Glattauer-Compilation "Zwei Seiten der Liebe" - Daniel Glattauer - E-Book

Glattauer-Compilation "Zwei Seiten der Liebe" E-Book

Daniel Glattauer

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Beschreibung

Es sind immer zwei Seiten der Liebe, die Daniel Glattauer in seinen Romanen "Gut gegen Nordwind", "Alle sieben Wellen" und "Ewig Dein" beschreibt. Emmi und Leo lernen sich per E-Mail kennen und - ganz unerwartet - lieben. Aber wollen sie sich auch wirklich von Angesicht zu Angesicht treffen? Oder Judith und Hannes, die sich zufällig im Supermarkt kennen lernen und näherkommen. Wollen beide dasselbe? Wie viel Nähe ist schön und gut? Nicht immer ist das, was einer will, auch das, was sich der andere vom Leben erwartet. Und weil Glattauer so schön darüber schreiben kann, hat Christine Westermann dem Bestsellerautor ein paar ganz persönliche Fragen zum Thema Liebe gestellt.

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Deuticke eBook

Daniel Glattauer

Zwei Seiten der Liebe

Gut gegen Nordwind/

Alle sieben Wellen/

Ewig Dein/

Interview mit Daniel Glattauer

Deuticke

ISBN 978-3-552-06192-7

Alle Rechte vorbehalten

Zwei Seiten der Liebe. Drei Romane und mehr © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Gut gegen Nordwind © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien

2006

Alle sieben Wellen © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien

2009

Ewig Dein © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Christine Westermann: Fragen an Daniel Glattauer © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2011

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Daniel Glattauer

GUT GEGEN NORDWIND

Roman

Deuticke

KAPITEL EINS

15. Jänner

Betreff: Abbestellung

Ich möchte bitte mein Abonnement kündigen. Geht das auf diesem Wege? Freundliche Grüße, E. Rothner.

18 Tage später

Betreff: Abbestellung

Ich will mein Abonnement kündigen. Ist das per E-Mail möglich? Ich bitte um kurze Antwort.

Freundliche Grüße, E. Rothner.

33 Tage später

Betreff: Abbestellung

Sehr geehrte Damen und Herren vom »Like«-Verlag, sollte Ihr beharrliches Ignorieren meiner Versuche, ein Abonnement abzubestellen, den Zweck haben, weitere Hefte Ihres im Niveau leider stetig sinkenden Produkts absetzen zu können, muss ich Ihnen leider mitteilen: Ich zahle nichts mehr!

Freundliche Grüße, E. Rothner.

Acht Minuten später

AW:

Sie sind bei mir falsch. Ich bin privat. Ich habe: [email protected]. Sie wollen zu: [email protected]. Sie sind schon der Dritte, der bei mir abbestellen will. Das Heft muss wirklich schlecht geworden sein.

Fünf Minuten später

RE:

Oh, Verzeihung! Und danke für die Aufklärung. Grüße, E. R.

Neun Monate später

Kein Betreff

Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Emmi Rothner.

Zwei Minuten später

AW:

Liebe Emmi Rothner, wir kennen uns zwar fast noch weniger als überhaupt nicht. Ich danke Ihnen dennoch für Ihre herzliche und überaus originelle Massenmail! Sie müssen wissen: Ich liebe Massenmails an eine Masse, der ich nicht angehöre. Mfg, Leo Leike.

18 Minuten später

RE:

Verzeihen Sie die schriftliche Belästigung, Herr Mfg Leike. Sie sind mir irrtümlich in meine Kundenkartei gerutscht, weil ich vor einigen Monaten ein Abonnement abbestellen wollte und versehentlich Ihre E-Mail-Adresse erwischt hatte. Ich werde Sie sofort löschen.

PS: Wenn Ihnen eine originellere Formulierung einfällt, jemandem »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« zu wünschen, als »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr«, dann teilen Sie mir diese gerne mit. Bis dahin: Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr! E. Rothner.

Sechs Minuten später

AW:

Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Fest und freue mich für Sie, dass Ihnen ein Jahr bevorsteht, das zu Ihren achtzig besten zählen wird. Und sollten Sie zwischendurch schlechte Tage abonniert haben, bestellen Sie sie ruhig – irrtümlich – bei mir ab. Leo Leike.

Drei Minuten später

RE:

Bin beeindruckt! Lg, E. R.

38 Tage später

Betreff: Kein Euro!

Werte »Like«-Verlagsleitung, ich habe mich von Ihrem Magazin dreimal schriftlich und zweimal telefonisch (bei einer gewissen Frau Hahn) getrennt. Wenn Sie mir die Zeitung dennoch weiter schicken, so betrachte ich das als Ihr Privatvergnügen. Den soeben zugesandten Zahlschein in der Höhe von 186 Euro behalte ich gerne als Souvenir, um mich auch dann noch an »Like« zu erinnern, wenn ich endlich keine Ausgaben mehr zugestellt bekomme. Rechnen Sie aber bitte nicht damit, dass ich auch nur einen Euro einzahlen werde. Hochachtungsvoll, E. Rothner.

