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Die junge Faith NightStar wird von dunklen Visionen voller Blut und Tod heimgesucht, die ihr große Angst machen. Denn Faith ist eine V-Mediale, die die Fähigkeit besitzt, die Zukunft vorherzusehen. Werden ihre Visionen womöglich schon bald Wirklichkeit? Da begegnet ihr der gut aussehende Gestaltwandler Vaughn D’Angelo, der ungeahnte Gefühle in ihr erweckt. Vaughn kann die Gestalt eines Jaguars annehmen, und seine animalische Seele fühlt sich unwiderstehlich zu Faith hingezogen. Doch wie kann er sich ihr nähern, wenn Faith schon bei dem Gedanken an die Leidenschaft, die er in ihr entfesseln könnte, an den Rand des Wahnsinns gerät?
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Seitenzahl: 464
Titel
Widmung
Wahnsinn
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Impressum
Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von Nora Lachmann
In Liebe für meine Mutter Usha. Sie ist die außergewöhnlichste Frau, die ich je kennengelernt habe.
Wahnsinn
Geisteskrankheit.
Vor Silentium war das die Haupttodesursache für V-Mediale.
Vom Wahnsinn in den Tod getrieben. So sah damals die raue Wirklichkeit für einige V-Mediale aus. Sie verloren sich in den Zukunftsbildern, die ihnen ihr Geist vorgaukelte – vergaßen zu essen, zu trinken, und in extremen Fällen vergaßen sie sogar, ihr Herz weiterschlagen zu lassen. Denn der Verstand bestimmt das Leben der Medialen, und wenn sie den verlieren, versagen auch ihre Körperfunktionen.
Und die Toten hatten noch Glück gehabt. Wer unter dem Druck der Visionen zusammengebrochen war, aber dennoch überlebte, hatte keinerlei Empfindungen mehr, nichts, was einer Empfindung auch nur entfernt ähnlich war. Er war in einer Welt eingeschlossen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ständig aufeinanderprallten und in tausend Stücke zersprangen. Und wie die Zeit zerbrach auch der Verstand der Medialen.
Überraschenderweise herrschte jedoch unter den V-Medialen keine Einigkeit in Bezug auf die Einführung von Silentium. Einige glaubten, es wäre ein Geschenk, nichts mehr zu fühlen, denn dann könnten ihnen die grässlichen Trugbilder ihres Verstandes nicht mehr gefährlich werden, müssten sie nicht mehr fürchten, dem Wahnsinn zu verfallen … wären endlich in Sicherheit. Andere hielten Silentium für einen Verrat an ihren ureigensten Gaben. Als mitfühlende Wesen hatten die V-Medialen unzählige Massaker verhindert, unzählige Leben gerettet und unendlich viel Gutes getan. Ohne Gefühle wären ihre Fähigkeiten zwar unter Kontrolle, aber sie wären auch eingeschränkt.
Nach zehn Jahren gewannen die Befürworter von Silentium die geistige Schlacht der unzähligen Gehirne im Medialnet. Die V-Medialen verloren in der Folge die Fähigkeit, die dunklen Seiten der Zukunft zu sehen, und zogen sich in den geschützten Bereich der Geschäftswelt zurück. Sie retteten keine Unschuldigen mehr, sondern stiegen in die wichtigsten Positionen vieler medialer Unternehmen auf. Der Rat erklärte schließlich, ihre Arbeit sei zu wertvoll, um sie mit anderen Rassen zu teilen, und so verschwanden die V-Medialen allmählich aus der Öffentlichkeit. Man sagte, sie zögen es vor, nicht im Rampenlicht zu stehen.
Nur wenige wissen, was der Rat seit über einem Jahrhundert unter Verschluss hält: Die ehedem so belastbaren V-Medialen sind zwar wohlhabend und werden verwöhnt, aber sie sind auch äußerst zerbrechliche Wesen geworden. Etwas an ihren Fähigkeiten, die verworrenen Fäden der Zukunft zu entwirren, hindert sie daran, sich in der wirklichen Welt zurechtzufinden. Sie müssen ständig überwacht und versorgt werden.
V-Mediale reisen selten, gehen kaum Verbindungen ein und sind vorwiegend auf der geistigen Ebene tätig. Manche von ihnen sind beinahe stumm und gerade noch fähig, ihre Visionen durch abgehackte Laute, in besonders schweren Fällen sogar nur durch Gesten und Zeichnungen mitzuteilen. Die meiste Zeit sind sie in ihrer stummen Welt gefangen.
Doch der Rat ist der Ansicht, genau das sei ihre Aufgabe.
1
Faith NightStar aus dem NightStar-Clan wusste, dass sie als mächtigste V-Mediale ihrer Generation galt. Sie war erst vierundzwanzig, hatte aber schon mehr verdient als die meisten Medialen in ihrem ganzen Leben. Allerdings arbeitete sie auch schon seit ihrem dritten Lebensjahr, seit sie den ersten verständlichen Satz von sich gegeben hatte. Erwartungsgemäß hatte es bei ihr länger gedauert als bei anderen Kindern– sie war schließlich eine kardinale V-Mediale mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Niemand wäre erstaunt gewesen, wenn sie nie gesprochen hätte.
Der Grund, warum V-Mediale immer zu einem Clan gehörten, der ihnen alles abnahm, wofür sie nicht selbst sorgen konnten – von der Anlage ihres Vermögens bis hin zur medizinischen Überwachung, damit sie nicht verhungerten –, war, dass V-Mediale in praktischen Dingen nicht besonders gut waren. Sie vergaßen sie einfach. Obwohl sie seit über hundert Jahren keine Morde oder Unfälle, Katastrophen oder Kriege mehr vorhersagten, sondern nur noch Branchenentwicklungen, vergaßen sie manches Praktisches Betreffende immer noch.
In letzter Zeit hatte Faith vieles vergessen. Gerade hatte sie drei Tage hintereinander nichts gegessen. Deshalb hatten sich Angestellte von NightStar eingeschaltet, die das T3-Computersystem des Hauses benachrichtigt hatte. Drei Tage waren erlaubt – manchmal versetzten sich V-Mediale in einen Trancezustand. In diesem Fall hätte man sie nur an einen Tropf angeschlossen und in Ruhe gelassen.
„Danke“, sagte sie zu dem leitenden M-Medialen. „Es geht mir wieder gut.“
Xi Yun nickte. „Sie sollten alles aufessen. In dieser Mahlzeit sind alle Kalorien enthalten, die Sie benötigen.“
„Selbstverständlich.“
Xi Yun ging mit seinem Team zur Tür. Faith wusste, dass der schmale Arztkoffer in seiner Hand die notwendigen Medikamente enthielt, um sie entweder aus einer katatonen Starre zu reißen oder einen manischen Zustand zu dämpfen. Heute war nichts davon nötig gewesen. Sie hatte nur einfach vergessen zu essen.
Nach dem Verzehr aller Energieriegel und isotonischen Getränke, die der M-Mediale dagelassen hatte, lehnte Faith sich in dem großen Liegesessel zurück, auf dem sie die meiste Zeit verbrachte. Er war doppelt so breit wie ein Bett und versorgte das T3-System konstant mit allen lebenswichtigen Daten ihres Körpers. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stand ein M-Medialer bereit, der eingreifen würde, falls eine Behandlung notwendig wäre. Selbst bei V-Medialen war das nicht die Regel, aber Faith war eben keine normale V-Mediale. Sie war die Beste.
Alle Vorhersagen, die sie je gemacht hatte, waren eingetroffen, es sei denn, man hatte vorher Gegenmaßnahmen ergriffen. Deshalb war sie Millionen wert, vielleicht sogar Milliarden. Bei NightStar galt sie als der wertvollste Aktivposten. Wie alle anderen wurde sie in bester Verfassung gehalten, damit sie optimal funktionierte. Und wie alle anderen würde man sie, falls sie einen Defekt zeigte, sofort gründlich überprüfen und in Teilen weiterverwerten.
Als sich dieser Gedanke einschlich, riss Faith die Augen auf. Sie starrte auf das blasse Grün der Decke und versuchte, ihren rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Wenn es ihr nicht gelang, würden die M-Medialen vielleicht noch einmal vorbeischauen, und sie wollte nicht, dass jemand sie in diesem Zustand sah. Womöglich würden ihre Augen sie verraten. Manchmal zeigten sich selbst in den nachtschwarzen Augen einer Kardinalmedialen Dinge, die besser im Verborgenen blieben.
„In Teilen“, flüsterte sie. Natürlich würde auch das aufgezeichnet werden. V-Mediale machten manchmal Vorhersagen während ihrer Trancezustände; daher wollte man keines ihrer Worte verpassen. Vielleicht zogen es deshalb einige vor, möglichst zu schweigen.
In Teilen weiterverwerten.
