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Verloren in der virtuellen Welt... Als der 14-jährige Eric nach einer Überdosis der Droge »Glanz« vor dem Laptop ins Koma fällt, ist seine Mutter Anna verzweifelt. Da die Ärzte keinen Rat wissen, nimmt sie schließlich die Hilfe einer mysteriösen Frau an. Das Unvorstellbare geschieht: Anna kann in die Traumwelt im Kopf ihres Sohnes vordringen, der in einem phantastischen Computerspiel gefangen zu sein scheint. Doch während sie versucht, ihn zurück ans Licht der Wirklichkeit zu führen, verdichten sich die Hinweise, dass Eric das Opfer eines üblen Spiels ist … Der erste Thriller, der auch als interaktives E-Book erscheint. Leser dieses E-Books können entscheiden, ob sie das Buch klassisch oder interaktiv lesen wollen. Die Interaktive Version enthält: - Mehr als 200 Seiten zusätzlichen Text - Viele neue Schauplätze und Begegnungen - Zwei alternative Enden Um den interaktiven Teil dieses E-Books nutzen zu können, benötigen Sie ein Lesegerät, welches Textlinks innerhalb des E-Books darstellen kann.
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Seitenzahl: 1606
[Buchversion]
[Interaktive Version]
[Buchversion]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
[Interaktive Version]
Prolog (interaktiv)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6 (interaktiv)
Kapitel 7
Kapitel 8 (interaktiv)
Kapitel 9 (interaktiv)
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13 (interaktiv)
Kapitel 14
Kapitel 15 (interaktiv)
Kapitel 16 (interaktiv)
Kapitel 17 (interaktiv)
Kapitel 18
Kapitel 19 (interaktiv)
Kapitel 20 (interaktiv)
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23 (interaktiv)
Kapitel 24
Kapitel 25 (interaktiv)
Kapitel 26
Kapitel 27 (interaktiv)
Kapitel 28 (interaktiv)
Kapitel 29
Kapitel 30 (interaktiv)
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35 (interaktiv)
Kapitel 36 (interaktiv)
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41 (interaktiv)
Kapitel 42 (Alternative 1)
Kapitel 42 (Alternative 2)
Karl Olsberg
GLANZ
Thriller
Für meine Mutter
»Is this the way out from this endless scene? Or just an entrance to another dream?« Genesis, The Light Dies Down On Broadway
Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist die stärkste Kraft im Universum. Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Spruch gelesen habe, aber er stimmt. Doch wie jede Kraft kann auch diese heilen – oder zerstören.
Ich bin New Yorkerin, geboren und aufgewachsen in Brooklyn. Ich habe meine Lektionen im Leben gelernt und bin nicht gerade zart besaitet. Von esoterischem Hokuspokus habe ich nie etwas gehalten, und gebetet habe ich das letzte Mal mit fünfzehn. Doch wenn deinem eigenen Kind etwas zustößt, dann kann es passieren, dass dein ganzes Weltbild einstürzt wie ein Wolkenkratzer nach einem Terrorangriff.
Das ändert alles.
Es war ein Dienstag. Ich hatte um neun einen Termin bei einer Werbeagentur in der Madison Avenue und war spät dran. Ich klopfte laut gegen seine Tür. »Eric? Eric, du kannst nicht schon wieder zu spät zur Schule kommen!«
Ich wartete ein paar Sekunden, bevor ich sein Zimmer betrat – pubertierende Jungs sind ein bisschen empfindlich, was ihre Intimsphäre angeht. In der Tür blieb ich stehen.
Sein Kopf mit den nicht zu bändigenden blonden Locken lag auf der Tischplatte. Ein Arm hing schlaff herab, die Hand des anderen umfasste noch die Maus. Nur das trübe Licht des Bildschirms erhellte den Raum.
Ich seufzte. Diese verdammten Onlinespiele! Wenn Eric so weitermachte, würde er den Highschool-Abschluss niemals schaffen. Ich hatte schon alles versucht – |11|reden, schimpfen, drohen, locken. Vergeblich. Jede freie Sekunde hockte er vor dem Computer und jagte irgendwelchen Monstern nach.
Ich hatte nie verstanden, was ihn daran so faszinierte. Es musste etwas typisch Männliches sein – der Urinstinkt, auf die Jagd zu gehen, sich als Mann zu beweisen vielleicht. Dabei war es doch so armselig: Die Gefahren bestanden nur aus bunten Pixeln, und um ihrer Herr zu werden, brauchte man nicht mehr als ein paar Mausklicks.
Ich hatte irgendwo gelesen, dass mindestens fünf Prozent der männlichen Jugendlichen computerspielsüchtig waren – im Schnitt einer in jeder Highschool-Klasse. Trotzdem hatte ich immer gehofft, Eric würde die Lust daran von selbst verlieren. Irgendwann, so redete ich mir ein, würde er ein Mädchen kennenlernen, das ihn auf andere Gedanken brachte. Immerhin war er jetzt fast fünfzehn. Doch wie sollte er sich je verlieben, wenn er nur vor seinem Laptop saß und außerhalb der Schulzeit nie einen Fuß vor die Tür setzte? Es war wohl höchste Zeit, einen Psychologen zu konsultieren.
»Eric!« Ich rüttelte an seiner Schulter. »Eric, wach auf! Es ist gleich halb acht!«
Er reagierte nicht.
Das war der Moment, als die Angst aus den tiefen Höhlen meines Bauches bis in meine Kehle aufstieg. Ich spürte meinen Herzschlag im Mund.
»Eric!« Ich rüttelte ihn erneut, ohne jede Reaktion. Ich fasste ihn an den Schultern und zog ihn zurück. Sein Kopf fiel in den Nacken, der Mund klappte auf. Seine Augen waren weit geöffnet. Das Licht der virtuellen Welt spiegelte sich auf ihrer glasigen Oberfläche.
Mir blieb das Herz stehen. »Eric! O Gott, Eric!«
Ich hatte gehört, dass bereits Computerspieler an Erschöpfung |12|gestorben waren. Doch er konnte nicht tot sein! Nicht Eric! Nicht mein Sohn!
Meine Fingerspitzen berührten seine Halsschlagader. Fühlte ich dort tatsächlich einen schwachen Puls? Ich legte mein Ohr an seinen Mund und spürte einen leichten, regelmäßigen Hauch. Er lebte!
Erleichterung durchflutete mich und wurde gleich darauf von tiefer Sorge verdrängt. Ich rüttelte ihn erneut, gab ihm sogar Ohrfeigen, spritzte Wasser in sein Gesicht, bewirkte jedoch nicht die geringste Reaktion.
Schließlich rannte ich in die Küche, nahm das Telefon von der Station, lief zurück in sein Zimmer und wählte 911. Während ich Name und Adresse nannte und die Situation zu beschreiben versuchte, fiel mein Blick auf den Bildschirm des Laptops. Er zeigte eine von dornigen Sträuchern bewachsene Wildnis aus der Vogelperspektive. In der Mitte lag ein lebloser Körper in der glänzenden Bronzerüstung eines antiken Helden. Schwarze Vögel saßen auf der Leiche und pickten daran. Darunter hatte sich ein Eingabefenster mit drei Schaltflächen geöffnet: »Spielstand laden«, »Neustart« und »Beenden«.