Zwei Stunden später

AW:

Liebe Frau Rothner, machen Sie das absichtlich? Oder haben Sie schlechte Tage abonniert? Mfg, Leo Leike.

15 Minuten später

RE:

Lieber Herr Leike, das ist mir jetzt wirklich überaus peinlich. Ich habe leider einen chronischen »Ei«-Fehler, also eigentlich einen »E«-vor-»I«-Fehler. Wenn ich schnell schreibe, und es soll ein »I« folgen, rutscht mir immer wieder ein »E« hinein. Es ist so, dass sich da meine beiden Mittelfingerkuppen auf der Tastatur bekriegen. Die linke will immer schneller als die rechte sein. Ich bin nämlich eine gebürtige Linkshänderin, die in der Schule auf rechts umgepolt wurde. Das hat mir die Linke bis heute nicht verziehen. Immer schiebt sie mit der Mittelfingerkuppe ein »E« hinein, bevor die Rechte ein »I« setzen kann. Verzeihen Sie die Belästigung, kommt (wahrscheinlich) nicht wieder vor. Schönen Abend noch, E. Rothner.

Vier Minuten später

AW:

Liebe Frau Rothner, darf ich Ihnen eine Frage stellen? Und hier noch eine zweite: Wie lange haben Sie für Ihre E-Mail mit der Darlegung Ihres »Ei«-Fehlers gebraucht? Lg, Leo Leike.

Drei Minuten später

RE:

Zwei Fragen zurück: Wie lange schätzen Sie? Und warum fragen Sie?

Acht Minuten später

AW:

Ich schätze, Sie haben nicht länger als zwanzig Sekunden dafür gebraucht. Für diesen Fall gratuliere ich Ihnen: In der kurzen Zeit ist Ihnen eine tadellose Mitteilung gelungen. Sie hat mich zum Schmunzeln gebracht. Und das schafft heute Abend sonst wohl nichts und niemand mehr. Auf Ihre zweite Frage, warum ich frage: Ich bin beruflich derzeit auch mit der Sprache von E-Mails befasst. Und nun noch einmal meine Frage: Nicht länger als zwanzig Sekunden, liege ich richtig?

Drei Minuten später

RE:

Soso, Sie sind beruflich mit E-Mails befasst. Klingt spannend, allerdings fühle ich mich jetzt ein bisschen wie eine Testperson. Aber egal. Haben Sie eigentlich eine Homepage? Wenn nein, wollen Sie eine? Wenn ja, wollen Sie eine schönere? Ich bin nämlich beruflich mit Homepages befasst. (Bis hierher habe ich exakt zehn Sekunden gebraucht, ich habe es gestoppt, war aber ein Berufsgespräch, das geht immer flott.)

Bei meiner banalen E-Mail mit dem »E«-vor-»I«-Fehler haben Sie sich leider gründlich verschätzt. Das hat mir sicher gute drei Minuten meiner Lebenszeit gestohlen. Na ja, weiß man, wofür es gut war? Nun würde mich aber doch noch eines interessieren:

Wieso haben Sie angenommen, dass ich für meine »E«-vor»I«-Fehler-Mail nur zwanzig Sekunden gebraucht habe? Und bevor ich Sie endgültig für immer in Ruhe lasse (außer, die vom Like-Verlag schicken mir wieder einen Zahlschein), interessiert mich noch etwas. Sie schreiben oben: »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Und hier noch eine zweite: Wie lange haben Sie ... usw. ...?« Daran anschließend habe ich zwei Fragen. Erstens: Wie lange haben Sie für den Gag gebraucht? Zweitens: Ist das Ihr Humor?

Eineinhalb Stunden später

AW:

Liebe unbekannte Frau Rothner, ich antworte Ihnen morgen. Ich schalte jetzt meinen Computer ab. Guten Abend, gute Nacht, je nachdem. Leo Leike.

Vier Tage später

Betreff: Offene Fragen

Liebe Frau Rothner, verzeihen Sie, dass ich mich jetzt erst melde, bei mir geht es momentan ein wenig turbulent zu. Sie wollten wissen, wieso ich fälschlicherweise angenommen hatte, dass Sie für Ihre Ausführungen über den »Ei«-Fehler nicht länger als zwanzig Sekunden benötigt haben. Nun, Ihre E-Mails lesen sich wie »heruntergesprudelt«, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben darf. Ich hätte schwören können, dass Sie eine Schnellsprecherin und Schnellschreiberin sind, eine quirlige Person, der die Abläufe des Alltags niemals rasch genug vonstatten gehen können. Wenn ich Ihre E-Mails lese, dann kann ich darin keine Pausen erkennen. Die kommen mir im Ton und Tempo antriebsstark, atemlos, energievoll, flott, ja sogar ein wenig aufgeregt vor. So wie Sie schreibt niemand mit niedrigem Blutdruck. Mir scheint, Ihre spontanen Gedanken fließen ungebremst in die Texte ein. Und dabei zeichnet Sie Sprachsicherheit aus, ein gewandter, stark pointierter Umgang mit Worten. Wenn Sie nun aber erklären, dass Sie für Ihre »Ei«-Mail länger als drei Minuten gebraucht haben, dann dürfte ich doch ein falsches Bild von Ihnen entworfen haben.

