Girl With No Past - Kathryn Croft - E-Book
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Girl With No Past E-Book

Kathryn Croft

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Beschreibung

Ich wusste sofort, dass ich etwas in Händen hielt, was ich nicht sehen wollte. Dennoch zog ich die Karte aus dem Umschlag und starrte auf die Schrift.

Alles Gute zum Jahrestag!

Ich fürchtete, mich übergeben zu müssen, faltete dennoch die Karte auseinander. Auf der Innenseite stand mein Name.

Leah

Einzig mein Vorname. In kindlicher Schrift. Jeder Buchstabe hatte eine andere Größe. Ich warf die Karte zurück auf den Tisch, als könnte sie mir körperliche Schmerzen zufügen. Meine Wohnung schien noch kleiner zu werden, als versuchte sie, mich zu erdrücken ...

Meine Vergangenheit holte mich ein.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14 Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Die AutorinImpressum

KATHRYN CROFT

Girl With No Past

Roman

Ins Deutsche übertragen von Barbara Müller

Zu diesem Buch

Leah Mills hat ein Geheimnis, das so furchtbar ist, dass es niemals ans Licht kommen darf. Seit Jahren ist sie daher auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und dem einen schrecklichen Tag, der jedes Jahr aufs Neue wie ein Wirbelsturm über sie hinwegfegt. Das Leben der schüchternen Bibliothekarin gleicht einer Seifenblase, die die Welt um sie herum ausschließt. Ihre Arbeitskollegen hält sie auf Abstand, und ihre kleine Wohnung, die bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft ist, hat bisher niemand außer ihr betreten. Ein normales Leben steht Leah nicht zu. Doch dann lernt sie im Internet zufällig Julian kennen. Und so sehr sie auch versucht, sich gegen seinen Charme zu wehren, gibt er ihr das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl, vielleicht doch das Recht auf ein wenig Glück zu haben. Doch dann erhält sie eine Karte. Jemand kennt die Wahrheit. Jemand weiß, was Leah getan hat. Und dieser Jemand wird nicht aufgeben, bis er alles, was Leah am Herzen liegt, zerstört hat. Denn bekommt am Ende nicht doch jeder das, was er verdient?

Für Grace und Phillip

PROLOG

2003

Alles ist still, und für einen Augenblick denke ich, ich sei tot. Doch dann höre ich einen ohrenbetäubenden Schrei, und ich weiß weder, woher er kommt, noch von wem er stammt. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht ausgestoßen habe, denn aus irgendeinem Grund ist mit mir alles okay. Ich will den Kopf wenden, um mir anzusehen, was von dem Wrack noch übrig ist, doch ich kann mich nicht bewegen, denn der Schmerz schießt mir in den Nacken und warmes Blut rinnt mir übers Gesicht.

Ein seltsamer Geruch liegt in der Luft: der Gestank von verbranntem Gummi, vermischt mit Benzin und etwas weitaus Schlimmerem. Dem Geruch des Todes. Ich muss mich nicht umsehen, um zu wissen, dass ich die einzige atmende Person in diesem Wagen bin.

Panik setzt ein und drückt mir die Luft ab, schlimmer als die körperlichen Verletzungen, die ich erlitten habe. Das kann nicht sein.

Risse ziehen sich über die Windschutzscheibe wie ein riesiges Spinnennetz. Durch das Gewirr der Linien kann ich Lichter sehen. Konstante und blinkende Lichter, blau und gelb und rot, und Gesichter, die hereinschauen, deren Münder Kreise formen, während sie versuchen, das Geschehene zu verarbeiten. Die erschreckten Schreie und Rufe dringen nur gedämpft zu mir durch, als wäre ich in einer Blase und bekäme nur Wellen von Geräuschen mit. Doch ich weiß, jeder da draußen wird sich an diesen Moment für den Rest seines Lebens erinnern. So wie ich.

Das Lenkrad gräbt sich in meinen Brustkorb, aber ich kann mich nicht bewegen. Oder vielleicht will ich das auch nicht, denn hier drinnen ist es sicherer als dort draußen, wo ich mich dem Kommenden stellen muss. Ich weiß bereits, was ich zu erwarten habe: ein wenig Mitleid, weil Unfälle eben passieren, aber hauptsächlich Schuldzuweisungen und Hass, weil ich der Fahrer bin und deshalb die Verantwortung hierfür tragen muss.

Irgendjemandem gelingt es, meine Tür aufzureißen, und starke, uniformierte Arme heben mich heraus und legen mich auf etwas, was eine Trage sein muss. Es ist schmal und hart, aber wenigstens liege ich jetzt. Ich schließe die Augen und frage mich, wie es möglich ist, dass ich nicht tot bin.

KAPITEL 1

2014

Als ich an jenem Abend nach Hause ging, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich konnte es an nichts festmachen, denn alles schien völlig normal. Ich war bloß eine von vielen, die von der Arbeit nach Hause oder zumindest irgendwohin liefen. Es war eisig kalt, und ich hatte am Morgen meinen Schal am Treppengeländer vergessen, aber die Kälte war nicht ungewöhnlich. Sie war im November zu erwarten.

Das Gefühl, das ich nicht abschütteln konnte, musste mit morgen zusammenhängen. Ich hatte nicht vergessen, welcher Tag heute war. Vielleicht war diese Vorahnung meine Furcht, die sich nur in anderer Form bemerkbar machte? Doch nicht einmal das ergab einen Sinn, weil ich gelernt hatte, damit umzugehen. Wie jedes Jahr weigerte ich mich daran zu denken, bis der Tag da war und wie ein Wirbelsturm über mich hinwegfegte. Ich hatte inzwischen Übung darin, diese Tür zuzumachen.

In der Garratt Lane herrschte wie stets reges Treiben, und ich mischte mich unter die anderen Fußgänger, wurde ein Teil der Londoner Landschaft. So fühlte ich mich auf dem Heimweg immer, als wäre ich nichts als eine Puppe in einer Szene, die von einem anderen bewegt wurde. Vielleicht hatte ich mich nur deshalb unwohl gefühlt, weil ich später als üblich von der Arbeit kam und Änderungen in meinen Gewohnheiten nicht gut verkraftete. Ich brauchte Ordnung und Strukturen, andernfalls brach alles auseinander.

Ich war spät dran, weil ich geblieben war, um Maria zu helfen; ich konnte sie nicht mit der Lieferung von bestellten Büchern allein lassen, selbst wenn mein Tag in der Bücherei drei Stunden vor ihrem begonnen hatte. Außerdem: Was zog mich nach Hause?

Ich lächelte, als ich mich daran erinnerte, wie Maria – während wir die Bücher auspackten und verschlagworteten – in allen Einzelheiten von einem Mann erzählte, den sie kennengelernt hatte. Maria arbeitete erst seit ein paar Monaten in der Bibliothek, aber in dieser Zeit hatte ich wahrscheinlich bereits jedes Detail ihres Lebens erfahren. Sie stellte meinen Gegenpol dar: offen und gesprächig, während ich reserviert war und möglichst wenig von meinem Leben preisgab. Ich wusste, dass sie Single war und oft Verabredungen hatte, und hörte mir gern ihre Geschichten an. Der Name des neuen Mannes war Dan. Während Maria erzählte und noch von seinen unbedeutendsten Äußerungen schwadronierte, erlaubte ich mir, mich in ihr Leben zu vertiefen. So war das immer mit uns: Sie erzählte und ich hörte zu. Doch hin und wieder ertappte ich sie dabei, wie sie mich mit diesem besonderen Blick anstarrte. Der Blick, der offenbarte, wie sehr sie es sich wünschte, von mir in mein Leben gelassen zu werden.

Die Bücherei lag nur einen kurzen Fußweg von meiner Straße entfernt, sodass ich nicht lange nach Hause brauchte. Meine Wohnung war klein – nein, nicht klein: winzig; das Obergeschoss eines umgebauten Hauses, aber es war für Londoner Verhältnisse bezahlbar, und wenigstens hatte ich meine eigene Haustür, auch wenn die meines Nachbarn praktisch direkt daneben lag. Ich hatte auch meine eigene Treppe, weshalb die Wohnung etwas geräumiger wirkte.

Doch mein Entschluss, sie zu mieten, hatte nichts mit solchen praktischen Dingen wie Bezahlbarkeit oder Lage zu tun. Es war der Straßenname, der mich überzeugt hatte, dass ich hier wohnen musste. Allfarthing Road. Er ließ mich an eine Zeit denken – lange vor meiner Geburt –, die ich mir nur anhand dessen vorstellen konnte, was ich in Büchern gelesen hatte. Eine Zeit, als die Menschen sich auf der Straße grüßten und all ihre Nachbarn kannten. Ich wusste, dass ich das zu romantisch sah und mich nach nichts dergleichen sehnte – es würde einfach nicht zu meiner Art zu leben passen –, doch es war irgendwie tröstlich sich vorzustellen, dass es eine solche Zeit einmal gegeben hatte. Dass Zeiten, die davor lagen, niemals wirklich verschwanden.