Zunächst schien das unlogisch zu sein, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass ihre Fähigkeiten ihr wieder einmal eine Zukunft gezeigt hatten, die sie sich nie hätte vorstellen können. Meist wurden defekte Mediale Rehabilitationsmaßnahmen unterzogen; eine Gehirnwäsche löschte ihren Verstand aus, sodass sie nur noch niedere Arbeiten durchführen konnten. Anders bei den V-Medialen. Sie waren zu selten, zu wertvoll und zu einzigartig.
Wenn ein V-Medialer über ein akzeptables Maß hinaus verrückt wurde, wenn er keine Vorhersagen mehr machen konnte, arrangierten die M-Medialen einen Unfall, bei dem das Gehirn des V-Medialen unverletzt blieb. Dann benutzten sie das fehlerhafte Gehirn für ihre Experimente, untersuchten die Strukturen. Alle wollten wissen, wie die V-Medialen funktionierten. Sie waren die am wenigsten erforschte Spezies der Medialen, man tappte noch völlig im Dunkeln – da sie gerade mal ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, war es schwer, geeignete Objekte für Untersuchungen zu finden.
Faith grub ihre Finger in die dicken roten Polster des Sessels, ihr Atem kam stoßweise. Ihre körperliche Reaktion hatte aber noch nicht solche Ausmaße erreicht, dass ein medizinisches Eingreifen notwendig gewesen wäre, da V-Mediale während ihrer Visionen oft ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigten. Aber Faith konnte auch nicht zulassen, dass die Überlastungsreaktion zu einer Serie von Kurzschlüssen in ihrem Gehirn führte.
Selbst als sie sich körperlich beruhigt hatte, schossen ihr noch immer Bilder durch den Kopf, in denen ihr Gehirn an wissenschaftlichen Geräten angeschlossen war und kalte Medialaugen es von allen Seiten betrachteten. Sie wusste, dass das unsinnig war. Nie würde so etwas in einem der Labors passieren. Ihr Verstand versuchte nur, in etwas Unsinnigem einen Sinn zu entdecken. So wie in den Träumen, die sie seit zwei Wochen im Schlaf verfolgten.
Zuerst war es nur eine vage Vorahnung gewesen, Dunkelheit, die sich plötzlich in ihrem Verstand ausbreitete. Sie hatte gedacht, es wäre vielleicht die Ankündigung einer Vision – der Zusammenbruch eines Marktes oder ein geschäftlicher Misserfolg –, aber die Dunkelheit hatte von Tag zu Tag zugenommen, hatte sie immer mehr niedergedrückt, ohne irgendetwas Konkretes zu enthüllen. Und sie hatte etwas gefühlt. Obwohl sie nie zuvor Gefühle gehabt hatte, waren diese Träume von Furcht durchtränkt gewesen, hatte Angst sie dabei fast erstickt.
Nur gut, dass sie schon vor langer Zeit darum gebeten hatte, im Schlafzimmer nicht überwacht zu werden. Irgendetwas in ihr hatte gewusst, was ihr bevorstand. Irgendetwas in ihr wusste immer Bescheid. Aber diesmal konnte sie sich keinen Reim machen auf diese schreckliche Wut, die ihr fast den Atem nahm. In den ersten Träumen hatte es sich so angefühlt, als würde sie jemand würgen, ihr den Hals zudrücken, bis sie nur noch ein Bündel Angst war.
Letzte Nacht war es anders gewesen. Sie war nicht aufgewacht, als sich die Hände um ihren Hals legten. So sehr sie es auch versucht hatte, sie hatte den Schrecken nicht abschütteln können, hatte nicht in die Wirklichkeit zurückgefunden. Letzte Nacht war sie gestorben.
Vaughn D’Angelo sprang von dem Ast, auf dem er entlanggelaufen war, und landete elegant auf dem Waldboden. Sein orangeschwarzes Fell hätte im Silberlicht des Mondes wie unter einem Scheinwerfer aufleuchten sollen, aber der Jaguar war unsichtbar, nutzte die Schatten der Nacht, um sich zu verbergen. Vaughn war nur zu sehen, wenn er es wollte.
Durch das dichte Blätterdach konnte man die helle Scheibe des Mondes sehen. Lange starrte Vaughn durch das dunkle Gespinst der Äste in den Himmel, die glitzernde Schönheit zog Mann und Tier in ihm gleichermaßen in den Bann, obwohl keiner von beiden den Grund dafür kannte. Das spielte auch keine Rolle. Heute Abend hatte der Jaguar die Führung übernommen, und der kam nicht in Versuchung, sich über irgendetwas Gedanken zu machen.
Der Wind trug die Andeutung einer Witterung zu ihm herüber, und Vaughn hob schnuppernd den Kopf. Jemand aus dem Rudel. Er kannte den Geruch: Es war Clay, ein anderer Wächter.
Dann verschwand der andere, ein Leopard, als hätte er Vaughns höheren Rang bemerkt. Vaughn öffnete das Maul, knurrte leise und streckte seinen mächtigen Katzenkörper. Die tödlich scharfen Fangzähne glitzerten im Mondlicht, aber er war nicht auf Beute aus. Heute wollte er nicht mit einem einzigen Biss den schnellen Tod bringen, heute Abend wollte er nur laufen.
Mit seinen federnden Sprüngen konnte er große Entfernungen überbrücken und in der Regel lief er tief in die Wälder hinein, die den größten Teil Kaliforniens bedeckten. Doch heute war die Stadt am Lake Tahoe sein Ziel. Selbst als Katze konnte er sich dort leicht unter die Menschen und Medialen mischen. Er war schließlich nicht umsonst ein Wächter – er konnte auch in eine schwer bewachte Festung eindringen, ohne sich zu verraten.
Doch diesmal kam er gar nicht erst in die Stadt hinein; unerwartet zog kurz davor etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Nur ein paar Meter vom dunklen Grün des Waldes entfernt umgab ein elektrischer Zaun ein kleines Gelände, das unter anderem durch Kameras mit Bewegungsmeldern schwer bewacht wurde. Er wusste, dass dort drinnen ein Haus war, auch wenn die üppige Vegetation und vielleicht noch ein weiterer Zaun es verbargen. Überrascht witterte er überall den metallisch-scharfen Geruch der Medialen. Wie interessant!
Normalerweise zogen es die Medialen vor, in der Stadt zu leben; inmitten von Wolkenkratzern wohnte jeder Erwachsene dort in seinem eigenen kleinen Kasten. Aber auf diesem Gelände lebte ein Medialer, und wer immer es war, er oder sie wurde von anderen ihrer Rasse beschützt. Nur wenige außerhalb des Rats genossen ein solches Privileg.
Neugierig geworden schlich Vaughn um das gesamte Gebiet herum, immer außerhalb der Reichweite der Kameras. In weniger als zehn Minuten hatte er ein Schlupfloch gefunden – die Arroganz der Medialen hatte sie wieder einmal dazu gebracht, nicht mit den Tieren zu rechnen, mit denen sie die Erde teilten.
Oder, überlegte der Mann im Tier, sie haben einfach keine Ahnung, wozu andere Rassen fähig sind. Gestaltwandler und Menschen zählten für die Medialen nicht, weil sie mit ihrem Verstand nicht dieselben Dinge tun konnten wie sie. Doch sie hatten vergessen, dass der Geist schließlich auch den Körper bewegt, und Tiere konnten außerordentlich gut mit ihrem Körper umgehen.
Über dem ersten Zaun ragte ein Ast ins Gelände hinein, Vaughn kletterte hinauf und sein Raubtierherz schlug voller Vorfreude. Aber selbst der Jaguar wusste, dass er so etwas nicht tun sollte, ohne Anlass dort hineingehen und sich in Gefahr bringen. Zwar konnte Gefahr weder den Mann noch das Tier schrecken, aber ein tieferes Gefühl siegte schließlich über die Neugier der Raubkatze: Loyalität. Vaughn war ein Wächter der DarkRiver-Leoparden und die daraus resultierende Verpflichtung stand über jedem anderen Gefühl, sogar über jedem anderen Bedürfnis.
An diesem Abend sollte er Sascha Duncan bewachen, die Frau des Rudelführers, während Lucas bei einem Treffen in der Höhle der SnowDancer-Wölfe war. Nur weil Sascha wusste, dass Lucas ohne sie schneller war, hatte sie schließlich zögernd zugestimmt daheimzubleiben. Und nur weil Lucas wusste, dass die Wächter für ihre Sicherheit sorgen würden, war er schließlich doch gegangen.
Vaughn warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das bewachte Gelände, dann zog er sich auf dem Ast zurück, sprang auf die Erde und machte sich auf den Weg. Er würde sein Vorhaben weder vergessen noch aufgeben. Das Geheimnis um diesen Medialen, der so nah am Territorium der Gestaltwandler lebte, würde gelüftet werden. Niemand entkam dem Jaguar, wenn er erst einmal eine Fährte aufgenommen hatte.