Sie haben mich bedauerlicherweise nach meinem Humor gefragt. Das ist ein trauriges Kapitel. Um humorvoll sein zu können, muss man wenigstens einen Hauch von Witz an sich selbst erkennen. Ehrlich gesagt: Da erkenne ich derzeit nichts, ich fühle mich absolut witzlos. Wenn ich auf die vergangenen Tage und Wochen zurückblicke, vergeht mir das Lachen. Aber das ist meine persönliche Geschichte und hat hier nichts verloren. Danke jedenfalls für Ihre erfrischende Art. Es war überaus angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten. Ich glaube, die Fragen sind nun alle so recht und schlecht beantwortet. Wenn Sie sich zufällig wieder auf meine Adresse verlieren, freue ich mich. Nur bitte: Bestellen Sie endlich Ihr Like-Abonnement ab, das nervt schon ein wenig. Oder soll ich’s tun? Liebe Grüße, Leo Leike.

40 Minuten später

AW:

Lieber Herr Leike, ich will Ihnen was gestehen: Ich habe für meine »E«-vor-»I«-Mail wirklich nicht länger als zwanzig Sekunden gebraucht. Ich habe mich nur geärgert, dass Sie mich so eingeschätzt haben, dass ich E-Mails einfach so hinfetze. Sie haben zwar Recht, aber Sie hatten kein Recht, das vorher schon zu wissen. Also gut: Auch wenn Sie (derzeit) keinen Humor haben, bei E-Mails kennen Sie sich offenbar ganz gut aus. Hat mir imponiert, wie Sie mich spontan durchschaut haben! Sind Sie Germanistikprofessor? Liebe Grüße, Emmi »die Quirlige« Rothner.

18 Tage später

Betreff: Hallo

Hallo, Herr Leike, ich wollte Ihnen nur sagen, dass die von »Like« mir keine Hefte mehr zuschicken. Haben Sie interveniert? Sie könnten sich übrigens auch einmal melden. Ich weiß zum Beispiel noch immer nicht, ob Sie Professor sind. Google kennt Sie jedenfalls nicht oder versteht es, Sie gut zu verstecken.

Und, ist es um Ihren Humor schon besser bestellt? Immerhin ist ja Fasching. Da haben Sie praktisch keine Konkurrenz. Liebe Grüße, Emmi Rothner.

Zwei Stunden später

AW:

Liebe Frau Rothner, schön, dass Sie mir schreiben, ich habe Sie schon vermisst. Ich war bereits knapp dran, mir ein Like-Abonnement zuzulegen. (Vorsicht, aufkeimender Humor!) Und Sie haben mich tatsächlich per »Google« gesucht? Das finde ich überaus schmeichelhaft. Dass ich für Sie ein »Professor« sein könnte, gefällt mir, ehrlich gestanden, eher weniger. Sie halten mich für einen alten Sack, stimmt’s? Steif, pedantisch, besserwisserisch. Nun, ich werde mich nicht krampfhaft bemühen, Ihnen das Gegenteil zu beweisen, sonst wird es peinlich. Vermutlich schreibe ich derzeit einfach älter, als ich bin. Und, mein Verdacht: Sie schreiben jünger, als Sie sind. Ich bin übrigens Kommunikationsberater und Uni-Assistent für Sprachpsychologie. Wir arbeiten gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und – der noch wesentlich interessantere Teil – über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen. Deshalb neige ich ein wenig zum Fachsimpeln, ich werde mich aber künftig zurückhalten, das verspreche ich Ihnen. Dann überstehen Sie einmal die Faschingsfeierlichkeiten gut! Wie ich Sie einschätze, haben Sie sich bestimmt ein schönes Kontingent an Pappnasen und Tröten zugelegt. :-)

Alles Liebe, Leo Leike.

22 Minuten später

RE:

Lieber Herr Sprachpsychologe, jetzt teste ich Sie einmal: Was glauben Sie wohl, welcher Ihrer soeben erhaltenen Sätze für mich der interessanteste war, so interessant, dass ich Ihnen gleich eine Frage dazu stellen müsste (würde ich Sie nicht vorher testen)?

Und hier noch ein guter Tipp, Ihren Humor betreffend: Ihren Satz »Ich war bereits knapp dran, mir ein Like-Abonnement zuzulegen« habe ich als zur Hoffung Anlass gebend empfunden! Mit Ihrer Zusatzbemerkung »(Vorsicht, aufkeimender Humor)« haben Sie leider wieder alles verpatzt: Einfach weglassen! Und auch die Sache mit den Pappnasen und Tröten fand ich lustig. Wir haben offenbar den gleichen Nicht-Humor. Trauen Sie mir aber ruhig zu, Ihre Ironie zu erkennen und verzichten Sie auf den Smiley! Alles Liebe, ich find es echt angenehm, mit Ihnen zu plaudern. Emmi Rothner.