Ich erklomm die fünf Stufen, die zu meiner Haustür führten, und kramte in meiner Tasche nach meinem Schlüssel. Es war eine lächerlich kleine Umhängetasche, aber es gab nicht viel, was ich mit mir herumschleppen musste, sodass ich nur wenige Sekunden brauchte, um festzustellen, dass meine Schlüssel nicht darin waren. Mein Portemonnaie, mein Handy, ein Fläschchen Handdesinfektionsmittel, aber kein Schlüsselbund.

Verwirrt versuchte ich ruhig zu bleiben und die Möglichkeiten abzuwägen. Ich hatte ihn am Morgen definitiv noch gehabt, denn die Haustür musste zweifach abgeschlossen werden, und das vergaß ich nie. In der Bücherei hatte ich ihn nicht gebraucht, deshalb konnte ich mich nicht daran erinnern, ihn bemerkt zu haben, was nun nur zwei Dinge bedeuten konnte: Entweder hatte ich ihn auf dem Weg zur Arbeit verloren, oder er war mir in der Bücherei aus der Tasche gefallen und setzte in diesem Moment irgendwo in dem Gebäude Staub an.

Die erste Möglichkeit erfüllte mich mit Panik, und nach einer hastigen Suche auf der Treppe und dem gepflasterten Vorgarten griff ich nach dem Handy und rief bei der Arbeit an. Das Handy fest ans Ohr gepresst, um das Summen des Verkehrs auszuschließen, konnte ich gerade mal den Verbindungston hören. Er schien eine Ewigkeit in meinem Ohr zu summen, ehe Maria endlich abnahm und sich schwer atmend meldete.

»Maria, hier ist Leah.«

Sie schien erleichtert zu sein, dass ich kein Kunde mit einer Frage war, und ich gab ihr Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Doch mit jeder verstreichenden Sekunde stieg meine Panik. Ich war bereits verspätet zu Hause angekommen, und jetzt kam ich nicht einmal hinein. Mein ganzer Abend geriet durch etwas durcheinander, worüber ich keine Kontrolle hatte.

»Kein Problem«, meinte Maria, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich meinen Schlüsselbund vermisste. »Ich geh mich mal umsehen. Ich rufe gleich zurück.« Dann legte sie auf, begierig vom Telefon wegzukommen und mir zu helfen. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten, während die eisige Novemberluft in meine Haut biss und ich mich danach sehnte, in meiner nur wenig wärmeren Wohnung zu sein und die Tür nach einem weiteren Tag puren Seins zu schließen. Da es zu kalt war, um ruhig stehen zu bleiben, ging ich die Treppe auf und ab und ignorierte die amüsierten Blicke einiger Passanten. Die Minuten verstrichen. Es verging fast eine Stunde, ehe Maria endlich zurückrief. Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, dass sie mir sagte, sie könne die Schlüssel nicht finden.

»Ich hab sie«, sagte sie und klimperte zum Beweis damit herum.

Erleichterung machte sich in mir breit. »Wo waren sie?« Ich hätte mich erst bei ihr bedanken sollen, aber ich musste wissen, wo sie gewesen waren.

»Äh … ein Kunde muss sie abgegeben haben, und Sam hat sie ins Büro gelegt. Ich habe da bloß nachgesehen, für den Fall, dass …«

»Okay.« Ich versuchte, es zu begreifen. Ich war immer so vorsichtig und verstand nicht, wie sie aus meiner Tasche gefallen sein konnten.

»Egal, ich will gerade gehen, deshalb bringe ich sie dir einfach vorbei. Du wohnst doch in einer Nebenstraße der Garratt Lane, oder? Ich kann in zehn Minuten da sein …«

»Nein! Ich meine, mach dir keine Umstände. Ich komme zur Bücherei zurück. Treffen wir uns da?« Ich hatte Maria noch nie in meine Wohnung eingeladen. In letzter Zeit hatte sie Andeutungen gemacht, sie könne ja mal vorbeikommen, aber ich hatte das bisher immer verhindern können.

Für einen Augenblick schwieg sie. »Okay. In Ordnung. Aber wir treffen uns im Coffeeshop. Ich muss jetzt hier dichtmachen, und es ist einfach zu kalt, um draußen herumzustehen.« In diesem Moment nahm ich mir stumm vor, es bei ihr gutzumachen.

Ich bedankte mich bei ihr, wickelte mich enger in meine dicke Wolljacke und machte mich auf den Rückweg zur Arbeit. Ich ging schnell, obwohl ich wusste, dass Maria einige Zeit für alle Kontrollen brauchen würde, die sie machen musste, ehe sie zusperren konnte. Ich wollte einfach nur meine Schlüssel zurück. Ich erwartete nicht, dass sie oder irgendjemand sonst es verstand, aber jede Störung von meinen Gewohnheiten machte mich verletzlich. Ich brauchte Ordnung. Alles musste genau so sein, wie es zu sein hatte, keine Abweichungen. Und heute Abend hätte so leicht eine werden können. Ich war ohnehin von meiner üblichen Gewohnheit abgewichen; ich hätte inzwischen längst in der Wohnung sein und das Abendessen zubereiten müssen, ehe ich mich auf der Website einloggte und wieder einmal mein Stellvertreterleben führte.

Als ich den Coffee Shop erreichte, schaute ich durchs Fenster, um zu sehen, ob Maria da war, entdeckte aber nirgends ein Zeichen von ihr. Die Afterwork-Menge hatte die Sitze in Beschlag genommen und unterhielt sich ohne Eile, nach Hause zu kommen. Anders als ich. Ich verspürte einen Stich von Neid, wusste aber, dass ich nie so sein könnte wie sie.

Obwohl ich Durst hatte, entschied ich mich dagegen hineinzugehen. Ich war zwar gern mit ihr zusammen, doch wenn Maria und ich uns irgendwo hinsetzten, wäre der Abend gelaufen. Ich musste online gehen. Deshalb trotzte ich weiterhin der Kälte, die jetzt schneidender war als noch vor wenigen Augenblicken, und wandte mich in Richtung Bibliothek. Ich wollte Maria unbedingt sofort ausmachen, sobald sie in Sichtweite war, damit ich meine Schlüssel nehmen und nach Hause gehen konnte.

Es dauerte zwanzig Minuten, ehe ich sah, wie sie herangeschlendert kam, als machte sie einen Strandspaziergang und hätte es nicht gerade eilig, mir meinen Schlüsselbund zurückzugeben. »Oh, du bist hier draußen«, sagte sie, als sie bei mir ankam. »Ich dachte, wir würden uns vielleicht einen Kaffee holen.«

»Es tut mir wirklich leid, aber ich muss echt nach Hause. Ich bin so müde. Aber wir könnten nächste Woche zusammen einen trinken.« Ich überlegte, ob ich ein Gähnen faken sollte, entschied mich dann aber dagegen, da ich nicht glaubte, es überzeugend hinzukriegen.

Ihr Lächeln erstarb. »Okay. Aber dann nächstes Mal, ja?« Mit behandschuhter Hand zog sie mein Schlüsselbund aus ihrer Tasche und reichte ihn mir. »Pass demnächst besser auf«, sagte sie.

Als ich nach Hause ging, fragte ich mich, wie viel ihrer Bemerkung witzig gemeint gewesen war.

Es war immer tröstlich, die Haustür zuzuziehen und eine Minute lang in meinem Flur zu stehen; als träte ich in eine Luftblase und wüsste, dass die Welt ausgeschlossen blieb. Dass ich in Sicherheit war. Das hier war mein Heim, und ich bekam selten Besuch. So war es leichter.

Natürlich kam es hin und wieder vor, dass ich Mum zu mir einlud, aber diese Zeiten waren immer spannungsgeladen. Ihre Klagen über London als ein unbeschreiblich grässlicher Ort und ihr Beharren darauf, dass ich mich zu Hause wohler fühlen würde, waren Dinge, auf die ich mich vorher wochenlang psychisch vorbereiten musste. Sie konnte niemals einsehen, dass meine kleine Wohnung in Wandsworth jetzt mein Zuhause war. Es gab kein anderes.