Ekel erfüllte mich. Die Designer des Spiels, das Eric seit Monaten in seinen Bann zog – »Realm of Hades« hieß es, soweit ich mich erinnerte –, hatten es mit dem Realismus eindeutig übertrieben. Angewidert klappte ich den Laptop zu, griff den schlaffen Körper meines Sohnes unter den Achseln und zerrte ihn auf sein Bett. Er war überraschend schwer. Dabei schien es doch noch so nah, dass ich ihn das erste Mal in den Armen gehalten und seinen kleinen Mund an meiner Brust gespürt hatte. Auch so ein Effekt von Kindern: Sie rauben uns jedes realistische Gefühl für den Fluss der Zeit.
Ich rief mir den Erste-Hilfe-Kurs in Erinnerung und |13|brachte Eric in die stabile Seitenlage, so gut ich konnte. Nun blieb mir nichts weiter übrig, als auf die Rettungskräfte zu warten.
Draußen erstrahlten die Glastürme der Stadt im Glanz der frühen Sonne. Ein Schwarm Vögel zeichnete sich dunkel gegen den klaren, kupferfarbenen Himmel ab, als hätten sie sich soeben von der Leiche des Computerspielhelden erhoben und wären irgendwie aus dem Laptop geflüchtet.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis es endlich an der Wohnungstür klingelte. Der Notarzt untersuchte Eric kurz, überprüfte Atmung und Puls, während ich ihm erklärte, wie ich meinen Sohn gefunden hatte.
»Was ist mit ihm, Doktor? Glauben Sie, es ist bloß Erschöpfung?«
»Das können wir erst sagen, wenn wir ihn genauer untersucht haben. Reagiert Ihr Sohn auf irgendwas allergisch?«
»Nein, eigentlich nicht. Ganz selten hat er Heuschnupfen. Birkenpollen, glaube ich.«
»Nimmt er Medikamente oder Drogen?«
Ich stockte. Bis zu diesem Moment war ich nie auf die Idee gekommen, dass Eric etwas mit Drogen zu tun haben könnte. Aber wenn es so war, hätte ich es wirklich gewusst? Ich hatte selbst ein paar Mal Gras geraucht, wie man das eben so tat zu meiner Zeit am College, aber das härtere Zeug nie angerührt. Andererseits waren heutzutage an den Schulen alle möglichen Pillen im Umlauf. Doch Eric trank nicht mal Alkohol und ging kaum aus dem Haus. Außerdem, woher hätte er das Geld für Drogen nehmen sollen?
»Nein«, antwortete ich. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
|14|»Ist er Diabetiker? Hat er irgendeine andere chronische Krankheit? Oder hat er in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Symptome gezeigt? Hatte er Kopfschmerzen, war er oft müde, oder war ihm übel?«
»Nein. Er ist eigentlich gesund. Bis auf …«
»Ja?«
»Na ja, er spielt sehr viel am Computer. Zu viel. Ich glaube, man kann da von einer Sucht sprechen.«
Der Notarzt nickte. Gemeinsam mit einem Rettungssanitäter hievte er meinen Jungen auf eine Trage und schnallte ihn fest. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, zwei Diebe zu beobachten, die mir das Wertvollste raubten, das ich besaß.
»Möchten Sie mitkommen?«
Ich nickte und folgte den beiden zum Krankenwagen. Es waren nur etwa ein Dutzend Blocks von unserer Wohnung am Rande des Tompkins Square Park im Südosten Manhattans bis zum Faith Jordan Medical Center. Ich erledigte die Formalitäten am Empfang, während man Eric auf die Intensivstation brachte.
Ich blieb den ganzen Tag im Krankenhaus, ohne dass ich mehr über seinen Zustand erfuhr. Verschiedene Ärzte untersuchten ihn und stellten mir alle dieselben Fragen – ob es ähnliche Fälle in der Familie gäbe, ob Eric bereits einmal in Ohnmacht gefallen sei oder epileptische Anfälle gehabt habe, ob er jemals allergisch auf Nahrungsmittel reagiert habe. Ich konnte nur verneinen. Auf meine Nachfragen aber antworteten sie ausweichend. Er leide an einem Apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt, möglicherweise ausgelöst durch einen toxischen Schock. Genaueres könne man noch nicht sagen. Sein Zustand sei immerhin stabil; man könne nicht viel mehr tun als abwarten. Es sei hilfreich, wenn ich bei ihm bliebe und mit ihm redete.
|15|Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand, während die Maschine, die ihn überwachte, gleichmäßig piepte. Er hatte jetzt die Augen geschlossen und schien friedlich zu schlafen. Doch vor meinem inneren Auge stand das unbarmherzige Bild des gefallenen Helden aus dem Computerspiel, von Aasvögeln bedeckt. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte es nicht verdrängen.
Das Schlimmste in so einer Situation ist die eigene Hilflosigkeit. Der Körper spürt die Gefahr und pumpt Adrenalin durch die Blutbahn. Die Muskeln sind angespannt, je nach Bedarf flucht- oder kampfbereit. Doch in einem mit Elektronik vollgestopften Krankenhaus sind diese archaischen Impulse so nutzlos wie eine elektrische Heizdecke am Nordpol.
Mein Kind war in Gefahr. Jemand – etwas – hatte es verletzt. Doch ich konnte nichts tun.
Ich war nie besonders geduldig. Deshalb arbeite ich normalerweise allein oder nur mit wenigen Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Ich bin Fotografin in der Modebranche. Mein Job ist es, das Schöne zu zeigen, und zwar so, wie es in der Realität so gut wie nie vorkommt – makellos, perfekt. Als ich jetzt Eric so liegen sah, seine Gesichtszüge völlig entspannt, hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal diese Perfektion zu sehen, ohne dass ich mit Schminke, Kunstlicht und Objektivfiltern nachhelfen musste.
Ich strich sanft über seine Wange. »Wo bist du?«, fragte ich ihn. »Komm bitte zu mir zurück!«
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
Ein Mädchen in der Kleidung einer Pflegerin war eingetreten. Sie schien höchstens zwei oder drei Jahre älter als Eric zu sein, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich fragte, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen war. Doch in ihren |16|ungewöhnlich großen, dunkelbraunen Augen glaubte ich etwas zu erkennen, das mich anrührte: einen Schmerz, der meinen eigenen zu spiegeln schien, so als verstünde sie wirklich, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf.