Zehn Minuten später

AW:

Liebe Emmi Rothner, danke für Ihre Humortipps. Sie werden am Ende noch einen lustigen Mann aus mir machen. Noch mehr danke ich für den Test! Er gibt mir Gelegenheit Ihnen zu zeigen, dass ich doch (noch) nicht der Typ »alter selbstherrlicher Professor« bin. Wäre ich es, dann hätte ich vermutet: Der interessanteste Satz müsste für Sie »Wir arbeiten gerade an einer Studie ... über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen« gewesen sein. So aber bin ich sicher. Am meisten interessiert Sie: »Und, mein Verdacht: Sie schreiben jünger als Sie sind.« Daraus ergibt sich für Sie zwingend die Frage: Woran glaubt der das zu erkennen? Und in weiterer Folge: Für wie alt hält er mich eigentlich? Liege ich richtig?

Acht Minuten später

RE:

Leo Leike, Sie sind ja ein Teufelskerl!!! So, und jetzt lassen Sie sich gute Argumente einfallen, um mir zu erklären, warum ich älter sein müsste als ich schreibe. Oder noch präziser: Wie alt schreibe ich? Wie alt bin ich? Warum? – Wenn Sie diese Aufgaben gelöst haben, dann verraten Sie mir, welche Schuhgröße ich habe. Alles Liebe, Emmi. Macht echt Spaß mit Ihnen.

45 Minuten später

AW:

Sie schreiben wie 30. Aber Sie sind um die 40, sagen wir: 42. Woran ich es zu erkennen glaube? – Eine 30-Jährige liest nicht regelmäßig »Like«. Das Durchschnittsalter einer »Like«-Abonnentin beträgt etwa 50 Jahre. Sie sind aber jünger, denn beruflich beschäftigen Sie sich mit Homepages, da könnten Sie also wieder 30 und sogar deutlich darunter sein. Allerdings schickt keine 30-Jährige eine Massenmail an Kunden, um ihnen »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« zu wünschen. Und schließlich: Sie heißen Emmi, also Emma. Ich kenne drei Emmas, alle sind älter als 40. Mit 30 heißt man nicht Emma. Emma heißt man erst wieder unter 20, aber unter 20 sind Sie nicht, sonst würden Sie Wörter wie »cool«, »spacig«, »geil«, »elementar«, »heavy« und Ähnliches verwenden. Außerdem würden Sie dann weder mit großen Anfangsbuchstaben noch in vollständigen Sätzen schreiben. Und überhaupt hätten Sie Besseres zu tun, als sich mit einem humorlosen vermeintlichen Professor zu unterhalten und dabei interessant zu finden, wie jung oder alt er Sie einschätzt. Noch was zu »Emmi«: Heißt man nun Emma und schreibt man jünger als man ist, zum Beispiel weil man sich deutlich jünger fühlt, als man ist, nennt man sich nicht Emma, sondern Emmi. Fazit, liebe Emmi Rothner: Sie schreiben wie 30, Sie sind 42. Stimmt’s? Sie haben 36er Schuhgröße. Sie sind klein, zierlich und quirlig, haben kurze dunkle Haare. Und Sie sprudeln, wenn Sie reden. Stimmt’s? Guten Abend, Leo Leike.

Am nächsten Tag

Betreff: ???

Liebe Frau Rothner, sind Sie beleidigt? Schauen Sie, ich kenne Sie ja nicht. Wie soll ich wissen, wie alt Sie sind? Vielleicht sind Sie 20 oder 60. Vielleicht sind Sie 1,90 groß und 100 Kilo schwer. Vielleicht haben Sie 46er Schuhgröße – und deshalb nur drei Paar Schuhe, maßgefertigt. Um sich ein viertes Paar finanzieren zu können, mussten Sie Ihr »Like«-Abonnement kündigen und Ihre Homepagekunden mit Weihnachtsgrüßen bei Laune halten. Also bitte, seien Sie nicht böse. Mir hat die Einschätzung Spaß gemacht, ich habe ein schemenhaftes Bild von Ihnen vor mir, und das habe ich Ihnen in übertriebener Präzision mitzuteilen versucht. Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Liebe Grüße, Leo Leike.

Zwei Stunden später

RE:

Lieber »Professor«, ich mag Ihren Humor, er ist nur einen Halbton von der chronischen Ernsthaftigkeit entfernt und klingt deshalb besonders schräg!! Ich melde mich morgen. Ich freu mich schon! Emmi.

Sieben Minuten später

AW:

Danke! Jetzt kann ich beruhigt schlafen gehen. Leo.

Am nächsten Tag

Betreff: Nahe treten

Lieber Leo, den »Leike« lasse ich jetzt weg. Sie dürfen dafür die »Rothner« vergessen. Ich habe Ihre gestrigen Mails sehr genossen, ich habe sie mehrmals gelesen. Ich möchte Ihnen ein Kompliment machen. Ich finde es spannend, dass Sie sich so auf einen Menschen einlassen können, den Sie gar nicht kennen, den Sie noch nie gesehen haben und wahrscheinlich auch niemals sehen werden, von dem Sie auch sonst nichts zu erwarten haben, wo Sie gar nicht wissen können, ob da jemals irgend etwas Adäquates zurückkommt. Das ist ganz atypisch männlich, und das schätze ich an Ihnen. Das wollte ich Ihnen vorweg nur einmal gesagt haben. So, und jetzt zu ein paar Punkten:

1.) Sie haben einen ausgewachsenen Massenmail-Weihnachtsgruß-Psycho! Wo haben Sie den aufgerissen? Anscheinend kränkt man Sie zu Tode, wenn man »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« sagt. Gut, ich verspreche Ihnen, ich werde es nie, nie wieder sagen! Übrigens finde ich es erstaunlich, dass Sie von »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« auf ein Lebensalter schließen können wollen. Hätte ich »Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr« gesagt, wäre ich dann zehn Jahre jünger gewesen?