Ein Stapel Briefe lag auf der zerschlissenen Fußmatte. Ich hob sie auf und eilte die knarrende Treppe hinauf, begierig, meinen Abend wieder aufs richtige Gleis zu lenken. Normalerweise machte ich die Post auf, ehe ich irgendwas anderes tat, aber mein knurrender Magen ermahnte mich, ihn mit Essen zu füllen, und zwar bald. Deshalb ließ ich zum ersten Mal die Umschläge auf der Küchenarbeitsplatte liegen. Keiner der Briefe, die ich je bekam, konnte so wichtig sein, dass er nicht bis später Zeit hatte.

Obwohl ich eher existierte als lebte, füllte ich jede Sekunde meiner Zeit mit etwas. Muße war Gift für mich; dann konnten meine Gedanken die Oberhand über mich gewinnen, und ich hatte zu viel Zeit damit verbracht, das zuzulassen. Sie auf Abstand zu halten, war inzwischen mein Ziel.

Einmal pro Woche besuchte ich freiwillig das Altenheim in der nächsten Straße, las den Bewohnern nach dem Abendessen etwas vor und leistete ihnen Gesellschaft. Wenn ich es mir hätte leisten können, hätte ich das jeden Tag gemacht. Allein zu sehen, wie ihre Gesichter strahlten, wenn ich den Raum betrat, reichte aus, mich aus meinem Nebel zu lösen, mir zu zeigen, dass ich kein schlechter Mensch war.

Aber es galt für mich immer noch, lange Stunden zu füllen. Dank Maria hatte ich vor ein paar Monaten Aus zwei wird eins entdeckt. Sie machte nie ein Hehl aus ihrer Suche nach einem Mann, der ihr länger als eine Woche erhalten blieb, und hatte deshalb offen darüber gesprochen, dass sie eine Dating-Plattform gefunden hatte. Die Männer dort waren alle berufstätig, und die Leute brachen das Eis, indem sie eine Weile chatteten, ehe sie entschieden, ob man sich treffen sollte.

Als ich Maria darüber reden hörte, erfüllte mich der Gedanke, jemanden online kennenzulernen, mit blankem Entsetzen. Es war, als ginge man einen Partner einkaufen. Woher wusste man, dass der andere auch tatsächlich derjenige war, für den er sich ausgab? Wie konnte man sich sicher sein, was er wollte? Die Idee wirkte auf mich abschreckend. Ich war nicht voreingenommen. Allein der Gedanke, irgendwo irgendeinen Mann zu treffen, erfüllte mich mit Angst.

Doch die Neugier – oder war es vielleicht die Einsamkeit? – übermannte mich eines Nachts, und ich schaute mir die Plattform an, surfte darauf herum, bis ich begriff, wie das alles funktionierte. Ich fühlte mich sicher, dort mitzumachen: Ich war allein in meiner Wohnung, und niemand konnte mich sehen oder mich erreichen.

Während ich die Chats anderer Leute verfolgte, beneidete ich sie für ihre sorglose Geisteshaltung. Langsam wurde ich hineingesogen und eröffnete nach wenigen Wochen einen Account, für den ich Mums Mädchennamen benutzte – Harling – und in den ich ein Foto einstellte, von dem ich mir sicher war, dass mich niemand aus meiner Vergangenheit darauf erkannte. Darauf bedeckte mein Haar, heller als je zuvor, einen großen Teil meines Gesichts, und ich war im Profil zu sehen. Es war das Beste, was ich bewerkstelligen konnte, wenn ich wollte, dass Leute mit mir auf der Plattform chatteten. Mehr gestand ich mir nicht zu. Wenn ich schon nicht mein eigenes Leben haben konnte, dann könnte ich wenigstens ein virtuelles leben.

Ich hatte den Vorfall mit meinem Schlüsselbund fast vergessen, saß auf dem Sofa mit dem Laptop auf den Knien, eine Tasse Tee auf dem Beistelltischchen. Obwohl es einfacher war, den Computer an meinem winzigen Küchentisch zu betreiben, fühlte ich mich doch zu erschöpft, um auf einem harten Holzstuhl zu sitzen.

Ich betrat einen Chatroom und las stumm die Zeilen eines Gesprächs. Wie üblich wurde meine Anwesenheit in blauen Großbuchstaben verkündet, was eine Kette von Willkommensgrüßen zufolge hatte. So sehr ich auch versucht war, nur dieses eine Mal darauf zu reagieren, ignorierte ich sie doch und wartete darauf, dass das Gespräch wieder Fahrt aufnahm. Siebzehn Leute befanden sich im Chat und fragten einander, was sie beruflich machten und wo sie wohnten. Ich beobachtete, wie zwei von ihnen, eine Frau namens Melissa und ein Mann namens Rich, in ihren eigenen privaten Chatrooms verschwanden. So lief es hier. So leicht für andere Leute.

An diesem Abend gab es mehr Besucher als üblich: Der Freitag war ein Tag, an dem die Einsamkeit noch offensichtlicher wurde als an anderen Tagen, ein Tag, an dem den Leuten ihr Singledasein ins Gesicht starrte. Doch ich hatte mir beigebracht, gegen dieses Gefühl immun zu sein. Es war alles eine Frage der Perspektive, und was war schon so schlimm am Alleinsein, wenn es da draußen so viel Schlimmeres gab? Das bedeutete jedoch nicht, dass ich es genoss. Liebend gern hätte ich jemanden angesprochen, auf die Nachrichten reagiert, die mir ständig zugeschickt wurden. Das wäre normal gewesen. Ich hatte vorgehabt, Gespräche zu beginnen, doch immer noch erstarrten meine Finger, wenn ich auf eine Nachricht antworten wollte.

Meine Hände umschlossen Wärme suchend meinen Becher, und ich klickte mich durch Profilbilder und dachte mir Geschichten zu den dazugehörigen Männern aus. Natürlich lag ich nie richtig, wenn ich meine Gedanken mit den angegebenen Details verglich, aber es half mir, die Zeit zu vertreiben.

Der Laptop gab einen hellen Ton von sich, ohne dass ich zusammenzuckte. Ich war es gewohnt, private Nachrichten zu erhalten, die durch dieses Geräusch angekündigt wurden. Doch als der Briefumschlag in einer Ecke des Bildschirms aufleuchtete, sah ich, dass sie von einem der Moderatoren stammte. Ich wusste, dass sie sich auf der Seite herumtrieben und für die Sicherheit der Chatrooms sorgten, aber ich war noch nie von einem der Moderatoren kontaktiert worden. Vielleicht wollte er mir mitteilen, dass ich nicht länger auf der Seite willkommen war, dass ich nicht mitspielte, mich nicht einbrachte und sie deshalb ohne mich auskämen. Tief einatmend klickte ich auf den Umschlag.

Moderator34: Hey, bist du o. k.?

Verwirrt stieß ich die Luft aus und las die Nachricht noch einmal. Ich wurde nicht rausgeworfen. Er oder sie fragte bloß, ob ich o. k. war. Aber warum? Ich hatte keine Ahnung, ob das normal war. Ohne nachzudenken, begann ich, mit meinen Fingern auf der Tastatur herumzutippen.

LeahH: Alles okay bei mir. Danke der Nachfrage. Wie geht es dir?

Etwas anderes fiel mir nicht ein.

Moderator34: Hab mir bloß Sorgen um dich gemacht! Du bist mir schon früher aufgefallen, aber du scheinst mit niemandem reden zu wollen??

Das war es also. Ich wurde rausgeworfen. Rasch versuchte ich mir einen Grund für meine mangelnde Kommunikation einfallen zu lassen.

LeahH: Sorry. Bin schüchtern.

Die Antwort kam ohne Verzögerung.

Moderator34: Glaub mir, du hast keinen Grund schüchtern zu sein. Dein Foto ist schön. Ich bin übrigens ein Mann, nur falls du dich das gefragt hast.

LeahH: Darfst du solche Dinge sagen?

Moderator34: Wahrscheinlich nicht. Aber ich dachte mir, du wärst das Risiko wert.

Hier hätte ich aufhören sollen. Ich war bereits zu weit gegangen. Ich wollte ihm antworten, dass er sich irrte und ich nicht zu den Menschen gehörte, die ein Risiko wert waren, aber das tat ich nicht. Stattdessen führte ich unser Gespräch fort, erlaubte mir, mich für ein paar Minuten in dem Gefühl zu aalen, normal zu sein, und bombardierte ihn mit Fragen, ohne eine Ahnung zu haben, warum er mich so sehr interessierte. Ich wusste ja nicht einmal, wie er aussah.

Er erzählte mir, sein Name sei Julian, er sei sechsunddreißig und wohne in Bethnal Green. Dann bat er mich, ihn nicht nach seinem Beruf zu beurteilen, und offenbarte, er sei Beamter und arbeite in Whitehall.

