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In einer Welt, in der Gefühle verboten sind und die telepathisch begabten Psy jede Form von Leidenschaft unterdrücken, führt die junge Sascha Duncan ein Doppelleben. Als sie dem gutaussehenden Gestaltwandler Lucas Hunter begegnet, fällt es Sascha immer schwerer, die Maske der Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. Hunter kommt indessen einem fürchterlichen Geheimnis auf die Spur ...Erotik-Thriller in einer fantastischen Alternativwelt: Die Zukunft der Fantasy Romance! Shooting Star Nalini Singh lässt die Gefühle explodieren!
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Seitenzahl: 468
Titel
Widmung
Prolog
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Epilog
Impressum
Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von Nora Lachmann
Für meine wundervolle Lektorin Cindy Hwang und meine fabelhafte Agentin Nephele Tempest, die dieses Buch von Anfang an mit ihrer Begeisterung getragen haben. Und natürlich wieder für meine Familie: Ihr wart immer für mich da.
Prolog
Silentium
Um die außergewöhnlich hohe Zahl an Geisteskranken und Serienmördern innerhalb ihrer Population in den Griff zu bekommen, verabschiedete der Rat der Medialen 1969 ein drastisches Programm namens Silentium. Die Medialen sollten von Geburt an konditioniert werden und lernen, niemals in Zorn zu geraten.
Bald musste der Rat jedoch feststellen, dass man dieses Gefühl nicht von den anderen Emotionen trennen konnte. Nach einer zehn Jahre währenden Debatte unter den unzähligen im Medialnet verbundenen Gehirnen wurden die Ziele des Programms verändert. Seine neue Aufgabe bestand darin, junge Mediale so zu konditionieren, dass sie gar keine Gefühle mehr empfanden. Keinen Zorn, keine Eifersucht, keinen Neid, kein Glück und ganz gewiss auch keine Liebe.
Das war der Durchbruch für Silentium.
Schon fünf oder sechs Generationen später, im Jahr 2079, erinnert sich niemand mehr daran, dass Mediale je anders waren. Man hält sie allgemein für kühl und kontrolliert, unmenschlich sachlich und völlig unfähig zu Gewalt in jeglicher Form.
Sie besetzen die Spitzenpositionen in Regierung und Wirtschaft und schließen die von ihren animalischen Trieben beherrschten Menschen und Gestaltwandler davon aus. Aufgrund ihrer überragenden geistigen Fähigkeiten auf den Gebieten der Gedankenübertragung, Vorhersage, Telekinese und Parapsychologie glauben die Medialen, sie ständen auf einer höheren Entwicklungsstufe der Evolution.
Es entspricht ihrem Wesen, alle Entscheidungen aus rein logischen und pragmatischen Gründen zu treffen. Dem Medialnet zufolge liegt ihre Fehlerquote nahezu bei null.
Die Medialen haben Silentium perfektioniert.
1
Sascha Duncan konnte keine einzige Zeile des Berichts entziffern, der über den Bildschirm ihres Pocket Organizers flimmerte. Angst verschleierte ihren Blick und ihre Gedanken entfernten sich aus der nüchternen, effizienten Umgebung des Büros, in dem ihre Mutter arbeitete. Selbst als Nikita einen Anruf entgegennahm, drang deren Stimme kaum an Saschas betäubte Sinne.
Sie war zu Tode erschrocken.
An diesem Morgen war sie wimmernd und zusammengerollt wie ein Embryo in ihrem Bett aufgewacht. Normalerweise wimmerten Mediale nicht, sie hatten keine Gefühle und demzufolge zeigten sie auch keine. Aber Sascha hatte schon als Kind gewusst, dass sie nicht normal war. Sechsundzwanzig Jahre lang hatte sie diesen Defekt erfolgreich verborgen, doch nun lief irgendetwas schief. Sehr schief sogar.
Ihr Verstand verfiel dermaßen schnell, dass sich schon körperliche Nebenwirkungen bemerkbar machten – Muskelkontraktionen, Zittern, ein beschleunigter Puls und immer wieder unkontrolliert aufsteigende Tränen überkamen sie nach diesen Träumen, an die sie sich nie erinnern konnte. Bald würde es unmöglich sein, die Risse in ihrem Verstand noch länger zu verbergen, und dann würde man sie im Zentrum einsperren. Natürlich nannte es niemand Gefängnis, der Fachausdruck war „Rehabilitationsanstalt“. Dorthin sonderten die Medialen äußerst effizient und brutal die Schwachen in ihren Reihen aus.
Wenn sie im Zentrum mit ihr fertig waren, wäre sie mit etwas Glück nur noch eine sabbernde Masse ohne jeden Verstand. Und wenn sie Pech hatte, blieben ihr lediglich genügend Denkstrukturen übrig, um irgendwo in der weitverzweigten Unternehmenswelt der Medialen als Drohne zu dienen, als Maschine mit gerade noch genügend neuronalen Aktivitäten, um die Post zu sortieren oder die Böden zu fegen.
Saschas Hand schloss sich fester um den Organizer und sie kehrte in die Gegenwart zurück. Wenn es einen Ort gab, an dem sie nicht zusammenbrechen durfte, dann hier in diesem Zimmer vor den Augen ihrer Mutter. Sascha war zwar ihr eigen Fleisch und Blut, aber Nikita Duncan gehörte auch dem Rat der Medialen an. Sascha wusste nicht, ob sie am Ende nicht doch ihre Tochter opfern würde, um den Sitz im mächtigsten Gremium der Welt zu behalten.
Mit verbissener Entschlossenheit machte Sascha sich daran, die verborgenen Winkel ihres Verstandes mit stärkeren Schutzschilden zu versehen. Wenigstens darin war sie immer besser als alle anderen gewesen, und als ihre Mutter das Gespräch beendete, strahlte Sascha etwa so viel Gefühl aus wie eine aus arktischem Eis gehauene Skulptur.
„In zehn Minuten haben wir eine Besprechung mit Lucas Hunter. Bist du bereit?“ Nur nüchternes Interesse stand in Nikitas mandelförmigen Augen.
„Natürlich, Mutter.“ Sascha zwang sich, diesem Blick standzuhalten, und schob den Gedanken beiseite, ob ihre Augen wohl genauso viel verbargen wie die ihrer Mutter. Zum Glück hatte sie, im Gegensatz zu Nikita, die nachtschwarzen Augen einer Kardinalmedialen – unergründlich wie der Nachthimmel und übersät mit klitzekleinen weißen Sternen, in denen kaltes Feuer funkelte.
„Hunter ist ein Alphatier der Gestaltwandler, also unterschätze ihn bloß nicht. Er denkt wie ein Medialer.“ Nikita wandte sich ab und ließ den flachen, in der Tischplatte versenkten Bildschirm hochfahren.
Sascha rief die relevanten Daten in ihrem Organizer auf. Das kleine Gerät enthielt alles Notwendige für die Besprechung und sie konnte es bequem in der Jackentasche verschwinden lassen. Wenn Lucas Hunter sich ebenso wie andere seiner Rasse verhielt, dann würde er von allem einen Ausdruck dabeihaben.
Ihren Informationen nach hatte Hunter mit dreiundzwanzig die alleinige Führungsrolle im DarkRiver-Leopardenrudel übernommen. In den folgenden zehn Jahren war das Rudel zur mächtigsten Raubtiergruppe in San Francisco und Umgebung aufgestiegen. Gestaltwandler von außerhalb, die hier lebten, arbeiteten oder sich auch nur kurz aufhalten wollten, mussten bei den DarkRiver-Leoparden eine Erlaubnis einholen. Taten sie das nicht, traten die Territorialgesetze der Leoparden in Kraft, mit brutalen Folgen für die Betroffenen.
Etwas hatte Sascha bei der ersten Durchsicht der Unterlagen in Erstaunen versetzt: Die DarkRiver-Leoparden hatten einen Nichtangriffspakt mit dem SnowDancer-Wolfsrudel geschlossen, das im übrigen Kalifornien herrschte. Diese Tatsache hatte in Sascha Zweifel am zivilisierten Bild der DarkRiver-Leoparden geweckt, denn die SnowDancer-Wölfe waren bekannt für ihre gnadenlose Grausamkeit, wenn es jemand wagte, in ihrem Territorium nach der Macht zu greifen. Man konnte dort nicht überleben, wenn man nett war.
Ein leiser Glockenschlag ertönte.
„Wollen wir, Mutter?“ Nikitas Verhalten Sascha gegenüber war nicht mütterlich, das war es nie gewesen. Aber die Etikette verlangte eine familiäre Anrede.
Nikita nickte und richtete sich zu ihrer vollen Größe von anmutigen ein Meter siebenundsiebzig auf. Mit ihrem schwarzen Hosenanzug und dem weißen Hemd entsprach sie auch äußerlich von Kopf bis Fuß dem Bild einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Ihr schlichter Haarschnitt, der knapp unter den Ohren endete, stand ihr ausgezeichnet. Sie war schön. Und sie konnte tödlich sein.