Faith sah aus dem Küchenfenster in die Dunkelheit und wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete. Etwas sehr Gefährliches schlich um die Zäune herum, die sie von der Außenwelt abschirmten. Schaudernd schlang sie die Arme um ihren Körper – und erstarrte. Sie war eine Mediale – wie konnte sie so reagieren? Lag es an den dunklen Vorahnungen? Rüttelten die an ihren geistigen Schilden? Sie zwang sich mit reiner Willenskraft, die Arme herunterzunehmen, und wollte sich vom Fenster abwenden. Aber es gelang ihr nicht.
Stattdessen beugte sie sich vor und drückte eine Hand an die Scheibe, als wollte sie nach draußen greifen.
Draußen. Sie kannte die Welt da draußen kaum. Immer hatte sie drinnen gelebt, musste drinnen leben. Draußen drohte ihr der geistige Zerfall, und die Angst davor schlug in ihrem Kopf wie eine Trommel, die sie nicht abstellen konnte. Draußen drangen Gefühle von allen Seiten auf sie ein, sah sie unmenschliche, gemeine und schmerzhafte Dinge. Draußen konnte sie zerbrechen. Es war sicherer, hinter den schützenden Wänden zu leben.
Aber jetzt bekamen diese Wände Risse. Dinge drangen herein und sie konnte ihnen nicht entfliehen. Das wusste sie ebenso sicher, wie sie wusste, dass sie dem nicht entkommen konnte, was dort um ihren Besitz herumschlich. Das Raubtier, das sie verfolgte, würde nicht eher ruhen, bis es sie in seinen Krallen hatte. Sie hätte sich fürchten müssen. Aber sie war eine Mediale – sie spürte keine Furcht. Außer im Schlaf. Dann fühlte sie so viel, dass sie Angst hatte, ihre Schutzschilde im Medialnet könnten Risse bekommen und alles dem Rat enthüllen.
Inzwischen mochte sie nicht mehr einschlafen. Wenn sie nun wieder starb – und wenn es diesmal Wirklichkeit wurde?
In das unendliche Schweigen um sie herum drang das leise Läuten der Kommunikationskonsole. So spät am Abend kam das sehr unerwartet – der M-Mediale hatte ihr schließlich mehrere Stunden Schlaf verordnet.
Endlich konnte sie sich vom Fenster lösen. Als sie zur Konsole hinüberging, schien das Vorgefühl einer bevorstehenden Katastrophe sie einzuhüllen, ein finsteres Wissen, das irgendwo im Schattenland zwischen wirklicher Vorhersage und diffusen Vorahnungen angesiedelt war. Auch das eine neue Empfindung, die drückende Erkenntnis, dass irgendetwas Schreckliches die Flügel erhob und nur darauf wartete, dass sie nicht aufpasste.
Als sie die Antworttaste drückte, zeigte ihr Gesicht nichts von ihrer inneren Verwirrung. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass gerade diese Person auf dem Monitor auftauchen würde.„Vater?“
Anthony Kyriakus war das Oberhaupt der Familie. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er mit Zanna Liskowski einen Zeugungsvertrag geschlossen; beide hatten das Sorgerecht für Faith gehabt, bevor sie mit zwanzig offiziell volljährig geworden war. Sie hatten sie gemeinsam aufgezogen, obwohl diese Formulierung auf ihre Kindheit kaum zutraf. Drei Jahre nach ihrer Geburt war sie mit dem Einverständnis ihrer Eltern aus deren Obhut genommen und in eine vollständig kontrollierte Umgebung gebracht worden, wo ihre Fähigkeiten weiterentwickelt und genutzt werden sollten …
… und der aufkeimende Wahnsinn im Zaum gehalten werden konnte.
„Faith, ich habe leider schlechte Neuigkeiten in Bezug auf unsere Familie.“
„Was ist passiert?“ Ihr Herz schlug dumpf wie ein Holzhammer und sie nahm all ihre Kraft zusammen, um diese Reaktion unter Kontrolle zu halten. Es konnte auch der Vorbote einer Vision sein und gerade jetzt konnte sie so etwas nicht gebrauchen. Vor allem nicht, wenn es wieder eine dieser schrecklichen Visionen war.
„Deine Schwester Marine ist von uns gegangen.“
Ihr Kopf war leer. „Marine?“
Sie hatte ihre jüngere Schwester kaum gekannt, sie aber aus der Ferne immer im Auge behalten. Als kardinale Telepathin hatte Marine bereits eine hohe Stellung in der Familie eingenommen. „Was ist geschehen? Hatte sie körperliche Probleme?“
„Glücklicherweise lag es nicht daran.“
Glücklicherweise, denn damit bestand keine Gefahr für Faith. NightStar hatte zwar durch beide seltenen Kardinalmedialen beträchtlich an Macht gewonnen, doch es hatte nie einen Zweifel daran gegeben, dass Faith ihr wertvollstes Kapital war. Sie verfügte über genügend Einkommen und durch ihre Arbeit hob sich der gesamte Clan von der Masse der Medialen ab. Nur ihre Gesundheit war wirklich wichtig – Marines Tod war nur eine Unannehmlichkeit.
Das ist so kalt, so unmenschlich kalt, dachte Faith, obwohl sie wusste, dass sie ebenso kalt war. Es ging nur ums Überleben. „War es ein Unfall?“
„Nein. Sie wurde ermordet.“
Die Leere in ihrem Kopf füllte sich mit weißem Rauschen, doch sie weigerte sich, darauf zu achten. „Ermordet? Ein Mensch oder ein Gestaltwandler?“, fragte sie, denn unter den Medialen gab es keine Mörder, schon seit über hundert Jahren nicht mehr, seit der Einführung von Silentium. Gewalt und Hass, Wut und Ärger, Eifersucht und Neid waren dadurch bei den Medialen ausgerottet worden. Als Nebeneffekt hatten sie auch alle anderen Gefühle verloren.
„Sicher das eine oder das andere, wir wissen aber noch nicht, welcher Rasse der Mörder angehört. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Ruh dich jetzt aus.“ Er nickte ihr zu.
„Warte.“
„Ja?“
Sie musste sich dazu zwingen, die Frage auszusprechen. „Auf welche Art wurde sie umgebracht?“
„Man hat sie mit bloßen Händen erdrosselt“, sagte Anthony, ohne mit der Wimper zu zucken.
2
Vaughn sprang auf die Veranda des Baumhauses, in dem Sascha mit Lucas lebte. Auf dem Weg nach oben war ihm Mercy entgegengekommen. Vaughn war nicht gerade erfreut, Sascha draußen anzutreffen, denn die Veranda lag zwar hoch in den Bäumen, aber es war schon weit nach Mitternacht und der Tod dieser Kardinalmedialen wäre dem Rat bestimmt nur allzu recht.
„Hallo, Vaughn. Möchtest du dich nicht verwandeln und mir Gesellschaft leisten?“
Ein trockenes Knurren, das nur seiner Gattung zu eigen war, zeigte ihr, was er von diesem Vorschlag hielt.
„Schon gut. Ich weiß, dass ich schlafen sollte, aber ich kann nicht.“ Sascha lehnte sich auf dem Stuhl zurück, den sie sich offensichtlich nach draußen gezogen hatte. „Mercy hat mit mir Schach gespielt.“ In der Dunkelheit leuchteten die winzig kleinen weißen Punkte in den nachtschwarzen Augen. Saschas Finger trommelten auf die hölzerne Armlehne.
Knurrend ging Vaughn ins Haus. Er verwandelte sich im Schlafzimmer und nahm eine Jeans und ein altes schwarzes T-Shirt aus dem Koffer, in dem die Wächter Wechselwäsche aufbewahrten. Als er wieder hinauskam, deutete Sascha auf einen leeren Stuhl, der ihr gegenüber neben einem kleinen Klapptisch stand. Vaughn hob eine Augenbraue, kletterte auf das Geländer der Veranda und schlang seine Beine um einen Pfosten.
„Ich werde mich nie an dieses Katzengehabe gewöhnen.“ Sascha schüttelte den Kopf und strich mit ihren bloßen Füßen über den Holzboden. „Ist dir nicht klar, dass du dir alle Knochen brichst, wenn du hinunterfällst?“
„Katzen landen immer auf den Pfoten.“ Vaughn zog witternd die Luft ein, konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, sah sich aber noch einmal um, um ganz sicherzugehen. Selbst in menschlicher Gestalt büßte er nichts von seiner Sehschärfe ein. „Bist du immer so, wenn Lucas nicht da ist?“
Sascha schien auf dem Sprung zu sein, unruhig, obwohl sie sonst der ruhende Pol inmitten des turbulenten DarkRiver-Raubtierrudels war. „Ja.“ Sie trommelte weiter mit den Fingern auf dem Holz. „Du bist durch den Wald gelaufen?“
„Ja.“ Während Vaughn die Frau des Rudelführers ansah, konnte er nachvollziehen, was Lucas so an ihr faszinierte. Sascha war wunderschön und vollkommen einzigartig. Das lag nicht an ihren nachtschwarzen Augen oder ihrem Gesicht, sondern an ihrem Wesen. Sie leuchtete von innen. Was hätte man auch anderes erwarten sollen? Schließlich war sie eine E-Mediale – eine Empathin, die schlimmste seelische Wunden spüren und heilen konnte.