2.) Tut mir Leid, lieber Leo Sprachpsychologe, aber dass eine Frau nicht jünger als 20 Jahre sein kann, wenn sie nicht »cool«, »geil« und »heavy« verwendet, kommt mir schon ein bisschen weltfremd oberprofessorenhaft vor. Nicht, dass ich hier darum kämpfe, so zu schreiben, dass Sie meinen könnten, ich sei jünger als 20 Jahre. Aber weiß man es wirklich?

Ich schreibe also wie 30, sagen Sie. Eine 30-Jährige liest aber nicht »Like«, sagen Sie. Dazu erkläre ich Ihnen gerne: Die Zeitschrift »Like« hatte ich für meine Mutter abonniert. Was sagen Sie jetzt? Bin ich nun endlich jünger, als ich schreibe?

Mit dieser Grundsatzfrage muss ich Sie alleine lassen. Ich habe leider einen Termin. (Firmunterricht? Tanzschule? Nagelstudio? Teekränzchen? Suchen Sie es sich ruhig aus.) Schönen Tag noch, Leo! Emmi.

Drei Minuten später

RE:

Ach ja, Leo, eines will ich Ihnen doch noch verraten: Bei der Schuhgröße waren Sie gar nicht so schlecht. Ich trage 37. (Aber Sie brauchen mir keine Schuhe zu schenken, ich habe schon alle.)

Drei Tage später

Betreff: Etwas fehlt

Lieber Leo, wenn Sie mir drei Tage nicht schreiben, empfinde ich zweierlei: 1.) Es wundert mich. 2.) Es fehlt mir etwas. Beides ist nicht angenehm. Tun Sie was dagegen! Emmi

Am nächsten Tag

Betreff: Endlich gesendet!

Liebe Emmi, zu meiner Verteidigung gebe ich an: Ich habe Ihnen täglich geschrieben, ich habe die E-Mails nur nicht abgeschickt, nein, im Gegenteil, ich habe sie allesamt wieder gelöscht. Ich bin in unserem Dialog nämlich an einem heiklen Punkt angelangt. Sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, beginnt mich schön langsam mehr zu interessieren, als es dem Rahmen, in dem ich mich mit ihr unterhalte, entspricht. Und wenn sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, von vornherein feststellt: »Wahrscheinlich werden wir uns niemals sehen«, dann hat sie natürlich völlig Recht und ich teile ihre Ansicht. Ich halte das für sehr, sehr klug, dass wir davon ausgehen, dass es zu keiner Begegnung zwischen uns kommen wird. Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt.

So, und diese E-Mail schicke ich nun endlich weg, damit sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, wenigstens irgendwas von mir in der Mailbox hat. (Aufregend ist der Text nicht, ich weiß, es ist auch nur ein Bruchteil von dem, was ich Ihnen schreiben wollte.) Alles Liebe, Leo.

23 Minuten später

RE:

Aha, dieser gewisse Leo Sprachpsychologe will also nicht wissen, wie diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37 aussieht? Leo, das glaube ich Ihnen nicht! Jeder Mann will wissen, wie jede Frau aussieht, mit der er spricht, ohne zu wissen, wie sie aussieht. Er will sogar möglichst schnell wissen, wie sie aussieht. Denn danach weiß er, ob er noch weiter mit ihr sprechen will oder nicht. Oder etwa nicht? Herzlichst, die gewisse 37er-Emmi.

Acht Minuten später

AW:

Das war jetzt mehr hyperventiliert als geschrieben, stimmt’s? Ich muss gar nicht wissen, wie Sie aussehen, wenn Sie mir solche Antworten geben, Emmi. Ich habe Sie ohnehin vor mir. Und dafür muss ich mich nicht einmal mit Sprachpsychologie beschäftigt haben. Leo.

21 Minuten später

RE:

Sie irren, Herr Leo. Das war völlig ruhig geschrieben. Sie sollten mich einmal sehen, wenn ich tatsächlich hyperventiliere. Im Übrigen neigen Sie prinzipiell eher nicht dazu, meine Fragen zu beantworten, stimmt’s? (Wie sehen Sie eigentlich aus, wenn Sie »Stimmt’s?« fragen?) Aber darf ich noch einmal auf Ihren E-Mail-Wurf von heute Vormittag zurückkommen. Da passt so gar nichts zusammen. Ich halte fest:

1.) Sie schreiben mir E-Mails und schicken sie nicht ab.