»Mein Name ist Maria. Ich arbeite in der neurologischen Abteilung. Ihr Sohn wird auf unsere Station verlegt, sobald … klar ist, dass sein Zustand stabil bleibt.«
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Vielen Dank, Maria.«
Sie war gerade gegangen, als ein grauhaariger Arzt das Zimmer betrat. Er ging leicht vornübergebeugt, als könne er die Last des Leids seiner Patienten kaum noch ertragen. Er stellte sich als Dr. Kaufman vor, Leiter der neurologischen Abteilung. »Leiden Sie gelegentlich unter Depressionen?«, fragte er. »Haben Sie jemals Medikamente gegen Stimmungsschwankungen verschrieben bekommen?«
»Ich? Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Wir haben das Blut Ihres Sohnes untersucht und Spuren einer Substanz gefunden: Glanotrizyklin.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Glanotrizyklin ist ein starkes Antidepressivum. In der Szene wird es auch ›Glanz‹ genannt.«
»Szene? Was für eine Szene?«
»Drogen. Medikamentenmissbrauch. Glanotrizyklin wird eine bewusstseinsverändernde Wirkung zugeschrieben. Es hebt die Stimmung und verstärkt die Wahrnehmung. In letzter Zeit ist von einigen Fällen berichtet worden, bei denen Computerspieler versucht haben, die Intensität des Spielerlebnisses damit zu erhöhen. Sieht so aus, als hätte Ihr Sohn eine Überdosis davon eingenommen.«
Schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment fühlte. An der Oberfläche Entsetzen – etwas, das zu erwarten gewesen wäre: der Schock der Erkenntnis, als |17|Mutter versagt zu haben. Doch darunter lauerte etwas viel Tieferes, Bedrohlicheres, eine Dunkelheit der Seele, eine Verzweiflung, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Eigentlich hätte die Tatsache, dass die Ärzte endlich den Grund für Erics Zustand kannten, meine Hoffnung schüren sollen. Doch tatsächlich hatte ich in diesem Moment das übermächtige Gefühl, meinen Sohn für immer verloren zu haben.
Der Arzt versuchte, mich zu beruhigen. »Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Frau Demmet. Aber es gibt eine realistische Chance, dass Ihr Sohn in ein paar Tagen von selbst wieder aus seinem Zustand erwacht. Jung und kräftig, wie er ist, kann es gut sein, dass er keine bleibenden Schäden davonträgt.«
Es war eine barmherzige Lüge.
Ich musste nicht lange suchen: Eric hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Drogen raffiniert zu verstecken. In der obersten Schublade seines Schreibtischs fand ich unter ein paar zerknitterten Zetteln mit Notizen aus der Schule einen kleinen Plastikbeutel mit etwa zwanzig länglichen, hellblauen Kapseln. Sie sahen aus wie ein ganz normales, industriell hergestelltes Medikament, ein Vitaminpräparat vielleicht. Der Beutel war nicht beschriftet.
Mein erster Gedanke war, noch einmal in die Klinik zu fahren und den Ärzten das Zeug zu geben. Doch wozu? Sie wussten ja bereits, was passiert war, und irgendwie hatte ich das Gefühl, meinen Sohn zu verpetzen, wenn ich ihnen die Drogen zeigte. Also legte ich das Tütchen einfach zurück an seinen Platz.
Ich zwang zwei Käsetoasts in mich hinein und legte mich ins Bett, doch sobald ich die Augen schloss, sah ich Eric in blutbefleckter Rüstung auf dem Boden liegen, von schwarzen Vögeln bedeckt.
Nach einer schlaflosen Nacht sagte ich einen Auftrag ab, für den ich mehrere Monate gekämpft hatte, und fuhr in die Klinik. An Erics Zustand hatte sich nichts geändert. Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Er starrte mit leerem Blick an die Decke. Wenn man ihm leichte Schmerzen zufügte, zeigte er normale Reflexe, doch er schien unfähig, irgendetwas von seiner Umgebung wahrzunehmen, so als sei sein Geist in eine fremde Dimension gereist.
Ich konnte nicht mal weinen, fühlte mich innerlich hohl |19|und ausgetrocknet wie eine Mumie, die nur noch von ihren Bandagen zusammengehalten wird.
Irgendwann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Als ich hochschrak, merkte ich, dass ich mit dem Kopf neben Erics Brust eingeschlafen war. Dunkle Träume verschwanden hinter einem Schleier des Vergessens, verbargen sich vor meinem Wachbewusstsein und lauerten darauf, mich im nächsten Schlaf erneut zu überfallen.
Die junge Pflegerin namens Maria sah mich sorgenvoll an. »Sie sollten nach Hause fahren und sich ausruhen. Wir rufen Sie sofort an, sobald sich etwas tut.«
»Aber er braucht mich«, protestierte ich.
Maria schüttelte leicht den Kopf, sagte jedoch nichts. Wieder sah ich diese anrührende Trauer in ihrem Gesicht. Sie hatte sich noch nicht die professionelle Distanz angeeignet, die das übrige medizinische Personal auszeichnete: die Fähigkeit, das Leid anderer Menschen von sich fernzuhalten, es mit neutralem, professionellem Blick zu betrachten wie ein unbekanntes Tier. Für einen Moment glaubte ich sogar, Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern zu sehen, doch sie wandte sich ab, bevor ich mir sicher sein konnte, und ließ mich allein.
Am späten Nachmittag kam Dr. Kaufman in Begleitung eines zweiten Arztes in den Raum. Er stellte seinen Kollegen als Dr. Joseph Ignacius vor, einen Neurologen und Spezialisten für Wachkomafälle, der extra aus Boston angereist sei.
Dr. Ignacius hatte ein schmales, eingefallen wirkendes Gesicht, das von wässrigen Augen dominiert wurde. Er wirkte irgendwie nicht ganz gesund, so als habe er Fieber und gehöre eigentlich selbst ins Bett. Sein fester Händedruck überraschte mich.
»Ich würde gern noch ein paar spezielle Untersuchungen |20|an Ihrem Sohn durchführen«, sagte der Neurologe. Seine Stimme klang ein wenig heiser. Vielleicht war er wirklich erkältet.
»Natürlich«, stimmte ich zu, ohne allzu viel Hoffnung, dass dieser kränkliche Arzt aus Boston mehr für Eric tun konnte als Dr. Kaufman.
Mein Junge wurde von der Intensivstation in die Radiologie gebracht, wo man ein Positronen-Emissions-Tomogramm von ihm erstellte. Dr. Ignacius erklärte mir, man könne damit die Gehirnaktivitäten sehr genau untersuchen. Ich wartete auf dem Flur.
Nach etwa zwei Stunden kam Dr. Ignacius zu mir. Seine Mundwinkel waren herabgezogen und seine Stirn war zerfurcht, aber ich wusste nicht, ob das bei ihm etwas zu bedeuten hatte oder ob es sich um einen permanenten Zustand seiner Gesichtsmuskeln handelte. »Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen, als dass der Zustand Ihres Sohnes stabil ist«, sagte er. »Wir haben keine Hirnschädigungen festgestellt. Die Durchblutung scheint normal zu sein.«
»Können Sie ihn denn nicht irgendwie aufwecken?«
»Nein, leider nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, er wird sicher von selbst zu sich kommen.«
»Aber wann? Wie lange kann denn so ein Koma dauern?«
»Wenn wir Glück haben, ein paar Tage. Aber es gibt auch Fälle von Patienten, die monatelang oder sogar mehrere Jahre in diesem Zustand waren. Reden Sie mit ihm, geben Sie ihm Zuwendung und Liebe. Gut möglich, dass er mehr von seiner Umwelt wahrnimmt, als wir erkennen können.«
Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung fuhr ich nach Hause. Dr. Ignacius’ Worte hatten mir Mut gemacht, doch gleichzeitig war da diese |21|bleierne Gewissheit in meinem Magen, dass Eric nie wieder zu mir zurückkehren würde.