Selbst wenn sie so wie jetzt nebeneinander gingen, würde niemand sie für Mutter und Tochter halten. Sie waren zwar gleich groß, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit. Nikita hatte den asiatischen Schnitt der Augen, das glatte Haar und den Porzellanteint ihrer Mutter geerbt, die zur Hälfte Japanerin gewesen war. Bei Sascha machten sich diese Gene nur noch durch eine leichte Schrägstellung der Augen bemerkbar.
Ihre Haare waren nicht glatt und glänzten auch nicht blauschwarz wie Nikitas, sondern hatten die Farbe von dunklem Ebenholz, schluckten das Licht wie Tinte und kräuselten sich so wild, dass Sascha die ungebärdigen Locken jeden Morgen zu einem strengen Zopf nach hinten binden musste. Der dunkle Honigton ihrer Haut war wohl den Genen ihres unbekannten Vaters zuzuschreiben. In Saschas Geburtsunterlagen stand, dass er angloindischer Herkunft gewesen sei.
Sascha ließ sich etwas zurückfallen, als sie sich dem Besprechungszimmer näherten. Zwar stand sie der offenen Emotionalität der Gestaltwandler nicht so ablehnend gegenüber wie die meisten Medialen, aber sie traf trotzdem nur ungern mit ihnen zusammen. Es kam ihr so vor, als ob sie Bescheid wüssten. Irgendwie konnten sie wahrnehmen, dass Sascha nicht so war wie die anderen, dass sie einen Defekt hatte.
„Mister Hunter.“
Sascha blickte auf. Sie befand sich in Reichweite des gefährlichsten männlichen Wesens, dass sie je zu Gesicht bekommen hatte. Ihr fiel kein anderes Wort dafür ein. Er war mindestens ein Meter neunzig groß und sein Körper schien nur aus roher Muskelkraft und höchster Anspannung zu bestehen, eine zum Kampf bereite Maschine.
Das schulterlange schwarze Haar machte ihn nicht weicher, sondern verriet eher die Leidenschaft und den Hunger des Leoparden, der unter seiner Haut steckte. Sascha zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie einem Raubtier gegenüberstand.
Er drehte den Kopf und nun sah sie die rechte Seite seines Gesichts. Die Klauen einer großen Bestie hatten vier gezackte Linien auf der blassgoldenen Haut hinterlassen. Trotz seiner hypnotisierend grünen Augen waren es diese Male, die Saschas Aufmerksamkeit fesselten. Sie war noch nie einem Jäger der Gestaltwandler so nahe gewesen.
„Miss Duncan.“ Er hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, die entfernt an ein Knurren erinnerte.
„Das ist meine Tochter Sascha. Sie wird bei diesem Projekt die Verbindung zu Ihnen halten.“
„Sehr erfreut, Sascha.“ Er nickte mit dem Kopf in ihre Richtung und sein Blick ruhte einen Moment länger auf ihr als unbedingt notwendig.
„Ebenfalls.“ Konnte er ihren aus dem Takt geratenen Herzschlag hören? Stimmte es, dass die Sinne eines Gestaltwandlers denen aller anderen Rassen überlegen waren?
„Bitte!“ Er wies auf den Tisch mit der großen Glasplatte und wartete, bis die beiden Frauen dahinter Platz genommen hatten, ehe er sich auf einen Stuhl direkt gegenüber von Sascha setzte.
Sie ließ sich von der ritterlichen Geste nicht täuschen und blieb weiter auf der Hut, wobei sie sich zwang, seinen Blick zu erwidern. Jäger waren geübt darin, verletzliche Beute aufzuspüren. „Wir haben uns Ihr Angebot angesehen“, eröffnete sie die Verhandlungen.
„Was halten Sie davon?“ Seine Augen waren erstaunlich klar und ruhig wie ein tiefer See. Aber sein Blick war weder kalt noch sachlich, was Saschas ersten Eindruck einer gerade noch im Zaum gehaltenen ungestümen Kraft nur bestätigte.
„Bekanntermaßen funktionieren Geschäftsbeziehungen zwischen Medialen und Gestaltwandlern nur selten. Entgegengesetzte Prioritäten.“ Im Vergleich zu Lucas’ Stimme hörte sich Nikitas fast monoton an.
Sein Lächeln war so unverschämt, dass Sascha nicht wegschauen konnte. „Ich glaube aber, dass wir in diesem Fall dieselben Prioritäten haben. Sie brauchen Hilfe bei der Planung und Durchführung von Wohnungsbauprojekten, die für Gestaltwandler attraktiv sind. Ich möchte einen Insider-Zugang zu neuen Projekten.“
Sascha wusste, dass noch mehr dahinterstecken musste. Sie brauchten ihn, aber er brauchte sie nicht, jedenfalls nicht, wenn die DarkRiver-Leoparden bei ihren Geschäften inzwischen in Konkurrenz zu medialen Unternehmen standen. Die Welt änderte sich genau vor ihrer Nase, die Rassen der Menschen und Gestaltwandler gaben sich nicht länger damit zufrieden, in zweiter Reihe zu stehen. Es war nur ein Zeichen von Arroganz, dass die meisten Medialen diese langsame Verschiebung der Machtverhältnisse nicht wahrnahmen.
So nahe neben der geballten Kraft eines Lucas Hunter fragte sie sich, wie ihre Brüder und Schwestern bloß so blind sein konnten. „Wenn wir mit Ihnen Geschäfte machen, erwarten wir die gleiche Zuverlässigkeit wie von medialen Konstruktions- und Planungsbüros.“
Lucas Hunter sah die eisig perfekte Sascha Duncan an und hätte gerne gewusst, was zum Teufel an ihr so aufregend war. Der Panther in seinem Kopf lief im Käfig fauchend auf und ab, bereit, jeden Augenblick herauszuspringen und an ihrem strengen dunkelgrauen Hosenanzug zu schnuppern.
„Selbstverständlich“, sagte er und schaute fasziniert auf die funkelnden weißen Sterne in ihren dunklen Augen.
Er hatte noch nicht sehr oft die Gelegenheit gehabt, einer Kardinalmedialen nahe zu sein. Sie waren selten, gaben sich nicht mit der breiten Masse ab und bekleideten im reiferen Alter hohe Posten im Rat. Sascha war noch jung, hatte aber nichts Unfertiges an sich. Sie wirkte genauso rücksichtslos wie der Rest ihrer Rasse, genauso gefühllos und kalt.
Sie könnte einen Mörder decken.
Jeder von ihnen könnte das. Deshalb hatten sich einige DarkRiver-Leoparden seit Monaten an die Fersen hoher Medialer geheftet und versucht, ihre Abwehr zu durchbrechen. Das Duncan-Projekt bot ihnen eine unglaubliche Gelegenheit. Denn Nikita war nicht nur selbst sehr mächtig, sondern saß noch dazu im Rat und gehörte somit den engsten Regierungskreisen an. Wenn Lucas an diese Stellen herankam, könnte er den sadistischen Medialen, der einer Leopardenfrau das Leben genommen hatte, ausfindig machen … und hinrichten.
Ohne Gnade. Ohne Vergebung.
Sascha Duncan sah auf den Bildschirm des schmalen Pocket Organizers. „Wir können Ihnen sieben Millionen anbieten.“
Ein Cent wäre ihm genug gewesen, wenn er dadurch einen Einblick in die geheime Welt der Medialen erhalten hätte, aber er durfte sie nicht misstrauisch machen.
„Ladys“, sagte er mit sinnlicher Stimme, denn Sinnlichkeit war ebenso ein Teil von ihm wie das wilde Tier. Die meisten Gestaltwandler und Menschen hätten auf diesen verführerischen Tonfall reagiert, doch diese beiden Frauen blieben ungerührt. „Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass dieser Vertrag mindestens zehn Millionen wert ist. Hören wir also auf, Zeit zu verschwenden.“ Er hätte schwören können, dass etwas in Saschas nachtschwarzen Augen aufblitzte und ihm verriet, dass sie die Herausforderung annahm. Der Panther antwortete mit einem leisen Knurren.
„Acht. Und jede Phase des Projekts bedarf unserer Zustimmung.“
„Zehn.“ Er behielt den weichen Tonfall bei. „Ihre Forderung wird beträchtliche Verzögerungen verursachen. Ich kann nicht effizient arbeiten, wenn ich wegen jeder kleinen Änderung hier aufkreuzen muss.“ Vielleicht halfen ihm die häufigen Besuche, die kalte Fährte des Mörders wieder aufzunehmen, aber er bezweifelte das. Es war unwahrscheinlich, dass Nikita vertrauliche Ratspapiere herumliegen lassen würde.
„Einen Augenblick, bitte.“ Die ältere der beiden Frauen wandte sich der jüngeren zu.
Seine feinen Nackenhaare stellten sich auf. Das geschah immer, wenn Mediale in seiner Gegenwart ihre Energien einsetzten. Telepathie war nur eine ihrer Fähigkeiten, eine sehr nützliche bei geschäftlichen Verhandlungen, das musste er zugeben. Doch ihre Begabungen machten sie auch blind. Die Gestaltwandler hatten schon lange gelernt, ihre Vorteile daraus zu ziehen, dass die Medialen sich für überlegen hielten.
