Glanz und Elend der Kurtisanen. Band Vier - Honoré de Balzac - E-Book

Glanz und Elend der Kurtisanen. Band Vier E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

„Glanz und Elend der Kurtisanen“ ist ein Roman von Honoré de Balzac, der zwischen 1838 und 1847 erschien. Er besteht aus vier Teilen und stellt die Abseite der Gesellschaft dar, indem er die Welt des Verbrechens und der Prostitution erkundet. Die erste Hälfte des Romans wird von der satanischen Figur des entflohenen Sträflings Vautrin (der sich Don Carlos Herrera nennt) beherrscht, der in seiner letzten Inkarnation eine Form der sozialen Erlösung erfährt; die zweite rückz vor allem die junge Prostituierte Esther in den Mittelpunkt, die durch ihre Liebe zu Lucien Chardon de Rubempré erlöst wird, dem willenlosen Dichter, dessen Ehrgeiz und Eitelkeit die tragischen Triebfedern des Romans sind. Lucien de Rubempré und Vautrin (als selbsternannter Abt Don Carlos Herrera) haben einen Pakt geschlossen, wonach Lucien in Paris Erfolg haben wird, wenn er sich bereit erklärt, Vautrins Anweisungen blindlings zu folgen. Die Kurtisane Esther van Gobseck macht Vautrin jedoch einen Strich durch die Rechnung, denn Lucien verliebt sich in sie und sie sich in ihn… Anstatt Lucien zu zwingen, sie zu verlassen, erlaubt Vautrin Lucien diese heimliche Affäre, nutzt sie aber auch aus. Vier Jahre lang bleibt Esther in einem Haus in Paris eingesperrt und geht nur nachts spazieren. Eines Nachts wird sie jedoch von dem steinreichen Bankier Baron de Nucingen entdeckt, der sich in sie verliebt. Als Vautrin merkt, dass Nucingen von Esther besessen ist, beschließt er, ihre Macht zu nutzen, um Lucien voranzubringen, indem er dem Baron so viel Geld wie möglich entlockt. Die Dinge laufen jedoch nicht so glatt, wie Vautrin es sich gewünscht hätte… Dies ist der vierte von insgesamt vier Bänden.

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Seitenzahl: 264

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Honoré de Balzac

 

 

Glanz und Elend der Kurtisanen

 

 

Roman

 

 

 

 

Band Vier

GLANZ UND ELEND DER KURTISANEN wurde zuerst im französischen Original (Splendeurs et misères des courtisanes) in vier Teilen zwischen 1838 und 1847 von Edmond Werdet in Paris veröffentlicht.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

BAND VIER

ISBN 978-3-96130-518-6

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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Honoré de Balzac

GLANZ UND ELEND DER KURTISANEN

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER

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GESAMTAUSGABE

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Glanz und Elend der Kurtisanen. Band Vier

Impressum

Band Vier

Vautrins letzte Verkörperung

Eine kleine Bitte

Die Reihe im Überblick

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Zu guter Letzt

BAND VIER

VAUTRINS LETZTE VERKÖRPERUNG

»Was gibt es, Magdalene?« fragte Frau Camusot, als sie ihr Zimmermädchen mit jener Miene eintreten sah, wie Dienstboten sie in kritischen Augenblicken anzunehmen verstehen. »Gnädige Frau,« erwiderte Magdalene, »der gnädige Herr kommt eben aus dem Palast; aber er macht ein so bestürztes Gesicht und er ist in einem solchen Zustand, daß die gnädige Frau vielleicht gut daran tun würde, ihn in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen.« »Hat er etwas gesagt?« fragte Frau Camusot. »Nein, gnädige Frau; aber ein solches Gesicht haben wir beim gnädigen Herrn noch nie gesehen; man könnte meinen, daß eine Krankheit ausbrechen will; er ist gelb, er scheint ganz außer Fassung zu sein, er …«

Frau Camusot stürzte, ohne das Ende des Satzes abzuwarten, zum Zimmer hinaus und eilte zu ihrem Gatten. Sie sah den Untersuchungsrichter mit von sich gestreckten Beinen in einem Sessel sitzen, den Kopf gegen die Rückenlehne gestützt; seine Hände hingen schlaff herab, sein Gesicht war bleich, die Augen stumpf, und es machte ganz den Eindruck, als wollte er in Ohnmacht fallen.