Zu Hause ging ich noch einmal in sein Zimmer und sah mich um. Ich weiß nicht mehr, was ich zu finden hoffte – vielleicht Hinweise darauf, woher er die Drogen hatte, oder irgendeine Erklärung dafür, wie er in diese Abhängigkeit gerutscht war, warum er schließlich eine Überdosis genommen hatte.
Der Raum war ein Zeugnis des stummen Ringens zwischen dem verspielten Kind, das immer noch irgendwo tief in Eric steckte, und seinem Streben, erwachsen zu werden. Zerknitterte Kleidung lag herum, die ich mühevoll gewaschen und gebügelt hatte und die nach nur einmal Tragen achtlos auf den Boden geworfen worden war. An den Wänden hingen Poster von Rockbands, und die E-Gitarre in einer Ecke kündete von Erics naivem Traum von Ruhm und Reichtum. Doch auf den bunten Regalen standen immer noch Kinderbücher von Dr. Seuss, Roald Dahl und Astrid Lindgren. Action-Figuren, die noch vor nicht allzu langer Zeit verbissen miteinander gerungen hatten, setzten allmählich Staub an. Eine vergessene Kiste mit Bauklötzen kündete von der Zeit, als Eric, versunken in seine eigene Phantasiewelt, stundenlang still dagesessen und erstaunliche Türme und Gebäude errichtet hatte. Das schien Ewigkeiten her und doch erst gestern gewesen zu sein.
Ich setzte mich auf das Bett, dessen Wäsche mit Manga-Figuren bedruckt war. Halb unter der Decke verborgen lag ein Kuschelhase, als schäme er sich ein wenig dafür, hier zu sein. Eric hatte ihn von meiner Mutter zur Geburt geschenkt bekommen; es war immer sein wertvollster Besitz gewesen, und er hatte ihn überallhin mitgeschleppt. Der Plüsch war an einigen Stellen ausgefallen, und das |22|linke Ohr hing nur noch an einem dünnen Faden. Ich drückte den Hasen an mich und sank aufs Kopfkissen. Erics Duft stieg mir in die Nase, und die Sehnsucht nach ihm überwältigte mich.
Endlich flossen die Tränen.
Ich weiß nicht, wie ich die folgenden Wochen durchstand. Ich schlief wenig, aß fast nichts, verbrachte jede Minute im Krankenhaus. Man hatte Eric nach ein paar Tagen aus der Intensivstation in die neurologische Abteilung verlegt. Er teilte jetzt das Zimmer mit zwei alten Männern, die im Sterben lagen. Ein Schlauch führte durch seine Nase bis in seinen Magen. Mehrmals pro Tag wurden ihm auf diese Weise breiförmige Nahrung und Flüssigkeit zugeführt.
Jeden Montag kam Dr. Ignacius in die Klinik und untersuchte ihn, doch seine Erklärungen blieben stets genauso vage und unverbindlich wie beim ersten Mal.
Wachkomapatienten haben einen normalen Schlafrhythmus, wie mir Dr. Kaufman schon am ersten Tag erklärt hatte. Jeden Morgen, wenn er die Augen öffnete, hatte ich die Hoffnung, Eric könne mich erkennen oder wenigstens irgendetwas wahrnehmen, doch sein Blick blieb leer. Eines Morgens gab ich ihm in meiner Verzweiflung sogar eine Ohrfeige und brüllte ihn an. Natürlich bewirkte es nichts, und ich hatte danach tagelang ein schlechtes Gewissen.
Dr. Kaufman empfahl mir, viel mit Eric zu sprechen. Neuere Studien hätten gezeigt, dass Wachkomapatienten mehr von ihrer Umwelt wahrnähmen, als man früher geglaubt habe, auch wenn sie nicht darauf reagieren könnten. Obwohl er damit bestätigte, was Dr. Ignacius gesagt hatte, befürchtete ich, dass er mich nur beruhigen wollte. Aber natürlich befolgte ich seinen Rat.
|23|Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich das regelmäßige Signal des Herzschlags auf dem kleinen Monitor leicht veränderte, wenn ich mit ihm sprach. Doch es gelang mir nie, mich selbst davon zu überzeugen, dass dies ein Beweis für eine Reaktion Erics auf meine Worte war.
Da ich bald nicht mehr wusste, was ich erzählen sollte, las ich ihm vor. Zuerst die Kinderbücher, die er früher geliebt hatte, dann Jugendbücher für seine Altersgruppe, die ich zu diesem Zweck kaufte. Manchmal, wenn die Geschichten spannend waren, vergaß ich für einen Moment, dass er mich nicht hören konnte. Doch all meine Bemühungen änderten nicht das Geringste an seinem Zustand.
Meine Hoffnung schwand mit jedem Tag, und ich konnte an Dr. Kaufmans Gesicht ablesen, dass auch er immer weniger an seine eigenen Beschwichtigungsformeln glaubte. Irgendwann kam er zu seiner täglichen Visite. Anstatt meinen Sohn zu untersuchen, nahm er sich einen Hocker und setzte sich mir gegenüber. Seine blaugrauen Augen fixierten mich. »Mrs. Demmet, so geht das nicht weiter. Sie können nicht immer nur hier sitzen. Wir machen uns ernsthaft Sorgen um Ihren Gesundheitszustand. Wenn Ihr Sohn wieder zu sich kommt, wird er Sie bei vollen Kräften brauchen. Sie müssen sich schonen!«
»Mir geht es gut«, log ich.
Anstatt zu antworten, holte er einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. Ich erschrak. Die Frau, die mir entgegenblickte, schien zwanzig Jahre zu alt. Mein Gesicht war eingefallen, meine Augen waren gerötet, die Lider schlaff, die Tränensäcke groß und dunkel. »Aber er braucht mich doch!«, sagte ich trotzig.
Dr. Kaufman schüttelte den Kopf. »Sie können ihm nicht helfen, indem Sie sich selbst zugrunde richten. Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie so weitermachen, werden Sie in |24|ein paar Tagen selbst in diesem Krankenhaus liegen. Aber glauben Sie bloß nicht, wir bringen Sie dann im selben Raum unter wie Ihren Sohn!«
Die Drohung wirkte. Die Vorstellung, dass ich von ihm getrennt würde, war unerträglich. Ich nickte und erhob mich, um nach Hause zu gehen.
Auf dem Flur, dessen Linoleum im kalten Neonlicht glänzte, traf ich Maria. Sie senkte den Blick, als sie mich sah. Ich spürte, dass sie etwas wusste – etwas, das mir Dr. Kaufman mit Rücksicht auf meinen Zustand nicht gesagt hatte. Ich ergriff ihren Arm. »Schwester Maria.«
Sie blieb stehen, ohne mich anzusehen. »Ja?«
»Wird er wieder aufwachen?«
Sie antwortete nicht.
»Bitte, Schwester. Sagen Sie mir die Wahrheit!«
Endlich blickte sie auf, und ihre Augen glänzten von Tränen. »Er hat sich verloren«, sagte sie.