Nach etwa einer Minute wandte sich Sascha wieder an ihn. „Es ist für uns wichtig, bei jedem Schritt die Kontrolle zu behalten.“
„Es ist Ihr Geld und Ihre Zeit.“ Er bemerkte, dass sie ihn dabei beobachtete, wie er die Fingerspitzen auf der Tischplatte aneinanderlegte. Interessant. Bisher hatte er noch nie erlebt, dass Mediale auf die Körpersprache achteten. In der Regel verhielten sie sich, als ob sie nur Gehirne wären, eingeschlossen in der Welt ihres Verstandes. „Aber wenn Sie auf dieser Art von Beteiligung bestehen, kann ich nicht garantieren, dass wir den Zeitplan einhalten können. Ich kann Ihnen sogar versichern, dass es unmöglich sein wird.“
„Wir haben einen Vorschlag, um dem entgegenzuwirken.“ Pechschwarze Augen sahen ihn an.
Er hob eine Augenbraue. „Ich bin ganz Ohr.“ Auch der Panther in ihm war aufmerksam. Sowohl Mann als auch Tier waren von Sascha Duncan auf eine Weise gefesselt, die keiner von beiden verstand. Ein Teil von ihm wollte sie streicheln … und der andere wollte zubeißen.
„Wir würden gern Seite an Seite mit den DarkRiver-Leoparden zusammenarbeiten. Der Einfachheit halber möchte ich Sie bitten, mir ein Büro in Ihrem Gebäude zur Verfügung zu stellen.“
Jede Faser seines Körpers stand unter Spannung. Er würde eine Kardinalmediale fast rund um die Uhr zur Verfügung haben. „Sie wollen also auf meinem Schoß sitzen, Schätzchen. Meinetwegen.“ Die Stimmung im Raum veränderte sich ein wenig, aber noch bevor er herausfinden konnte, was geschehen war, war der Moment auch schon wieder vorbei. „Sind Sie denn befugt, die Änderungen abzusegnen?“
„Ja. Aber selbst wenn ich meine Mutter um Rat fragen müsste, könnte ich an Ort und Stelle bleiben.“ Das rief ihm wieder in Erinnerung, dass sie eine Mediale war und einer Rasse angehörte, die alles Menschliche schon lange aufgegeben hatte.
„Wie weit reichen die Signale einer Kardinalmedialen?“
„Weit genug.“ Sie drückte auf ihren kleinen Bildschirm. „Also einigen wir uns auf acht Millionen?“
Bei diesem Versuch, ihn zu überlisten, musste er grinsen, die beinahe katzenhafte Gerissenheit erheiterte ihn. „Zehn, oder ich gehe und Sie müssen mit minderer Qualität vorliebnehmen.“
„Sie sind da draußen nicht der einzige Experte auf dem Gebiet der Vorlieben und Abneigungen von Gestaltwandlern.“ Sie lehnte sich ein wenig nach vorn.
„Das stimmt.“ Beeindruckt von ihrer Fähigkeit, offenbar sowohl ihren Kopf als auch ihren Körper einzusetzen, ahmte er vorsichtig ihre Bewegung nach. „Aber ich bin der Beste.“
„Neun.“
Er konnte es sich nicht leisten, dass sie ihn für schwach hielt. Die Medialen respektierten nur kalte, erbarmungslose Stärke.
„Neun, mit der Option auf eine weitere Million, wenn alle Häuser vor der offiziellen Einweihung verkauft sind.“
Wieder trat Schweigen ein. Und wieder stellten sich seine Nackenhaare auf. In Lucas’ Kopf schlug das Tier mit den Pranken durch die Luft, als ob es die Energiefunken fangen wollte. Die meisten Gestaltwandler konnten die Energieströme der Medialen nicht wahrnehmen, aber für ihn hatte sich diese Begabung schon oft als nützlich erwiesen.
„Wir sind einverstanden“, sagte Sascha. „Ich nehme an, Sie haben einen Ausdruck der Verträge dabei.“
„Selbstverständlich.“ Er schlug einen Hefter auf und schob ihnen Kopien des Dokuments zu, das sie zweifellos auch auf ihren Bildschirmen hatten.
Sascha nahm die Verträge und gab ihrer Mutter eine Ausfertigung.
„In elektronischer Form wäre es sehr viel bequemer.“
Das hatte er schon unzählige Male von den verschiedensten Medialen gehört. Reiner Trotz war ein Grund, warum die Gestaltwandler nicht auf der Welle des technologischen Fortschritts mitschwammen, der andere waren Sicherheitsbedenken, denn seine Rasse hackte sich schon seit Jahrzehnten in die Datenbanken der Medialen ein. „Ich mag es, etwas in den Händen zu halten, es zu berühren und daran zu riechen. Ich mag es, wenn all meine Sinne befriedigt werden.“
Er bezweifelte nicht, dass sie diese Anspielung verstand, doch er wartete auf eine Reaktion von ihr. Nichts. Sascha Duncan war genauso eiskalt wie alle anderen Medialen, die er bisher getroffen hatte. Also würde er sie erst auftauen müssen, um zu erfahren, ob die Medialen einen Serienkiller in ihren Reihen verbargen.
Der Gedanke, sich mit ihr zu messen, war eigenartig verlockend für ihn, obwohl er alle Medialen bis zu diesem Augenblick nur für gefühllose Maschinen gehalten hatte. Dann hob sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, riss der Panther sein Maul auf und fauchte.
Die Jagd hatte begonnen. Und Sascha Duncan war die Beute.
Zwei Stunden später schloss Sascha die Wohnungstür hinter sich und kontrollierte im Geiste die Räumlichkeiten. Nichts. Da ihre Wohnung im selben Gebäude wie das Büro lag, verfügte sie über einen ausgezeichneten Sicherheitsstandard. Trotzdem hatte Sascha die Räume noch mit einem zusätzlichen Schutz versehen. Das erforderte zwar eine Menge ihrer dürftigen energetischen Kräfte, aber sie brauchte einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen konnte.
Erleichtert darüber, dass niemand in ihre Wohnung eingedrungen war, überprüfte sie systematisch ihre innere Abwehr gegen das weitverzweigte Medialnet. In Ordnung. Niemand konnte ohne ihr Wissen in ihren Kopf gelangen.
Jetzt erst erlaubte sie sich, auf dem eisblauen Teppich zusammenzusinken. Die kalte Farbe jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Computer: Temperatur um fünf Grad erhöhen!“
„Wird ausgeführt.“ Die Stimme war völlig ohne Modulation, aber das war auch nicht anders zu erwarten. Es war nur die mechanische Antwort der mächtigen Maschine, die dieses Gebäude in Gang hielt. In den Häusern, die sie mit Lucas Hunter bauen würde, würde es keine solchen Computer geben.
Lucas.
Ihr Atem ging stoßweise, als sie ihrem Verstand gestattete, von den Gefühlen überflutet zu werden, die sie während der Besprechung zurückgehalten hatte.
Angst.
Heiterkeit.
Hunger.
Begierde.
Sehnsucht.
Verlangen.
Sie löste die Haarspange und fuhr mit den Fingern durch die weich herabfallenden Locken. Dann zog sie das Jackett aus und warf es achtlos auf den Boden. Ihre Brust spannte schmerzhaft unter dem festen BH. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich nackt gegen etwas Heißes, Hartes, Männliches zu pressen.
Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle auf, als sie sich vor und zurück wiegte und versuchte, die aufsteigenden Bilder zurückzudrängen. Das hier durfte nicht geschehen. Auch wenn sie vorher schon oft die Kontrolle verloren hatte, so schlimm, so sexuell aufgeladen, war es noch nie gewesen. Dieses Eingeständnis glättete die Wogen ein wenig und befreite Sascha aus den Klauen der Begierde.
Sie stand auf und holte sich in der Kochnische ein Glas Wasser. Als sie trank, fiel ihr Blick auf den dekorativen Spiegel neben dem Einbaukühlschrank. Er war das Geschenk eines Gestaltwandlers, der sie bei einem anderen Projekt beraten hatte, und sie hatte ihn trotz der erhobenen Augenbraue ihrer Mutter behalten. Als Rechtfertigung hatte sie angeführt, sie wolle die andere Rasse besser kennenlernen. In Wahrheit hatte ihr einfach der wild gemusterte, farbenprächtige Rahmen gefallen.
Doch nun wünschte sie, dass sie ihn nicht behalten hätte. Er zeigte ihr nur zu deutlich, was sie gar nicht sehen wollte. Das dunkle Durcheinander ihrer Haare verriet tierische Leidenschaft und Begierde, Dinge, die kein Medialer kennen sollte. Ihr Gesicht war wie vom Fieber gerötet, ihre Wangen hatten rote Flecken und ihre Augen … um Gottes willen, sie waren vollkommen mitternachtsschwarz.
Sie stellte das Glas ab und strich ihre Haare zurück. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Kein einziger Funke leuchtete in den dunklen Pupillen. Dieses Phänomen konnte nur hervorgerufen werden, wenn Mediale große geistige Energien aufwandten.
Ihr war es noch nie passiert.
Nach den Augen zu urteilen war sie vielleicht eine Kardinalmediale, aber ihr Zugang zu deren Fähigkeiten war beschämend gering. So gering, dass sie immer noch nicht auf einen Posten gewählt worden war, der direkt dem Rat unterstand.
