haben die üblichen Fehlquoten, also muss ich die Listen miteinander vergleichen.«
»Teilen Sie uns das Ergebnis bitte so schnell wie möglich mit.«
»Natürlich.« Eine Pause. »Celia … müsste hier sein.«
»Verstehe.« Als sie die lackierten Holzstufen hinaufstieg, die in eine andere Zeit zu gehören schienen, und die gedämpften Schritte der sich entfernenden Rektorin hörte, ermahnte sie sich selbst, die Flügel nicht schleifen zu lassen. Es war noch nicht selbstverständlich für sie, doch sie war schon viel geschickter darin als damals, als sie zum ersten Mal mit Flügeln erwacht war. Damals hatte sie nur darauf achten wollen, dass sie nicht durch den Staub und den Schmutz der Straßen von Manhattan schleiften.
Heute war es aus einem weitaus düstereren Grund nötig, darauf zu achten.
Als sie den Flur des zweiten Stocks hinunterging, ging sie achtlos an den exquisiten Ölgemälden vorbei, die von Geld und Klasse zeugten, um dem Gestank nach Eisen und Angst in das Zimmer zu folgen, in dem ein Erzengel mit gnadenlos blauen Augen auf sie wartete. »Raphael.«
Sie hielt inne und versuchte zu atmen. Die widerwärtige Schwere des Geruchs drohte sie zu ersticken, während sie sich umsah. Die Laken waren blutdurchtränkt, auf dem Boden war eine Lache aus dunkler Flüssigkeit mit roten Rändern zu sehen, und die Spritzer an den Wänden wirkten wie ein bösartiges Graffiti. »Wo ist die Leiche?« Denn es musste eine Leiche geben. Kein menschliches Wesen konnte einen solchen Blutverlust überleben.
»In den Wäldern«, sagte er in einem Ton, der ihr die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Er war so sehr, so ausgesprochen ruhig. »Er hat sie hierhergeschleppt, um sich über sie herzumachen, deshalb hat sie hier das meiste Blut verloren.«
Elena versteifte sich innerlich, um sich gegen eine Woge von Mitleid zu wappnen. Damit würde sie Celia jetzt nicht helfen – und es würde sie selbst daran hindern, das zu tun, was sie wirklich konnte: für Gerechtigkeit zu sorgen. »Warum sollte ich hierherkommen?« Wenn sie die Witterung des Vampirs erfolgreich aufnehmen sollte, stünden ihre Chancen an seinem letzten bekannten Aufenthaltsort am besten.
»Die Tote wurde in einem kleinen Teich treibend gefunden. Wahrscheinlich hat er darin gebadet, bevor er verschwand.«
ElenasKopffuhrhoch.»Duwillstmirerzählen,dasserbewusstgehandelthat?«DennWasserwardereinzigeFaktor,derdiebluthundartigenSinneeinergeborenenJägerinverwirrenkonnte.WenneinVampirvoneinemBlutrauscherfasstwar–dieeinzigeErklärungfürdieWildheitdiesesAngriffs–,dannkonnteernichtmehrdenken.ErtobtemitunaufhaltsamerBrutalitätundwurdemeistenserwischt,währendersichdenBauchmitdemBlutseinesOpfersvollschlug.»Istes…«…einzweiterUram?,beendetesielautlosdenSatz,dasiewusste,dasssiedasdunkelsteGeheimnisderEngelnichtlautaussprechendurfte,nichthier.
»Nein.« Raphaels Stimme klang jetzt fast noch etwas sanfter.
In Samt gehüllte Grausamkeit, dachte sie. Er bewegte sich haarscharf am Rande der Weißglut.
»Spüre seinen Geruch auf, Elena. Hier müsste er am stärksten sein.«
Er hatte recht. Alles, was sie in der Nähe des Teiches finden würde, wäre verwässert. Hier hatte er getötet, vielleicht sogar etwas von seinem eigenen Blut vergossen, wenn das Opfer ihm im Kampf um sein Leben einen Kratzer hatte zufügen können. Mit einem tiefen Atemzug schirmte sich Elena vor allem anderen ab – einschließlich der eiskalten Gewissheit, dass es eine ihrer Schwestern hätte treffen können – und konzentrierte sich auf die schweren Geruchsschwaden, die den Raum durchzogen.
Am leichtesten war Raphael zu identifizieren, ihr Anker.