Es waren weniger ihre Worte als diese seltsame, ehrliche Trauer, die mich traf wie ein Faustschlag. »Verloren? Was meinen Sie damit?«
»Er findet den Weg zum Licht nicht.«
Ich starrte sie verständnislos an.
»Bitte … Sie tun mir weh!«
Erst jetzt merkte ich, dass ich ihren Arm die ganze Zeit fest umklammert hielt. Ich ließ sie los. »Was … was soll das heißen?«
»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.« Sie setzte ihren Weg fort.
Ich folgte ihr. »Was denn für ein Licht? Was haben Sie damit gemeint?«
»Bitte, nicht so laut! Wenn der Chef mitbekommt, dass ich schon wieder …« Sie stockte, als ein Arzt aus einem der Patientenzimmer kam und in unsere Richtung blickte.
|25|Ich begriff, dass ich sie angeschrien hatte. »Entschuldigung«, sagte ich leise. »Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, aber …«
Sie sah auf die Uhr. »In anderthalb Stunden habe ich Feierabend. Gegenüber dem Krankenhaus ist ein Starbucks. Warten Sie dort auf mich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um. Ich blickte ihr nach, bis sie im Schwesternzimmer verschwunden war.
Es lohnte sich nicht, zwischendurch nach Hause zu fahren. Doch die Worte der Krankenschwester hatten mich so aufgewühlt, dass ich es auch nicht an Erics Bett aushielt.
Ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Ein milder Aprilwind blies den schalen Benzingeruch der Großstadt fort und ersetzte ihn durch das frische, salzige Aroma des Atlantiks. Ich folgte diesem Duft, bis ich am Ufer des East River stand. Das Wasser der Meerenge schob sich träge dahin wie seit Jahrtausenden, unberührt von den Schicksalen der Menschen an ihren Flanken. Die ewige Kraft der Gezeiten, die die Strömung hier antrieb, hatte etwas Vertrauenerweckendes. Einen Moment lang durchzuckte mich der Impuls, ins Wasser zu springen und mich hinaus in den Atlantik treiben zu lassen, vorbei an der fackeltragenden Statue, die unbegrenzte Freiheit versprach, und mich schließlich in den Weiten des Ozeans zu verlieren. Der Moment verging.
Ich setzte mich auf eine Bank und starrte hinaus auf das Wasser. Nach ein paar Minuten kam ein Pärchen in Erics Alter vorbei. Das Mädchen wickelte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und ließ das Silberpapier achtlos fallen. Dann blieb sie genau vor mir stehen, ohne mich oder ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie umfasste den |26|Nacken des Jungen und drückte ihren zu stark geschminkten Mund auf seinen. Ich konnte sehen, wie der Junge die Augen aufriss. Das Mädchen löste sich von ihm, grinste und ging weiter. Der Junge blieb noch einen Moment stehen und kaute auf dem fremden Objekt in seinem Mund herum. Dann folgte er ihr mit einem Gesichtsausdruck, auf dem sich Überraschung und Glück spiegelten.
Ich betrachtete das Silberpapier auf dem Gehweg und konnte den Anblick kaum ertragen. Eine irrationale Wut durchströmte mich. Wieso konnte dieses Pärchen so glücklich sein, während mein Sohn, dem Tode nahe, in einem Krankenhausbett lag? Ich bedauerte es beinahe, dass ich als Teenager aufgehört hatte, an Gott zu glauben. Jetzt hatte ich niemanden mehr, den ich für mein Unglück verantwortlich machen konnte.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wandte mich langsam um. Auf dem Rand der Mülltonne saß eine Krähe. Ihre leeren schwarzen Augen musterten mich, ohne zu blinzeln.
Die Krähe legte den Kopf schief, als versuche sie, meine Gedanken zu ergründen. Dann stieß sie sich ab, schlug kräftig mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Im selben Moment stob aus den umliegenden Büschen ein Dutzend schwarzer Vögel auf. Sie bildeten einen Schwarm, der einen Kreis über mir zog, bevor er sich in Richtung des fernen Ufers aufmachte, zu den Docks und Lagerhallen von Brooklyn. Ich blickte ihnen nach. Die Tiere erschienen mir einen Moment lang wie Vorboten düsterer Zeiten. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nie abergläubisch gewesen, und jetzt war nicht der richtige Moment, um es zu werden.
Ich stand auf und ging zurück in Richtung der Klinik. |27|Ich wusste nicht genau, warum, aber das bevorstehende Treffen mit Maria gab mir neuen Mut. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich wieder Appetit. Vor der Auslage des Cafés überkam mich regelrechter Heißhunger. Ich bestellte mir einen Milchkaffee und ein großes Stück Käsekuchen und dann noch eins.
Maria kam eine halbe Stunde zu spät. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Ich bot ihr an, einen Kaffee und ein Stück Kuchen für sie zu bestellen, doch sie wollte nur ein Glas stilles Wasser. »Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, sagte sie. »Dr. Kaufman hat mir ausdrücklich verboten, Privatgespräche mit den Angehörigen von Patienten zu führen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind, Maria. Bitte erzählen Sie mir, wie Sie das vorhin gemeint haben.«
Maria senkte den Blick. »Es ist meine Tante. Sie holt mich manchmal abends ab. Und dann … dann besuchen wir die Patienten. Diejenigen, die nicht bei Bewusstsein sind.« Sie zögerte. Ihr fiel es sichtlich schwer, sich mir zu öffnen; so als sei sie im Begriff, mir ein Verbrechen zu gestehen.
Ich wartete einfach ab.
»Sie ist eine Seelensprecherin«, sagte Maria nach einer Weile.
»Eine Seelensprecherin? Was soll das sein?«
Marias Blick hing an ihrem Wasserglas. »Sie kann mit den Seelen der Toten reden.«
»Sie meinen, Séancen und so?«
Maria nickte. »Aber sie kann auch in die Seelen der Lebenden sehen.«
Ich kam mir plötzlich albern vor. Während mein Sohn wegen einer Überdosis Drogen im Wachkoma lag, saß ich hier in einem Café und unterhielt mich mit einer unerfahrenen |28|Krankenschwester, die mir irgendwelchen esoterischen Humbug auftischte. Als Fotografin hatte ich mir einen kritischen, distanzierten Blick auf die Welt angewöhnt. Der schöne Schein war mein Lebensinhalt. Ich wusste nur allzu genau, wie viele Blender es gab. Wahrsager, Astrologen, Wunderheiler, Wanderprediger – eine ganze Branche lebte davon, Menschen etwas vorzugaukeln, ihnen in ihrem Leid und ihrer Verzweiflung falschen Trost zu verkaufen.
Zorn stieg in mir auf. »Sind Sie gekommen, um mir diesen Mist zu erzählen? Arbeiten Sie im Krankenhaus, um Kunden für Ihre Tante zu gewinnen, denen sie dann für viel Geld ihr Schmierentheater vorspielt?«
Maria blickte auf. In ihren sanften Augen lag wieder diese seltsame Trauer. Es war kaum denkbar, dass sie nur gespielt war. »Es … es tut mir leid. Ich gehe jetzt besser.« Sie stand auf.