»Was hast du, mein Freund?« sagte die junge Frau entsetzt. »Ach, meine arme Amelie, es ist das verhängnisvollste Ereignis eingetreten … Ich zittere noch. Stelle dir vor, daß der Oberstaatsanwalt … nein, daß Frau von Sérizy … daß … Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …« »Fange mit dem Ende an! …« sagte Frau Camusot. »Nun also, in dem Augenblick, als Herr Popinot im Beratungszimmer der Ersten Kammer die letzte nötige Unterschrift unter das Urteil gesetzt hatte, das die Erhebung der Anklage auf Grund meines Berichts ablehnte und Lucien von Rubempré in Freiheit setzte … Kurz, alles war zu Ende, der Kanzlist trug das Konzept schon fort, ich glaubte, ich wäre diese Angelegenheit los! Da tritt der Gerichtspräsident ein, liest das Urteil durch und sagt mit kühl spöttischer Miene zu mir: ›Sie entlassen einen Toten; ich höre soeben von Herrn von Bonald, daß dieser junge Mann vor seinen natürlichen Richter getreten ist. Er ist einem Herzschlag erlegen …‹ Ich atmete auf, denn ich glaubte noch an einen Unfall. ›Wenn ich recht verstehe, Herr Präsident,‹ sagte Herr Popinot, ›so wird es sich um den Herzschlag Pichegrus handeln …‹ ›Meine Herren,‹ versetzte der Präsident mit ernster Miene, ›merken Sie sich, für die Außenwelt ist der junge Lucien von Rubempré infolge des Bruchs einer Pulsadergeschwulst gestorben.‹ Wir sahen uns alle an. ›Es sind in diese Angelegenheit‹, sagte der Präsident, ›große Persönlichkeiten verwickelt. Gott gebe in Ihrem Interesse, Herr Camusot, obgleich Sie nichts getan haben als Ihre Pflicht, daß Frau von Sérizy nach dem Schlag, den sie erhalten hat, nicht wahnsinnig bleibt! Man trägt sie eben fast tot davon. Ich bin unserm Oberstaatsanwalt in einem Zustand der Verzweiflung begegnet, der mir weh getan hat … Sie sind auf den unrechten Weg geraten, mein lieber Camusot!‹ fügte er hinzu, indem er mir ins Ohr flüsterte. Nein, meine liebe Freundin, als ich hinauskam, konnte ich kaum gehen. Mir zitterten die Beine so sehr, daß ich mich nicht in die Straße wagte, und ich bin wieder in mein Zimmer gegangen, um mich auszuruhen. Coquart, der die Akten dieser unseligen Untersuchung ordnete, sagte mir, eine schöne Dame habe die Conciergerie gestürmt, sie habe Lucien, in den sie rasend verliebt sei, das Leben retten wollen, und sei ohnmächtig geworden, als sie ihn am. Fenster der Pistole an seiner Krawatte erhängt sah. Der Gedanke, daß die Art, wie ich diesen unglücklichen jungen Mann, der übrigens – unter uns – vollkommen unschuldig war, verhört habe, ihn zum Selbstmord treiben konnte, verfolgt mich, seit ich den Palast verlassen habe, und ich bin noch immer einer Ohnmacht nahe …« »Nun, du wirst dich wohl gar für einen Mörder halten, weil sich ein Untersuchungsgefangener in seiner Zelle aufhängt, als du ihn freilassen willst? …« rief Frau Camusot. »Aber ein Untersuchungsrichter ist dann wie ein General, dem ein Pferd unterm Leib erschossen wird! … Das ist alles!« »Solche Vergleiche, meine Liebe, taugen bestenfalls für Scherze, und der Scherz ist hier nicht am Platze. In diesem Falle holt sich der Tote den Lebenden. Lucien nimmt unsere Hoffnungen mit in den Sarg.« »Wirklich?« fragte Frau Camusot mit beißender Ironie. »Ja, meine Laufbahn ist zu Ende. Ich werde mein Leben lang einfacher Richter am Seinetribunal bleiben. Herr von Granville war schon vor diesem verhängnisvollen Ausgang sehr unzufrieden mit der Wendung, die die Untersuchung nahm; daß er aber mit unserm Präsidenten gesprochen hat, beweist mir, daß ich, solange Herr von Granville Oberstaatsanwalt bleibt, niemals avancieren werde.«

Avancieren! Das ist das furchtbare Wort, das der Gedanke, der heutzutage den Richter zum Beamten macht.

Ehemals war der Richter von vornherein, was er werden konnte. Die drei oder vier Kammerpräsidentschaftsmützen genügten in jedem Parlament dem Ehrgeiz. Das Amt eines Rates genügte einem von Brosses wie einem Molé, zu Dijon wie zu Paris. Dieses Amt, das schon an sich ein Vermögen war, verlangte, um mit Würde getragen zu werden, wiederum ein großes Vermögen. In Paris konnten außerhalb des Parlaments die Leute im Amtskleid nur nach drei höheren Stellungen streben: nach dem der Generalkontrolle, dem Portefeuille oder dem Kanzlertalar. Unterhalb der Parlamente, in der niedrigen Sphäre, war schon ein Präsidialstellvertreter als Persönlichkeit groß genug, um glücklich zu sein, wenn er sein Leben lang auf seinem Sitz verblieb. Man vergleiche die Stellung eines Rates am zweitinstanzlichen Gericht in Paris im Jahre 1829, wo er statt allen Vermögens nur sein Gehalt hat, mit der Stellung eines Rates am Parlament von 1729. Der Unterschied ist groß! Heute, wo das Geld zur allgemeinen sozialen Bürgschaft geworden ist, entbindet man die Richter von der Bedingung, daß sie wie ehedem ein großes Vermögen besitzen; daher muß man es erleben, daß sie zugleich Deputierte, Pairs von Frankreich sind und Amt auf Amt türmen: sie sind Richter und Gesetzgeber in einer Person und borgen sich ihr Ansehen von andern Ämtern als denen, die ihnen ihren ganzen Glanz verleihen sollten.