Dennoch konnte Vaughn sich nicht vorstellen, die gleiche Anziehung wie Lucas zu spüren. Sascha gehörte zum Rudel. Als Wächter hätte Vaughn sein Leben für sie gegeben, aber er hätte sie nie zur Frau gewollt, die Idee einer dauerhaften Verbindung war ihm völlig fremd. Er verstand nicht, warum die Leoparden sich ihr Leben lang an eine einzige Person banden. Nicht dass er es wahllos mit allen trieb, er suchte sich seine Partnerinnen sorgfältig aus. Aber Vaughn liebte die Freiheit, das Gefühl, dass niemand von ihm emotional abhängig war. Es würde keinem das Herz zerreißen, wenn er starb.
„Ich weiß nie, was du gerade denkst.“ Sascha beobachtete ihn und legte den Kopf leicht schräg. „Ich weiß nicht einmal, ob du mich magst.“
Der Katze gefiel es, so schwer durchschaubar zu sein. „Du bist die Frau von Lucas.“ Deshalb war er ihr gegenüber loyal.
„Aber was ist mit mir als Individuum?“, hakte sie nach.
„Vertrauen braucht Zeit.“ Obwohl sie sich schon eine Menge davon verdient hatte, als sie beinahe gestorben wäre, um Lucas’ Leben zu retten. Vaughn hatte sonst niemanden, der ihm so nahestand, ein bestialisches Geschehen hatte sie zu Blutsbrüdern gemacht.
„Irgendetwas an dir ist anders – du bist weniger zivilisiert als der Rest.“
„Das stimmt.“ Warum sollte er es leugnen? Er war weit mehr ein Tier als die meisten Raubtiergestaltwandler, hatte es werden müssen, um zu überleben. So wie Sascha jetzt ein Teil des Rudels sein musste. „Vermisst du manchmal deine Artgenossen?“
„Natürlich.“ Sie drehte den Kopf und sah in den Wald, eine einsame Mediale, die in einem Leopardenrudel lebte. „Wie sollte ich die Welt, in der ich fünfundzwanzig Jahre lang gelebt habe, nicht vermissen?“ Nun sah sie ihn wieder an. „Und du?“
„Ich habe nur zehn Jahre in einer anderen Welt gelebt.“ Und das hatte gereicht, um die Male des Verrats auf ewig in seine Haut zu brennen. „Übrigens, was für einen Grund könnte es haben, dass jemand von euch allein lebt, fern von der Gemeinschaft?“
Sascha nahm ihm nicht übel, dass er ihr keine Antwort gegeben hatte. „Eine Mediale könnte sich zum Beispiel mit einem Panther zusammengetan haben, der es vorzieht, auf einem Baum fernab jeglicher Zivilisation zu wohnen.“ Sie verzog das Gesicht, aber ihr Lächeln verriet sie. „Es ist ungewöhnlich, aber manche Mediale wohnen lieber etwas abgeschieden, meistens diejenigen, die am unteren Ende der Skala rangieren. Vielleicht deshalb, weil sie dann nicht befürchten müssen, ihre Fähigkeiten könnten sie überwältigen.“
„Das ist es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Die hier wird bewacht, als sei sie das Oberhaupt der Regierung.“ Sie. Das Tier in ihm war sicher, dass es eine Frau war.
„Tatsächlich?“
„Zäune. Versteckte Kameras. Sicherheitsbeamte. Bewegungsmelder.“
Sascha hob die Augenbrauen. „Dann kann es nur eine V-Mediale sein.“
„Vorhersage?“ Es war hilfreich, eine Mediale im Rudel zu haben. Bevor Sascha zu ihnen kam, hatten sie fast nichts über die komplexe Welt der Medialen gewusst. „Ich dachte, die wären sehr selten. Würde der Rat sie dann nicht in seiner Nähe einsperren, um sie im Auge zu behalten?“
Sascha schüttelte den Kopf. „Ich habe gehört, die mächtigsten unter ihnen meiden sogar die Nähe zu anderen Medialen. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass nur die V-Mediale an diesem Ort lebt, selbst wenn du Sicherheitsbeamte gesehen hast. Ich weiß nicht allzu viel über sie – Hellsichtige sind fast eine eigene Rasse innerhalb der Medialen und sie gehören Clans an, die sie in der Öffentlichkeit vertreten. Kaum einer hat sie je zu Gesicht bekommen. Man sagt, sie verlassen nie das Haus. Unter keinen Umständen.“
Vaughn konnte das Bedürfnis nach Einsamkeit verstehen, aber etwas in Saschas Beschreibung hörte sich merkwürdig an. „Sind sie eingesperrt?“
„Nein. Ich glaube nicht, dass man sie gefangen hält, sie ziehen es nur einfach vor, in ihrem Schneckenhaus zu leben und die dunkle Seite des Lichts nicht zu sehen.“ Sie senkte die Stimme. „Vielleicht würden sie, wenn sie von Zeit zu Zeit hinausgingen, sich an die von ihnen verlassene Welt erinnern und ihre wirklichen Fähigkeiten erkennen.“
Er wusste, dass sie an die schrecklichen Martern dachte, die ihr Mann als Kind hatte ertragen müssen, und an seine Rache, die das Band zwischen Vaughn und Lucas geschmiedet hatte. Wenn sich die V-Medialen nicht in ihr Schweigen zurückgezogen und weiterhin Katastrophen und Morde vorhergesehen hätten, wäre Lucas dieser Schrecken vielleicht erspart geblieben.
Und vielleicht hätte auch Vaughn als Jaguar aufwachsen können, hätten ihn seine Eltern nicht dem schlimmsten aller Tode überlassen. Vielleicht.
Mit bloßen Händen erdrosselt.
Faith starrte in dem dunklen Schlafzimmer an die Decke und die Worte drehten sich unaufhörlich in ihrem Kopf. Die Versuchung war groß, alles nur als einen Zufall abzutun und tief in ihr Unbewusstes sinken zu lassen. Ein Teil von ihr wollte genau das tun. Es wäre so viel leichter zu ertragen. Aber es wäre eine Lüge.
Marine war tot. Und Faith hatte diesen Mord vorhergesehen.
Wenn sie diese Vision bloß richtig gedeutet hätte, könnte ihre Schwester vielleicht noch leben. Ja, wenn! Schon in der Kindheit hatte man ihr beigebracht, der Vergangenheit nicht nachzuweinen, überhaupt nicht zu weinen, deshalb vergoss sie auch jetzt keine Tränen. Sie hatte nicht einmal das Bedürfnis, aber tief in ihr schrie ein gefangener und fast unheilbar zerbrochener Teil vor Schmerzen.
Faith hörte die Schreie ihrer verstörten Seele nicht. Sie wusste nur, dass sie sich nicht einfach abwenden konnte. Hier ging es nicht um einen Konjunkturtrend, den sie falsch bewertet hatte, es stand ein Leben auf dem Spiel. Sie konnte nicht einfach wegschauen – nicht solange sie diese schwere, grausame und hässliche Dunkelheit auf ihren Lidern spürte.
Der Mörder hatte noch nicht genug.
Ein leises Läuten durchbrach die lastende Stille. Zum Glück gab es im Schlafzimmer keinen Bildschirm, Faith antwortete, ohne das Licht einzuschalten. „Ja, bitte.“
Xi Yun selbst meldete sich: „Wir haben seit gestern keine Daten mehr erhalten.“
„Ich bin müde.“ Und sie hatte nicht in dem roten Sessel sitzen und damit vielleicht ihren inneren Aufruhr verraten wollen. „Ich muss etwas Schlaf nachholen, genau wie Sie mir empfohlen haben.“
„Verstanden.“
„Ich werde erst wieder in ein paar Tagen Daten einspeisen.“
„Wie viele Tage genau?“ Die Frage war eine Vorsichtsmaßnahme, sollte ihre Art davor schützen, Dinge zu vergessen, aber Faith ärgerte sich seit kurzem darüber, hielt es für eine weitere Möglichkeit, sie zu binden, damit ihre Fähigkeiten immer zur Verfügung standen.
„Drei.“
Mehr würden sie ihr nicht erlauben, länger „trauten“ sie ihr nicht zu, für sich selbst zu sorgen. Schon oft war ihr der Gedanke gekommen, es sei nur gut, dass sowohl der Clan als auch der Rat so darauf bedacht waren, ihre Fähigkeiten zu erhalten. Sonst hätten sie vielleicht schon längst ihre Schutzschilde im Medialnet beiseitegeschoben, um auch die intimsten Bereiche zu überwachen, selbst ihre Gedanken zu kontrollieren. Selbstverständlich nur zu ihrem eigenen Besten.