Als er seine Fragen an mich richtete, wurde ich allmählich nervös. Ich blickte mich in meiner Wohnung um und fragte mich, wie viel ich diesem Fremden von mir erzählen wollte. Mein Heim war vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgepackt, was für Möbel wenig Platz ließ. Ich beschränkte mich auf ein Sofa und einen Beistelltisch, damit ich mehr Bücher kaufen konnte, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wo ich sie unterbringen konnte. Ich konnte die gesamte Wohnung vom Sofa aus überblicken, denn Küche und Wohnraum gingen ineinander über. Ich ließ die Türen zum Schlafzimmer und zum Bad immer offen stehen. Es war keine bewusste Entscheidung, sondern nur etwas, was ich immer machte.

Ich fragte mich, was Julian zu dem Ganzen hier einfiele. Würde er sofort erkennen, dass ich stellvertretend durch die Charaktere in den Geschichten lebte, die ich las? Oder durch die Leute im Chatroom?

Meine Bedenken beiseitewischend, chattete ich weiterhin mit Julian, und er begann mich zu faszinieren. Sein Sinn für Humor sprang mir vom Bildschirm entgegen, und seine Worte zeichneten ein lebendiges Bild von ihm. Er schien anders zu sein als alle anderen, die mir bisher auf der Plattform begegnet waren, natürlicher, als versuchte er nicht irgendetwas zu machen oder irgendwer anders zu sein als er selbst. Er war witzig und charmant, ohne unheimlich oder verzweifelt zu sein, und das weckte ein Sehnen in mir. Trauer und Sehnsucht oder eine Mischung von beidem.

Ich musste Schluss machen. Während der ganzen Zeit, in der ich Profile angeklickt und mich in den Chatrooms von Aus zwei wird eins herumgedrückt hatte, war mir nichts dergleichen passiert, und es gefiel mir nicht, welche Gefühle ich entwickelte. Unter einem Vorwand verabschiedete ich mich, schloss die Seite, ohne mir die Mühe zu machen, mich auszuloggen, und trug meinen Becher in die Küche.

Obwohl es eine Leere in mir hinterließ, hatte die Begegnung mit Julian mich davon abgelenkt, an morgen zu denken. Ich wusste, dass nichts passieren würde, außer dass mir der Kopf vor Erinnerungen schwirrte, doch jedes Jahr war noch immer genauso schmerzhaft wie die Jahre davor. Als wäre die Zeit stehen geblieben.

Nachdem ich mir eine weitere Tasse Tee gemacht hatte – ein kleiner Trost nach dem Tag, der hinter mir lag –, trug ich sie hinüber zum Fenster und kniete mich davor, sodass ich auf die Allfarthing Road hinausschauen konnte. Das war eine andere Art, meine Abende zu verbringen, wenn ich nicht ins Altenheim ging: das Leben zu beobachten, das sich vor meinem Fenster abspielte. Tief seufzend sagte ich mir wie jeden Abend, dass es so sein sollte. Diesmal jedoch sträubte sich ein winziger Teil von mir gegen mein Urteil. Ich wollte mich lebendig fühlen.

Erst als ich mich fürs Bett fertig machte, erinnerte ich mich daran, dass ich meine Post nicht aufgemacht hatte. Der Stapel lag noch immer auf der Küchenarbeitsplatte. Ich schnappte ihn mir und setzte mich an den Tisch. Es waren nur drei Briefe. Den ersten warf ich ungeöffnet weg. Ich hatte kein Interesse an Sonderangeboten eines Versandhauses, bei dem ich noch nie bestellt hatte. Auch den Brief, den ich sofort als Kommunalsteuerbescheid erkannte, ignorierte ich; meine Zahlungen liefen als Einzugsermächtigung, ich hatte in dieser Richtung also nichts zu befürchten.

Es war der letzte Umschlag, der mich verwirrte. Er hatte eine blassgelbe Farbe und fühlte sich an wie eine Karte. Seltsam. Die einzigen Karten, die ich erhielt, kamen an Weihnachten und zu meinem Geburtstag von Mum, doch mein Geburtstag lag Monate zurück, und es war noch zu früh für Mums Weihnachtspost. Und Gelb war ja auch keine weihnachtliche Farbe, oder? Rot vielleicht oder Grün, aber doch nicht Gelb.

Die Vorahnung, die mich auf dem Heimweg ergriffen hatte, kehrte zurück, und ich wusste sofort, dass ich etwas in den Händen hielt, was ich nicht sehen wollte. Dennoch fanden meine Finger die Ecke des Umschlags und rissen ihn auf. Ich zog die Karte heraus und starrte auf die glitzernde blaue Schrift.

Alles Gute zum Jahrestag!

Das Bild einer geöffneten Champagnerflasche, aus der bunte Bänder quollen, verspottete mich stumm. Ich fürchtete mich übergeben zu müssen, faltete dennoch die Karte auseinander. Auf der Innenseite stand mein Name in dickem schwarzen Edding. Leah. Keine weiteren Wörter, einzig mein Vorname. In einer Schrift, die kindisch wirkte. Jeder Buchstabe hatte eine andere Größe.

Ich steckte die Karte zurück in ihren Umschlag und warf ihn auf den Tisch, schob ihn mit dem Handballen weit von mir, als könnte er mir körperliche Schmerzen zufügen, wenn ich ihn fester anfasste. Er balancierte gefährlich an der Tischkante, fiel jedoch nicht zu Boden. Meine Wohnung schien noch kleiner zu werden, als versuchte sie mich zu erdrücken, und ich rang nach Atem.

Meine Vergangenheit holte mich ein.

KAPITEL 2

1995

Ich wende mich von Mum ab und gehe zu den riesigen Glastüren des Hauptgebäudes. Im Brief hatte gestanden, ich solle mich nach der Ankunft dorthin begeben. Ich hole tief Luft und zwinge mich vorwärtszugehen. Das hier fühlt sich überhaupt nicht an wie eine Schule; sie ist hundertmal größer als meine alte, und jedes Fach hat sein eigenes Gebäude. Wie soll ich jemals das Mathegebäude von dem für Englisch unterscheiden, wenn sie alle gleich aussehen? Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, noch nicht alt genug für die weiterführende Schule zu sein. Nie und nimmer bin ich dazu bereit.

Es hilft auch nicht, als ich eine Stunde später nur einer in einem Meer von Schülern bin, die sich in der Aula versammelt haben und dem Rektor, Mr Curtis, zuhören, der einen Vortrag über angemessenes Verhalten und die Konsequenzen für Fehlverhalten hält. Ich kann mir keines seiner Worte merken, denn ich bin starr vor Schreck, umgeben von Fremden, die sich alle zu kennen scheinen.

Ich hasse Mum und Dad dafür, dass wir hierhergezogen sind. In Derby war ich glücklich, warum musste sich alles ändern? Ist es ihnen egal, dass ich hier keine Freunde haben werde? Es fiel mir zu Hause schon schwer, mit Leuten zu reden. Was für eine Chance habe ich also hier? Ich rutsche noch tiefer in meinen Sitz, als versuchte ich, mich unsichtbar zu machen, und weiß mit absoluter Gewissheit, dass ich in der Hölle angekommen bin.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerke, wie Mr Curtis eine Namensliste vorliest und sagt, welchem Lehrer wir zu unserem Klassenzimmer folgen sollen. Bin ich bereits aufgerufen worden? Ich glaube, ich muss ohnmächtig werden. Alle anderen scheinen genau zu wissen, was sie tun müssen, warum weiß nur ich wieder nicht Bescheid? Doch dann höre ich meinen Namen. Leah Mills. Was für eine Erleichterung. Ich blicke mich um und sehe eine Lehrerin mit kinnlangem blonden Haar, die die Hand hebt und so ihrer Klasse ein Zeichen gibt. Sie sieht ganz nett aus, aber es ist ja nicht so, als hätte ich irgendeine andere Wahl, als mit ihr zu gehen. Offenbar ist das die Lehrerin, mit der ich meine Zeit hier verbringen werde, es sei denn, sie verlässt die Schule oder stirbt oder sonst was.

Ich brauche so lange, mich durch die engen Stuhlreihen zum Gang zu quetschen, dass die Lehrerin bereits mit großen Schritten davoneilt. Die Schüler folgen ihr wie die Ratten dem Rattenfänger. Ich versuche aufzuholen, doch selbst als wir das Klassenzimmer erreichen, habe ich sie noch nicht eingeholt. Wird es so auf der weiterführenden Schule sein? Ein ständiger Kampf mitzukommen? Ich hasse es schon jetzt.