Das Fehlen handfester mentaler Kräfte hatte ihre Trainer verwirrt. Alle hatten immer gesagt, es gäbe ein unglaubliches, ungeformtes Potenzial in ihrem Verstand – mehr als genug für eine Kardinalmediale –, das sich aber noch nie gezeigt hätte.
Bis zu diesem Augenblick.
Sascha schüttelte den Kopf. Sie hatte keine geistigen Energien angewandt, also musste etwas anderes die vollkommene Dunkelheit hervorgerufen haben, etwas, das andere Mediale nicht kannten, weil sie nichts fühlten. Ihre Augen hefteten sich auf die Kommunikationskonsole an der Wand neben der Küchenzeile. Eins war sicher: So konnte sie nicht ausgehen. Jeder, der sie in diesem Zustand sah, würde sie sofort in die Rehabilitationsanstalt einweisen.
Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Solange sie in Freiheit war, konnte sie vielleicht eines Tages einen Ausweg finden, eine Möglichkeit, ihre Verbindung zum Medialnet zu kappen, ohne dass ihr Körper in Starre verfiel oder starb. Vielleicht gelang es ihr sogar, den sichtbaren Defekt wieder auszumerzen. Aber wenn man sie ins Zentrum einlieferte, würde ihre Welt in Dunkelheit versinken. In einer endlosen, stillen Dunkelheit.
Vorsichtig nahm sie die Abdeckung von der Konsole und bastelte an den Schaltkreisen herum. Dann setzte sie die Abdeckung wieder auf und gab Nikitas Code ein. Ihre Mutter wohnte einige Stockwerke höher im Penthouse.
Die Antwort kam nur Sekunden später: „Dein Bildschirm ist abgeschaltet, Sascha.“
„Hab ich gar nicht mitbekommen“, log Sascha. „Warte mal!“ Sie machte eine Kunstpause und holte tief Luft. „Ich glaube, es ist eine Störung. Ich werde einen Techniker kommen lassen.“
„Warum rufst du an?“
„Ich muss leider unsere Verabredung zum Abendessen absagen. Gerade habe ich noch ein paar Dokumente von Lucas Hunter bekommen, die ich gerne durchgehen würde, bevor ich mich morgen mit ihm treffe.“
„Ziemlich fix für einen Gestaltwandler. Wir sehen uns dann morgen Nachmittag zur Lagebesprechung. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Mutter.“ Die Leitung war schon tot. Das tat weh, auch wenn Nikita sich nie mütterlicher verhalten hatte als der Hauscomputer. Aber heute Abend wurde der Schmerz darüber von viel gefährlicheren Gefühlen verdrängt.
Sie hatte kaum angefangen, sich zu entspannen, als die Konsole einen Anruf anzeigte. Da die Identifikationsanzeige mit dem Bildschirm ausgeschaltet worden war, wusste sie nicht, wer der Anrufer war. „Sascha Duncan“, sagte sie und versuchte, nicht in Panik zu geraten, weil Nikita es sich vielleicht doch anders überlegt hatte.
„Hallo, Sascha!“
Beim Klang der honigsüßen Stimme, die sich jetzt mehr wie ein Schnurren anhörte, bekam sie weiche Knie. „Mister Hunter.“
„Lucas, bitte. Wir sind doch jetzt Kollegen.“
„Was wünschen Sie?“ Streng sachlich, das war die einzige Möglichkeit, mit ihren Achterbahn fahrenden Gefühlen umzugehen.
„Ich kann Sie nicht sehen, Sascha.“
„Bildschirmstörung.“
„Das ist ja nicht besonders effizient.“ Amüsierte er sich vielleicht darüber?
„Sie haben doch nicht angerufen, um mit mir zu plaudern.“
„Ich wollte Sie für morgen früh zur Teambesprechung einladen.“ Seine Stimme war geschmeidig wie Seide.
Sascha wusste nicht, ob Lucas immer wie eine Aufforderung zur Sünde klang oder ob er sich bemühte, sie durcheinanderzubringen. Dieser Gedanke brachte sie wirklich durcheinander. Wenn er auch nur vermutete, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, dann konnte sie auch gleich ihr eigenes Todesurteil unterzeichnen. Die im Zentrum Internierten waren ja nichts anderes als lebende Tote.
„Wann?“ Sie schlang die Arme fest um ihren Körper und zwang sich, ruhig zu sprechen. Die Medialen achteten sehr darauf, dass niemand ihre Defekte bemerkte. Niemand hatte sich je erfolgreich im Rat gegen den Vorschlag einer Rehabilitationsmaßnahme wehren können.
„Halb acht. Passt Ihnen das?“
Wie schaffte er es bloß, eine einfache Geschäftseinladung wie die reine Versuchung klingen zu lassen? Vielleicht fand das alles nur in ihrem Kopf statt – vielleicht verlor sie langsam den Verstand. „Wo?“
„In meinem Büro. Wissen Sie, wo das ist?“
„Selbstverständlich.“ Die DarkRiver-Leoparden hatten sich in einem Bürogebäude in unmittelbarer Nähe des chaotischen Treibens von Chinatown niedergelassen. „Ich werde da sein.“
„Ich warte auf Sie.“
Für ihr erhitztes Gemüt klang das nicht wie ein Versprechen, sondern wie eine Drohung.
2
Lucas strich in seinem Büro umher. Am Fenster blieb er stehen, starrte hinunter auf die engen Straßen von Chinatown, dessen unterschiedliche Eindrücke die Sinne explodieren ließ, und dachte an Sascha Duncans nachtschwarze Augen. Er hatte etwas Unpassendes an ihr gewittert, etwas war nicht ganz … richtig. Aber es war nicht der üble Geruch einer Geisteskrankheit, sondern etwas Verführerisches, das sich deutlich vom metallischen Gestank der meisten Medialen abhob.
„Lucas?“
Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer der Besucher war. „Was ist, Dorian?“
Dorian trat neben ihn. Mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen hätte man ihn glatt für einen herumlungernden Surfer halten können, der auf die richtige Welle wartete. Nur der wilde Ausdruck in seinen Augen passte nicht dazu. Dorian war ein nicht voll entwickelter Leopard. Irgendetwas war im Mutterleib schiefgegangen, denn er war zwar mit allen Merkmalen eines Gestaltwandlers auf die Welt gekommen, konnte sich aber dennoch nicht in ein Tier verwandeln.
„Wie ist es gelaufen?“
„Eine Mediale wird mir ab jetzt wie ein Schatten folgen.“ Lucas sah, wie ein Auto durch die Dämmerung glitt, ohne dass seine Antriebszellen Spuren in der Luft hinterließen. Gestaltwandler hatten diese Zellen entwickelt. Wenn ihre Rasse nicht gewesen wäre, wäre die Welt längst im Morast der selbst verschuldeten Umweltverschmutzung versunken.
Die Medialen dachten zwar, sie würden die Welt beherrschen, aber die Gestaltwandler, und hin und wieder auch einer der Menschen, nahmen den Herzschlag der Erde wahr und sahen, wie sich die Ströme des Lebens miteinander verbanden.
„Meinst du, du kannst sie anzapfen?“
Lucas zuckte mit den Schultern. „Sie ist wie alle anderen. Aber ich bin erst mal drin. Außerdem ist sie eine Kardinalmediale.“
Dorian wippte auf den Absätzen nach hinten. „Wenn einer von ihnen was über den Killer weiß, dann wissen es alle. Über das Netz sind sie alle miteinander verbunden.“
„Sie nennen es Medialnet.“ Lucas lehnte sich vor, legte die Handflächen auf das Fensterglas und genoss den kalten Kuss. „Ich bin nicht sicher, ob es wirklich auf diese Weise funktioniert.“
„Es ist ein scheißkollektives Gehirn. Wie soll’s denn sonst funktionieren?“
„Sie haben eine strikte Rangordnung – schwer vorstellbar, dass die Massen Zugang zu allen Informationen haben könnten. Keine Spur von Demokratie.“ Die Medialenwelt mit ihrem Recht des Stärkeren schien ihm grausamer als alles, was er bisher gesehen hatte.
„Aber deine Kardinalmediale weiß bestimmt Bescheid.“
„Ja.“ Sascha gehörte mit ziemlicher Sicherheit zum engsten Kreis, denn sie war die Tochter einer Ratsfrau und selbst mit starken geistigen Fähigkeiten ausgestattet. Er wollte auf jeden Fall herausfinden, was sie wusste.
„Hast du schon mal mit einer Medialen geschlafen?“
Lucas drehte sich um und sah Dorian belustigt an. „Meinst du, ich sollte sie verführen, um sie zum Sprechen zu bringen?“ Der Gedanke hätte ihn mit Abscheu erfüllen sollen, aber Mann und Tier waren von der Vorstellung gleichermaßen fasziniert.
Dorian lachte. „Ja, nur zu, vielleicht friert ja dein Schwanz dabei ab.“ Zorn loderte in seinen Augen auf. „Ich wollte damit nur sagen, dass sie wirklich nichts fühlen. Ich war mal mit einer im Bett, als ich noch jung war und keine Ahnung hatte. Ich war betrunken und sie nahm mich mit auf ihr Zimmer.“
„Ziemlich unüblich.“ Die Medialen blieben lieber unter sich.