Dann der metallische Atem von Blut. Und …ein stürmischer Geruch, an dem Flammen leckten.
Sie riss die Augen auf. »Jason war hier?« Ihre Fähigkeit, Engel zu wittern, war noch immer sehr unberechenbar und alles andere als zuverlässig, doch diese Kombination von Gerüchen kannte sie. Und sie wusste auch, dass der schwarz geflügelte Engel sich nur sehr selten bei Tageslicht sehen ließ.
Ja.
Die Art, wie er, ohne zu blinzeln, auf den See aus Blut starrte, beunruhigte sie. Deshalb schob sie die Frage beiseite, warum Raphaels Meisterspion hier gewesen war – und warum sich der Erzengel von New York überhaupt an diesem Ort aufhielt, an dem es eigentlich von Polizisten und Jägern nur so wimmeln müsste –, und nahm noch einmal all ihre Sinne zusammen. Es war erstaunlich, wie wenig Mühe es bereitete, den Vampirstrang zu isolieren. Im Gegensatz zu den meisten anderen im Land gab es an dieser Schule offenbar keine vampirischen Mitarbeiter – eine rein menschliche Zone.
Kein Wunder, dass Jeffrey sie für seine Töchter ausgewählt hatte.
Aber ein Vampir war in dieses Heiligtum eingedrungen, ein Vampir, in dessen Geruch eine widerwärtige Süße lag.
Angebrannter Sirup … und Glassplitter, darunter eine schwere Eichennote.
SiefolgtediesemStrangundhobdenKopfinRichtungFenster.»Soisterhierrausgekommen.«SieselbstgingjedochdurchdieTür,dennsiewusste,dasssiesichniemalsaufdemgleichenWegwürdehinauszwängenkönnen–ihrerFlügelwegen.SiespürteRaphaelsGegenwartinihremRücken,alssiedenAusgangfandundnachdraußentrat,wosiedieefeuumranktenMauernumrundete,bissieunterdemFensterdesRaumesstand.
Hier war die Hauswand nicht mit den dunkelgrünen Kletterpflanzen bewachsen. »Das Haus hat hohe Decken.« Und da das Zimmer im zweiten Stock lag, ergab das eine beträchtliche Entfernung zum Boden. »Wie ist er wohl hinaufgekommen?« Die meisten Vampire wären nicht in der Lage, so hoch zu springen. Trotzdem … sie drückte die Nase an die Wand und atmete tief ein.
Zerbrochenes Glas, Eichenblätter.
Dann sah sie einen Streifen Rot nahe der Stelle, an der sie sich abgestützt hatte. Sie betrachtete den Boden vor ihren Füßen, bevor sie sagte: »Er ist hinauf- und hinuntergeklettert wie eine gewöhnliche Spinne.« Es gab nur eine kleine Untergruppe von Vampiren, die diesen speziellen Trick beherrschte. »Damit müssten wir seine Identität eingrenzen können.«
»Er heißt Ignatius«, sagte Raphael zu ihrer Überraschung – als sie gerade Tropfen einer dunklen Flüssigkeit im Gras entdeckte. »Ich habe gespürt, wie seine Gedanken sich blutrot färbten, als ich sie berührte.«
Elena kannte Raphaels Reichweite nicht genau, aber wenn er Ignatius’ Geist berührt hatte, war hier etwas faul. »Du konntest ihn nicht hinrichten.« Sie folgte der Spur über das gepflegte Grün des Rasens durch den schweren Torbogen, der sich auf der gegenüberliegenden Seite in der Mitte des langen Schulgebäudes befand, hinein in den Wald, der normalerweise der heitere Hintergrund der Anlage war – der ihr heute jedoch wie eine bedrohliche Masse erschien. Glanzlos hingen die Blätter unter einem Himmel, der sein Azurblau in den wenigen Minuten, die sie im Gebäude gewesen war, gegen ein schmutziges Grau eingetauscht hatte.
Ohne ihre unausgesprochene Frage zu beantworten, erhob sich Raphael in die Luft, während sie Ignatius’ Spur durch den Wald folgte, wobei ihre Flügel an Ästen und dornigem Gestrüpp hängen blieben. Sie zuckte unter den unangenehmen Empfindungen zusammen und zog die Flügel noch enger an den Körper, ohne dabei ihr Vordringen in den Wald zu verlangsamen. An einem Punkt zögerte sie, weil sie glaubte, etwas hätte rechts von ihr an ihr gezupft, doch die Spur von Eichenlaub und Glas lag noch immer deutlich vor ihr.
