Gipfeltrip - Gamze Öz - E-Book

Gipfeltrip E-Book

Gamze Öz

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Beschreibung

Maddy Stone plant mit ihrer kleinen Familie einen Winterurlaub in Österreich. Auch möchte sie sich ihren größten Traum erfüllen und auf die Zugspitze fahren. Doch dann erfährt sie, dass eine Mutter mit ihrem Kind aus der Seilbahn zum Gipfel verschwunden ist. An Heiligabend findet sie heraus, dass ihr Mann Geheimnisse vor ihr zu haben scheint und Pläne gegen sie schmiedet. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch macht sie sich dennoch mit ihrer Familie auf den Weg nach Ehrwald, muss aber dort feststellen, dass der Urlaub anders verläuft als geplant.

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Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,

Verwertung, Übersetzung und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronische Systeme.

Für Aleyna.

Jeder Traum soll für dich erreichbar sein.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Vor einem Jahr

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Ein Jahr später

Kapitel 1

Die Nacht ist vollkommen dunkel und mit dichtem Nebel überzogen. Wenn draußen die einzige Straßenlaterne aufleuchtet, der Nacht einen kleinen Funken Hoffnung schenkt, verstummt auch das Brummen der Autos. Dann bin ich alleine mit meinen Gedanken und dem Bellen des Nachbarhundes.

Ich lasse meine Kleidung hinuntergleiten, steige in mein Bett und ziehe die Bettdecke bis unter mein Kinn. Ruhe überkommt mich. Sie macht mich wirr. Unruhig.

Und dann tauchen wieder die Erinnerungen auf. Als würde jemand Fremdes den Lichtschalter betätigen und mich bewusst quälen wollen. Mit all den Erinnerungen an den letzten Winterurlaub.

Ich drehe mich auf die linke Seite, lausche meinem Atem. Er ist flach und schnell. Ich versuche ihn zu kontrollieren. Erfolglos. Es ist eine weitere Nacht, in der meine Gedanken lauter sind als die Musik unserer neuen Nachbarn. Sie erinnern mich an uns, an mich und Marc. Zu Beginn unserer Beziehung. Frisch verliebt, leidenschaftlich und wild. Sie sind Anfang zwanzig. Zehn Jahre jünger als wir. Liana heißt sie. Ist bildschön. Ich muss Marc im Blick behalten. Nicht, dass er Dummheiten anstellt.

Ich kenne Liana nur flüchtig. Viel miteinander gesprochen haben wir noch nicht. Wir treffen uns ab und zu im Supermarkt. Mal am Kühlregal, mal an der Kasse. Die Tiefkühlpizzen und Tortellini-Konserven in ihrem Korb verraten ihre Kochkünste. Sie hat ihr Studium hingeschmissen und ist mit ihrem Freund Tom durchgebrannt. Um den Ruf ihrer Familie nicht zu schädigen, kauften ihr ihre Eltern das Haus neben unserem, das seit ein paar Monaten leer stand. Vielleicht waren sie wegen mir weggezogen. Die vorherigen Nachbarn. Vielleicht hatten sie Angst vor mir. Die Blicke in der Nachbarschaft zumindest sagten mehr als Worte. Ich habe den Ruf meiner eigenen Familie zerstört und kämpfe bis heute, ein Jahr später, immer noch mit den Konsequenzen.

An manchen Tagen sehe ich Liana und Tom vor ihrem Haus in ihrem weißen Zweisitzer, eng umschlungen am Knutschen. Toms Hände in ihrem Haar, das wilder aussieht als jeder Messy-Bun in Beauty-Magazinen. Das junge, leidenschaftliche Paar, das sich nicht ansatzweise vorstellen kann, was Verantwortung bedeutet. Wie es ist, Mutter und Vater zu sein. Bedingungslos zu lieben. Und alles, aber wirklich alles für seine Familie zu tun.