2.) Sie beginnen sich schön langsam mehr für mich zu interessieren, als es dem »Rahmen unserer Unterhaltung« entspricht. Was soll das heißen? Ist der Rahmen unserer Unterhaltung nicht ausschließlich das gegenseitige Interesse an einer jeweils völlig fremden Person?

3.) Sie finden es sehr klug – nein, Sie finden es sogar »sehr, sehr klug«, dass wir uns nie treffen werden. Ich beneide Sie um Ihre leidenschaftliche Hinwendung an die Klugheit!

4.) Sie wollen kein Chatroom-Geplänkel. Sondern? Worüber wollen wir uns unterhalten, damit Sie sich nicht schön langsam mehr für mich interessieren, als es dem »Rahmen« entspricht?

5.) Und, für den gar nicht unwahrscheinlichen Fall, dass Sie keine meiner soeben gestellten Fragen beantworten werden: Sie sagten, dass das vorhin nur ein Bruchteil von dem war, was Sie mir schreiben wollten. Schreiben Sie mir ruhig den Rest. Ich freue mich über jede Zeile! Ich lese Sie nämlich gerne, lieber Leo. Emmi.

Fünf Minuten später

AW:

Liebe Emmi, Wenn Sie nicht 1.) 2.) 3.) und so weiter schreiben können, sind Sie es nicht, stimmt’s? Morgen mehr. Schönen Abend. Leo.

Am nächsten Tag

Kein Betreff

Liebe Emmi, ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir absolut nichts voneinander wissen? Wir erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. Wir stellen Fragen, deren Reiz darin besteht, nicht beantwortet zu werden. Ja, wir machen uns einen Sport daraus, die Neugierde des anderen zu wecken und immer weiter zu schüren, indem wir sie kategorisch nicht befriedigen. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Wörtern, bald wohl schon zwischen den Buchstaben. Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten. Was heißt »nichts Wesentliches«? – Gar nichts, wir haben noch nichts aus unserem Leben erzählt, nichts, was den Alltag ausmacht, was einem von uns wichtig sein könnte. Wir kommunizieren im luftleeren Raum. Wir haben artig gestanden, welcher beruflichen Tätigkeit wir nachgehen. Sie würden mir theoretisch eine schöne Homepage gestalten, ich erstelle Ihnen dafür praktisch (schlechte) Sprachpsychogramme. Das ist alles. Wir wissen aufgrund eines miesen Stadtmagazins, dass wir in der gleichen Großstadt leben. Aber sonst? Nichts. Es gibt keine anderen Menschen um uns. Wir wohnen nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter. Wir unterscheiden nicht zwischen Tag und Nacht. Wir leben in keiner Zeit. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme, jeder streng und geheim für sich, und wir haben ein gemeinsames Hobby: Wir interessieren uns für eine jeweils völlig fremde Person. Bravo!

Was mich betrifft, und jetzt komme ich zu meinem Geständnis: Ich interessiere mich wahnsinnig für Sie, liebe Emmi! Ich weiß zwar nicht warum, aber ich weiß, dass es einen markanten Anlass dafür gegeben hat. Ich weiß aber auch, wie absurd dieses Interesse ist. Es würde einer Begegnung niemals standhalten, egal wie Sie aussehen, wie alt Sie sind, wie viel Sie von Ihrem beträchtlichen E-Mail-Charme zu einem allfälligen Treffen mitnehmen könnten und was von Ihrem geschriebenen Sprachwitz auch in Ihren Stimmbändern steckt, in Ihren Pupillen, in Ihren Mundwinkeln und Nasenflügeln. Dieses »Wahnsinnsinteresse«, so mein Verdacht, nährt sich einzig und allein aus der Mailbox. Jeder Versuch, es von dort heraustreten zu lassen, würde vermutlich kläglich scheitern.

Nun meine Schlüsselfrage, liebe Emmi: Wollen Sie noch immer, dass ich Ihnen Mails schreibe? (Diesmal wäre eine klare Antwort äußerst entgegenkommend.) Alles, alles Liebe, Leo.

21 Minuten später

RE:

Lieber Leo, das war aber viel auf einmal! Sie müssen ordentlich Tagesfreizeit haben. Oder zählt das als Arbeit? Kriegen Sie dafür Zeitausgleich? Können Sie es von der Steuer absetzen? Ich weiß, ich habe eine spitze Zunge. Aber nur schriftlich. Und nur, wenn ich unsicher bin. Leo, Sie machen mich unsicher. Sicher ist nur eines: Ja, ich will, dass Sie mir weiter E-Mails schreiben, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Wenn das noch nicht klar genug war, dann probiere ich es noch einmal: JA, ICH WILL!!!!!!! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO. BITTE! ICH BIN SÜCHTIG NACH E-MAILS VON LEO!

Und jetzt müssen Sie mir unbedingt verraten, warum es bei Ihnen zwar keinen Grund, aber einen »markanten Anlass« dafür gegeben hat, sich für mich zu interessieren. Das verstehe ich nämlich nicht, aber es klingt spannend. Alles, alles Liebe und noch ein »Alles« dazu, Emmi. (PS: Die E-Mail da oben von Ihnen war klasse! Absolut humorlos, aber echt klasse!)