Im Klassenzimmer selbst wird es nicht besser. Die blonde Lehrerin hat jedem einen Platz zugeteilt, und ich bin die einzige ohne Sitznachbar. Außerdem sitze ich ganz hinten in der Ecke, als wäre ich unwichtig und es machte niemandem etwas aus, ob ich nun hier war oder nicht. Ich starre den leeren Stuhl neben mir an. Er scheint mich zu verspotten, und ich brauche meine ganze Kraft, nicht laut schluchzend in Tränen auszubrechen und mich noch mehr bloßzustellen.

Das Gemurmel legt sich, und alle wenden sich der Lehrerin zu und warten darauf, dass sie etwas sagt. Es scheint ewig zu dauern, doch als sie endlich den Mund öffnet, klingt ihre Stimme sanft und unsicher. Gar nicht so, wie ich es erwartet hatte. Alle Lehrer an meiner Grundschule hatten sich angehört, als sprächen sie durch einen Lautsprecher, und ließen uns ertauben, wenn wir das Pech hatten, direkt neben ihnen zu sitzen. Vielleicht ist die hier neu? Sie sieht ziemlich jung aus, jünger als Mum jedenfalls, das hier könnte also ihre erste Stelle sein. Sie sollte mir leidtun, denn wenn sie neu ist, sind wir in derselben Lage, oder nicht? Und bloß weil sie eine Erwachsene ist, heißt das ja nicht, dass sie keine Angst hat. Aber sie hat mich nach hinten gesetzt. Warum ausgerechnet mich, warum nicht einen der anderen? Wir sind mindestens dreißig Kinder, aber Mrs Wie-auch-immer-sie-heißt hat mich ausgewählt, allein zu sitzen. Ich glaube nicht, dass ich ihr das verzeihen kann.

»Äh, ich bin Miss Hollis«, bringt sie schließlich heraus. Mir wird nur klar, was sie gesagt hat, weil sie es auch an die Tafel schreibt. Als Nächstes trägt sie uns auf, uns zu zweit zusammenzutun und unserem Partner drei interessante Dinge über uns zu erzählen. Sofort bricht in dem Raum lautes Geschnatter aus, als würden sich alle ewig kennen, während ich allein und ohne Partner dasitze.

Ich kann Miss Hollis nicht einmal mehr sehen; vielleicht hat sie beschlossen, genug zu haben, und ist abgehauen. Ich wünschte, ich könnte das tun. Aber nein, da in der Ecke ist sie und beobachtet die Klasse beklommen von ihrem Computer aus. Kann sie denn nicht sehen, dass ich keinen Partner habe?

Gerade als ich beschließe, dass ich mir wohl selbst drei interessante Dinge über mich erzählen muss, dreht sich ein kleines, pummeliges Mädchen aus der Reihe vor mir zu mir um. »Ich arbeite mit dir«, sagt sie und lächelt schüchtern. »Die drei hier können zusammenarbeiten.« Sie deutet auf die drei anderen Schüler in ihrer Reihe, und erst jetzt fällt mir auf, dass es alles Jungs sind. Es gibt mir ein etwas besseres Gefühl, denn wenigstens bin ich nicht die Einzige, die einen unangenehmen Platz abbekommen hat.

Ich stelle mich vor und sehe zu, wie das Mädchen seinen Stuhl herumdreht, sodass wir einander ansehen können. Sie hat hübsche Augen, groß, dunkel und glänzend, und eine kleine Stupsnase wie eine Skischanze.

»Ich heiße Imogen«, sagt sie. »Und das einzig Interessante, was mir gerade einfällt, ist die Tatsache, dass ich gerade mal eine Stunde hier bin und den Ort hier bereits hasse.«

Und zum ersten Mal an diesem Tag – vielleicht sogar in diesem Monat – lächle ich und fühle, wie meine Stimmung sich hebt. Dieses Mädchen wird meine Freundin werden. Das weiß ich.

KAPITEL 3

2014

Ich hatte kaum geschlafen, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen, wenn der Tag, der sich drohend vor mir erhob, der Jahrestag war. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit Ereignissen zu befassen, die nicht rückgängig gemacht werden konnten, und normalerweise tat ich das auch nicht, denn ich hatte es mir in meinem neuen Leben gemütlich gemacht. Wenn immer mich etwas an die Vergangenheit zu erinnern droht, wies ich es mit Nachdruck zurück. Aber dieser Tag war stets anders. Er zwang mich dazu, mich zu erinnern. Er half mir, mich zu erinnern.

Doch jetzt hatte ich diesen Umschlag geöffnet und damit die Schleusentore zu etwas, worauf ich keine Antwort hatte, und alles war anders geworden. Die Karte hatte den Tag beschmutzt, ihn mit etwas Giftigem ummantelt und ihm eine andere Anmutung gegeben als jedem anderen 12. November. Es war nicht länger mein Tag, an dem ich mich still und heimlich daran erinnerte, was geschehen war, denn jetzt hatte ein anderer ihn ebenfalls zu seinem Tag gemacht.

Natürlich gab es auch noch andere, für die die Zeit an diesem Tag stillstand, doch niemand hatte meinen Weg mit seinem Schmerz gekreuzt. Bis jetzt.

Ich war nicht einmal davon überzeugt, dass es um Schmerz oder Trauer ging. So viel ließ die Karte erkennen. Doch ich wollte nicht darüber nachdenken, was sie bedeutete, deshalb hatte ich sie vor dem Zubettgehen in die Schublade mit meiner Unterwäsche gestopft und etwas darübergelegt, sodass ich sie nicht jeden Morgen sehen musste. Sie wegzuwerfen hätte viel mehr Sinn gemacht, aber das konnte ich nicht. Nicht solange ich nicht verstand, was sie bedeutete.

Dinge auszublenden war etwas, was ich gezwungenermaßen gelernt hatte, deshalb machte ich genau das. Ich stand auf, als der Wecker klingelte, duschte und aß zum Frühstück ein Müsli mit zu vielen Rosinen und versuchte mir einzureden, dass der Tag genauso verlaufen würde wie in den vergangenen Jahren.

Bei der Arbeit fiel es leicht, die Scharade aufrechtzuerhalten. Als ich ankam, war das Computersystem zusammengebrochen, was großes Chaos bedeutete und alle panisch in der Gegend herumlaufen ließ. Es fiel mir zu, einen Versuch zu starten, das Problem zu lösen. Ich war anscheinend der einzige Mitarbeiter mit einigermaßen annehmbaren IT-Kenntnissen. Noch ehe ich die Jacke auszog, wusste ich, dass ich nichts ausrichten konnte – ich war kein Computergenie –, aber ich versuchte es zumindest. Wenigstens half es mir, die Erinnerung daran zu löschen, was zu Hause in meiner Schublade lauerte.

Maria lenkte mich mit ihrem Geschnatter ab, dankenswerterweise ohne zu erwähnen, dass ich am Abend zuvor keinen Kaffee mit ihr trinken wollte. Mehrmals öffnete ich den Mund, um einen Erklärungsversuch zu starten, den sie verstand, aber jedes Mal erstarben die Worte, ehe ich sie formen konnte. Stattdessen gab ich mir größte Mühe, den Tag für sie angenehmer zu machen, indem ich mich bei meinen eigenen Aufgaben beeilte, um ihr bei ihren zu helfen.

Während ich ihr nun also zuhörte, wie sie über ihre Zweifel sprach, dass es mit Dan etwas werden könnte, staunte ich über ihre Unverwüstlichkeit. Sie war neununddreißig, ließ sich aber von den ständigen Zurückweisungen und Katastrophen nicht davon abhalten, jemanden finden zu wollen. Ihren Seelenpartner nannte sie es. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es jedes Mal überstand, bewunderte sie aber dafür. »Glaubst du wirklich, dass es einen Menschen da draußen gibt, der für dich bestimmt ist?«, fragte ich sie einmal und sah, wie ihre Augen beim Gedanken daran aufleuchteten.

»Natürlich. Warum? Du etwa nicht?« Sie schien es nicht fassen zu können, dass ich nichts dergleichen dachte.

»Ich glaube, wir nehmen einfach mit jemandem vorlieb, den wir finden, und sorgen dafür, dass es funktioniert«, sagte ich, doch in Wahrheit hatte ich keine Ahnung. Wenn Maria recht hatte, war Adam dann mein Seelenpartner? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so sein könnte, doch wo blieb ich, wenn dem so war?