Kurz, die Richter sinnen darauf, sich auszuzeichnen, um dann zu avancieren, wie man im Heer und in der Verwaltung avanciert.

Wenn dieser Gedanke die Unabhängigkeit des Richters nicht untergräbt, so ist er doch zu bekannt und zu natürlich, als daß nicht durch ihn der Richterstand in der öffentlichen Meinung sein Ansehen verlöre. Das vom Staat bezahlte Gehalt macht aus dem Priester und dem Richter einfache Beamte. Die zu ersteigenden Stufen entwickeln den Ehrgeiz; der Ehrgeiz erzeugt Willfährigkeit gegen die Macht; ferner stellt die moderne Gleichheitssucht den Gerichtsuntertanen und den Richter auf das gleiche Niveau der sozialen Stufenleiter. So sind die beiden Säulen jeder sozialen Ordnung, die Religion und die Justiz, im neunzehnten Jahrhundert geschwächt worden, und man behauptet, man schreite in allem fort!

»Und weshalb solltest du nicht avancieren?« fragte Amelie Camusot. Sie sah ihren Gatten mit spöttischer Miene an, denn sie fühlte, daß es nötig war, dem Mann, der der Träger ihres Ehrgeizes war und auf dem sie spielte wie auf einem Instrument, seine Energie zurückzugeben. »Weshalb verzweifeln?« fuhr sie fort, und zwar mit einer Geste, die ihre Gleichgültigkeit in betreff des Todes des Untersuchungsgefangenen trefflich malte. »Dieser Selbstmord wird die beiden Feindinnen Luciens, Frau d’Espard und ihre Cousine, die Gräfin du Châtelet, glücklich machen. Frau d’Espard steht sich vortrefflich mit dem Justizminister, und durch sie kannst du bei Seiner Gnaden eine Audienz erhalten; dann wirst du ihm das Geheimnis dieser Angelegenheit verraten; wenn aber der Justizminister für dich ist, was hast du da von deinem Präsidenten und dem Oberstaatsanwalt zu fürchten?« »Aber Herr und Frau von Sérizy!« rief der arme Richter aus. »Ich wiederhole dir, Frau von Sérizy ist wahnsinnig! Und wahnsinnig durch meine Schuld, wie man behauptet!« »Nun, wenn sie wahnsinnig ist, du Richter ohne Urteilskraft,« rief Frau Camusot lachend, »so kann sie dir nicht mehr schaden! Laß sehen, erzähle mir alle Einzelheiten des Tages.« »Mein Gott,« erwiderte Camusot, »in dem Augenblick, als ich diesen unglücklichen jungen Mann in die Beichte genommen und er erklärt hatte, daß dieser angebliche spanische Priester wirklich Jakob Collin ist, schickten mir die Herzogin von Maufrigneuse und Frau von Sérizy durch einen Kammerdiener ein Billet, in dem sie mich baten, ihn nicht zu verhören. Alles war geschehen …« »Aber hast du denn den Kopf verloren?« sagte Amelie. »Denn da du deines Kanzlisten sicher bist, konntest du Lucien doch zurückholen lassen, ihn geschickt beruhigen und dein Protokoll verbessern!« »Du bist wie Frau von Sérizy, du machst dich lustig über die Gerichte!« sagte Camusot, der nicht imstande war, über seinen Beruf zu lachen. »Frau von Sérizy hat mir meine Protokolle weggenommen und ins Feuer geworfen!« »Das nenne ich eine Frau! Bravo!« rief Frau Camusot. »Frau von Sérizy sagte mir, sie würde eher den Palast in die Luft sprengen, als zugeben, daß ein junger Mann, der ihre Gunst und die der Herzogin von Maufrigneuse besessen habe, sich neben einem Sträfling auf die Bänke des Schwurgerichts setzen müßte! …« »Aber Camusot,« sagte Amelie, die ein überlegenes Lächeln nicht unterdrücken konnte, »deine Stellung ist wundervoll …« »Ach ja, wundervoll!« »Du hast deine Pflicht getan …« »Unglücklicherweise; und dem jesuitischen Rat des Herrn von Granville zum Trotz, der mir auf dem Quai Malaquais begegnete …« »Heute morgen?« »Heute morgen!« »Wann?« »Um neun Uhr.« »O Camusot!« sagte Amelie, indem sie die gefalteten Hände rang, »und ich höre nicht auf, dir immer zu wiederholen, daß du auf alles achtgeben mußt … Mein Gott, das ist kein Mensch, das ist eine Steinkarre, die ich ziehe! Aber Camusot, dein Oberstaatsanwalt erwartete dich auf deinem Wege, er wird dir doch einen Rat gegeben haben!« »Aber ja …« »Und du hast ihn nicht verstanden! Wenn du taub bist, wirst du dein Leben lang Untersuchungsrichter bleiben, aber ohne Untersuchungen. Zeige doch wenigstens so viel Geist, mir jetzt zuzuhören!« sagte sie, indem sie ihren Gatten, der reden wollte, zum Schweigen brachte. »Du meinst, diese Angelegenheit sei zu Ende?