»Nein, warten Sie!« Ich wusste, dass es vernünftig gewesen wäre, sie nicht aufzuhalten. Dass es sinnlos war, sich an einen solchen Strohhalm zu klammern. Doch es war mir plötzlich egal, ob es eine falsche Hoffnung war, die sie mir gab, solange ich nur irgendetwas hatte, an das ich mich klammern konnte. Ich betrachtete den leeren Kuchenteller vor mir und erkannte, dass Hoffnung, so klein und unbegründet sie auch sein mochte, das Einzige war, das mich am Leben hielt. »Es tut mir leid, ich hab es nicht so gemeint. Ich bin einfach etwas … erschöpft.«
Maria setzte sich wieder. »Schon gut. Ich hätte vielleicht gar nichts sagen sollen. Meine Tante hat mich davor gewarnt, darüber zu sprechen.«
»Worüber?«
»Was sie sieht.«
»Erzählen Sie es mir!«
|29|»Wie gesagt, sie holt mich manchmal vom Dienst ab. Es ist schon ein paar Wochen her, Ihr Sohn war gerade von der Intensivstation zu uns verlegt worden. Sie war zuerst bei Mr. Lafferty, das war der alte Mann in dem Bett links, dort, wo jetzt Mr. Sanders liegt. Sie hat ihm die Hand auf die Stirn gelegt und einen Moment die Augen geschlossen. Dann hat sie gelächelt und gesagt, er sei bereit, endlich loszulassen, und dass es nicht mehr lange dauere. Am nächsten Tag war er tot.«
Eine tolle Geschichte. Einem sterbenskranken Menschen seinen Tod zu prophezeien, war wohl keine große Leistung. Aber ich verkniff mir meine skeptische Bemerkung.
»Dann gingen wir zu Eric«, fuhr Maria fort. »Ich erzählte ihr, dass er wegen einer Überdosis Drogen im Wachkoma liegt. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Sie saß ziemlich lange da, länger als bei den anderen Patienten, und ich dachte, vielleicht ist es schwieriger für sie, weil er so jung ist. Doch als sie die Augen wieder öffnete, waren sie glasig, und sie wirkte ganz verwirrt. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich fragte nach, was mit Eric los sei, und erst in diesem Moment schien sie zu realisieren, wo sie war. Sie antwortete, er habe sich selbst verloren. ›Verloren?‹, fragte ich. ›Er findet den Weg zum Licht nicht‹, antwortete sie. Ich habe nicht genau verstanden, was sie damit meinte, aber sie wollte nicht darüber sprechen. Erst später hat sie es mir erklärt.«
Maria trank etwas Wasser, bevor sie fortfuhr. »Sie sagte, die Seelen der Sterbenden müssen ihren Weg zum Licht finden. Das ist manchmal ein langer, verschlungener Weg, doch jede Seele hat so etwas wie einen Kompass, der sie zuverlässig leitet. Die Seele Ihres Sohnes jedoch weiß nicht, wohin sie gehen soll.«
»Hören Sie doch auf mit diesem Unsinn!«, rief ich so laut, dass sich die Köpfe an den Nachbartischen zu uns umwandten. »Ich will davon nichts mehr hören! Mein Sohn stirbt nicht!« Plötzlich begann ich zu zittern. Ein würgendes Geräusch entrang sich meiner Kehle, dann schüttelte mich ein Weinkrampf. Als Erwachsene habe ich nicht oft geweint, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Aber es war einfach zu viel.
Maria starrte schweigend in ihr Glas.
Nach einer Weile beruhigte ich mich. »Entschuldigen Sie. Es tut mir leid, dass ich die Fassung verloren habe. Ich glaube Ihnen, dass Sie für wahr halten, was Sie mir gerade erzählt haben. Aber wenn Ihre Tante tatsächlich mit Seelen sprechen kann, dann irrt sie sich! Mein Sohn sucht nicht den Weg ins Licht des Jenseits. Er sucht …«
Ich stockte, als mir ein Gedanke kam. »Vielleicht … vielleicht haben Sie ja Ihre Tante falsch verstanden. Sie meinte möglicherweise nicht dieses Licht, das die Sterbenden anlockt. Oder vielleicht hat sie es selbst missverstanden. Sie hat vielleicht wirklich die Seele meines Sohnes gesehen, die in seinem Kopf herumirrte. Aber er suchte nicht das Licht der Nachwelt. Er sucht den Weg zurück in die Wirklichkeit!«
Während ich redete, ließ Hoffnung mein Herz schneller schlagen, und sosehr ich mich auch bemühte, meine eigenen Erwartungen zu dämpfen, konnte ich meine Erregung doch nicht unterdrücken. Was, wenn es wirklich so war? Was, wenn Marias Tante keine Betrügerin war, |31|sondern tatsächlich Kontakt zu Erics Seele gehabt hatte? »Ich muss unbedingt mit ihr sprechen!«
Maria wurde blass. »Ich … ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich habe Ihnen schon zu viel erzählt. Sie hat mir verboten, mit anderen darüber zu sprechen.«
»Maria, bitte! Verstehen Sie denn nicht? Wenn es wirklich stimmt, was Ihre Tante sagt, wenn sie Erics Seele tatsächlich sieht, dann ist sie vielleicht die Einzige, die ihn aus dem Koma zurückholen kann! Bitte, Sie müssen mir helfen, Maria!«
Die junge Pflegerin sah mich einen Moment lang zweifelnd an. Dann gab sie sich einen Ruck. »Also gut. Sie kommt übermorgen Abend. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie bereit sein wird, mit Ihnen zu reden.«
»Danke, Maria! Vielen Dank!«
In dieser Nacht hatte ich zum ersten Mal seit langem einen tiefen, erholsamen Schlaf. Doch als ich am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhr, kam ich mir albern und naiv vor. Hatte ich wirklich auch nur eine Sekunde lang geglaubt, Marias Tante könne mir mit ihrem esoterischen Hokuspokus helfen? Ein paar Mal war ich drauf und dran, zu Maria zu gehen und das Treffen abzusagen, aber jedes Mal war da diese kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir zuflüsterte, ein Versuch könne ja schließlich nicht schaden.
Als ich Emily Morrison am folgenden Abend zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass sie keine Betrügerin war und auch keine durchgeknallte Spinnerin. Sie war Anfang vierzig wie ich selbst, hochgewachsen, mit einer geraden Nase, schwarzem, streng zurückgebundenem Haar und einem ernsten Gesicht.
Ich erhob mich vom Stuhl, den ich neben Erics Bett gezogen |32|hatte, und streckte ihr meine Hand entgegen. »Mein Name ist Anna Demmet.«
»Emily Morrison.« Sie lächelte nicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Besuch hier von irgendeinem Nutzen sein kann.« Sie sah auf meine Hand, als fürchte sie, ich könnte eine ansteckende Krankheit haben. Erst nach kurzem Zögern griff sie zu.
Etwas Merkwürdiges geschah, als unsere Hände sich berührten. Mir war, als verändere sich der Raum für einen kurzen Moment, als sei das Licht plötzlich anders. Ein seltsames Gefühl der Desorientierung überkam mich, wie man es manchmal hat, wenn man etwas in Gedanken tut und dann plötzlich nicht mehr genau weiß, was man eigentlich gerade macht und warum.