„Ich glaube, für sie war’s so was wie ein Experiment. Ihr Hauptfach waren Naturwissenschaften. Wir hatten Sex, aber ich schwör dir, es war, als ob man einen Betonklotz vögelte. Tot, ohne jedes Gefühl.“
Lucas dachte an Sascha Duncan. Die schwache Erinnerung an ihre Witterung besänftigte die Sinne seines Panthers. Sie war aus Eis, aber das war nicht alles. „Sie sind zu bedauern.“
„Sie verdienen kein Mitleid, sondern Prankenhiebe“, entgegnete Dorian.
Lucas sah wieder auf die Stadt hinunter. Sein Zorn saß genauso tief wie Dorians, nur konnte er ihn besser verbergen. Er war bei ihm gewesen, als sie vor sechs Monaten die Leiche von Dorians Schwester gefunden hatten. Kylie war abgeschlachtet worden. Eiskalt und gefühllos. Ohne Gnade. Man hatte ihr Blut vergossen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie schön und lebendig sie gewesen war.
Am Tatort hatte es nicht nach einem Tier gerochen, aber Lucas hatte den metallischen Gestank der Medialen wahrgenommen. Die anderen Gestaltwandler hatten sofort gewusst, welcher Rasse das Monster angehörte, das dies getan hatte, als sie sahen, mit welcher Brutalität dort gemordet worden war. Aber der Rat der Medialen hatte behauptet, nichts zu wissen, und die Polizeibehörden waren so untätig gewesen, dass es fast so geschienen hatte, als wollten sie den Mörder gar nicht finden.
Die DarkRiver-Leoparden hatten bei ihren Nachforschungen herausgefunden, dass es noch weitere Morde nach demselben Schema gegeben hatte. Die Informationen darüber waren so verschleiert gewesen, dass nur eine Organisation dahinterstecken konnte. Der Rat war wie eine Spinne, die jedes Polizeirevier im Land in ihrem Netz gefangen hielt.
Die Gestaltwandler hatten die Schnauze voll. Schluss mit der Arroganz der Medialen. Schluss mit ihren politischen Machenschaften. Schluss mit den Manipulationen. Über die Jahrzehnte hinweg waren Unmut und Zorn zu einem Pulverfass geworden, das die Medialen nun, ohne es zu wissen, mit ihrer letzten Gräueltat entzündet hatten.
Jetzt herrschte Krieg.
Und eine sehr ungewöhnliche Mediale würde in dessen Wirren gefangen werden.
Als Sascha um Punkt halb acht am Bürogebäude der DarkRiver-Leoparden ankam, wartete Lucas bereits am Eingang auf sie. In Jeans, weißem T-Shirt und schwarzer Kunstlederjacke sah er ganz anders aus als der aalglatte Geschäftsmann, dem sie gestern gegenübergesessen hatte.
„Guten Morgen, Sascha.“
Fast hätte sie sein leichtes Lächeln erwidert.Doch diesmal war sie darauf vorbereitet. „Guten Morgen. Wollen wir weitergehen zur Besprechung?“ Nur kalte Nüchternheit konnte diesen Mann auf Distanz halten – sie konnte sich leicht ausrechnen, dass er gewöhnlich bekam, was er wollte.
„Wir mussten unsere Pläne leider ändern.“ Er hob beschwichtigend die Hände, aber die Geste hatte nichts Unterwürfiges an sich. „Ein Mitglied meines Teams hat es nicht rechtzeitig in die Stadt geschafft, deshalb habe ich das Treffen auf drei Uhr verschoben.“
Für Sascha klang das nach einer Ausrede, aber sie wusste nicht, ob er sie nur anlog oder zudem versuchte, mit ihr zu flirten. „Warum haben Sie mich nicht angerufen?“
„Ich dachte, wenn Sie sowieso schon auf dem Weg sind, könnten wir uns gleich den Baugrund ansehen, den ich für das Projekt ausgesucht habe.“ Er lächelte. „Damit würden wir die Zeit sehr effektiv nutzen.“
Er machte sich offensichtlich über sie lustig. „Also los.“
„Wir nehmen meinen Wagen.“
Sie widersprach nicht. Kein richtiger Medialer hätte das getan. Lucas kannte den Weg, also war es nur sinnvoll, dass er fuhr. Aber sie war nun mal keine normale Mediale und hätte ihm gerne gesagt, dass er seine selbstherrlichen Befehle für sich behalten konnte.
„Haben Sie schon gefrühstückt?“, fragte er, während er das Lenkrad ausfuhr.
Sie war zu nervös gewesen, um zu essen. Irgendetwas an Lucas Hunter beschleunigte ihr Abgleiten in den Wahnsinn, aber sie konnte ihren Sturz nicht aufhalten, konnte nicht aufhören, sich auf diese Wortwechsel einzulassen. „Ja“, log sie, ohne zu wissen weshalb.
„Gut. Ich möchte nämlich nicht, dass sie ohnmächtig auf mich kippen.“
„Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie ohnmächtig geworden, Sie sind also vor mir sicher.“
Die Stadt rauschte vorüber, während sie auf die Bay Bridge zufuhren. San Francisco war ein glitzerndes Juwel am Meer, aber ihr war die von der Natur beherrschte Umgebung im Hinterland lieber. In einigen Gegenden reichten die Wälder bis an die Grenzen von Nevada und noch darüber hinaus.
Der Yosemite Nationalpark war eines der größten wilden Areale. Vor ein paar Jahrhunderten hatte es Überlegungen gegeben, den Park auf ein Gebiet östlich von Mariposa zu beschränken. Die Gestaltwandler hatten den Kampf darum jedoch gewonnen und Yosemite konnte sich sogar noch weiter ausdehnen, unter anderem über die Waldgebiete am El Dorado und am Lake Tahoe hinaus, obwohl auch die Stadt an diesem See weiter wuchs.
Der Park erstreckte sich nun über halb Sacramento, schmiegte sich an die ertragreichen Weinberge des Napa Valley und führte im Norden bis hinauf nach Santa Rosa. Südöstlich von San Francisco hatte er sich schon fast ganz Modesto einverleibt. Da er sich immer weiter ausbreitete, war inzwischen nur noch ein Teil des Gebietes ein geschützter Nationalpark. Der Rest war zwar von allgemeinen Erschließungsmaßnahmen ausgenommen worden, aber unter gewissen Umständen durfte man dort wohnen.
Soweit ihr bekannt war, hatten Mediale nie einen Antrag gestellt, so nahe der Wildnis zu wohnen. Sie fragte sich, wie diese grüne, von Wäldern durchzogene Landschaft wohl ausgesehen hätte, wenn die Medialen hier herrschen würden. Irgendwie zweifelte sie daran, dass der größte Teil Kaliforniens auch in diesem Fall aus großen Nationalparks und Wäldern bestanden hätte.
Erst als Lucas ihr einen fragenden Blick zuwarf, fiel ihr plötzlich auf, dass sie mehr als vierzig Minuten geschwiegen hatte. Glücklicherweise war die Unfähigkeit zum Small Talk eine bekannte Charaktereigenschaft der Medialen. „Wenn wir uns bereit erklären, den Grund und Boden zu kaufen, den Sie ausgesucht haben, wie lange würde es dauern, den Handel abzuschließen?“
Er sah wieder auf die Straße. „Einen Tag. Das Land liegt auf dem Gebiet der DarkRiver-Leoparden, ist aber durch einen Zufall irgendwann in den Besitz der SnowDancer-Wölfe gelangt. Für einen angemessenen Preis würden sie es gerne verkaufen.“
„Sind Sie unparteiisch in der Sache?“ Da er seine Aufmerksamkeit auf das Fahren richten musste, nutzte sie die Gelegenheit, seine Male genau zu betrachten. Ihr wildes, primitives Aussehen berührte eine versteckte Seite in ihr. Sascha konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass der gewandte Geschäftsmann bloß eine Maske und die Wahrheit über Lucas in diesen Malen zu finden war.
„Nein. Aber sie werden mit niemand anderem verhandeln, also können Sie nur hoffen, dass ich Sie nicht über den Tisch ziehe.“
Sollte sie das jetzt ernst nehmen? „Wir kennen uns mit den Preisen für Grund und Boden aus. Bisher ist es noch keinem gelungen, uns über den Tisch zu ziehen.“
Er verzog die Lippen. „Es ist der beste Platz für Ihr Vorhaben. Allein der Gedanke, hier zu leben, beschert den meisten Gestaltwandlern feuchte Träume.“
Sascha fragte sich, ob er sie mit diesen ungehobelten Worten aus der Fassung bringen wollte. Hatte dieser viel zu intelligente Leopard ihren elementaren Defekt entdeckt? Um ihn von der Fährte abzulenken, sagte sie die nächsten Sätze vollkommen ohne Betonung: „Sehr deftig ausgedrückt, aber die feuchten Träume der Gestaltwandler interessieren mich nicht. Ich will nur, dass sie die Grundstücke kaufen.“
„Das werden sie.“ Lucas hatte da offenbar keinerlei Zweifel. „Wir sind gleich da.“ Er bog in eine weitere Nebenstraße ein und parkte den Wagen neben einer großen freien Fläche, auf der vereinzelt ein paar Bäume standen. In der Nähe von Manteca gab es zwar keine dichten Wälder, aber trotzdem befanden sie sich offensichtlich in einem Waldgebiet.