Ich starre an die Decke. Etwas Licht schimmert durch die nicht vollständig verschlossenen Jalousien herein. Mein Blick wandert durch das dunkle Zimmer. Ich kann nicht viel sehen und kneife meine Augen zusammen. Es würde mir leichter fallen zu schlafen, wenn Marc jetzt neben mir liegen würde. Ich würde mich an ihn kuscheln, seinen Geruch einatmen und mich sicher fühlen. Doch fühle ich mich noch sicher bei ihm? Mit ihm? Ich weiß es nicht. Nicht mehr so sicher wie früher. Marc ist in der Nachtschicht. Er arbeitet viel. Und hart. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass wir wieder zueinanderfinden. Dass er wieder der Alte wird. Nach dem letzten Winterurlaub habe ich ihn endgültig verloren. Uns verloren. Hätte ich Luis nicht, würde ich es kaum aushalten.

Vielleicht sollte ich Luis wieder zu mir ins Bett holen. Ich genieße seine leisen Atemzüge, wenn er neben mir schläft. Es beruhigt mich, ihn bei mir zu haben. Dicht an mich gekuschelt. Doch seitdem er von seiner Oma Ann, meiner Schwiegermutter, die ich nicht ausstehen kann, ein neues Bett mit langer Rutsche und einer gefährlichen Piratenflagge geschenkt bekam, schläft er in seinem eigenen Zimmer. Bittet mich nicht mehr seine Hand zu halten, bei ihm zu bleiben. Er schickt mich jeden Abend entschlossen weg und schlummert innerhalb weniger Minuten mit Mr. Hopp ein.

Ob ich ein wenig lesen sollte, um müde zu werden? Ich habe mir aus der Stadtbibliothek Das Tagebuch der Anne Frank ausgeliehen. Ein Buch, das ich schon lange auf meiner Liste stehen hatte. Ich ziehe an der Kette meiner Nachttischlampe, die gelb aufleuchtet, beuge mich herunter und öffne die Schublade. Bedürfnisorientierte Erziehung und mein Tagebuch. Nicht das der Anne Frank. Ich habe es unten im Wohnzimmer liegen lassen. Doch ich habe keine Lust nachts zum Bücherregal zu schleichen und dann festzustellen, dass es dort doch nicht ist und ich jedes andere Buch mindestens zweimal gelesen habe. Ich brauche dringend ein paar neue Romane. Ich schließe die Schublade mit einem Ruck, ziehe erneut an der Kette und lasse mich in mein weiches Daunenkissen fallen.

Und dann, von null auf hundert, überkommt mich wieder das Gefühl. Das Gefühl zu sterben. Wärme zieht von meinen Zehen hoch bis hin zu meinen Ohren. Mein Herz pulsiert wild. Ich ringe nach Luft. Plötzlich werde ich melancholisch. Erinnerungen, die wieder aufblitzen. Hintereinander wie an einem Gewitterabend, an dem man den Abstand zwischen Donner und Blitz in der Hoffnung zählt, sie würden schnell an einem vorbeiziehen. Ich schließe meine Augen fest.

Eins, zwei, drei. Maddy, beruhige dich!

Ich sehe die Zugspitze.

Ich sehe das Kleid im Nebel wehen.

Ich sehe eine zarte Hand winken.

Vier, fünf, sechs. Meine Schwester, die mich an den Schultern packt, mich festhält.

Sieben, acht, neun, wie sie mich zu Boden reißt, zehn

Ich öffne langsam meine Augen, greife in meine Nachttischschublade, krame mein Tagebuch und den Kugelschreiber heraus. Sie sind immer einsatzbereit. Mein Therapeut hat mir empfohlen, Tagebuch zu führen. Die Erinnerungen kann ich nicht mit Tabletten aus meinem Gedächtnis löschen. Runterspülen. Sie verfolgen mich. Bilder, die ich einfach nicht verdrängen kann. Die Zugspitze, die einst mein Traumort gewesen war, wurde zu meinem Albtraum.