Sie schauderte, doch das war sicher der Raumtemperatur zuzuschreiben. Keinesfalls hatte es etwas mit Angst zu tun. Sie hatte keine Angst. Sie empfand gar nichts. Sie war eine Mediale. Noch dazu eine V-Mediale. Ihre Konditionierung war noch strenger als die der anderen Kardinalmedialen abgelaufen – man hatte ihr beigebracht, niemals auch nur die leiseste Andeutung eines Gefühls in ihr Bewusstsein dringen zu lassen, denn das würde ihren Geist zerstören. Sie zweifelte nicht daran. Ihr Clan hatte schon vor Silentium V-Mediale hervorgebracht und jeder oder jede vierte war in einer Heilanstalt gelandet, bevor er oder sie das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten.
Drei Tage.
Was war der Grund für diese Auszeit? Sie war nicht müde, auch wenn Xi Yun anderer Meinung war. Sie brauchte weniger Schlaf als die meisten Medialen, vier Stunden waren das Maximum. Die Auszeit sollte nicht zum Ausruhen dienen. Sie hatte eine Idee, ein Ziel, auch wenn es ihr noch nicht bewusst war. Dennoch stand sie auf und packte Kleidung und Toilettenartikel für eine kurze Reise in einen Rucksack.
Vor einem Monat hatte sie jemanden aus ihrem Clan ohne besonderen Grund darum gebeten, ihr einen Rucksack zu besorgen. Niemand hatte nachgefragt, sie hatten angenommen, Faith bräuchte einen Anhaltspunkt für eine Vision. Faith hatte es so stehen lassen, sie wusste selbst nicht, ob es nicht wirklich nur darum ging. Aber nun stellte sie wieder einmal fest, dass ihre Fähigkeiten sie dazu gebracht hatten, für etwas Zukünftiges vorzusorgen.
Während Faith für eine Reise packte, von der sie noch nichts ahnte, schlug eine geistige Tür im Medialnet zu und schloss sechs Gehirne in einem scheinbar hermetisch verriegelten Raum ein. Der Rat der Medialen hatte eine Sitzung.
„Wir müssen dringend einen Ersatz für Santano Enrique finden.“ Nikita sah die sie umgebenden Ratsmitglieder an – jeder von ihnen ein kalter weißer Stern in der Schwärze des Medialnets – und überlegte, wer von ihnen wohl gerade plante, ihr ein Messer in den Rücken zu stoßen. Irgendjemand hatte das immer vor. Die Tatsache, dass ihre Körper auf der ganzen Welt verteilt waren, schützte nicht vor einem Angriff.
„Vielleicht müssen wir nicht nur Enrique ersetzen.“ Dieser aalglatte Vorschlag kam von Shoshanna Scott. „Bist du sicher, dass du den genetischen Defekt nicht an deine Tochter weitergegeben hast?“
„Wir wissen doch alle, dass Sascha keinen Defekt hatte“, antwortete Marshall. „Nikita hat eine Kardinalmediale hervorgebracht. Wie viele Kardinale gibt es in deiner Familie, Shoshanna?“
Marshalls Unterstützung überraschte Nikita. Als ältestes Ratsmitglied und faktisches Oberhaupt blieb er meistens neutral. „Wir können uns jetzt keinen Streit leisten“, stellte sie fest. „Die DarkRiver-Leoparden und die SnowDancer-Wölfe werden jede Schwäche ausnutzen.“
„Wie sicher ist es, dass sie ihre Drohung wahr machen?“ Das war Tatiana Rika-Smythe, die Jüngste in diesem Gremium.
„Sie haben Enrique in sämtliche Teile zerlegt, nachdem sie ihn getötet hatten. Ich glaube, wir wissen ganz genau, was die Leoparden und die Wölfe machen werden, falls wir Sascha etwas antun.“ Henry Scotts Stern war nicht der eines Kardinalmedialen, aber er besaß trotzdem sehr viel Macht. Zusammen mit Shoshannas rasiermesserscharfem politischem Verstand hatte das Paar die Möglichkeit, sich an die Spitze des Rats zu setzen. Vielleicht war das der Grund, warum Marshall plötzlich so bereit war, Nikita zu unterstützen.
„Wir brauchen einen Kardinalmedialen, um Enrique zu ersetzen“, ließ sich Ming LeBon vernehmen, dessen geistige Stimme genauso eiskalt und tödlich klang, wie es seine körperliche Anwesenheit gewesen wäre. Er war Experte im geistigen Zweikampf und ebenso Meister in Karate und Jiu-Jitsu. „Kein anderer Rang kommt infrage – er war ein Anker und derjenige, der den Netkopf hauptsächlich in Schach hielt.“
Niemand widersprach ihm. So waren die Tatsachen. Der Netkopf, Polizist und Archivar des Medialnets hatte die Tendenz zu sprunghaftem, unberechenbarem Verhalten. Deshalb hatte ihn während der letzten sechs Generationen immer ein Mitglied des Rats im Auge behalten. Zwei der medialen Fähigkeiten schienen dafür besonders geeignet zu sein.
„Enriques Zugang zum Netkopf hat es ihm auch erleichtert, seinen Defekt vor uns zu verbergen“, gab Henry zu bedenken.
Mings Stern zeigte keine Regung. „Das ist unvermeidlich. Trotz all unserer Forschungen können wir nicht vorhersagen, beim wem die Konditionierung nicht greift.“
„Die meisten Kardinalmedialen im Net sind ungeeignet für eine Ratsmitgliedschaft“, sagte Nikita. Sie waren zu sehr in ihren Köpfen zu Hause, wussten kaum etwas von den skrupellosen Praktiken, die erforderlich waren, um die Medialen weiter an der Spitze der Nahrungskette zu halten.
„Denkst du an jemanden Bestimmten, Ming?“, fragte Marshall.
„Faith NightStar.“
Nikita nahm sich Zeit, um die Akten über diese Kardinalmediale zu finden. „Eine V-Mediale? Ich weiß, dass Vorhersage und Telekinese am besten geeignet sind, um den Netkopf zu überwachen, aber V-Mediale sind so … instabil.“
„Und mehr als fünfundneunzig Prozent von ihnen sind mit fünfzig Jahren in einer Anstalt“, fügte Shoshanna hinzu. „Wir können sie nicht wirklich in Betracht ziehen.“
„Da bin ich anderer Meinung. Faith NightStar hat einen ebenso starken Geist wie Enrique; seit ihrem dritten Lebensjahr hat sie uns immer sehr genaue Voraussagen geliefert. Kein anderer Hellsichtiger war je so produktiv oder so genau. In ihrem ganzen Leben hat sie noch keinerlei Anzeichen von geistigem Zerfall gezeigt und als kardinale V-Mediale steht sie unter dauernder Beobachtung.“
„Da hat Ming recht“, schaltete sich Marshall ein. „Vielleicht wäre es das Sicherste, Faith zu wählen. Zumindest wissen wir, dass sie bislang nicht psychotisch ist, und die Überwachung, die sie weiterhin wegen ihrer Vorhersagen brauchen wird, stellt sicher, dass jede Veränderung sofort auffallen würde.“
„Egal für wen wir uns entscheiden, wir müssen es bald tun.“ Mings Geiststimme klang sehr entschieden. „Ich habe einen Bericht über Faith NightStar zusammengestellt.“ Er wies auf die ideelle Ablage in den Ratskammern.
„Möchte noch jemand einen Kandidaten vorschlagen?“
„Kaleb Krychek wäre ebenfalls eine Möglichkeit“, antwortete Shoshanna. „Er ist ein kardinaler TK-Medialer und gehört bereits zum Stab des Rats. Ich werde seine Akten neben die von Faith stellen. Wie ihr feststellen werdet, sagt man ihm nach, er habe seine telekinetischen Fähigkeiten außerordentlich gut unter Kontrolle.“
„Kaleb ist jünger als ich“, stellte Tatiana fest, „und doch schon fast in einer Spitzenposition. Ich glaube daher, er ist die bessere Wahl – Faith ist nicht nur weit jünger als wir beide, sie lebt auch völlig isoliert. Sie würde im Rat wohl kaum überleben.“
„Da bin ich nicht so sicher.“ Nikita war zwar nicht davon überzeugt, dass Faith für den Posten geeignet war, aber sie wusste, welche Gefahr von Krychek ausging. „Kaleb ist trotz seiner Jugend sehr weit aufgestiegen. Das heißt, er ist nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet und daher genauso anfällig für den psychopathischen Defekt, der Enrique befallen hat.“
„Zu einem gewissen Grad sind wir doch alle machtgierig“, gab Tatiana zurück. „Doch du könntest recht haben – vielleicht würde es die Bevölkerung eher beruhigen, wenn wir ein weniger aggressives Mitglied berufen.“
„Der Kandidat sollte aber auch mächtig genug sein, um uns eine Zeit lang erhalten zu bleiben“, kam Shoshanna noch einmal auf ihr Thema zurück. „Wenn wir innerhalb eines kurzen Zeitraums zwei Ratsmitglieder verlieren, könnte das unsere Autorität untergraben.“
„Da hat Shoshanna recht.“ Nichts in Marshalls Ton wies auf irgendeine Parteilichkeit hin. „Seht euch die Akten an. Wir treffen uns morgen wieder und stellen einen Zeitplan für Vorgespräche mit den beiden Kandidaten auf. Oder hat einer von euch noch einen weiteren Vorschlag?“
„Nicht direkt einen Vorschlag, aber wir sollten eines nicht außer Acht lassen.“ Shoshannas mächtige Präsenz ließ ihren Stern aufblitzen. „Seit zwei Generationen gibt es keinen M-Medialen mehr im Rat. Vielleicht sollten wir diesen Missstand abstellen. Es könnte uns davor schützen, einen zweiten Enrique in unsere Reihen aufzunehmen.“
In diesem Punkt war Nikita mit ihrer Rivalin einer Meinung. „Wir könnten auch regelmäßige medizinische Untersuchungen für alle Ratsmitglieder beschließen.“
„Und die wären leichter geheim zu halten, wenn der Mediziner einer von uns wäre“, meinte Henry.