« fragte Amelie. Camusot sah seine Frau mit jener Miene an, die die Bauern vor einem Marktschreier aufsetzen. »Wenn die Herzogin von Maufrigneuse und die Gräfin von Sérizy kompromittiert sind, mußt du sie alle beide zu Gönnerinnen haben,« fuhr Amelie fort. »Laß sehen! Frau d’Espard wird dir beim Justizminister eine Audienz verschaffen; du verrätst ihm das Geheimnis, das hier verborgen liegt, und er wird den König damit amüsieren; denn alle Fürsten sehen gern einmal die Rückseite des sozialen Gewebes, um die wirklichen Ursachen der Ereignisse kennen zu lernen, die das Publikum mit offenem Munde vorüberziehen sieht. Dann sind weder der Oberstaatsanwalt noch Herr von Sérizy länger zu fürchten …« »Welcher Schatz von einer Frau du bist!« rief der Richter, indem er wieder Mut faßte. »Schließlich habe ich Jakob Collin aufgestöbert; er soll mir vor dem Schwurgericht Rechenschaft ablegen, ich werde seine Verbrechen enthüllen. Ein solcher Prozeß ist ein Sieg in der Laufbahn eines Untersuchungsrichters …« »Camusot,« erwiderte Amelie, als sie sah, wie ihr Mann sich von der moralischen und physischen Niedergeschlagenheit erholte, in die ihn Lucien von Rubemprés Selbstmord geworfen hatte, »der Präsident hat dir eben gesagt, du wärst auf den falschen Weg geraten! … Du verläufst dich schon wieder, mein Freund!« Der Untersuchungsrichter blieb stehen und sah seine Frau verblüfft an. »Der König und der Justizminister sind vielleicht sehr froh, wenn sie jenes Geheimnis erfahren; und doch ärgern sie sich vielleicht zugleich darüber, wenn sie es erleben müssen, daß die Fürsprecher der liberalen Anschauungen so bedeutende Persönlichkeiten wie die Sérizys, die Maufrigneuses und die Grandlieus, kurz alle, die direkt oder indirekt in diesen Prozeß verwickelt sind, vor die Schranken der öffentlichen Meinung und des Schwurgerichts schleppen.« »Sie sind alle hineingelegt! … Ich habe sie fest!« rief Camusot. Und der Richter stand auf und ging durch sein Zimmer, wie Sganarelle auf dem Theater umhergeht, wenn er aus einer Falle zu entschlüpfen sucht. »Höre, Amelie!« fuhr er fort, indem er sich vor seiner Frau aufstellte, »mir fällt ein Umstand ein, der scheinbar winzig, aber in meiner Lage von ungeheurem Interesse ist. Stelle dir vor, meine liebe Freundin, daß dieser Jakob Collin ein Koloß an List, Verstellung und Verschlagenheit ist … ein Mensch von einer Tiefe … oh, er ist … wie soll ich sagen? … der Cromwell des Bagnos! Einem solchen Verbrecher bin ich noch nicht begegnet, er hat mich fast übertölpelt. Aber bei einer Kriminaluntersuchung hilft ein Fädchen, das vorüberstreicht, einem Knäuel auf die Spur, mit dem man sich durch das Labyrinth der düstersten Gewissen oder der dunkelsten Tatsachen hindurchfindet. Als Jakob Collin sah, daß ich in den Briefen blätterte, die in Lucien von Rubemprés Wohnung beschlagnahmt worden sind, warf der Schlingel einen Blick darauf, als wolle er wissen, ob sich nicht noch ein weiteres Bündel dabei befindet, und er ließ sich eine sichtliche Regung der Befriedigung entschlüpfen. Dieser Blick des Diebes, der einen Schatz abschätzt, diese Geste des Gefangenen, der sich sagt: ›Ich habe meine Waffen!‹ machten mir eine Welt von Dingen verständlich. Nur ihr Frauen könnt wie wir Richter und wie die Untersuchungsgefangenen ganze Szenen in einen Blick legen, der Betrügereien enthüllt, kompliziert wie Sicherheitsschlösser. Man sagt sich dann, weißt du, in einer Sekunde ganze Bände des Argwohns! Es ist furchtbar; in einem Augenzwinkern liegen Leben und Tod. Der Bursche hat noch andere Briefe in den Händen! sagte ich mir. Dann lenkten mich die tausend andern Einzelheiten der Angelegenheit ab. Ich habe diesen Zwischenfall vernachlässigt, denn ich glaubte, ich würde meinen Gefangenen zu konfrontieren haben und könne diesen Punkt der Untersuchung später aufklären. Aber sehen wir es als sicher an, daß Jakob Collin nach Art dieser Elenden die kompromittierendsten Briefe der Korrespondenz des schönen jungen Mannes an einem sichern Ort versteckt hat.« »Und du zitterst? Camusot, du wirst Präsident der zweitinstanzlichen Kammer, und schneller, als ich glaubte! …« rief Frau Camusot, deren Gesicht strahlte. »Laß sehen, du mußt dich so verhalten, daß du alle zufriedenstellst, denn die Angelegenheit wird so ernst, daß sie uns ruhig ›gestohlen‹ werden könnte! … Hat man nicht das Verfahren im Entmündigungsprozeß der Frau d’Espard gegen ihren Gatten Popinot aus den Händen genommen, um es dir anzuvertrauen?