Buff! Ich höre unsere Haustür ins Schloss fallen und schrecke zusammen. Ich presse meine Lippen zusammen, halte meinen Atem an. Lausche. Schlüsselgeklimper. Ich atme beruhigt weiter. Es ist Marc. War seine Schicht schon vorbei? Dann war es jetzt sechs Uhr. Hatte ich die ganze Nacht wach gelegen? Ich freue mich darüber, dass er jetzt da ist, sich gleich zu mir legt. Wenn er überhaupt hoch kommt, denn meistens schläft er auf dem Sofa ein. Wieso musste sich alles verändern? Je näher Weihnachten rückt, desto erdrückender wird das Gefühl und die Unsicherheit in mir. Desto lauter wird meine innere Stimme. Aber ich bin mir sicher, dass es wieder Nächte geben wird, in denen ich problemlos einschlafen und durchschlafen kann. In denen Marc und ich uns näherkommen werden. Alles braucht seine Zeit.

»Wie? Du bist noch wach? Ist alles in Ordnung?«

Ich zucke leicht zusammen, öffne die Augen. Richte mich etwas auf. Das Flurlicht blendet mich. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. »Mach das Licht bitte aus.«

Er macht einen Schritt ins Zimmer und lehnt die Tür an.

»Ich habe eine gute Nachricht! Die Schicht ist heute ausgefallen.« Ich verstehe es nicht.

»Okay«, stammele ich.

»Freust du dich nicht?« Er schaut mich mit einem gezwungenen Lächeln an.

»Doch, klar.« Dann hättest du doch viel früher zuhause sein müssen, denke ich mir.

»War ich zu laut?«, fragt er mich und streichelt liebevoll meinen Kopf.

»Ne, alles gut. Ich konnte die ganze Nacht nicht einschlafen.«

»Du hast aber noch die halbe vor dir«, scherzt er.

»Wie spät ist es?«

»Wir haben drei Uhr.«

»Erst?« Ich bin verwundert und gleichzeitig beruhigt.

»Rutsch rüber!« Er kommt zu mir, legt seine schwarze Sweatjacke ab und nimmt mich in den Arm.

»Ein Déjà-vu. Ich habe vorhin noch davon geträumt, dass wir kuschelnd einschlafen.« Ich spüre seine Hand auf meiner. »Oh, du bist viel zu kalt.«

»Los, rutsch rüber! Deine Füße sind auch nicht wärmer.« Er lacht und zieht mich zu sich. Er riecht unheimlich gut.

Ich genieße es, in seinen Armen zu liegen. Mich geborgen zu fühlen.

Es wird doch alles gut werden. Irgendwann.

Kapitel 2

Vor einem Jahr

Schon vor dem Klingeln meines Weckers sprang ich gut gelaunt aus dem Bett und nutzte die dazugewonnene Zeit für eine verlängerte Yoga-Einheit.

Für Marc war Yoga kein Sport. Während ich im Pyjama den Sonnengruß absolvierte, war er bereits seine tägliche Runde gelaufen. Zehn Kilometer, egal bei welcher Temperatur. Und das sah man ihm auch an. Marc hatte einen schlanken, durchtrainierten Körper. Welche Frau würde nicht gerne an seiner Seite sein?

Ich ließ mich davon aber nicht unter Druck setzen. Im Schneidersitz machte ich es mir auf dem roten Teppich in unserem Schlafzimmer bequem. Die Handflächen aneinandergepresst vor meiner Brust. Das Kinn leicht gesenkt. Ich schloss die Augen. Mit Marcs Ausdauer konnte ich nicht mithalten. Ich argumentierte mit meinen guten Genen und musste nicht viel dafür tun. Nur ein wenig auf meine Ernährung achten. Mit Yoga hatte ich vor einigen Jahren angefangen, um etwas für meine Seele zu tun, weniger für meinen Körper. Dass ich dadurch gelenkiger wurde, war ein Vorteil. Mein Fokus lag jedoch darauf, mich innerlich in Balance zu bringen und meiner Rastlosigkeit und der inneren Unruhe nach stressigen Tagen entgegenzusteuern.