Trotz meiner Liebe zu Büchern hielt ich es manchmal für merkwürdig, beschlossen zu haben, in einer Bücherei zu arbeiten, wenn ich mich doch eigentlich ständig danach sehnte, allein zu sein. Es war wie in einem Bienenschwarm hier, wenn auch in einem leisen, ein ständiges geschäftiges Summen, und Hunderte von Leuten kamen Woche für Woche durch die Tür. Doch obwohl es einige regelmäßige Besucher gab, waren mir die meisten Gesichter nicht vertraut, und das gefiel mir. Es gab mir das Gefühl von Abstand, obschon ich ihre Fragen beantwortete und ihnen bei allem Möglichen half. Sie kamen und gingen und übten in keinerlei Hinsicht eine Wirkung auf mich aus.

In der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft hatte ich Maria lieb gewonnen. Allein ihre Stimme zu hören, heiterte mich auf, auch wenn wir in unterschiedlichen Welten lebten. Sie spionierte mich nie aus. Ich wusste, dass sie mir gerne Fragen stellen würde, aber sie tat es nie. Deshalb übersah ich ihre heimlichen Blicke, wenn sie dachte, ich würde sie nicht sehen. Sie versuchte bloß, sich einen Reim aus mir zu machen.

Maria tippte mir auf die Schulter, und ich drehte meinen Stuhl zu ihr um. »Der Typ hat’s echt drauf«, sagte sie und deutete auf den IT-Techniker, den wir hatten rufen müssen, nachdem ich kein Glück mit dem Erkennen des Problems gehabt hatte.

Ich betrachtete sein Gesicht und wusste sofort, was sie meinte; seine makellose Haut und sein breites Lächeln waren attraktiv. Sie ließen mich darüber nachdenken, ob Julian von der Plattform vielleicht ein bisschen wie er aussah. Aber was machte es schon, wenn dem so war? Ich konnte niemals jemanden in mein Leben lassen, ganz egal, wie einsam ich mich fühlen oder wie gut es tun würde, von jemandem im Arm gehalten zu werden.

Ich zuckte die Achseln und bemerkte, wie Maria die Stirn runzelte. Wahrscheinlich fragte sie sich, wie ich so unbeeindruckt vom guten Aussehen des Mannes sein konnte, wenn es sie zum Erröten brachte.

Während der nächsten Stunden gingen Maria und ich jeweils unserer Arbeit nach, doch ich wurde immer zerstreuter, während ich mich zugleich danach sehnte, nach Hause zu gehen, und mich gleichzeitig davor fürchtete. Die Nacht des Jahrestages lag drohend vor mir, doch vor ihr hatte ich keine Angst. Nicht mehr. Es war etwas, was ich tun musste. Aber es hatte sich ein weiterer Grund für meinen Wunsch, die Zeit möge schneller vergehen, eingeschlichen. Sobald ich meine Pflichten erledigt hatte, würde ich mich bei Aus zwei wird eins einloggen und nachsehen, ob Julian online war.

Am späteren Abend machte ich mir einen Käsetoast, schnitt eine riesige Tomate in Scheiben und verteilte sie darauf. Nicht wirklich eine vollständige Mahlzeit, aber ich aß an diesem Tag nie viel.

Als ich mit dem Essen fertig war, bereitete ich alles vor und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden vor den niedrigen Beistelltisch. Ich hatte das Licht ausgemacht und die Vorhänge zurückgezogen, sodass der Raum in den Schein der Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Seite gebadet war.

Obwohl sich etwas anders anfühlte als sonst – etwas war anders! –, machte ich weiter und zündete die Kerzen an. Für jemanden, der mich durch das Fenster sehen konnte, musste das aussehen wie eine merkwürdige Form von Séance, doch es handelte sich um nichts dergleichen. Es war Meditation.

Stumm und reglos saß ich mit geschlossenen Augen da, um es wieder zu durchleben, bis die Erfahrung mir sagte, die Kerzen seien heruntergebrannt.

Als ich aufräumte, die Kerzenhalter wieder in der Küchenschublade verstaute, fiel es mir schwerer zu ignorieren, dass die Dinge sich dieses Mal verändert hatten und ich sie nicht länger unter Kontrolle hatte. Nachdem ich mir dies eingestanden hatte, war ich noch mehr davon überzeugt, heute Abend noch online zu gehen. Normalerweise wäre es mir nie in den Sinn gekommen, das danach zu tun – üblicherweise las ich bloß in einem Buch, bis ich auf dem Sofa einschlief –, doch meine Unruhe wuchs, und ich brauchte eine Ablenkung.

Julian.

Er war mir fremd, und ich hatte keine Ahnung, wie er aussah, doch er war den ganzen Tag über nicht weit aus meinen Gedanken verbannt gewesen. Es war verwirrend, denn ich hatte mich geschult, Distanz zu wahren, vor allem gegenüber Männern, deshalb war ich nicht auf diese Gefühle gefasst.

Ich war mir nicht einmal sicher, was es für Gefühle waren. Vielleicht Neugier? Es war so lange her, dass ich auch nur die Hand von jemandem gehalten hatte, war es deshalb nicht nur normal, dass ich menschlichen Kontakt vermisste?

Ich schnappte mir den Laptop vom Küchentisch und nahm ihn mit zum Sofa, wo ich mich sofort auf der Plattform anmeldete. Aber es gab keine Garantie, dass er heute Abend on sein würde, was sollte ich also tun? Ich beschloss, mich auf der Seite herumzutreiben und einfach zu warten, einige Chatrooms zu besuchen und zu hoffen, dass er mich bemerkte, falls er on sein würde. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich eine neue Nachricht hatte. In der Annahme, sie stamme von jemandem, mit dem ich kein Interesse hatte zu kommunizieren, klickte ich sie mit geringer Begeisterung an. Doch dann sah ich, dass sie von Julian kam. Er hatte sie gerade mal vor zwei Minuten geschickt. Seine Nachricht war kurz, doch ehe ich die Wörter gelesen hatte, bemerkte ich das Bild, das er angehängt hatte.

Es war winzig, deshalb klickte ich es an, sodass es den ganzen Bildschirm füllte. Und da war Julian, breit lächelnd und den Kopf in den Nacken werfend, als wäre er mitten im Lachen erwischt worden. Ich starrte es einen Augenblick lang an und ließ seine Gesichtszüge und den Hintergrund auf mich wirken. Es sah aus, als säße er auf einer Wiese an einem Picknicktisch.

Er war nicht das, was Maria mit »draufhaben« bezeichnen würde, aber er hatte etwas an sich, das mir sofort gefiel, ohne dass ich es erklären konnte. Vielleicht lag es daran, dass er mir in unserem Gespräch bereits kurze Einblicke in seine Persönlichkeit gewährt hatte. Es war unmöglich zu wissen, ob ich ihn attraktiv gefunden hätte, wenn ich das Bild sonst irgendwo gesehen hätte.

Am meisten gefiel mir die Tatsache, dass er kein bisschen so aussah wie Adam. Seine Haare waren hell, seine Augen blau, während Adam dunkel gewesen war mit braunen, fast schwarzen Augen. Das war gut.

Rasch las ich seine Botschaft, unfähig mit dem Grinsen aufzuhören oder die Aufregung zu dämpfen, die sich in meinem Magen regte.

Hey, LeahH, wie geht’s? Du bist gestern Abend einfach verschwunden!

Das bin übrigens ich, bloß damit du weißt, dass ich kein dreiköpfiges Monster bin.

Während Julians Foto mich von meinem Laptop aus anstarrte, hatte sich meine ganze Vorsicht binnen Minuten in Luft aufgelöst, und ich wusste, dass ich wieder mit ihm reden musste.

Ungeachtet der Tatsache, dass ich gestern Abend nicht schnell genug hatte off gehen können, hielt ich meine Nachricht einfach und unverfänglich: Hallo! Als würde ich nur kurz die Zehe ins Wasser strecken, um sie schnell wieder herausziehen zu können, wenn irgendetwas schieflief. Schließlich hatte ich keine Ahnung, was Julian von mir wollte.

Ich schickte die Nachricht ab und hielt – wie mir schien – minutenlang die Luft an. Ich wartete auf den Ton, der mir anzeigte, dass eine neue Mitteilung in meinem Posteingang war, aber er kam nicht; die einzigen hörbaren Geräusche stammten vom Regen, der draußen niederging, und vom entfernten Summen des Verkehrs.

Nach fünf weiteren Minuten ohne Ton überkam mich Enttäuschung. Julian musste noch on sein, warum antwortete er dann nicht? Er war es doch, der mich gefunden hatte.