« sagte sie, um auf eine erstaunte Geste zu antworten, die Camusot machte. »Nun, kann nicht der Oberstaatsanwalt, der ein so lebhaftes Interesse an der Ehre des Herrn und der Frau von Sérizy nimmt, die ganze Angelegenheit von der zweitinstanzlichen Kammer übernehmen lassen, um einen ihm ergebenen königlichen Rat zu ernennen, damit er eine neue Voruntersuchung einleitet?« »Ah, meine Liebe, wo hast du deinen Strafprozeß studiert?« rief Camusot. »Du weißt alles, du bist mein Meister …« »Wie, du glaubst, Herr von Granville werde nicht morgen früh vor dem drohenden Plädoyer eines liberalen Advokaten erschrecken, den dieser Jakob Collin wohl wird zu finden wissen? Denn man wird ihm Geld dafür bieten, ihn verteidigen zu dürfen! … Diese Damen wissen ebensogut, um nicht zu sagen besser als du, in welcher Gefahr sie schweben; sie werden es dem Oberstaatsanwalt sagen; und schon sieht er diese Familien dicht an die Bank der Angeklagten gezerrt, da dieser Sträfling mit Lucien von Rubempré, dem Verlobten des Fräulein von Grandlieu, dem Liebhaber Esthers, dem ehemaligen Liebhaber der Herzogin von Maufrigneuse, dem Angebeteten der Frau von Sérizy, im Bunde lebte. Du mußt also in einer Weise vorgehen, daß du dir das Wohlwollen deines Oberstaatsanwalts, den Dank des Herrn von Sérizy und den der Marquise d’Espard und der Gräfin du Châtelet gewinnst, daß du die Empfehlung der Frau von Maufrigneuse verstärkst durch die des Hauses Grandlieu und daß dein Präsident dir Komplimente macht. Ich übernehme die Damen d’Espard, von Maufrigneuse und von Grandlieu. Du mußt morgen früh zum Oberstaatsanwalt gehen. Herr von Granville ist ein Mann, der nicht mit seiner Frau zusammen lebt; er hat einige zehn Jahre hindurch ein Fräulein von Bellefeuille zur Geliebten gehabt, die ihm uneheliche Kinder gab, nicht wahr? Nun also, dieser Richter ist kein Heiliger, er ist ein Mensch, wie alle andern auch; man kann ihn verführen, er gibt schon irgendwo eine Handhabe; man muß seine Schwäche entdecken, ihm schmeicheln; frag ihn um Rat, zeig ihm die Gefahren der Angelegenheit; kurz, versuche ihn mit dir zu kompromittieren, und du wirst …« »Nein, ich sollte die Spur deiner Schritte küssen!« sagte Camusot, indem er seine Frau unterbrach, sie um die Hüften faßte und ans Herz drückte. »Amelie, du rettest mich!« »Ich habe dich von Alençon nach Nantes geschleppt und von Nantes an den Gerichtshof der Seine,« erwiderte Amelie. »Nun sei ruhig! … Ich will, daß man mich in fünf Jahren Frau Präsidentin nennt; aber mein Liebling, denke doch immer gründlich nach, ehe du einen Entschluß fassest! Der Beruf eines Richters ist nicht der eines Feuerwehrmannes; deine Papiere stehen nie in Flammen, du hast Zeit zur Überlegung; deshalb sind Dummheiten in deiner Stellung unentschuldbar …« »Die Kraft meiner Stellung liegt einzig in der Identität des falschen spanischen Priesters mit Jakob Collin,« fuhr der Richter nach einer langen Pause fort. »Ist diese Identität einmal sicher festgestellt, so bleibt das, selbst wenn das Gericht zweiter Instanz den Prozeß übernehmen sollte, eine Tatsache, die kein Beamter beseitigen kann, sei er nun Richter oder Rat. Ich habe es dann wie die Kinder gemacht, die der Katze eine Schelle an den Schwanz binden; wo auch die Voruntersuchung indem Verfahren stattfinde, überall werden Jakob Collins Ketten rasseln.« »Bravo!« sagte Amelie. »Und der Oberstaatsanwalt wird sich lieber mit mir verständigen wollen, da ich allein dieses Damoklesschwert fortnehmen kann, das über dem Faubourg Saint-Germain hängt, als mit irgendeinem andern! … Aber du weißt nicht, wie schwer es ist, dieses sonderbare Resultat zu erreichen … Eben sind der Oberstaatsanwalt und ich noch in seinem Zimmer übereingekommen, Jakob Collin als das gelten zu lassen, wofür er sich ausgibt, als einen Stiftsherrn des Kapitels von Toledo, als Carlos Herrera; wir haben uns dahin geeinigt, ihn einfach als diplomatischen Gesandten anzuerkennen; zuzugeben, daß die spanische Gesandtschaft seine Freilassung verlangt. Auf Grund dieses Plans habe ich den Bericht erstattet, der Lucien von Rubempré in Freiheit setzt; ich habe die Protokolle neu aufgesetzt und meine Gefangenen weiß gewaschen wie Schnee. Morgen sollen Herr von Rastignac, Bianchon und ich weiß nicht, wer noch, mit dem angeblichen Stiftsherrn des königlichen Kapitels von Toledo konfrontiert werden; sie werden Jakob Collin, der vor zehn Jahren in einer bürgerlichen Pension, wo sie ihn unter dem Namen Vautrin gekannt haben, vor ihren Augen verhaftet wurde, nicht wiedererkennen.«