Frustriert stieg Lucas aus. Es gelang ihm einfach nicht, die Eisschicht, die Sascha wie einen Mantel aus Stahl um sich gelegt hatte, zu durchbrechen. Er hatte diese Fahrt zu dem Grundstück arrangiert, um herauszufinden, wie viel sie wusste. Aber eine Mediale dazu zu bringen, sich zu öffnen, war mindestens genauso schwierig, wie einen SnowDancer-Wolf darum zu bitten, sich in einen Leoparden zu verwandeln.
Und das Schlimmste war, dass er seine Beute absolut faszinierend fand. Als sie ihre Haltung änderte, um die Beine auszustrecken, fiel das Sonnenlicht auf ihr volles seidiges Haar und verlieh ihm eine noch dunklere Schattierung. Gleichzeitig schimmerte ihre Haut wie dunkler Honig. „Darf ich Sie etwas fragen?“ Der Einfall war dem Panther gekommen, aber der Mann sah, welche Möglichkeiten sich auftaten, wenn er diese Richtung weiter verfolgte.
Sascha sah auf. „Bitte.“
„Ihre Mutter ist offensichtlich asiatischer Abstammung, aber Sie tragen beide slawische Vornamen und einen schottischen Nachnamen. Das macht mich neugierig.“ Er ging neben ihr her, während sie sich das Grundstück ansah.
„Das ist keine Frage.“
Lucas kniff die Augen zusammen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn aufzog, aber das taten Mediale natürlich nie. „Wie kommen Sie zu so einer interessanten Mischung?“, fragte er und wusste nicht so recht, woran er bei ihr war.
Zu seiner Überraschung antwortete sie ihm, ohne zu zögern: „Je nach den Familienstrukturen entscheiden wir uns für den Nachnamen der mütterlichen oder der väterlichen Seite. In meiner Familie trugen wir seit drei Generationen den Nachnamen der Mutter. Aber Ai Kumamoto, meine Urgroßmutter, hat den Namen ihres Mannes angenommen. Er hieß Andrew Duncan.“
„War sie Japanerin?“
Sascha nickte. „Ihre Tochter, meine Großmutter, hieß Reina Duncan. Dimitri Kukovich, mein Großvater, suchte dann den Vornamen für ihre gemeinsame Tochter aus: Nikita. Meine Mutter setzte diese Tradition der Namensgebung fort, da unsere Psychologen glauben, ein Kind könne sich besser in die Gesellschaft eingliedern, wenn es ein Gefühl für seine Herkunft hat.“
„Ihre Mutter sieht sehr japanisch aus, Sie aber überhaupt nicht.“
Ihre Gesichtszüge waren so einzigartig, dass sie sich jeder Beschreibung entzogen. Nichts an ihr zeigte, dass sie aus derselben Fabrik kam wie die anderen blutleeren, medialen Roboter.
„In meinem Fall scheinen sich die väterlichen Gene durchgesetzt zu haben, während es bei meiner Mutter wohl die mütterlichen waren.“
Er konnte sich nicht vorstellen, jemals über seine Eltern in diesem kühlen Ton zu reden. Sie hatten ihn geliebt, ihn aufgezogen und waren für ihn gestorben. Die Erinnerungen an sie waren so wertvoll, dass er sie mit starken und tiefen Gefühlen in Ehren hielt. „Und was hat Ihr Vater zu dieser exotischen Mischung beigetragen?“
„Er war angloindischer Abstammung.“
Etwas in ihrer Stimme weckte den Beschützerinstinkt seines wilden Tiers. „Er ist nicht mehr Teil Ihres Lebens?“
„Er war es noch nie.“ Sascha ging weiter den Weg entlang und versuchte den Schmerz ihrer tiefsten Verletzung nicht wahrzunehmen. Das würde sich niemals ändern. Ihr Vater war ebenso ein Medialer wie ihre Mutter.
„Das verstehe ich nicht.“
Diesmal zog sie ihn nicht damit auf, dass er keine Frage gestellt hatte. „Meine Mutter hat eine wissenschaftliche Methode der Empfängnis gewählt.“
Lucas blieb abrupt stehen, worüber sie ihre Überraschung beinahe nicht verbergen konnte. „Was? Sie ist einfach zu einer Samenbank gegangen und hat sich einen Spender mit guten Genen ausgesucht?“ Er sah verblüfft aus.
„Wenn man es simpel ausdrücken will, ja. Unter den Medialen ist das inzwischen die am meisten verbreitete Art der Empfängnis.“ Sascha wusste, dass Nikita von ihr erwartete, diesem Beispiel zu folgen. Nur wenige ihrer Rasse wählten noch die altmodische Methode. Es war offensichtlich eine ziemlich schmutzige Angelegenheit, man verschwendete wertvolle Zeit, die man effektiver und gewinnbringender nutzen konnte, und hatte noch dazu keinerlei Vorteile gegenüber einer medizinisch-psychischen Auslese.
„Das Verfahren ist sehr praktisch und sicher.“ Aber sie selbst würde es niemals anwenden. Niemals würde sie einem Kind diesen Defekt zumuten, der sie selbst mittlerweile an den Rand des Wahnsinns trieb. „Wir können so beschädigte Spermien und Eizellen aussondern. Deshalb treten Kinderkrankheiten bei Medialen auch nur in einer verschwindend geringen Anzahl auf.“ Trotzdem gab es Fehler – sie war der lebende Beweis dafür.
Lucas schüttelte den Kopf so katzenhaft, dass ihr Herz aussetzte. Manchmal war er so charmant und gewandt, dass sie sein tierisches Wesen vergaß. Doch dann sah er sie wieder mit dieser unverblümten Leidenschaft an und sie wusste, dass hinter der zivilisierten Fassade etwas völlig Ungezähmtes lauerte.
„Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht“, sagte er und stand ein wenig zu nah bei ihr.
Sie wich nicht zurück. Er mochte als Alphatier Gehorsam gewohnt sein, aber sie gehörte nun mal nicht zu seinem Rudel. „Ganz im Gegenteil. Mit der tierischen Art der Reproduktion bin ich schon in jungen Jahren vertraut gemacht worden.“
Er lachte leise auf, was ihr elektrische Schläge an Stellen verursachte, die sonst niemand berühren durfte. „Tierische Art der Reproduktion? Na, so kann man es auch nennen. Haben Sie es je versucht?“
Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf seine Worte zu konzentrieren, er war so nah … Er roch nach Gefahr und wilder Leidenschaft, nach allem, was sie sich niemals gestatten konnte. Er war die reine Versuchung. „Nein. Warum sollte ich?“
Er kam noch einen Zentimeter näher. „Schätzchen, weil du dann vielleicht rausfindest, dass es dem Tier in dir gefällt.“
„Ich bin nicht Ihr Schätzchen.“ Sie erstarrte, sobald die Worte heraus waren. Kein Medialer hätte jemals den Köder geschluckt.
Lucas’ Augen blitzten herausfordernd. „Vielleicht kann ich ja Ihre Meinung ändern.“
Obwohl er das nur sagte, um sie aufzuziehen, wusste sie, dass er ihren Ausrutscher bemerkt hatte und nun herauszufinden versuchte, was das bedeutete. Sie konnte es nicht ungeschehen machen, aber sie konnte zum rein Geschäftlichen zurückkehren. „Was wollten Sie mir zeigen?“
Sein unverschämtes Lächeln zerschmetterte all ihre Hoffnungen, dieses Treffen doch noch in den Griff zu bekommen. „Eine Menge, Schätzchen. Eine ganze Menge.“
Lucas sah zu, wie Sascha auf dem Gelände herumging, und nahm ihren Geruch wahr, der ebenso exotisch wie ihre Geschichte war. Der Panther in seinem Kopf fühlte sich zu ihr hingezogen, wollte herausfinden, ob sie genauso gut schmeckte, wie er vermutete. Ihre goldene Haut schimmerte verführerisch und ihre vollen Lippen weckten in ihm das Bedürfnis zuzubeißen … sinnlich und voller Leidenschaft. Alles an ihr war eine einzige Einladung für seine Sinne.
Er kämpfte nur dagegen an, weil er wusste, dass es irgendeine List der Medialen sein musste. Hatten sie endlich herausgefunden, wie sie die Köpfe der Gestaltwandler kontrollieren konnten? Seine Leute waren bisher immer sicher gewesen, weil die Medialen einfach zu kalt waren, um herauszufinden, was ihr Wesen ausmachte: Leben, Hunger, Gefühle, Berührungen und Sex. Nicht etwa kalt und asketisch, wie Dorian ihn beschrieben hatte, sondern leidenschaftlicher, schwitzender, animalischer, schmutziger Sex.
Lucas mochte den Geruch von Frauen, sowohl bei Menschen als auch bei Gestaltwandlern. Er liebte ihre weiche Haut und die Lustschreie, aber er hatte sich noch nie zuvor zum Feind hingezogen gefühlt. Und er wehrte sich dagegen, auch wenn er Saschas Körper gerade mit den Augen abtastete.