„Aber dieses Ratsmitglied hätte dann auch viel mehr Macht als alle anderen.“ Nikita konnte sich nicht mit der Idee anfreunden, dass einer ihrer Kollegen intime Kenntnisse über ihren Körper oder ihren Geist hätte.
„Da stimme ich dir zu“, mischte sich auch Tatiana ein. „Man sollte überlegen, einen M-Medialen in Erwägung zu ziehen, aber nur als Repräsentant seiner Art, nicht als unser Aufpasser.“
„Und was ist mit dem Netkopf? Am besten können ihn doch V- und TK-Mediale kontrollieren“, warf Henry noch einmal ein.
„Das können wir später in unsere Entscheidung einbeziehen.“ Ming war sonst immer der Schweigsamste unter ihnen und Nikita wusste von ihm am wenigsten.
„Hat noch jemand einen Vorschlag?“
Marshalls Antwort kam etwas vom Thema ab. „Leider haben wir Sienna Lauren verloren. Sie hatte großes Potenzial.“
„Ja, schade“, stimmte Ming zu. „Ich hatte in ihr schon einen möglichen Protegé gesehen.“
Daraus schloss Nikita, dass Sienna Lauren mit denselben Fähigkeiten im geistigen Zweikampf zur Welt gekommen war, die Ming so tödlich gefährlich machten. „Bei dieser Tendenz der Lauren-Gruppe, die Konditionierung aufzubrechen, war eine Rehabilitation die einzig mögliche Konsequenz. Sie wären noch am Leben, wenn sie nicht versucht hätten, unser Urteil zu umgehen.“
„Selbstverständlich“, kam es von Ming.
„Um noch einmal auf M-Mediale zurückzukommen“, fuhr Nikita fort, „Gia Khan in Indien hat sich als sehr nützlich in den Angelegenheiten des Rats erwiesen.“
Eine kurze Pause trat ein, während die anderen im Geist Gias Akten durchgingen.
„Wäre eine Möglichkeit. Lasst sie uns ebenfalls auf die Liste setzen“, meinte Marshall.
„Was ist mit den anderen Bewerbern? Sollten wir irgendjemanden davon ernsthaft in Betracht ziehen?“, fragte Shoshanna.
„Nein. Es gibt zwar ein paar, die denken, sie seien mächtig genug, aber wenn es so wäre, würde einer von uns jetzt schon nicht mehr leben.“ Tatiana wusste, wovon sie sprach – sie war in den Rat aufgestiegen, nachdem ihr Vorgänger Michael Bonneau im Beisein seiner erfahrensten Beraterin Tatiana leider einen „Unfall“ gehabt hatte.
„Dann sind wir uns also einig. Das nächste Ratsmitglied heißt Kaleb Krychek, Gia Khan oder Faith NightStar.“
3
Faith hatte das Gelände noch nie allein verlassen. Vor einundzwanzig Jahren hatte man sie hierhergebracht und ihr gesagt, sie könne in der Welt da draußen nicht überleben, ihre Visionen würden zu schnell und zu stark werden, wenn sie zusammen mit anderen lebte. Sie hatte keinen Grund gehabt, das anzuzweifeln, und im Laufe der Zeit war ihr Heim zu einem selbst gewählten Gefängnis geworden, einem Ort, den sie nur selten verließ.
Aber heute würde sie sich in die unbekannte Welt begeben. Ihr Bewusstsein hatte endlich begriffen, worauf sich ihr Unbewusstes schon seit Monaten vorbereitet hatte – sie würde nach Antworten suchen. Sie wusste, dass sie dafür mit jemandem sprechen musste, der weder zum Rat noch zum NightStar-Clan gehörte. Beide verfolgten ihre eigenen Interessen. Von ihnen würde sie nicht erfahren, was sie unbedingt wissen musste: Waren diese dunklen Vorahnungen die ersten Anzeichen des beginnenden Wahnsinns oder wiesen sie auf noch weit tückischere Dinge hin? Kam damit eine Seite ihrer Fähigkeiten zum Vorschein, die sie lieber im Verborgenen gelassen hätte?
Obwohl sie bislang fast vollkommen isoliert gelebt hatte, wusste sie doch genug, um ihr Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Es gab noch keine Möglichkeit, die Informationen aus der wirklichen Welt von den Kommunikationsströmen im Medialnet fernzuhalten. Klatsch durchdrang selbst die stärkste Abwehr. Und durch diesen Klatsch hatte Faith von einer Medialen erfahren, die das Medialnet verlassen hatte:
Sascha Duncan.
Der Rat hatte bekannt gegeben, dass die Kardinalmediale einen fundamentalen Defekt gehabt habe und zu schwach gewesen sei, die Verbindung zum Medialnet aufrechtzuerhalten, das jeden Medialen mit dem lebensnotwendigen Biofeedback versorgte. Doch Sascha hatte die Trennung überlebt.
Diese Abtrünnige war die Einzige, der eine Lüge nichts brachte, die nichts zu verlieren hatte, wenn sie Faith die Wahrheit sagte. Alle anderen waren mit dem Medialnet verbunden und konnten sie verraten, sei es nun absichtlich oder durch ein Versehen. Sascha, so die logische Schlussfolgerung, war die einzige Möglichkeit.
Faith wollte lieber nicht an den Traum denken, den sie vor ein paar Wochen gehabt hatte und in dem sie ein Leopard mit hungrigen Katzenaugen angestarrt hatte, wollte lieber nicht verstehen, was ihre Fähigkeit ihr damit sagen wollte. Denn manchmal war es ein Fluch, zu viel über die Zukunft zu wissen.
Das Gelände zu verlassen würde schwierig, aber nicht unmöglich sein. Die Wachposten der Medialen achteten nur darauf, dass niemand hineinkam. Niemand hatte je die Möglichkeit eines Ausbruchs in Betracht gezogen. Faith atmete tief durch, schulterte den kleinen Rucksack, öffnete leise die Tür und trat hinaus in die Dunkelheit.
Sie wusste genau, wo sie hingehen musste. Ein kleiner Bereich am äußeren Zaun lag im toten Winkel der Bewegungsmelder und der Kameras. Wahrscheinlich hatten die Sicherheitskräfte von NightStar das nicht einmal als Schwachpunkt erkannt. Kein Einbrecher hätte die genaue Lage herausfinden können und außerdem hielten die Sicherheitsbeamten diesen Teil fast unter ständiger Beobachtung, da viele von ihnen das Gelände telepathisch überwachen konnten.
Faith hatte schon vor Jahren herausgefunden, wie sie den Blicken der Wachposten entgehen konnte; Langeweile und Isolation boten günstige Bedingungen, um ihren Erfindungsreichtum zu entwickeln. Außerdem war sie sicher, dass sie in der kurzen Zeit zwischen dem Verschwinden des einen und dem Auftauchen des anderen Wachpostens über den Zaun klettern konnte. Sie wusste es sogar ganz genau, weil sie es seit zwei Monaten immer wieder geübt hatte: Sie war über den Zaun geklettert und wieder zurückgekommen, ohne dass jemand etwas bemerkte.
Sie hatte zuerst gedacht, sie brauche einfach die Herausforderung. Aber eine V-Mediale mit ihren Fähigkeiten tat nie etwas einfach so. Zehn Minuten benötigte sie von der Hintertür bis zum äußeren Zaun – der innere hatte ihr nie irgendwelche Schwierigkeiten bereitet. Sie sah einen Wachposten zu ihrer Rechten um die Ecke verschwinden. In genau zehn Sekunden würde der zweite auftauchen. Faith kletterte leise und vorsichtig am Zaun hoch.
Vaughn duckte sich auf dem großen Ast, der in das Gelände hineinragte, das ihn immer noch magisch anzog. Er hatte sich in dieser Nacht hineinschleichen wollen, um herauszufinden, was hinter den ganzen Sicherheitsmaßnahmen steckte. Aber das war nun nicht mehr nötig – seine Beute bewegte sich gerade auf ihn zu.