Es herrschte einen Augenblick Schweigen, währenddessen Frau Camusot überlegte. »Bist du sicher, daß dein Gefangener Jakob Collin ist?« fragte sie. »Ganz sicher,« erwiderte der Richter, »und der Oberstaatsanwalt ist es auch.« »Nun, versuche doch, ohne deine Katzenkrallen zu zeigen, im Justizpalast einen Eklat herbeizuführen! Wenn der Mensch noch in Einzelgewahrsam ist, so suche sofort den Direktor der Conciergerie auf und richte es so ein, daß der Sträfling dort öffentlich erkannt wird. Statt es wie die Kinder zu machen, ahme vielmehr die Polizeiminister in den absolut regierten Ländern nach, die eine Verschwörung gegen den Herrscher erfinden, um sich das Verdienst zu erwerben, daß sie sie vereitelt haben; und um sich notwendig zu machen, bringe drei Familien in Gefahr, damit dir der Ruhm zufällt, sie gerettet zu haben!« »Ah, welch ein Glück!« rief Camusot. »Mir ist der Kopf so wirr, daß ich diesen Umstand ganz vergaß. Ich habe Herrn Gault, dem Direktor der Conciergerie, durch Coquart den Befehl übermittelt, Jakob Collin in die Pistole zu überführen. Nun hat man durch Bibi-Lupin, Jakob Collins Feind, drei Verbrecher, die ihn kennen, aus der Force in die Conciergerie bringen lassen; und wenn er morgen in den Gefängnishof hinunterkommt, so macht man sich auf furchtbare Szenen gefaßt …« »Und weshalb?« »Jakob Collin, meine Liebe, hat das Vermögen der Bagnos in Verwahrung; es beläuft sich auf beträchtliche Summen, und man sagt, er habe sie vergeudet, um den Luxus des verstorbenen Lucien zu bestreiten; jetzt wird man Rechenschaft von ihm verlangen. Bibi-Lupin behauptet, es werde einen Aufruhr geben, der ein Einschreiten der Aufseher nötig machen werde; dann ist das Geheimnis entdeckt. Es geht dabei um Jakob Collins Leben. Wenn ich mich früh in den Palast begebe, kann ich gleich ein Protokoll über die Identität aufnehmen.« »Ach, wenn seine Gläubiger dich von ihm befreiten! Da würde man dich als einen höchst geschickten Menschen ansehen! Geh nicht zu Herrn von Granville; erwarte ihn mit dieser furchtbaren Waffe in seinem Sitzungszimmer! Das ist eine geladene Kanone, die auf die drei wichtigsten Familien des Hofes und der Pairschaft gerichtet ist. Sei verwegen, schlage Herrn von Granville vor, dich Jakob Collins zu entledigen, indem du ihn in die Force schaffen läßt, wo die Sträflinge sich ihrer Denunzianten zu entledigen wissen. Ich selbst werde zur Herzogin von Maufrigneuse gehen, die mich zu den Grandlieus führen muß. Vielleicht kann ich auch Herrn von Sérizy sprechen. Verlaß dich darauf, daß ich überall Alarm schlage. Schreibe mir vor allem ein vereinbartes Wort, damit ich weiß, ob der spanische Priester rechtskräftig als Jakob Collin erkannt worden ist. Richte dich so ein, daß du den Palast um zwei Uhr verlassen kannst; ich habe dir dann eine Audienz beim Justizminister erwirkt: vielleicht wird er bei der Marquise d’Espard sein.«