Meine Yoga-Einheit war viel zu schnell vorbei. Ich öffnete das Fenster und nahm einen tiefen Atemzug.

Im Anschluss sprang ich unter die Dusche und erfreute mich an dem heißen Kaffee, den ich trinken konnte, bevor ich Luis aus seinen Träumen wecken musste.

»Ich will nicht in den Kindergarten«, sagte er schlafgetrunken, als ich seine zarte Hand streichelte.

»Vielleicht kann ich dich umstimmen, indem ich dir verrate, dass ich unten eine kleine Überraschung für dich habe«, flüsterte ich in sein Ohr.

Stöhnend richtete er sich auf, streckte sich und kletterte aus dem Bett. »Ich will die Überraschung sehen!« Er griff nach meiner Hand und zog mich aus seinem Zimmer raus. »Mama, weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe?«

»Wieder von dem Weihnachtsmann?«

»Nein, Mami, von den Weihnachtselfen«, antwortete er und wir lachten, während wir die Treppen hinuntergingen.

»Kakao mit Streuseln«, rief er und strahlte über beide Ohren, die Augen geweitet, als er die blaue Tasse auf dem Esstisch stehen sah. Er kletterte auf seinen Stuhl.

»Halt, der ist bestimmt noch heiß!«, warnte ich ihn, als seine Lippen die Tasse berührten und er sie daraufhin vorsichtig wieder auf den Tisch zurückstellte.

Als ich mich zu ihm setzte, ertönte plötzlich ein schrilles, ohrenbetäubendes Piepen von oben. Quälend monoton. Luis und ich hielten uns gleichzeitig unsere Ohren zu.

»Ahhh, Mama, was ist das?«

Es musste der Rauchwarnmelder im Obergeschoss sein. Das Geräusch ließ mir all meine Nackenhärchen aufrichten.

Ich sprang vom Stuhl auf und eilte die Treppen nach oben.

Im ersten Stock angekommen, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, die Tür im Bad zu schließen. Der heiße Dampf wich durch die Tür durch und löste den Alarm im Flur aus. Marc hatte mir vor einigen Wochen erzählt, dass ihm das an zwei aufeinanderfolgenden Tagen passiert sei. Mein letzter Stand war, dass er einen neuen bestellen wollte.

»Alles gut, Luis, es ist nur der Rauchmelder. Ein Fehlalarm«, rief ich nach unten und versuchte lauter als das penetrante Piepen zu sein. Schnell schnappte ich mir den Besen, der hinter der Badezimmertür stand, und streckte den Arm weit nach oben, um mit dem Besenstiel den Knopf in der Mitte zu berühren, der den Alarm beendete.

»Puh, von wegen ruhiger Morgen.« Ich lachte. So konnte der Tag starten. Mein Herz pochte, ich spürte das Adrenalin. Ich stempele es mal als Ausdauersport ab, dachte ich mir. Da kann er sich gleich was anhören, wenn er vom Joggen zurück ist.

»Ist alles gut, Mami?«, fragte mich Luis besorgt, als ich mich wieder zu ihm setzte.

Ich nickte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Keine Sorge, es brennt nicht. Die Feuerwehr wirst du heute leider nicht sehen. Die Mama hat ein wenig zu heiß geduscht.« Ich stellte unsere Tassen in die Spüle, bevor ich ihn aufforderte sich anzuziehen.