Am übernächsten Tag

Betreff: Frohe Weihnachten

Wissen Sie was, liebe Emmi, ich breche mit unseren Gepflogenheiten und erzähle Ihnen heute etwas aus meinem Leben. Sie hieß Marlene. Noch vor drei Monaten hätte ich geschrieben: Sie heißt Marlene. Heute hieß sie es. Nach fünf Jahren Gegenwart ohne Zukunft habe ich endlich in die Mitvergangenheit gefunden. Details unserer Beziehung erspare ich Ihnen. Das Schönste daran war immer der Neubeginn. Weil wir beide so leidenschaftlich gerne neu begannen, taten wir es alle paar Monate. Wir waren jeweils »die große Liebe unseres Lebens«, aber nie, wenn wir zusammen waren, immer nur, wenn wir uns gerade wieder bemühten, zusammenzufinden.

Ja, und im Herbst war es dann endlich so weit: Sie hatte einen anderen, einen, mit dem sie sich vorstellen konnte, nicht nur zusammengeraten zu können, sondern auch zusammen zu sein. – (Obwohl er Pilot bei einer spanischen Fluglinie war, aber bitte.) Als ich es erfuhr, war ich plötzlich so sicher wie nie, dass Marlene »die Frau meines Lebens« war und dass ich alles tun musste, um sie nicht für immer zu verlieren.

Ich tat wochenlang alles und noch ein bisschen mehr dazu. (Auch da erspare ich Ihnen besser Details.) Und sie war wirklich knapp daran, mir und somit uns beiden eine allerletzte Chance zu geben: Weihnachten in Paris. Ich hatte vor – lachen Sie mich ruhig aus, Emmi –, ihr dort einen Heiratsantrag zu machen, ich Vollidiot. Sie wartete nur noch den Rückflug des »Spaniers« ab, um ihm die Wahrheit über mich und Paris zu sagen, das war sie ihm schuldig, meinte sie. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, was heißt »mulmig«, ich hatte einen spanischen Airbus im Bauch, wenn ich an Marlene und diesen Piloten dachte. Das war am 19. Dezember.

Am Nachmittag erhielt ich – nein, nicht einmal einen Anruf, ich erhielt eine katastrophale E-Mail von ihr: »Leo, es geht nicht, ich kann nicht, Paris wäre nur wieder eine neue Lüge. Bitte verzeih mir!« Oder so ähnlich. (Nein, nicht so ähnlich, sondern wortwörtlich.) Ich schrieb sofort zurück: »Marlene, ich will dich heiraten! Ich bin fest entschlossen. Ich will immer mit dir sein. Ich weiß jetzt, dass ich es kann. Wir gehören zusammen. Vertraue mir ein letztes Mal. Bitte lass uns in Paris über alles reden. Bitte sag ja zu Paris.«

So, und dann wartete ich auf eine Antwort, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Dazwischen unterhielt ich mich alle zwanzig Minuten mit ihrer taubstummen Mobilbox, las alte, im PC gespeicherte Liebesbriefe, schaute mir unsere digitalen Liebesfotos an, die allesamt während unserer unzähligen Versöhnungsreisen entstanden waren. Und dann starrte ich wieder wie besessen auf den Bildschirm. Von diesem kurzen, herzlosen Klanggeräusch, wenn eine neue Meldung einlangte, von diesem kleinen lächerlichen Briefchen in der Symbolleiste hing mein Leben mit Marlene, also aus damaliger Sicht mein Weiterleben ab.

Ich gab mir selbst eine Leidensfrist bis 21 Uhr. Sollte sich Marlene bis dahin nicht gemeldet haben, war Paris und somit unsere wohl letzte Chance gestorben. Es war 20:57. Und plötzlich: ein Klingeln, ein Briefchen (ein Stromstoß, ein Herzinfarkt), eine Nachricht. Ich schließe für ein paar Sekunden die Augen, ich sammle alle armseligen Restbestände meines positiven Denkens, ich konzentriere mich auf die ersehnte Meldung, auf Marlenes Zusage, auf Paris zu zweit, auf ein Leben für immer mit ihr. Ich reiße die Augen auf, ich öffne die Mitteilung. Und ich lese, ich lese, ich lese: »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Emmi Rothner.«

So viel zu meinem »ausgewachsenen Massenmail-Weihnachtsgruß-Psycho«. Schönen Abend, Leo.

Zwei Stunden später

RE:

Lieber Leo, das ist eine besonders gute Geschichte. Vor allem die Pointe hat mich begeistert. Ich bin beinahe stolz, dass ich da so schicksalhaft hineinspiele. Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie mir, Ihrer »virtuellen Fantasiegestalt«, Ihrem »illusionistischen Phantombild«, gerade Außergewöhnliches von sich verraten haben. Das war jetzt so richtig »Privatleben Marke Leo, Sprachpsychologe«. Ich bin heute schon zu müde, etwas Brauchbares dazu zu sagen. Aber morgen kriegen Sie von mir eine anständige Analyse, wenn Sie erlauben. So mit 1.) 2.) 3.) und so weiter. Schlafen Sie gut, und träumen Sie sinnvoll. Also nicht von Marlene, würde ich Ihnen empfehlen. Emmi.