Sie schüttelte den Impuls, sich umzudrehen und nachzusehen, ab und verfolgte die Fährte weiter. Keine fünf Minuten später zeichnete sich Jasons schwarz geflügelte Gestalt vor dem bedrohlichen Dunkel des Waldes ab – er stand regungslos wie eine Statue da und hielt Wache bei einer Toten, die neben den ruhigen Wassern eines kleinen Teiches lag.
Das Mädchen trug noch immer die Schuluniform, die völlig durchtränkt war. Die Bluse hätte weiß sein müssen. Jetzt war sie ekelhaft lachsrosa und in Fetzen gerissen, und ihr Körper würde ebenfalls in Fetzen gerissen sein, das wusste Elena. Sie rang das aufkommende Mitgefühl nieder, das sie aus der Fassung zu bringen drohte, und trat nicht näher an die Leiche heran – ihre Aufgabe war es, den Killer aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass nicht noch ein Mädchen wie eine zerfetzte Lumpenpuppe an einem Teich enden würde, der eigentlich ein Ort zum Spielen sein sollte und kein makabres Bad mit dem Aroma von Tod und Schrecken.
Du hattest recht, sandte sie an Raphael, er hat sich im Teich gewaschen und dadurch die Fährte gekappt. Aber an irgendeiner Stelle musste er herausgekommen sein. Also ließ sie Jason bei seiner stummen Wacht zurück und ging an den moosbewachsenen Steinen am Rand des Wassers entlang, das vom aufgewühlten Schlick – und anderen, dunkleren Dingen – trübe geworden war.
Sie brauchte nur eine Minute, um ihn wiederzufinden. Seine Fährte war jetzt schwächer, war so lange mit Wasser bespült worden, bis nur noch das Eichenlaub übrig geblieben war, aber mehr brauchte sie auch nicht. Sie sog die frische Waldluft tief in ihre Lungen und rannte los, fest entschlossen, den Vampir zur Strecke zu bringen. Er war schnell, das erkannte sie beim ersten Blick auf die Spuren, die er in der vom Sturm der vergangenen Nacht noch feuchten Erde zurückgelassen hatte. Sie hingegen war nicht mehr so schnell und wendig wie früher und nicht daran gewöhnt, mit Flügeln zu rennen.
Doch das erwies sich nicht als Nachteil, nicht heute. Der Vampir hatte sein Tempo nach etwa fünfhundert Metern verlangsamt, vermutlich hatte er angenommen, das Wasser habe seinen Geruch weggewaschen. Das wäre auch der Fall gewesen, wenn er sich ein bisschen mehr Mühe gegeben hätte. Andererseits hatte Raphael gesagt, das Mädchen habe ebenfalls im Wasser gelegen. Wahrscheinlich hatte der Mörder es mit hineingezerrt, weil er nicht aufhören konnte zu trinken.
Im Endergebnis war das wenige Wasser des kleinen Teiches so stark mit Blut und Tod durchsetzt gewesen, dass es den Vampir nicht mehr von seinen scheußlichen Handlungen hatte reinwaschen können.
Braves Mädchen, sagte sie in Gedanken zu dem Mädchen, das so reglos unter den mitternachtsschwarzen Flügeln lag. Du hast ein Zeichen auf dem Bastard hinterlassen, obwohl du schon tot warst. Mithilfe dieses Zeichens würde Elena ihn fassen.
Nachdem sie eine halbe Stunde lang den verschlungenen Pfaden gefolgt war, auf denen der Vampir versucht hatte, seine Spur zu verwischen – was dafür sprach, dass er bei klarem Verstand gewesen war –, und die Sonne nun schwach und träge am Himmel hing, bekam sie die ersten Seitenstiche. »Verdammt!« Auch ohne von Raphaels sadistischem Waffenmeister Galen Prügel zu beziehen, wusste sie, dass sie nicht in Bestform für die Jagd war.
Sie versuchte gerade, trotz der stechenden Schmerzen Luft zu bekommen, da sah sie den Schatten von Flügeln über den Boden gleiten und warf den Kopf hoch –