Camusot stand wie angewurzelt da in seiner Bewunderung, die der schlauen Amelie ein Lächeln entlockte. »Komm zu Tisch und sei lustig,« sagte sie zum Schluß. »Sieh, wir sind erst zwei Jahre in Paris, und jetzt bist du auf dem besten Wege, vor Jahresablauf königlicher Rat zu werden … Von da, mein Liebling, bis zur Präsidentschaft einer Kammer des zweitinstanzlichen Gerichts bleibt dann nur noch ein kleiner Abstand, den ein Dienst in einer politischen Angelegenheit leicht überbrücken wird.«

Diese geheime Überlegung zeigt, bis zu welchem Grade die Handlungen und die geringsten Worte Jakob Collins, des letzten, der von den Hauptcharakteren dieser Studie noch übrig war, die Ehre der Familien angingen, in deren Schoß er seinen verstorbenen Schützling eingeführt hatte.

Luciens Tod und der Einbruch der Gräfin von Sérizy in die Conciergerie hatten im Räderwerk der Maschine eine solche Verwirrung angerichtet, daß der Direktor vergessen hatte, die Geheimhaft des angeblichen spanischen Priesters aufzuheben.

Obgleich es in den Gerichtsannalen mehr als ein Beispiel dafür gibt, so war doch der Tod eines Untersuchungsgefangenen während der Voruntersuchung selten genug, um Aufseher, Kanzlisten und Direktor aus ihrer Amtsruhe zu bringen. Sie freilich beschäftigte es weniger, daß dieser schöne junge Mann so plötzlich abgeschieden war, als daß eine Frau der Gesellschaft mit ihren zarten Händen die schmiedeeiserne Stange des ersten Gitters im Portal hatte zerbrechen können. Daher sammelten sich denn auch, sowie der Oberstaatsanwalt und der Graf Octavius von Bauvan mit der Gattin des Herrn von Sérizy in dessen Wagen davongefahren waren, Direktor, Kanzlist und Aufseher im Portal; sie ließen Herrn Lebrun, den Gefängnisarzt, hinaus, den man gerufen hatte, um den Tod Luciens festzustellen und sich mit dem Totenarzt des Stadtkreises zu verständigen, in dem dieser unglückliche junge Mann gelebt hatte.

Den ›Totenarzt‹ nennt man in Paris den Arzt, der in jeder Bürgermeisterei angestellt ist, um die Todesfälle zu kontrollieren und die Todesursachen festzustellen.

Mit jenem raschen Blick, der ihn auszeichnete, hatte Herr von Granville erkannt, daß es im Interesse der Ehre aller kompromittierten Familien nötig war, den Totenschein Luciens in der Bürgermeisterei ausstellen zu lassen, zu der der Quai Malaquais, wo der Verstorbene wohnte, gehört; man sollte ihn aus seiner Wohnung in die Kirche Saint-Germain des Prés überführen, wo der Leichendienst stattfinden mußte. Herr von Chargebœuf, der Sekretär des Herrn von Granville, hatte, als er entsandt wurde, seine Befehle in diesem Sinne erhalten. Die Überführung Luciens sollte während der Nacht vorgenommen werden. Der junge Sekretär war beauftragt, sich sofort mit der Bürgermeisterei, dem Pfarramt und dem Begräbnisunternehmer ins Einvernehmen zu setzen. So war Lucien für die Welt in seinem Hause als freier Mann gestorben; sein Leichenzug sollte von seinem Hause ausgehen und seine Freunde für die Zeremonie in seine Wohnung geladen werden.

In dem Augenblick also, in dem Camusot sich ruhigen Geistes mit seiner ehrgeizigen Hälfte zu Tisch setzte, standen der Direktor der Conciergerie und Herr Lebrun, der Gefängnisarzt, vor dem Portal und beklagten die Zerbrechlichkeit der Eisenstangen und die Kraft verliebter Frauen.