Sie war groß, aber nicht gertenschlank. Am Körper dieser Frau waren mehr gefährliche Kurven, als es für jemanden ihrer Rasse gesetzlich erlaubt sein sollte. Obwohl sie diesen schwarzen Hosenanzug und ein steifes weißes Hemd wie eine Firmenuniform trug, ahnte er, dass ihre Brüste seine Hände mehr als ausfüllen würden. Als sie sich hinunterbeugte, um etwas auf dem Boden näher anzusehen, war er kurz davor, dem Verlangen seines Tieres nachzugeben. Ihre Hüften hatten eine sinnliche weibliche Rundung, der herzförmige Hintern war einfach verführerisch.
Sie wandte abrupt den Kopf, als hätte sie den durchdringenden Blick gespürt, und trotz der Entfernung konnte er beinahe die erdige Sinnlichkeit schmecken, die sie zu verbergen versuchte. Er ging zu ihr hinüber. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Mediale waren nicht sinnlich. Vielmehr waren sie einer Maschine so ähnlich, wie man es mit einem menschlichen Äußeren nur sein konnte. Aber diese hier war anders, und in dieses andere hätte er gerne seine Zähne geschlagen.
„Warum haben Sie gerade diesen Ort ausgewählt?“, fragte sie, als er näher kam. Ihre nachtschwarzen Augen blinzelten nicht.
„Es gibt ein Gerücht, dass die weißen Sterne in den Augen der Kardinalmedialen unter bestimmten Bedingungen in unzähligen Farben strahlen.“ Er suchte in ihrem Gesicht nach einer Antwort auf das Rätsel in ihr. „Stimmt das?“
„Nein. Sie können nur völlig schwarz werden.“ Sie sah weg und er hätte gerne geglaubt, dass sie es tat, weil er ihre Sinne verwirrte. Es ärgerte den Panther, dass sie so unbewegt blieb, während er in ihrer Gegenwart wie hypnotisiert war. „Erzählen Sie mir etwas über diesen Ort.“
„Das ist erstklassiger Grund und Boden für Gestaltwandler – nur eine Stunde zur Stadt und genügend Bäume, um die Seele baumeln zu lassen.“ Er sah auf ihren strengen Zopf hinunter. Die Versuchung, daran zu ziehen, war so groß, dass er gar nicht erst versuchte, zu widerstehen.
Sie zuckte zurück. „Was machen Sie da?“
„Ich wollte herausfinden, wie sich Ihre Haare anfühlen.“ Etwas zu fühlen war für ihn genauso wichtig wie zu atmen.
„Warum?“
Noch nie hatte ihm ein Medialer eine solche Frage gestellt. „Es fühlt sich gut an. Ich mag es, weiche, seidige Dinge zu berühren.“
„Verstehe.“
Hatte er da ein Zittern in ihrer Stimme gehört? „Versuchen Sie es.“
„Was?“
Er beugte sich ein wenig vor. „Nur zu. Gestaltwandler haben nichts gegen Berührungen.“
„Man weiß aber auch, dass Sie Grenzen setzen“, sagte sie. „Sie lassen sich nicht von jedem anfassen.“
„Nein. Nur das Rudel, Gefährten und Geliebte genießen das Privileg, unsere Haut zu berühren. Aber wir rasten nicht aus wie die Medialen, wenn ein Unbekannter uns anfasst.“ Aus unerklärlichen Gründen wollte er, dass sie ihn berührte. Und es hatte nichts mit seiner Suche nach dem Mörder zu tun. Das hätte ihn davon abhalten sollen, aber der Panther hatte die Führung übernommen und wollte gestreichelt werden.
Sascha hob die Hand und hielt inne. „Es gibt keinen Grund dafür.“
Er fragte sich, ob sie sich selbst oder ihn davon überzeugen wollte. „Sehen Sie es als ein Forschungsprojekt. Haben Sie schon mal einen Gestaltwandler berührt?“
Sie schüttelte den Kopf, streckte die Hand aus und fuhr mit ihren Fingern so sachte durch sein Haar, dass er gerne geschnurrt hätte. Er hatte angenommen, sie würde es bei einem Mal belassen, aber überraschenderweise tat sie es noch einmal. Und noch einmal.
„Es fühlt sich ungewohnt an.“ Ihre Hand schien ein wenig zu verweilen, bevor Sascha sie wieder zurückzog. „Ihre Haare sind kühl und schwer und ihre Beschaffenheit ähnelt einem Seidensatinstoff, den ich einmal in Händen hatte.“
Mediale mussten wohl selbst so eine einfache Sache wie eine Berührung analysieren. „Darf ich?“
„Was?“
Er berührte ihren Zopf. Diesmal zeigte sie keine Reaktion. „Kann ich ihn aufmachen?“
„Nein.“
Der Panther in ihm erstarrte, als er einen Hauch von Panik in ihrer Stimme witterte. „Warum?“
3
„Sie besitzen nicht das Privileg.“
Mit einem leisen Lachen ließ er den Zopf durch die Finger gleiten. Kaum hatte die Spitze Saschas Rücken berührt, drehte sie sich weg. Genug gespielt. „Bei meiner Entscheidung für dieses Land“, nahm er ihre frühere Frage wieder auf, „war die Nähe zur Natur ausschlaggebend. Obwohl die meisten Gestaltwandler inzwischen in einer zivilisierten Umgebung leben, sind wir immer noch ebenso Tier wie Mensch – das Bedürfnis in der Wildnis herumzustreunen liegt uns im Blut.“
„Wie sehen Sie sich selbst?“, fragte sie. „Sind Sie Menschen oder Tiere?“
„Wir sind beides.“
„Ein Teil muss dominant sein.“ Auf ihrer vollkommenen Stirn erschienen ein paar Falten.
Ein Stirnrunzeln? Bei einer Medialen? Schon im nächsten Moment war es verschwunden, aber er hatte es gesehen. „Nein. Wir sind ein Ganzes. Ich bin ebenso sehr Panther wie Mensch.“
„Ich dachte, Sie wären ein Leopard.“
„Schwarze Panther kommen bei vielen Katzenarten vor. Wir sind Panther, weil wir ein schwarzes Fell haben und nicht weil wir einer bestimmten Familie angehören.“ Ihre Unwissenheit überraschte ihn nicht. Für die Medialen waren die Gestaltwandler allesamt Tiere, alle ein und dasselbe. Das war ein Fehler. Ein Wolf war nicht dasselbe wie ein Leopard und ein Adler war kein Schwan.
Und ein Panther auf der Jagd war wild und gefährlich.
Lucas holte sein Telefon aus dem Wagen, um die SnowDancer-Wölfe anzurufen. Da er Sascha den Rücken zudrehte, konnte sie in aller Ruhe den schönen Körper dieses Mannes bewundern. Er war einfach … sinnlich. Sie hatte dieses Wort noch nie vorher benutzt, nie hatte es auf irgendwen oder irgendwas gepasst. Aber bei Lucas Hunter passte es wie kein anderes.
Anders als die kalten und förmlichen Männer der Medialen war er verspielt und zugänglich. Was ihn nur noch gefährlicher machte. Sie hatte das Raubtier unter der Oberfläche gesehen. Lucas konnte nett sein, aber er würde jemandem an die Gurgel springen, wenn es sein musste.
Niemand wurde in diesem Alter zum Alphatier in einem Raubtierrudel erhoben, wenn er nicht an der Spitze der Nahrungskette stand.
Das machte ihr keine Angst. Vielleicht weil sie auf den verschlungenen Wegen des Medialnets schon so gemeine und grausame Dinge gesehen hatte, dass die offen raubtierhafte Art von Lucas ihr dagegen so angenehm wie ein frischer Luftzug vorkam. Er hatte versucht, mit ihr zu flirten, aber er hatte sich nicht verstellt– er war durch und durch ein Jäger, mit jeder Faser ein Raubtier, ein sinnlicher Mann, der sich seiner Wirkung bewusst war.
Er weckte Verlangen in ihr, ungestüm und wild drohte es die ohnehin schon zerbrechliche kalte Fassade zu zerstören, die sie zum Überleben brauchte. Sie hätte auf der Stelle wegrennen sollen, so weit fort von ihm wie nur möglich. Stattdessen ging sie ihm sogar entgegen, als er wieder zurückkam. Das silberne Gerät an seinem Ohr war Lichtjahre von der ursprünglichen Erfindung Bells entfernt.
„Sie würden es für zwölf Millionen verkaufen.“ Er blieb etwa einen Meter vor ihr stehen und signalisierte, dass er jemand am Apparat hatte.
„Das ist das Doppelte von dem, was man für dieses Land auf dem freien Markt bekommen würde.“ Sie würde sich nicht einschüchtern lassen. „Ich biete ihnen sechseinhalb.“
Lucas wiederholte ihre Antwort nicht, also musste der Wolf am anderen Ende sie wohl gehört haben. Dies erinnerte Sascha daran, dass – entgegen der egoistischen Annahme ihrer Rasse, sie seien eine allen überlegene Führungsschicht – auch die Gestaltwandler über einige bemerkenswerte Fähigkeiten verfügten.