Trotz der Dunkelheit leuchteten ihre Haare wie eine rote Flamme, und etwas in ihm wollte sie anbrüllen, weil sie dumm genug war, die hüftlange Pracht nicht zu verstecken, aber ein anderer Teil verfolgte beeindruckt, wie schnell, fast katzengleich sie den Zaun erklomm. Sie hielt nicht ein Mal inne, sah sich nicht ein Mal um, als hätte sie es schon hunderte Male getan.
Auf der anderen Seite angekommen, ging sie direkt auf den Wald zu und verschwand unter den Bäumen, wo der Wachposten sie nicht sehen konnte, der gerade um die Ecke kam. Vaughn schlich von Ast zu Ast. Er befand sich fast direkt über ihr, als sie stehen blieb, um etwas aus ihrem Rucksack zu ziehen.
Der kleine Lichtstrahl ihrer Armbanduhr schien auf ein Stück Papier, das wie der Computerausdruck einer Karte dieser Gegend aussah – eine rohe Skizze, auf der weder die Reviere noch die Wege der Gestaltwandler abgesteckt waren. Nach einem kurzen Blick steckte sie die Karte wieder ein und marschierte weiter. Als Mensch hätte er die Stirn gerunzelt: Statt in Richtung Tahoe ging sie immer tiefer in das Territorium der Gestaltwandler hinein.
Zu Fuß würde sie nicht sehr weit kommen, aber sie hatte etwas an sich, bei dem sich seine Nackenhaare aufstellten. Er war ein Wächter, war es gewohnt, seinen Instinkten zu trauen. Er musste diese Frau weiter beobachten. Vorsichtig. Ganz vorsichtig.
Faith hatte das Gefühl, als schliche jemand hinter ihr her – eine irrationale Reaktion, sie war schließlich allein im Wald. Aber wenn alles gut ging, würde sie es nicht lange bleiben. Sie wusste nicht, wo Sascha Duncan jetzt wohnte, doch sie nahm an, wenn sie sich nur weit genug in das Territorium der Leoparden hineinwagte, würde schon einer von ihnen sie aufspüren und ihr den Weg zeigen. Es war kein sehr ausgefeilter Plan, aber aufgrund ihrer Nachforschungen über das territoriale Verhalten der Gestaltwandler hielt sie es für wahrscheinlich, dass er funktionierte. Natürlich wäre es leichter gewesen, zum Hauptquartier der DarkRiver-Leoparden in San Francisco zu gehen, aber sie konnte es sich nicht leisten, entdeckt zu werden.
Nachdem Sascha Duncan aus dem Netz verschwunden war, hatte man allen Medialen den Kontakt zu ihr verboten. Wenn man sie ohne die ausdrückliche Billigung des Rats träfe, würde das automatisch Rehabilitationsmaßnahmen nach sich ziehen – eine rein euphemistische Umschreibung für eine vollständige Gehirnwäsche, die die Persönlichkeit und höhere geistige Funktionen des bestraften Medialen zerstörte. Faith wusste, dass sie viel zu wertvoll war, um solch ein Schicksal zu erleiden, aber sie wollte trotzdem nicht, dass jemand mitbekam, was sie gerade tat. Und derselbe Teil in ihr, der wusste, dass sie ihre Absichten geheim halten sollte, sagte ihr auch, dass sie auf einer Straße in der Nähe einen nicht abgeschlossenen Wagen finden würde.
Da stand er auch schon. Sie öffnete die Fahrertür und glitt hinein. Dann beugte sie sich vor, öffnete die Schalttafel und überbrückte die elektronische Wegfahrsperre. Das hatte sie nicht aufgrund einer Vorahnung gelernt – es war ein Hobby von ihr, eine Möglichkeit, die einsamen Stunden zu überbrücken. Inzwischen konnte sie die meisten Systeme innerhalb kurzer Zeit lahmlegen.
In fünf Sekunden hatte sie es geschafft. Sie konzentrierte sich auf das, was sie in den Fahrstunden für den Notfall gelernt hatte, wendete den Wagen in die gewünschte Richtung und beschleunigte.
In weniger als drei Tagen musste sie ihre Antworten gefunden haben. Wenn sie bis dahin nicht zurück war, würde man sie buchstäblich jagen. Sie würden wahrscheinlich sogar die Gelegenheit nutzen und versuchen, ihre Schutzschilde im Medialnet aufzubrechen. Schließlich war ihre Arbeitskraft Milliarden wert.
Der Mann hätte gerne geflucht, aber das Tier in Vaughn reagierte einfach, rannte erst ein paar hundert Meter neben dem Wagen her und preschte dann in eine andere Richtung davon. Lucas’ Versteck lag zwar noch über eine Stunde Fahrt entfernt, aber Vaughn wollte kein Risiko eingehen. Warum zum Teufel sollte sich eine Mediale so weit in das Territorium der DarkRiver-Leoparden hineinbegeben, wenn sie nicht auf der Suche nach Sascha war? Er hatte ihre Augen gesehen – nachtschwarz, weiße Pünktchen auf nachtschwarzem Hintergrund–, diese Rothaarige war sicher eine Mediale.
Sein Herz schlug schnell, als er sein Ziel erreichte. Er stellte sich mitten auf die Straße und wartete. Er konnte schnell genug ausweichen, um nicht überfahren zu werden, und die meisten Medialen würde der Anblick eines lebendigen Jaguars sowieso dermaßen durcheinanderbringen, dass sie einfach anhalten würden. Manche Reaktionen kamen aus so tiefen Schichten, dass nicht einmal die Medialen sie kontrollieren konnten, selbst wenn sie glaubten, alle Gefühlsregungen in sich abgetötet zu haben.
Sie kam um die Ecke, die Scheinwerfer waren abgeblendet und störten nicht seine Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Er beobachtete sie. Beobachtete und wartete ab.
Raubtieraugen glühten im Dunkeln auf. Ohne nachzudenken, trat Faith auf die Bremse und der Wagen blieb stockend stehen. Die große Raubkatze hatte sich nicht bewegt, hatte nicht wie ein Tier reagiert. Trotz all ihrer Pläne war sie nicht darauf vorbereitet, plötzlich Auge in Auge einem leibhaftigen Leoparden gegenüberzustehen, und ihre Hände klammerten sich um das Lenkrad.
Das Tier schien ungeduldig zu werden, als sie nichts weiter unternahm. Es schlich an den Wagen heran, sprang auf die Motorhaube und sie konnte nur mit großer Anstrengung eine Reaktion unterdrücken. Das Tier war groß. Und schwer. Die mächtigen Pfoten drückten die Motorhaube ein. Dann stellte sich der Leopard vor der Windschutzscheibe auf und bleckte die Zähne: Sie sollte den Wagen verlassen.
Faith zweifelte nicht daran, dass dieser Leopard sie in keinem Fall weiterfahren lassen würde. Obwohl sie noch nie zuvor einem Gestaltwandler begegnet war, spürte sie mit jeder Faser, dass sie jetzt einen vor sich hatte. Aber wenn sie sich nun irrte?
Da ihr nichts anderes logisch erschien, schaltete sie den Motor aus, griff nach ihrem Rucksack und öffnete die Tür. Als sie wie angewurzelt am Wagen stehen blieb – ihr war zu spät eingefallen, dass sie nichts darüber wusste, wie man mit anderen Gattungen Kontakt aufnahm –, sprang ihr die Katze vor die Füße. Niemand hatte Faith je beigebracht, wie man mit Gestaltwandlern sprach. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt wie andere denkende Rassen kommunizierten.
„Hallo?“, versuchte sie es.
Die Katze presste ihren Körper gegen Faiths Beine und schob sie vom Wagen weg, bis sie schließlich mutterseelenallein auf der pechschwarzen Straße stand, wenn man von dem sehr großen und gefährlichen Wesen absah, das sie umkreiste.
Hallo, versuchte sie es noch einmal. Eine vorsichtige und sehr höfliche Anfrage auf geistiger Ebene, die unter solch schwierigen Umständen wohl angebracht war.
Der Leopard hob den Kopf und knurrte sie an, sein Gebiss glänzte selbst in der völligen Dunkelheit, die überall herrschte. Sie zog sich sofort zurück. Er wollte nicht, dass sie ihn auf geistiger Ebene berührte, hatte sofort erkannt, was sie tat. Nur eine einzige Person konnte ihm das beigebracht haben.
„Kennst du Sascha?“
Erneut bleckte er die Zähne und sie konnte sich gerade noch davon abhalten, einen Schritt zurückzuweichen. Schließlich war sie eine Mediale – sie spürte keine Furcht. Aber alle Wesen haben einen Überlebensinstinkt, und sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn die Katzen niemanden an ihre Mediale heranlassen wollten. Sie hatte keine Wahl, sie musste weitermachen.
„Ich muss mit Sascha sprechen“, sagte sie. „Ich habe nur wenig Zeit. Bitte bring mich zu ihr.“
Die Katze knurrte wieder und die feinen Härchen in Faiths Nacken richteten sich auf. Normalerweise hätte sie diese Reaktion unter Kontrolle gehabt, aber es lag etwas sehr Dominantes und Aggressives in diesem Knurren. Dann ging der Leopard ein wenig zur Seite und sah sie wieder an. Überrascht von der schnellen Einigung folgte sie ihm. Er verließ die Straße und führte sie tiefer in den Wald, wo man sie nicht mehr sehen konnte. Dann schlug er mit seinen Krallen gegen einen Baum.