Um mich abzulenken, ließ ich den Laptop auf dem Beistelltischchen stehen und machte mir eine Tasse schwarzen Kaffee. Ich musste damit aufhören. Ich durfte nicht zulassen, einen Mann zum zentralen Gegenstand meines Interesses zu machen, schon gar nicht einen, den ich kaum kannte. Ich sollte den Laptop ausschalten und mich mit meinem Buch ins Bett legen, die ganze Angelegenheit vergessen. Ich las zum hundertsten Mal Rebecca und liebte es noch immer, als hätte ich nie zuvor ein Wort davon gelesen. Das würde mich von allem anderen ablenken.

Aber wie konnte ich denken, dass ich etwas anderes tun könnte, als nach jemandem die Hand auszustrecken, selbst auf so unbedeutende Art? Mein Leben konnte sich nicht ändern.

Als ich meine Tasse und den Laptop hochnahm, um mich auszuloggen, blinkte ein kleiner blauer Umschlag in der oberen Ecke des Bildschirms. Julian. Ich klickte darauf und verschüttete fast den Kaffee, den ich immer noch in der Hand hielt. Mein Brustkorb fühlte sich an, als würde er in sich zusammenbrechen.

Hallo! Hoffe, ich hab dich mit meinem Foto nicht erschreckt.

Als ich mich so weit erholt hatte, um mich zusammenzunehmen, wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich ihm antworten sollte. Flirtete er mit mir? Das alles war neu für mich. Es war Jahre her, dass ich so mit einem Mann gesprochen hatte – seit Adam nicht mehr –, aber ich wusste, dass ich weiter mit ihm reden musste. Aber er war ein Moderator. Was bedeutete das also? Vielleicht stellte er sich vielen Frauen vor, die on waren, und verbrachte so seine Zeit. Nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht hatte, wurde mir klar, wie egal es mir war, denn ich tat hier genau dasselbe. Ich würde niemals eine Beziehung mit ihm haben können, deshalb war es gleichgültig, was ich sagte oder tat. Ohne weiter nachzudenken, fing ich an zu tippen und ließ meine Finger die Kontrolle übernehmen. Ich brauchte das. Ich musste eine andere sein, wenn auch nur für diese Nacht.

Nein … Danke fürs Schicken. Schön, dass ich jetzt ein Gesicht zu dem Namen habe. Wenn das denn dein richtiger Name ist. Und dein Gesicht.

Es war schwach. Ein Kind hätte etwas Effektiveres hingekriegt, aber ich hatte keine Zeit, mir etwas Besseres einfallen zu lassen. Ich durfte nicht riskieren, dass Julian es leid wäre zu warten und sich abmeldete. Seine Antwort kam prompt, und er lud mich in einen privaten Chatroom ein, statt hier Nachrichten hin und her zu schicken.

Moderator34: Ich kann dir versichern, dass das mein Gesicht ist. Wenn es ein Fake wäre, meinst du wirklich, ich hätte jemanden ausgesucht, der so aussieht?

LeahH: Warum nicht? Ist doch ein nettes Foto …

Moderator34: Freut mich zu hören, ich wische mir den Schweiß von der Stirn, während ich schreibe

LeahH: Solltest du nicht arbeiten? Chatrooms nach unangemessenem Verhalten überprüfen oder so was?

Moderator34: Musste bloß herausfinden, ob du noch mit mir redest

LeahH: Immer doch …

Moderator34: War nett, dich wieder mal gesprochen zu haben, LeahH, muss mich jetzt besser wieder um den Job kümmern, aber wir sehn uns, hoffe ich

LeahH: Bis dann!

Selbst während ich auf unseren Nachrichtenpfad starrte und jede Zeile immer wieder las, fiel es mir schwer zu glauben, dass ich wieder mit Julian Kontakt gehabt hatte, wenn auch nur schriftlich. Zugegeben, wir hatten dieses Mal nicht viel gesagt, aber immerhin. Und jetzt, da ich wusste, wie er aussah, war ich noch aufgeregter wegen dem, was ich tat. Trotz allem fühlte es sich richtig an.

Später wich ich zum zweiten Mal von meinem Ritual an diesem Abend ab. Ich musste es. Ich wollte nicht an die Karte denken. Obwohl ich am Morgen bereits geduscht hatte, ließ ich mir ein extraheißes Bad ein und füllte es mit Radox, sodass der Schaum fast über den Rand trat. Es schien gefühllos zu sein, wenn man bedachte, was für ein Tag heute war, aber ich musste die Karte irgendwie aus meinen Gedanken löschen. Ich wollte versuchen zu entspannen, sie vergessen und auch den Tag, denn heute war der erste Jahrestag, seit es passiert war, an dem ich den Wunsch verspürte, all dem entfliehen zu können.

Ich kletterte in die Wanne und ließ mich so tief einsinken, dass das Wasser jeden Zentimeter meines Körpers bedeckte und nur mein Gesicht draußen blieb. Viele Bücher, die ich gelesen hatte, behaupteten, Wasser sei in der Lage, die Sünden eines Menschen abzuwaschen, doch während ich dalag und zusah, wie der Schaum sanft in sich zusammenfiel, wusste ich, dass es keine Möglichkeit gab, dass mir meine erlassen würden. Und mein Leben war meine Strafe.

Nur an diesem Tag erlaubte ich mir zu weinen. Ich tauchte den Kopf unter Wasser und ließ ihn dort, solange ich konnte, ohne zu atmen; ich wollte die Tränen nicht auf meinem Gesicht spüren. So vermischten sie sich wenigstens mit dem Wasser und hinterließen keine Spuren.

Etwas weckte mich, Stunden bevor mein Wecker klingeln sollte. Da ich in London lebte, war ich an Lärm gewöhnt, so sehr, dass ich ihn kaum bemerkte, aber dieses Geräusch war gänzlich falsch, kein Teil des gewohnten nächtlichen Soundtracks. Doch ich hatte geschlafen und konnte es deshalb nicht bestimmen. Ich schloss wieder die Augen und versuchte einzuschlafen. Es widerstrebte mir aufzustehen und nachzusehen, was los war, nachdem ich bereits drei Stunden zum Einschlafen gebraucht hatte.

Ich hörte nichts mehr, doch die Tatsache, von etwas geweckt worden zu sein, ließ mir keine Ruhe. Ich musste nachsehen. Es bestand keine Hoffnung auf Schlaf, wenn ich es nicht täte.

Da sie so klein war, brauchte ich nicht lange, um die Wohnung zu durchsuchen. Alles war, wie es sein sollte. Doch dann erinnerte ich mich an die Karte und beschloss, auch im Flur unten nachzusehen. Ich hatte keine Post gehabt, als ich von der Arbeit nach Hause gekommen war, aber irgendetwas zog mich die Treppe hinunter.

Zunächst fiel es mir nicht auf – das einzige Licht in der Wohnung kam aus dem Schlafzimmer –, doch als ich näher kam, sah ich deutlich den weißen Briefumschlag, der sich von der dunklen Fußmatte abhob wie ein Wegweiser und mich anzog. Mein Name stand darauf in derselben Handschrift wie auf der Karte, geschrieben mit demselben schwarzen Edding.

Es ist schwer zu sagen, was ich in diesem Augenblick empfand. Vielleicht hatte ich erwartet, dass die Karte nur der Anfang von etwas gewesen war. Aber in diesem Fall hätte ich sie als Warnung verstehen sollen, den neuen Umschlag nicht weiter zu beachten. Wenn ich ihn nicht öffnete, konnte er mich nicht verletzen. Ich konnte ihn mit nach oben nehmen, in Fetzen reißen und in die Papiertonne werfen, sodass ich nie erfahren würde, was darin war.

Das hätte ich tun sollen. Doch stattdessen nahm ich den Umschlag und riss ihn auf, als wäre darin ein Scheck von der Lottogesellschaft. Ich zog ein Foto heraus. Eine Straße bei Nacht. Eine Straße, die ich gut kannte. Ich musste nicht das kleine Schild am unteren Rand des Fotos sehen, das bestätigte, dass es sich um High Elms Lane handelte.

Ich saß auf der Treppe, den Blick starr auf das Foto gerichtet, obwohl ich es mir nicht ansehen wollte. Der einzige Gedanke in meinem Kopf war eine Mischung aus Furcht und Verwirrung, dass es so lange gedauert hatte.

Doch statt mich von der Furcht lähmen zu lassen, raste ich die Treppe zu meinem Schlafzimmer hinauf, zog die Karte aus meiner Unterwäsche-Schublade und nahm sie mit in die Küche. Dort kramte ich das Feuerzeug hervor, das ich vor wenigen Stunden benutzt hatte, um die Kerzen anzuzünden. Dann hielt ich beide Gegenstände über die Spüle, zündete jeweils eine Ecke an und sah zu, wie sie schwarz wurden und zerfielen.