»Nein!« Er sprang von seinem Stuhl herunter und rannte weg. »Ich will mich nicht anziehen.«

»Ich habe dir deine Sachen auf die Heizung gelegt, sie sind schön warm.«

Sein Gesicht strahlte und er flitzte die Treppe nach oben in sein Zimmer. Ich schaute auf die Uhr an der Wand.

»Mami, kommst du? Ich brauche deine Hilfe.«

Im Büro angekommen, fiel mein Blick zuerst auf meine Überstunden, als ich mich am Eingang einstempelte. 182 Stunden. Mit weit geöffneten Augen starrte ich auf das Display. Ich wusste, dass ich vier von fünf Tagen in der Woche länger im Büro blieb, doch mit so vielen Überstunden hatte ich nicht gerechnet.

Zwischen Marc und mir lief es nicht mehr so gut. Ich lenkte mich gerne mit der Arbeit ab, worauf er sehr sensibel reagierte. Mich plagte das schlechte Gewissen ihm gegenüber, da ich mich in meiner Freizeit nur auf Luis konzentrierte. Auch die chinesischen Nudeln, die ich nach Feierabend mitbrachte, verbesserten die Grundstimmung in unserem kleinen Haus nicht.

»Ich habe das Gefühl, du bist mit deinem Job verheiratet anstatt mit mir«, warf er mir oft vor. »Zeit mit deinen Kolleginnen zu verbringen, ist dir anscheinend wichtiger, als mit uns etwas zu unternehmen.« Je mehr er mich bedrängte, desto öfter flüchtete ich vor ihm. Doch so ganz im Unrecht war er nicht. Trotz der offiziellen Teilzeitstelle arbeitete ich fast in Vollzeit. Ich hatte viel Zeit mit meinen Kolleginnen verbracht und beschäftigte mich mehr mit ihren Problemen als mit meinen eigenen. Dennoch war es mir wichtig, einmal am Tag zusammen mit meiner Familie am Tisch zu sitzen. Pünktlich um achtzehn Uhr. Danach würde ich mit Luis eine Runde Obstgarten oder Mensch ärgere dich nicht spielen, bevor wir die Zähne putzten und ins Bett gingen. Luis schlief ein und ich las noch ein, zwei Stunden. Marc verbrachte die Abende im Wohnzimmer, schaute Fußball oder Nachrichten.

So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Wir mussten endlich wieder einen Weg erlangen, zueinanderzufinden. Sehnlich wartete ich auf den Familienurlaub, der immer näher rückte.

Kapitel 3

Der Traum von weißen Weihnachten würde auch in diesem Jahr nur ein Traum bleiben. Es war die richtige Entscheidung, aus Deutschland zu fliehen, um es uns in Österreich gemütlich zu machen. Mainz war alles andere als schneeweiß.

»Mami, wie oft muss ich noch schlafen?«, fragte mich Luis und blickte verträumt aus dem Küchenfenster.

»Wie meinst du das, Liebling?«

»Na, bis der Weihnachtsmann kommt«, fuhr er fort.

Ich streichelte sein kurzes blondes Haar.

»Noch genau zwei Mal.«

»Und kommt der Weihnachtsmann denn durch den Kamin zu uns nach Hause?«, fragte er mich mit großen Augen.

Ich nickte überzeugend.

»Und du bist dir ganz sicher, Mami?« Seine Vorfreude war nicht zu überhören. Aufgeregt sprang er von seinem Stuhl auf und hüpfte in seiner roten Strumpfhose um den Tannenbaum herum, der an unserer großen, geschmückten Fensterfront im Wohnzimmer stand.

Schon seit Anfang November waren wir alle in Weihnachtslaune und bereiteten uns auf die Feiertage vor, um das Chaos in der Stadt zu umgehen.