Erst als er so stark gegen ihre Beine drückte, dass sie einknickte, begriff sie, was er von ihr wollte. „Schon gut, ich hab ja verstanden. Ich werde hier warten.“ In dem Moment schlossen sich starke Zähne um ihr Handgelenk. Sie erstarrte. Es tat zwar nicht weh, aber sie konnte die Kraft in diesem Kiefer spüren. Ein einziger Biss würde sie ihre Hand kosten. „Was ist los? Was willst du?“ Sie musste das Bedürfnis unterdrücken, auf die geistige Ebene zu wechseln, die für sie gewohnter und normaler war. Zähne schrappten über ihre Uhr.
„Schon gut.“ Sie wartete, bis er sie losgelassen hatte, wobei er sich reichlich Zeit ließ. Offensichtlich war es ein männliches Tier. Sie sah ihm in die Augen, erkannte die Intelligenz, die Kraft und den Zorn darin. Er war wild und gefährlich und außerdem das Exotischste, was sie je gesehen hatte. Kaum konnte sie dem Verlangen widerstehen, über sein Fell zu streichen. Doch sie wusste auch, dass diese Raubkatze eine solche Berührung niemals zulassen würde.
Schließlich ließ er sie los. Sie nahm ihre Uhr ab und er packte sie mit den Zähnen. Dann war er plötzlich weg, so schnell, dass sie nur verschwommen eine Bewegung wahrgenommen hatte. Allein gelassen schauderte sie in der Kälte der Nacht und schlang die Arme um den Rucksack. Würde der Leopard zurückkommen? Wenn nun ein anderer sie hier fand? Ob es wirklich so vernünftig gewesen war, hierherzukommen, wo diese Raubkatzen sie einkreisen konnten? Zweifellos waren sie keine Medialen, hielten sich nicht an die Regeln, die sie kannte.
Eng an den Baum gedrückt, wartete Faith. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig.
Vaughn trug nur eine ausgeblichene Jeans, als er aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer des Baumhauses trat. Er hielt ihre Uhr in der Hand. „Hat keinen Peilsender.“
Lucas zog die Augenbrauen hoch und hielt die Hand auf. Vaughn spürte das irrationale Bedürfnis, das schmale Metallband zu behalten, eine ungewohnte Woge von Besitzgier überschwemmte ihn völlig überraschend. Er gab die Uhr weiter.
„Lass mal sehen.“ Sascha saß neben Lucas und warf einen Blick auf die Uhr. „Für eine Mediale ist es ein recht gewöhnliches Modell.“ Sie nahm sie in die Hand und sah auf die Rückseite. „Nicht einmal ein Familienwappen.“
„Ich dachte, du könntest vielleicht etwas damit anfangen.“
Sascha schüttelte den Kopf. „Meine psychometrischen Fähigkeiten sind zwar stärker geworden, aber dieses Ding hier ist ganz kalt. Ich glaube nicht, dass deine Mediale irgendwelche Gefühle dafür hegt.“
Alle drei wussten, wie eigenartig diese Bemerkung war. Mediale hegten für nichts und niemanden Gefühle.
„Du hast gesagt, sie ist aus diesem Gelände gekommen, das du in der Nähe von Tahoe entdeckt hast?“
„Ist über den Zaun, als ob niemand etwas davon mitkriegen sollte.“ Vaughn nahm die Uhr wieder zurück und steckte sie in die Tasche, wo niemand anderes sie anfassen konnte.
„Ich dachte, ihr Medialen habt es nicht so mit dem Körper“, sagte Lucas und in seinem Spott lag so viel Sinnlichkeit, dass Vaughn die Stichelei wie ein Messer im Leib spürte, obwohl ihm die offene Sexualität der Paare des Rudels noch nie zuvor etwas ausgemacht hatte.
„Darüber können wir heute Nacht reden.“ Sascha lehnte ihren Rücken an Lucas’ Brust. „Aber es ist wirklich ungewöhnlich. War sie denn geschickt?“
„Wie eine Katze.“ Das war das größte Kompliment, das Vaughn einfiel. „Als hätte sie es schon oft gemacht.“
„Eigenartig. Und sie will mich treffen?“
„Ja.“ Um nichts in der Welt würde Vaughn Sascha zu ihr bringen, und er wusste auch, dass Lucas es niemals gestatten würde. Man konnte Medialen nicht trauen. Nicht einmal einer rothaarigen Schönen mit sahniger Haut.
Saschas nachtschwarze Augen blickten kurz in die Ferne. „Wie sieht sie aus?“
„Rote Haare.“ Noch nie hatte er so dunkelrote, so volle, seidenglatte Haare gesehen. Die Raubkatze hatte damit spielen wollen und der Mann hatte sich noch ganz andere Dinge vorgestellt. „Kardinale Augen.“
Sascha sprang auf. „Das ist völlig unmöglich.“
Beide Männer starrten sie an, während sie im Baumhaus umherging. Vaughn spürte das Besitzergreifende in Lucas wie ein lebendiges Wesen und zum ersten Mal ahnte er, aus welcher Quelle es sich speiste.
„Was ist los, Sascha?“, fragte Lucas und hielt sie in der Taille fest, als sie an ihm vorbeikam.
Sie lehnte sich gegen ihn. „Vielleicht irre ich mich auch, aber nur eine Medialenfamilie in dieser Gegend hat viele Rothaarige. Das rezessive Gen tritt besonders häufig im Geschlecht der NightStar auf.“ Sascha hörte sich in diesem Augenblick sehr wie eine Mediale an. Das war auch nicht anders zu erwarten, sie war ja erst ein paar Monate bei den Katzen. Sie brauchte noch Zeit.
„Das Geschlecht der NightStar?“ Lucas’ Finger fuhren spielerisch durch Saschas Haare.
„Miteinander verwandte Familien, die unter dem Namen NightStar einen Clan bilden.“
„Du hast mir vor kurzem erzählt, V-Mediale würden einen Clan brauchen.“ Vaughn verschränkte die Arme, es juckte ihn in den Fingern, die flammendroten, seidigen Haare der Frau zu spüren, die genauso geschickt klettern konnte wie alle ihm bekannten Katzen.
Sascha nickte. „Der NightStar-Clan bringt immer wieder V-Mediale hervor. Sie sind sehr selten, aber NightStar hat in jeder Generation mindestens einen. Manchmal nur schwache, manchmal aber auch sehr starke. In dieser Gegend ist Faith NightStar die einzige kardinale V-Mediale.“
Faith.
Vaughn ließ den Namen auf der Zunge zergehen und er schien genau zu passen. „Sie heißt genauso wie der Clan?“
„Ja. Ich weiß nicht warum, aber so ist es nun mal bei ihnen. Sie fühlen sich mehr dem Clan als ihrer Familie zugehörig.“ Sascha biss sich auf die Lippen. „Die Augen einer Kardinalen, rote Haare und dazu noch ein abgeschiedenes Leben – das könnte auf Faith passen, aber ich kenne natürlich nicht jeden Medialen, der hier lebt.“
„Bist du ihr nie begegnet?“, fragte Lucas.
„Nein. Die V-Medialen sind wie Schatten. Man bekommt sie kaum zu Gesicht. Selbst niedrige Ränge hält man für zu wichtig, um sie ungeschützt zu lassen.“
„Warum sollte eine V-Mediale dich sprechen wollen?“ Lucas sah Vaughn an. „Hat sie sonst noch etwas gesagt?“
„Nein, aber sie wartet jetzt schon mehr als eineinhalb Stunden, wenn sie noch dort ist.“ Aus irgendeinem Grund wurde Vaughn langsam nervös. „Wir sollten uns darum kümmern.“
„Ich will mit ihr reden“, sagte Sascha.
„Kommt nicht infrage.“
„Nein.“
Beide Männer hatten gleichzeitig geantwortet. Lucas als beschützender Mann und Vaughn als Wächter. Sascha verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ihr zwei werdet es wohl nie begreifen. Ich werde nie ein gehorsames Weibchen sein.“
Lucas warf ihr einen finsteren Blick zu.
„Keiner von euch beiden weiß, wie man mit ihr umgeht, welche Fragen man stellen muss. Vaughn hat ihr wahrscheinlich so viel Angst eingejagt, dass sie sowieso nichts mehr sagt.“ Sie sah ihn mit nachtschwarzen Augen an.
„Mediale haben doch keine Angst.“ Aber ihr Handgelenk war sehr zart gewesen. „Sie ist viel kleiner als du.“ Und Sascha war schon trotz ihrer Größe im Vergleich zu den Gestaltwandlern sehr zart gebaut.
Sascha nickte. „Das spricht dafür, dass sie wirklich eine V-Mediale ist. Nun kommt schon. Und keine weiteren Diskussionen.“