»Man ahnt nicht,« sagte der Doktor zu Herrn Gault, als er ihn verließ, »welche Nervenkraft in dem von der Leidenschaft überreizten Menschen schlummert! Die Dynamik und die Mathematik haben keine Zeichen und Gleichungen, um diese Kraft zu berechnen. Sehen Sie, gestern war ich noch Zeuge eines Experiments, vor dem ich erzitterte und das mir die furchtbare physische Kraft, die diese kleine Dame eben entfaltet hat, erklärt.« »Das müssen Sie mir erzählen,« sagte Herr Gault, »ich habe nämlich die Schwäche, daß ich mich für den Magnetismus interessiere; ich glaube nicht daran, aber er macht mich unruhig.« »Ein Arzt, der zugleich Magnetiseur ist, denn es gibt auch unter uns Leute, die an den Magnetismus glauben,« fuhr der Doktor Lebrun fort, »schlug mir vor, eine Erscheinung, die er mir schilderte und an der ich zweifelte, an mir selbst zu probieren. Da ich begierig war, am eigenen Leibe eine jener merkwürdigen Nervenkrisen zu erleben, mit denen man die Existenz des Magnetismus beweist, so willigte ich ein. Die Sache ist die. Ich möchte wohl wissen, was unsere Akademie der Heilkunde sagen würde, wenn man nacheinander alle Mitglieder diesem Beweis unterwürfe, der dem Unglauben keinen Ausweg mehr läßt. Mein alter Freund … Dieser Arzt«, sagte der Doktor Lebrun, indem er eine Parenthese einschaltete, »ist ein Greis, der seit Mesmer wegen seiner Ansichten von der Fakultät verfolgt wird. Er ist heute der Patriarch der Lehre vom tierischen Magnetismus. Ich bin gewissermaßen ein Sohn des guten Mannes, ich verdanke ihm meine Stellung. Der alte und ehrwürdige Bouvard also schlug mir vor, mir zu beweisen, daß die vom Magnetiseur in Wirksamkeit gebrachte Kraft zwar nicht unbegrenzt sei, denn der Mensch ist den Gesetzen der Endlichkeit unterworfen, aber daß sie wie die Naturkräfte wirke, deren absolute Ursprünge uns verborgen sind. ›Wenn du also‹, sagte er, ›dein Handgelenk dem Griff einer Somnambule überlassen willst, die dich in wachem Zustand nicht über eine gewisse abschätzbare Kraft hinaus drücken könnte, so wirst du erkennen, daß ihre Finger in dem so dummerweise somnambul genannten Zustand die Kraft haben, wie eine Blechschere in der Hand eines Schlossers zu wirken.‹ Nun, Herr Direktor, als ich dem Griff der Frau mein Handgelenk hinhielt – sie war nicht eingeschläfert, denn diesen Ausdruck verwirft Bouvard, sondern ›isoliert‹ – und als der Greis ihr befohlen hatte, mir mit aller Kraft das Handgelenk zu drücken, da bat ich in dem Augenblick, als mir das Blut aus den Fingerspitzen spritzen wollte, um Einhalt. Da! Sehen Sie sich das Armband an, das ich länger als drei Monate tragen werde.« »Teufel!« sagte Herr Gault, indem er den blutunterlaufenen Ring ansah, der dem einer Brandstelle glich. »Mein lieber Gault, hätte man mir das Fleisch in einen Eisenring gelegt, den ein Schlosser mit Hilfe einer Schraube verengt hätte, ich hätte dieses metallene Armband nicht so schmerzhaft gefühlt, wie die Finger dieser Frau; ihr Griff war wie aus unbiegsamem Stahl, und ich bin überzeugt, daß sie mir hätte die Knochen zerdrücken und die Hand vom Arm trennen können. Dieser Druck, der erst unmerklich begann, steigerte sich unablässig, indem immer ein neuer Druck den alten verstärkte; kurz, eine Presse hätte sich nicht besser benehmen können als diese Hand, die in ein Folterwerkzeug verwandelt war. Es scheint mir also bewiesen, daß der Mensch unter der Herrschaft der Leidenschaft, die den auf einen Punkt gesammelten und zu einer unberechenbaren Gewalt der lebendigen Kraft gesteigerten Willen bedeutet, wie es übrigens bei allen Arten der elektrischen Kraft ist, seine ganze vitale Kraft, sei es zum Angriff, sei es zum Widerstand, in das eine oder andere seiner Organe legen kann … Diese kleine Dame hatte unter dem Druck ihrer Verzweiflung ihre vitale Kraft in die Hände gejagt.«

»Es gehört verteufelt viel Kraft dazu, um eine schmiedeeiserne Stange zu zerbrechen …« sagte der Oberaufseher mit nickendem Kopfe. »Es war eine brüchige Stelle vorhanden,« bemerkte Herr Gault. »Ich«, fuhr der Arzt fort, »wage der Nervenkraft keine Grenzen mehr anzuweisen. Es ist übrigens bei den Müttern ebenso; um ihr Kind zu retten, magnetisieren sie Löwen, sie laufen auf Gesimsen, wo sich kaum Katzen halten könnten, in ein brennendes Haus, und ertragen die Qualen mancher Entbindungen. Da liegt auch das Geheimnis der Attentate, durch die manche Gefangene und Sträflinge ihre Freiheit zurückgewinnen wollen. Man kennt die Tragweite der vitalen Kräfte noch nicht, sie hängen mit den Naturkräften selbst zusammen, und wir schöpfen sie aus unbekannten Reservoiren.«