Erst als ich alle Aschereste aus der Spüle entfernt hatte, krabbelte ich zurück ins Bett. Dort zog ich mir die Decke über den Kopf und versuchte mir einzureden, dass nichts passiert war. Dass es einfach nur ein weiterer normaler Jahrestag gewesen war.

KAPITEL 4

2014

Am Montag machte ich mich auf den Weg nach Fulham. Ich hatte einen Termin bei Dr. Redfield und hätte ihn wahrscheinlich verschoben, wie ich das normalerweise tat, wenn es nicht die Karte und das Foto gegeben hätte. Ich mochte die Beweise vernichtet und versucht haben, mir einzureden, es wäre nichts passiert, doch die Erinnerung daran zu löschen, war unmöglich.

Während ich die Fulham Palace Road hinunterging, grübelte ich über das Datum meines letzten Termins bei Dr. Redfield. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich ein weites Oberteil trug, denn es rutschte mir ständig von der Schulter, und ich war mir bewusst, dass ich es ständig wieder hochzog; es musste also im Sommer gewesen sein. Und jetzt ging das Jahr seinem Ende entgegen. Würde sie mich durchschauen? Würde sie wissen, dass ich nur deshalb zu ihr kam, weil ich ihr als einzigem Menschen gegenüber erwähnen konnte, was mir passiert war? Aber ich nahm nicht an, dass es einen Unterschied bedeutete. Sie war keine Freundin, um deren Gefühle ich mir Gedanken machen musste; sie wurde dafür bezahlt, mir zuzuhören.

Es erstaunte mich immer, dass Dr. Redfield von zu Hause aus arbeitete und die Leute in ihr privates Heim kommen ließ. Es war ein schönes dreigeschossiges Reihenhaus in der Rigault Road, und wenn es mir gehört hätte, würde ich Leute wie mich nicht in die Nähe davon kommen lassen. Sie arbeitete in einem Raum im Erdgeschoss, der zu einem Büro umgebaut worden war. Von der Eingangstür aus waren andere Zimmer zu sehen. Was sollte also irgendwen davon abhalten, ein wenig herumzuschlendern und in ihrem Leben zu spionieren?

Ich hasste es, daran zu denken, wie viel Mum für meine Sitzungen berappte. Ich hatte sie mit Unterbrechungen seit mehr als zehn Jahren und wusste, dass Mum inzwischen die Erbschaft anzapfte, die Dad ihr hinterlassen hatte. Viele Male hatte ich schon versucht, sie davon zu überzeugen, dass es mir auch ohne Dr. Redfield gut ginge, aber sie wollte nichts davon hören. Meine Sitzungen waren bloß einmal im Monat – oder sollten es zumindest sein –, aber es summierte sich trotzdem. Deshalb machte ich mir Gedanken, wie sie das alles schaffte. Für sie waren Finanzdinge jedoch nichts, womit man seine Kinder belastete. Selbst wenn dieses Kind inzwischen eine Erwachsene und für alles Schlechte, was in deinem Leben passiert war, verantwortlich war.

Dr. Redfield stand bereits in der Tür und beobachtete mich, während ich den Weg hinaufging. Wie immer war sie tadellos gekleidet, dieses Mal in einem Stiftrock, einer Strickjacke und einem hübschen schwarz-weißen Schal, den sie sich um den Hals geknotet hatte. Ich konnte nie sagen, wie alt sie genau war – wahrscheinlich paarundfünfzig und dabei besser gekleidet als ich. Meine Kleidung war nicht ärmlich, bloß unscheinbar. Jeans, leicht taillierte T-Shirts oder Pullover, Stiefel oder Turnschuhe. Nichts, was mich aus der Masse herausstechen, aber auch nichts, was mich als Gammlerin erscheinen ließ. Es ging bloß darum, nicht aufzufallen.

»Machen Sie sich keine Gedanken, ich stehe noch nicht lange hier. Ich habe Sie bloß vom Fenster aus gesehen«, sagte Dr. Redfield lächelnd und bat mich hinein. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Leah. Es ist lange her, nicht wahr?«

Ich blickte auf meine Uhr. Es war erst fünf vor zehn, doch Dr. Redfield hätte nichts dagegen, mir zusätzliche fünf Minuten zu geben; sie war freundlich und zuvorkommend, weshalb ich mich noch mieser fühlte, dass ich so viele Termine abgesagt hatte. Ich folgte ihr in ihr Büro und nahm in einem der schwarzen Ledersessel Platz, während sie sich daranmachte, mir eine Tasse Tee zuzubereiten. Trotz der Unregelmäßigkeit unserer Treffen erinnerte sie sich immer daran, dass ich während unserer Sitzungen gerne einen Tee trank.

»Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen?« Sie setzte sich in den anderen Sessel und nahm einen Schluck von was auch immer sie für sich selbst zubereitet hatte.

Ich fragte mich, ob sie uns Patienten etwas zu trinken anbot, damit wir das Gefühl hatten, als würden wir einfach nur nett plaudern und keine Therapiesitzung abhalten. Doch wie auch immer, es funktionierte. Ich erzählte ihr, es gehe mir gut, aber sie zog die Nase kraus und runzelte die Stirn.

»Sind Sie ausgegangen? Haben Sie sich mit Leuten getroffen?« Mit Leuten meinte sie Männer. Sie hielt es für ein Problem, dass ich so lange niemanden an mich herangelassen hatte, aber es hätte etwas zählen sollen, dass ich damit zufrieden war. Dass es meine Entscheidung war. Bis zu Julian. Aber ich würde ihn nicht erwähnen oder die Tatsache, dass ich das Portal seit Wochen abgegrast hatte, denn es war nichts passiert. Und es war unmöglich, dass je etwas passieren würde.

»Nein, ich meinte nicht diese Art von gut. Einfach nur, na ja, ich nehme an, gut auf meine Art.«

Dr. Redfield nickte und wartete darauf, dass ich fortfuhr. Mit beiden Händen hielt sie ihren Becher fest. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihre Füße deuteten auf mich. Zweifellos war sie eine Expertin der Körpersprache, sie nahm jede Position bewusst ein, sie erfüllte einen Zweck. Aber das war mir egal. Ich war einfach nur dankbar, dass sie sich keine Notizen machte. Sie mochte das danach natürlich tun; wie sonst sollte sie sich an alle Einzelheiten zu ihren Patienten erinnern? Doch sie besaß wenigstens den Anstand, so lange damit zu warten, bis die Sitzung um war.

Als ich nichts weiter sagte, fuhr sie mit ihrer Befragung fort. »Wie läuft es im Job?«

»Gut. Ich komme zurecht. Zumindest macht er mir keine Probleme.«

Erneut nickte sie. »Sie sind noch in der Bücherei? Das muss schön sein für jemanden, der Bücher so sehr liebt wie Sie.«

Wieder war ich von ihrem Gedächtnis beeindruckt und fragte mich, ob man lernen konnte, mehr Informationen zu behalten. Obschon mir das nicht helfen würde; ich brauchte weniger Informationen, die meinen Kopf vollstopften.

»Es ermöglicht mir ein ruhiges Leben«, sagte ich und rutschte in meinem Sessel herum. Langsam wurde mir bei ihrer Fragerei unwohl. Sie wusste das alles bereits über mich. Sie wusste, dass mein Job in der Bücherei der einzige war, den ich je gehabt hatte. Dass es für mich nichts anderes gab, seit ich die Universität geschmissen hatte. Es war, als wäre dies unsere erste Sitzung und wir fingen bei null an.

»Und das Altenheim? Arbeiten Sie dort immer noch ehrenamtlich?«

Ich nickte. »Sooft ich kann. Ich liebe es, wenn ich den Bewohnern dort Gesellschaft leisten kann.«

Dr. Redfield lächelte. Wir hatten bereits über mein ehrenamtliches Engagement gesprochen, und sie hatte mir gesagt, wie zufrieden sie damit war, wie selbstlos es von mir sei. Ich hatte versucht, ihr zu erklären, dass ich ebenso viel für mich daraus zog wie die Bewohner, aber sie hatte mich ermahnt, nicht so hart mir selbst gegenüber zu sein. Dass ich etwas Gutes tat. Ich hatte sie fragen wollen, ob sie glaubte, dass das irgendetwas wiedergutmachte, aber aus Furcht vor ihrer Antwort hatte ich den Mund gehalten.

Nach einer Ewigkeit ähnlicher Fragen, auf die ich mich einließ, weil ich sie sehr mochte und ihr etwas schuldete, rückte Dr. Redfield mit etwas heraus, was ich nicht erwartet hatte, aber hätte erwarten sollen. »Darf ich Sie fragen, was Sie gestern gemacht haben? Nach der Arbeit?«