„Sie sagen, sie hätten kein Interesse daran, die Medialen noch reicher zu machen. Es juckt sie nicht, wenn Sie das Land nicht kaufen. Sie geben es auch gerne einem anderen Bewerber.“
Sascha hatte sich gut vorbereitet. „Können sie gar nicht. Die Rika-Smythe-Familie hat gerade alles vorhandene Kapital in ein Projekt in San Diego investiert.“
„Dann lassen sie es brachliegen. Zwölf Millionen oder sie legen auf.“ Lucas sah sie eindringlich mit diesen unglaublich grünen Augen an und sie fragte sich, ob er wohl versuchte, in sie hineinzusehen. Sie hätte ihm sagen können, dass er sich vergeblich anstrengte. Sie war eine Mediale – sie hatte keine Seele.
„Wir können es uns nicht leisten, so viel Geld auszugeben. Suchen Sie nach einem anderen Ort“, sagte sie und versuchte, trotz der verwirrenden Gegenwart von Lucas kühl und kontrolliert zu klingen.
Diesmal wiederholte er, was sie gesagt hatte. Nachdem er einen Augenblick zugehört hatte, sagte er: „Sie gehen nicht runter. Aber sie machen einen Gegenvorschlag.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Sie geben Ihnen das Land für fünfzig Prozent Gewinnbeteiligung und einer schriftlichen Vereinbarung, dass keines der Häuser an Mediale verkauft wird. Außerdem verlangen sie eine bindende Zusage in allen Verträgen, dass auch die späteren Eigentümer nicht an Mediale veräußern dürfen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das Land soll in den Händen von Gestaltwandlern oder Menschen bleiben.“
Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet, aber Lucas hatte es gewusst, das sah sie in seinem Blick. Und er hatte sie nicht gewarnt. Sofort war ihr Misstrauen geweckt. Wollte er sie vielleicht provozieren? „Einen Augenblick, bitte. Diese Entscheidung übersteigt meine Befugnisse.“
Sie ging ein Stück zur Seite, obwohl es eigentlich nicht notwendig war, da sie mit ihrer Mutter durch das Medialnet in Verbindung treten würde. Normalerweise benutzten sie einfache Telepathie, aber Saschas Fähigkeiten reichten nicht aus, um über solch große Entfernungen zu senden. Dieses schlichte Beispiel ihrer Schwäche genügte, damit sie wieder mehr auf der Hut war. Anders als andere Kardinalmediale war sie leicht zu ersetzen.
Nikita meldete sich sofort: „Was ist los?“ In einem geschlossenen Raum irgendwo im Medialnet traf ein Teil ihres Bewusstseins auf einen Teil von Saschas.
Sascha wiederholte das Angebot und fügte hinzu: „Es ist auf jeden Fall ein erstklassiger Ort für die Bedürfnisse von Gestaltwandlern. Wenn die SnowDancer-Wölfe das Land stellen, werden unsere Investitionen halbiert, und die Teilung des Profits wird unseren Gewinn nicht schmälern. Wir könnten am Ende sogar besser dastehen.“
Nikita antwortete nicht gleich, sie überprüfte offensichtlich die Zahlen in ihrem Computer. „Diese Wölfe haben die schlechte Angewohnheit, sich alles unter den Nagel zu reißen, was ihnen in die Finger kommt.“
Es schien Sascha, als täten das alle Gestaltwandlerraubtiere. Lucas war ein gutes Beispiel: Seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, versuchte er an sie ranzukommen. „Bislang haben sie sich noch nicht im Grundstücksgeschäft engagiert. Ich glaube, es ist eine rein gefühlsmäßige Entscheidung. Sie wollen nicht, dass ihr Land in mediale Hände gerät.“
„Damit könntest du recht haben.“ Wieder trat eine Pause ein. „Setze einen Vertrag auf, der uns die Kontrolle über die gesamte Planung, den Bau und den Verkauf gibt. Sie werden stille Teilhaber sein. Wir teilen mit ihnen nur den Gewinn und sonst gar nichts.“
„Was ist mit ihrer Forderung, dass kein Grundstück an uns verkauft werden soll?“ An uns. An Mediale. An die Leute, zu denen sie nie richtig gehört hatte. Aber sie hatte auch niemand anderen. „Bei privaten Grundstücksgeschäften ist das legal.“
„Es ist dein Projekt. Was hältst du davon?“
„Kein Medialer würde jemals hier draußen leben wollen.“ So viel Raum machte den meisten ihrer Rasse Angst. Sie zogen es vor, in netten, kleinen, quadratischen Kisten mit klaren Grenzen zu wohnen. „Es lohnt sich nicht, darüber zu streiten, und außerdem müssen wir Lucas die Million nicht zahlen, wenn er nicht alle Einheiten verkauft.“
„Mach ihm das deutlich.“
„Werde ich.“ Instinktiv wusste sie, dass der Panther ihnen weit voraus war. Lucas kam ihr nicht so vor, als könnte ihn irgendjemand zum Narren halten.
„Ruf mich wieder an, wenn es Schwierigkeiten gibt.“ Nikita klinkte sich aus. Als Sascha zu Lucas zurückkehrte, rieb dieser gerade seinen Nacken, als ob etwas die Haut reizen würde. Ihre Augen verfolgten die Geste, fasziniert von der Geschmeidigkeit seiner Muskeln, die sich unter der Kunstlederjacke abzeichneten. Jede seiner Bewegungen war fließend und anmutig, wie bei einer großen Katze, die sich anschlich.
Erst als er die Brauen hob, merkte sie, dass sie ihn angestarrt hatte. Sie bemühte sich, nicht rot zu werden, und sagte: „Wir gehen auf ihre Bedingungen ein, wenn sie sich mit einer stillen Teilhaberschaft zufriedengeben. Man darf absolut nichts von ihnen hören.“
Er nahm die Hand vom Nacken und hob das Telefon ans Ohr. „Sie sind einverstanden. Ich werde den Vertrag aufsetzen.“ Er klappte das schmale Handy zu.
„Wir werden aber nicht davon abrücken, dass Sie alle Häuser vorab verkaufen müssen, um die zusätzliche Million zu erhalten.“
Es lag etwas eindeutig Selbstgefälliges in seinem leichten Lächeln. „Keine Sorge, Schätzchen.“
Im Wagen fiel ihr ein, dass sie noch nie von einem Geschäft gehört hatte, bei dem Mediale und Gestaltwandler sich den Gewinn geteilt hatten. Das beunruhigte sie nicht weiter, denn ihr Instinkt sagte ihr, dass sie damit gut fahren würden. Schade eigentlich, dass die Erwähnung von Instinkten zur Folge hätte, dass man ihr Gehirn mithilfe von Psychopharmaka zerstören würde.
Lucas war höchst unzufrieden. Bislang hatte sich Sascha nicht nur geweigert, irgendetwas Nützliches zu enthüllen, sondern sie schien stattdessen sogar Dinge über die Gestaltwandler aufzuschnappen, die kein Medialer mitbekommen durfte. Aber viel schlimmer war, dass er den Drang unterdrücken musste, ihr noch mehr beizubringen, anstatt sie weiter auszufragen.
„Was halten Sie hiervon?“ Er zeigte auf eine andere Zeile im Vertragsentwurf. Sie saßen in seinem Büro im obersten Stockwerk des Gebäudes. Er hatte ihr ein Zimmer gleich nebenan gegeben. Ein perfektes Arrangement. Wenn sie reden würde.
Sie sah sich das Blatt an und schob es über die dunkle Holzplatte wieder zurück. „Von mir aus, wenn Sie statt ‚auf‘ ‚für‘ schreiben.“
Er dachte darüber nach. „In Ordnung. Darüber wird es keinen Streit mit den Wölfen geben.“
„Aber es wird Streit geben?“
„Nicht wenn es ein fairer Vertrag ist.“ Er überlegte, ob Mediale überhaupt wussten, was Integrität bedeutete. „Die Wölfe vertrauen mir und ich werde ihnen keine Lügen auftischen. Und solange Sie nicht irgendwelche krummen Touren versuchen, werden die Wölfe Wort halten.“
„Man kann einem Gestaltwandler trauen?“
„Vielleicht sogar mehr als einem Medialen.“ Er spürte, wie sein Kiefer sich anspannte, wenn er daran dachte, wie selbstherrlich die Medialen behaupteten, weder wütend noch gewalttätig zu sein, auch wenn es klar auf der Hand lag, dass sie es sehr wohl waren.
„Sie haben recht. Ein wenig Hinterlist gilt in meiner Welt als effektive Verhandlungsstrategie.“
Er war mehr als überrascht über ihre Zustimmung. „Nur ein wenig?“
„Vielleicht treiben es einige zu weit.“
Sie saß vollkommen unbeweglich da. Er wäre gern zu ihr hinübergegangen und hätte sie gestreichelt. Vielleicht konnte eine Berührung mehr bewirken als alle Worte. „Wer bestraft diejenigen, die es zu weit treiben?“
„Der Rat.“ Das war eindeutig.
„Und wenn er sich irrt?“
Ihre schönen, unergründlichen Augen blinzelten nicht einmal. „Sie wissen über alles Bescheid, was im Medialnet geschieht. Wie könnten sie sich irren?“