Unsere Nachbarn kauften jedes Jahr gefühlt die Läden in der Innenstadt leer und putzten ihre Häuser heraus. Außer einem weiß glitzernden Ikea-Weihnachtsstern auf der Fensterbank und dem schlicht geschmückten Tannenbaum hatten wir normalerweise nicht viel Dekoration. Dieses Jahr sollte es jedoch anders werden. Ich hatte Lust zu übertreiben. Dieses Jahr wollte ich mich mit meinen bezaubernden Nachbarn messen. Und ich gab mein Bestes.

»Mama, bekommt der Weihnachtsmann eigentlich auch Geschenke? Und wer bringt sie ihm an Weihnachten, wenn er nicht zu Hause ist?«

Auf manche seiner Fragen musste ich mir eine originelle Antwort ausdenken.

»Vielleicht seine Weihnachtselfen?«

Einen Moment lang dachte ich an meinen Chef. Zwischen den Jahren hatten wir immer viel zu tun. »Maddy, du hast noch so viele Urlaubstage, nimm dir doch die drei Wochen zwischen den Jahren frei und fahr mal mit deiner Familie in den Winterurlaub. Schnee wird es hier im Dezember nicht mehr geben«, hatte er gefordert.

Es war lange her, dass wir im Winterurlaub gewesen waren. An den letzten, vor drei Jahren, konnte ich mich kaum erinnern. Luis war noch sehr klein gewesen. Im Flur hing ein Foto, Luis mit Schnuller und roter Bommelmütze auf meinem Arm. Dick eingepackt in einen Schneeanzug. Im Hintergrund eine rustikale Alm. Seitdem hatten wir unsere Urlaubstage in Deutschland verbracht. Die neue Küche, die ich mir vor zwei Jahren gegönnt hatte, schneeweiß und glänzend, hatte ein großes Loch in unserem Portemonnaie hinterlassen.

Doch die Sehnsucht nach meinen geliebten Bergen blieb und so beschlossen Marc und ich in den Winterurlaub zu fahren. Zur Zugspitze, um mir meinen größten Kindheitstraum zu erfüllen. Ich wollte auf den Gipfel. Auf 3000 Meter Höhe. Und das mit der neuen Seilbahn.

Marc hatte es in der Vergangenheit öfters vorgeschlagen, die Zugspitze hochzuwandern, ich lehnte aber immer dankend ab. Allein bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter. »Vielleicht in zehn Jahren«, wimmelte ich ihn ab. Ehrwald war der erste Ort, der mir bei Google angezeigt wurde, als ich in die Suchleiste Winterurlaub Zugspitze eingab. Eine kleine Gemeinde in Österreich, direkt an der Grenze zu Deutschland. Perfekt zum Erholen und um Zeit mit seiner Familie zu verbringen.

Auf einem Reiseportal blieb mein Blick an einer kleinen, romantischen Pension hängen. Ich sah mir die Fotos auf der Homepage an. Das erste Foto zeigte die Außenansicht, das zweite die gewaltige Zugspitze im Hintergrund, dann kamen das Schlafzimmer, das Bad und der Aufenthaltsraum mit einem urigen Bücherregal, beworben mit Du wirst Dich wie zu Hause fühlen. Ich hatte mich entschieden. Die Bilder weckten Vorfreude in mir.

Doch zuerst mussten wir die Weihnachtsfeiertage überstehen. Die Geschenke waren besorgt und mit viel Liebe eingepackt. Der Tannenbaum aufgestellt und geschmückt. Und auch unser Vorgarten war wettbewerbsreif dekoriert. Marc hielt es für zu übertrieben, zumal wir die letzten Jahre wenig Aufwand betrieben. Doch für Luis und mich war es genau richtig. Nichts erfreute mich mehr als die strahlenden Augen der Kinder, die vor unserem Haus stehen blieben und Rudolph, das Rentier, beäugten. In Lebensgröße. Die Nasenspitze blinkte rot, vierundzwanzig Stunden lang. Es war in diesem Jahr das Highlight für die gesamte Nachbarschaft.

Meine Gedanken wurden durch die Vibration meines Handys unterbrochen. Meine Schwester Linda rief an.