Emily Morrisons Augen weiteten sich im selben Moment, so als bekäme sie einen Schreck. Doch sie sagte nichts.
Der Augenblick verging. »Was genau kann ich für Sie tun, Mrs. Demmet?«
»Nennen Sie mich Anna, bitte.«
Ein dünnes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Einverstanden, wenn Sie Emily sagen.«
»Ihre Nichte hat mir erzählt, dass Sie irgendwie … Kontakt zu den Seelen der Menschen herstellen können, Emily. Sie meinte, mein Sohn sei auf der Suche nach dem Licht, könne es aber nicht finden. Ich habe mir überlegt, dass er vielleicht nicht das Licht des Jenseits sucht, sondern das Licht der Wirklichkeit! Vielleicht können wir ihn mit Ihrer Hilfe aus dem Gefängnis seines Wachkomas befreien!«
Emily musterte mich schweigend. Ihre braunen Augen konnten vermutlich genauso sanft sein wie Marias, doch jetzt hatten sie eine durchdringende Schärfe, die mich frösteln ließ. »Sie haben sich überlegt, was Ihr Sohn |33|sucht?«, fragte sie. Ihre Stimme war ruhig, doch der Tadel darin unüberhörbar: Ich hatte mich zu weit vorgewagt, hatte voreilige Schlüsse gezogen, mir ein Urteil über Dinge erlaubt, die ich nicht verstand.
Ich erwiderte ihren Blick. »Könnte es denn nicht so sein?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde milde. »Sie lieben Ihren Sohn so sehr, dass sie ihn um jeden Preis wiederhaben wollen, nicht wahr?«
»Allerdings. Egal, was passiert, ich werde ihn nicht aufgeben. Niemals!«
»Anna, ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Die Seele Ihres Sohnes lässt sich nicht herumkommandieren oder führen wie ein Ochse am Nasenring. Wenn er nicht zu Ihnen zurückwill, dann kann weder ich noch sonst irgendjemand ihn dazu zwingen!«
»Aber er will zu mir zurück«, protestierte ich. »Das weiß ich einfach! Wenn … wenn sich sein Geist irgendwie verirrt hat, dann müssen wir ihm helfen. Bitte, lassen Sie es uns wenigstens versuchen!«
»Also schön. Ich will versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.« Sie setzte sich auf Erics Bett, strich sanft über seine Wangen und seine Stirn. Dann nahm sie seine kraftlose linke Hand, legte ihre schlanken Finger darum und schloss die Augen.
Lange geschah nichts. Es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, was hinter Emilys krauser Stirn vorging. Auch Eric lag schlaff und teilnahmslos da wie immer.
Nach ein paar Minuten überkamen mich Zweifel, ob mir Emily nicht doch nur Theater vorspielte. Wie lange sollten wir denn noch hier sitzen und tatenlos zusehen? Maria erwiderte meinen fragenden Blick mit einem Schulterzucken.
|34|Ich streckte meine Hand aus und legte sie sanft auf Emilys.
Es war, als öffne sich ein Abgrund unter mir. Der Raum drehte sich um mich, dann umgab mich Schwärze. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, nicht mehr in dem Krankenzimmer zu sein, sondern auf einer weiten, leeren Ebene, bedeckt mit Steinen und grauem Sand, unter einem blassen, konturlosen Himmel.
Ich schrie auf vor Schreck.
Ich öffnete die Augen und begriff erst in diesem Moment, dass ich sie geschlossen hatte. Emily blickte mich an. Ihre Augen waren geweitet, ihr Gesicht totenbleich. »Tun Sie das nie wieder!«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Was … was war das?«, fragte ich.
Emilys Augen verengten sich. »Was haben Sie gesehen?«
»Da … da war so eine Art Wüste … Steine, Sand … alles war grau und leer …«
Emily stand auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.
»Nein, warten Sie! Emily, bitte!« Ich hatte keine Ahnung, was da gerade geschehen war, aber ich wusste, es war etwas Außergewöhnliches. Etwas, das mein nüchternes Weltbild zertrümmerte und meinen New Yorker Realismus, auf den ich so stolz war, im Handumdrehen wie Engstirnigkeit und Borniertheit erscheinen ließ.
Ich war mir sicher: Ich hatte für einen kurzen Moment gesehen, was Erics verirrter Verstand sah.
Ich hatte seine Seele berührt.
Ich fühlte mich plötzlich klein und bedeutungslos, war gleichzeitig überwältigt von dem, was ich soeben erlebt hatte. Es war, als sei alles, was ich bisher für die Realität gehalten hatte, nur eine Fassade, die etwas viel Größeres, viel Bedeutenderes verbarg. »Bitte, Emily, hilf mir!«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. »Bitte, bring mich noch einmal zu ihm!«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Das geht nicht! Sie haben offenbar ebenso wie ich die Gabe, Seelen zu berühren. Aber Sie haben keinerlei Erfahrung damit, und er ist Ihr Sohn. Niemand kann sagen, was geschieht, wenn Ihre Seelen sich so nahe kommen. Dafür kann ich die Verantwortung nicht übernehmen!«
Ich fasste Eric an beiden Händen, schloss die Augen und versuchte, das Bild heraufzubeschwören, das ich so deutlich gesehen hatte. Doch da war nichts. Ohne Emilys Hilfe konnte ich den Kontakt nicht herstellen.
Ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. »Anna, Ihr Sohn wird seinen Weg auch ohne uns finden, da bin ich sicher.«
Ich blickte auf, direkt in ihre sanften Augen, und sah, dass es eine Lüge war. Ich kämpfte die Tränen nieder. »Was haben Sie gesehen?«
»Dasselbe wie Sie: eine leere Ebene.«
»Was hat das zu bedeuten, Emily?«
»Ich weiß es nicht. Aber …«
»Was, aber?«
»Normalerweise ist es anders. Normalerweise sehe ich |36|Gesichter, manchmal diffuse Farben oder Formen, gelegentlich auch Erinnerungsfetzen, meist von schlimmen Ereignissen. Aber ich habe noch nie etwas so klar gesehen. Und niemals zuvor eine solche Landschaft. So … leer.«
Ich spürte, dass sie noch nicht alles gesagt hatte, also wartete ich.
»Er war nicht dort«, sagte sie nach einem Moment. »Ich habe überall gesucht, doch ich konnte Erics Seele nicht finden.«
»Aber ich kann es!« Ich hatte keine Ahnung, woher die plötzliche Gewissheit kam, aber sie war da. »Maria hat von einer Art Kompass gesprochen, mit dem die Seelen den Weg zum Licht finden, nicht wahr?«
Emily nickte langsam.
»Ich bin sicher, ich habe auch so einen Kompass. Ich glaube, jede Mutter hat ihn in Bezug auf ihre Kinder. Ich kann ihn bestimmt aufspüren. Sie müssen mich nur noch einmal an diesen Ort bringen!«
»So einfach ist das nicht«, sagte Emily. »Es ist schon sehr anstrengend, wenn man es allein macht. Zu zweit hab ich es noch nie probiert. Und wie ich schon sagte, es ist gefährlich.«
»Es ist mir egal, ob es gefährlich ist!«, rief ich. »Mein Sohn wird nie wieder aufwachen, wenn wir ihm nicht helfen!«
»Anna, es liegt nicht in unserer Hand, ob er …«
»Doch, das liegt es, verdammt noch mal!« Zorn durchströmte mich. Ich war Erics Rettung so nah, und nun kam mir diese merkwürdige Frau mit irgendwelchen esoterischen Bedenken.