»Was machst du, große Schwester?«

»Wir haben uns lange nicht mehr gehört«, antwortete ich.

»Kann es sein, dass ich mich immer bei dir melden muss?«

»Quatsch«, antwortete ich schnell, bevor sie weitersprechen konnte. »Mit Kind ist das Leben ein wenig hektischer, das weißt du doch.«

»Ja genau, ich habe auch zwei hier rumrennen«, scherzte sie, »wobei ein Kind würde mir erst einmal reichen. Ne, mal im Ernst, wie geht es dir?«

»Gut, heute war mein letzter Arbeitstag, Linda. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Urlaub!«, erzählte ich ihr euphorisch. »Was machst du an Weihnachten? Willst du zum Essen kommen?«

»Ach ne, lass mal. Zwei Stunden nach Mainz fahren, um dann mit deinen Schwiegereltern zusammenzusitzen, klingt nicht verlockend.« Sie lachte. »Apropos Winterurlaub, jetzt hätte ich fast vergessen, weshalb ich eigentlich angerufen habe. Im Fernsehen läuft gerade eine Doku über die Zugspitze. Musst du dir unbedingt anschauen.«

»Oh, hört sich gut an. Wollen wir später noch einmal telefonieren?«, bot ich ihr an, als Luis an meiner Hose zog und nach meiner Aufmerksamkeit verlangte.

»Ja, melde dich einfach, wenn es passt.« Wir legten auf und ich wandte mich zu Luis herunter.

»Hast du Lust mit mir die Fernbedienung zu suchen?« Er nickte freudig und rief nach zwei Minuten:

»Mami, da oben!«

Ich setzte mich auf unsere große graue Ikea-Couch, die mitten im Raum stand, und legte die Füße hoch.

Luis sprang auf und ab und summte ein Weihnachtslied vor sich hin.

Ich musste nicht lange suchen, bis ich die Dokumentation fand. Darin ging es um die neue Seilbahn an der Zugspitze. Die Reise auf den höchsten Berg Deutschlands mit Blick hinter die Kulissen von Deutschlands höchster Baustelle.

Wie spannend. Ich hatte schon einige Artikel über die neue Seilbahn gelesen. Ich konnte es kaum abwarten, selbst die Erfahrung zu machen, auf dem Gipfel zu stehen, ohne dafür schwitzen zu müssen. Aber allein die Bilder im Fernsehen verursachten bei mir Höhenangst. Ich war so vertieft in die Dokumentation, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Fernseher, war fasziniert davon, was die Ingenieure dort oben auf die Beine gestellt hatten.

Doch im nächsten Moment wurde die Doku durch eine Eilmeldung unterbrochen. Bei der nachfolgenden Nachricht fiel mir fast meine Kinnlade herunter.

Eine siebenundzwanzigjährige Frau ist mit ihrer vierjährigen Tochter an der Zugspitze spurlos verschwunden. Die Aufzeichnungen der Kameras zeigen, wie die zwei Personen in die neue Seilbahn einsteigen und in der Menschenmenge verschwinden. Die anderen Fahrgäste können sich nicht an die beiden erinnern.

Es gibt viele Theorien, aber keine Erklärung … Die Ermittlungen laufen.

Diese Nachricht ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Mit offenem Mund starrte ich den Fernseher an. Wie schrecklich. Was war mit den beiden passiert? Und wieso konnten sich die anderen in der Seilbahn nicht an sie erinnern? Fragen über Fragen spukten in meinem Kopf herum.

»Was ist denn los, Mami?« Luis riss mich aus meinen Gedanken heraus. Ich schaute wieder zum Fernseher, die Meldung war nicht mehr eingeblendet, die technischen Details der Seilbahn wurden nun beschrieben. Ich schaltete ihn aus. Später würde ich noch einmal über die Vermissten im Internet recherchieren.

Kapitel 4