Emily seufzte. »Also schön. Ich brauche jetzt etwas Ruhe, aber ich komme morgen wieder. Dann versuchen wir es noch einmal.«
|37|Durch den Schleier meiner Tränen erschien ihr Gesicht auf einmal strahlend schön. »Danke!«, sagte ich nur.
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ich träumte davon, auf einer leeren Ebene herumzuirren, die ich nie mehr verlassen konnte.
Als Eric fünf Jahre alt war, hatten wir einen kurzen Urlaub in Las Vegas gemacht. Das war, bevor Ralph mich verließ. Er hatte dort beruflich zu tun – er war Anwalt – und meinte, es sei eine gute Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Mich erschreckte die Stadt eher: all der falsche Glanz der Casinos und Showpaläste, die vielen einsamen Menschen, die verzweifelt versuchten, den Maschinen ein wenig Glück zu entreißen.
Ralph hatte viel zu tun und kaum Zeit für uns, und so waren Eric und ich meistens allein. Eric wollte unbedingt mal eine richtige Wüste sehen, also unternahmen wir einen Ausflug ins Death Valley. Die Landschaft sah aus, als habe jemand ein riesiges schmutziges Handtuch zerknüllt. Es war eindrucksvoll, aber ich hatte die ganze Zeit eine fast übermächtige Angst, der Wagen könne liegenbleiben und wir beide würden hier mitten in der Wüste verdursten. Trotz der Klimaanlage unseres Mietautos stand mir die ganze Zeit der Schweiß auf der Stirn. Als wir abends endlich zurück im Hotel waren, weinte ich beinahe vor Erleichterung. Ich mag Wüsten nicht besonders.
Am nächsten Morgen fuhr ich ins Krankenhaus und ging die meiste Zeit unruhig in Erics Zimmer umher. Ich war so nervös, dass ich ernsthaft überlegte, wieder mit dem Rauchen anzufangen, nur um irgendwas zu tun, bis Emily kam. Maria sah ich den ganzen Tag nicht.
Am Abend überkam mich die Angst, Emily werde ihr |38|Versprechen nicht halten. Ich ging ins Schwesternzimmer und fragte nach Maria. Ich erfuhr, dass sie sich krankgemeldet hatte, und war mir plötzlich sicher, dass auch Emily einen Vorwand finden würde, um nicht zu kommen. Ich setzte mich wieder an Erics Bett und war auf einmal sicher, dass sich sein entspanntes, leeres Gesicht nie wieder zu einem Lächeln verziehen würde. Mein Hals schnürte sich zusammen.
»Hallo, Anna.«
Ich fuhr herum. Ich hatte Emily nicht hereinkommen hören. »Du … du bist gekommen!«
Sie sah mich ernst an. »Ich hatte es doch versprochen.« Sie zog sich einen zweiten Stuhl heran.
Meine Hände zitterten vor Aufregung. »Was muss ich tun?«
»Bleib einfach ganz ruhig sitzen. Wir nehmen jeder eine seiner Hände und fassen uns an, so dass wir einen Kreis bilden. Und jetzt schließ die Augen.«
Ich gehorchte und konzentrierte mich auf das Bild der Ebene.
Nichts geschah.
Enttäuscht öffnete ich die Augen wieder. »Nicht so ungeduldig«, sagte sie mit mildem Tadel in der Stimme.
Wieder schloss ich die Lider und versuchte, die Vision vom Vortag heraufzubeschwören. Ich wusste noch genau, wie die Ebene ausgesehen hatte – selbst die Form der einzelnen Steine in meiner Nähe hatte ich klar vor Augen. Doch so sehr ich mich bemühte, das Bild wollte sich einfach nicht einstellen.
»Lass das«, sagte Emily leise. »Versuch nicht, es zu erzwingen. Denk einfach an gar nichts.«
Ich fragte mich, woher sie wusste, was ich dachte. Konnte sie tatsächlich meine Gedanken lesen? Kannst du |39|das, Emily?, dachte ich. Aber es gab keine Reaktion. Vermutlich hatte sie nur meine Anspannung gespürt.
Ich versuchte an gar nichts zu denken, wie Emily gesagt hatte. Aber das ist nicht so einfach. Ich behalf mir damit, dass ich mir einfach nur eine schwarze Wand vorstellte. Oder nein, eher einen schwarzen Vorhang. Einen Vorhang aus dünnem Stoff, schwarze Seide vielleicht. Ich konnte hindurchsehen – auf eine graue, steinige Ebene.
Ich streckte eine Hand aus, um den Vorhang zur Seite zu schieben, und saß wieder auf meinem Stuhl neben Erics Krankenbett. Ich begriff, dass ich den Kreis unterbrochen hatte.
Emily tadelte mich nicht. Sie ergriff einfach wieder meine Hand und schloss die Augen. Ich folgte ihrem Beispiel.
Es dauerte einen Moment, bis ich das Bild wieder sah. Doch durch den schwarzen Schleier war es verschwommen und undeutlich. Ich wartete, sorgsam darauf bedacht, nicht wieder denselben Fehler zu machen, es herbeizwingen zu wollen.
Doch die Ebene wurde nicht deutlicher.
Ich wurde ungeduldig. Es war zum Verzweifeln: Da war ich hier, in Erics Gedankenwelt, und dieser dämliche Schleier hielt mich davon ab, ihn zu finden! Doch was ich auch versuchte, ich konnte den transparenten Stoff nicht zum Verschwinden bringen.
»So hat es keinen Sinn«, sagte Emily nach einer Weile. »Lass es mich noch mal allein versuchen.«
Ich öffnete die Augen und ließ sie los. Wie gestern umklammerte sie Erics Hand und blieb reglos sitzen. Lange saßen wir so da, während langsam Verzweiflung in mir hochstieg. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und legte meine Hand auf ihre. Doch diesmal gab es kein schockartiges Erlebnis, kein verwirrendes Gefühl, an einen anderen |40|Ort versetzt zu werden. Alles, was ich erreichte, war, dass Emily seufzte und die Augen öffnete.
Ich erschrak. Ihre Augen waren blutunterlaufen.
»Es … es tut mir leid, Anna«, sagte sie. »Es geht nicht. Ich kann ihn einfach nicht finden!«
Nichts ist grausamer als aufkeimende Hoffnung, die jäh zerstört wird.
An diesem Abend fiel ich in eine tiefe Depression. Ich legte mich aufs Bett, ohne mich vorher auszuziehen, und starrte einfach ins Leere. Ich hatte nicht einmal genug Energie, um zu weinen.
Irgendwann schlief ich ein. Als ich erwachte, war es heller Tag. Der Wecker zeigte 11.24 Uhr. Normalerweise war ich um diese Zeit schon längst bei Eric, doch ihn dort liegen zu sehen, unerreichbar trotz Emilys erstaunlicher Fähigkeiten, war mehr, als ich heute verkraften konnte.
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