Am nächsten Tag

Betreff: Marlene

Guten Morgen, Leo. Darf ich Sie ein bisschen härter anfassen?

1.) Sie sind also so ein Mann, der sich für eine Frau nur am Anfang und am Ende interessieren kann: wenn er sie kriegen will und knapp bevor sie ihm endgültig abhanden kommt. Die Zeit dazwischen – auch Zusammensein genannt – ist Ihnen zu langweilig oder zu anstrengend, oder beides. Stimmt’s?

2.) Sie sind zwar (diesmal) wie durch ein Wunder unverheiratet geblieben, aber um einen spanischen Piloten aus dem Bett Ihrer So-gut-wie-Ex zu bekommen, würden Sie schon einmal locker vor den Traualtar treten. Das zeugt von eher geringer Hochachtung gegenüber dem Ehegelübde. Stimmt’s?

3.) Sie waren schon einmal verheiratet. Stimmt’s?

4.) Ich habe Sie plastisch vor mir, wie Sie, warm und wollig eingebettet in Selbstmitleid, Liebesbriefe lesen und alte Fotos anschauen, statt etwas zu tun, was eine Frau auf die Idee bringen könnte, da wäre bei Ihnen so etwas wie ein Anflug von Liebe oder der leise Wunsch nach etwas Dauerhaftem zu erkennen.

5.) Ja, und dann wirft sich MEINE Schicksals-E-Mail in Ihre über Sein und Nichtsein waltende Mailbox. Es ist, als hätte ich zum idealsten aller Zeitpunkte nun endlich ausgesprochen, was Marlene schon seit Jahren auf der Zunge gelegen sein muss: LEO, ES IST AUS, DENN ES WAR NIE AN! Oder mit anderen Worten, verklausulierter, poetischer, stimmungsvoller: »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Emmi Rothner.«

6.) Aber jetzt, lieber Leo, setzen Sie eine imposante Geste. Sie antworten Marlene. Sie beglückwünschen sie zur ihrer Entscheidung. Sie sagen: MARLENE, DU HAST RECHT, ES IST AUS, DENN ES WAR NIE AN! Oder mit anderen Worten, verklausulierter, energischer, kraftvoller: »Liebe Emmi Rothner, wir kennen uns zwar fast noch weniger als überhaupt nicht. Ich danke Ihnen dennoch für Ihre herzliche und überaus originelle Massenmail! Sie müssen wissen: Ich liebe Massenmails an eine Masse, der ich nicht angehöre. Mfg, Leo Leike.« – Sie sind ein erstaunlich guter, nobler, stilvoller Verlierer, lieber Leo.

7.) Nun meine Schlüsselfrage: Wollen Sie noch immer, dass ich Ihnen Mails schreibe? Schönen Montagvormittag, Emmi.

Zwei Stunden später

AW:

Mahlzeit, Emmi!

Zu 1.) Ich kann nichts dafür, dass ich Sie an einen Mann erinnere, der Sie offensichtlich – elegant, wie in Punkt eins von Ihnen beschrieben – enttäuscht hat. Glauben Sie bitte nicht, mich mehr zu kennen, als Sie mich kennen können! (Sie können mich gar nicht kennen.)

Zu 2.) Was meine letzte Ausflucht in das Eheversprechen betrifft: Mehr als mich selbst einen »Vollidioten« zu schimpfen, kann ich ohnehin nicht. Aber die sarkastisch-moralinsaure Emmi mit Schuhgröße 37 setzt zur Ehrenrettung des Ehegelübdes noch eins drauf, vermutlich mit zugekniffenen Augen und Geifer vor dem Mund.

Zu 3.) Tut mir Leid, ich war noch nie verheiratet! Sie? – Mehrmals, stimmt’s?

Zu 4.) Da ist wieder der Mann von Punkt eins, an den ich Sie erinnere, der Mann, der lieber von der Realität überholte Liebesbriefe liest als Ihnen dauerhafte Liebe beweist. Vielleicht waren es sogar mehrere Männer in Ihrem Leben.

Zu 5.) Ja, in dem Augenblick, als die Weihnachtsgrüße von Ihnen einlangten, spürte ich, dass ich Marlene verloren hatte.

Zu 6.) Ich habe Ihnen damals geantwortet, um mich von meinem Scheitern abzulenken, Emmi. Und bis heute habe ich die Unterhaltung mit Ihnen als einen Teil meiner Marlene-Verarbeitungstherapie betrachtet.

Zu 7.) Ach ja, schreiben Sie mir nur! Schreiben Sie sich Ihren gesamten Frust über Männer von der Seele. Seien Sie ungehemmt selbstgerecht, zynisch, schadenfroh. Wenn es Ihnen nachher besser geht, hat meine Mailadresse ihren Zweck erfüllt. Wenn nicht, dann gönnen Sie sich (oder Ihrer Mutter) einfach wieder ein Like-Abonnement und bestellen Sie den »Leike« ab. Schönen Montagnachmittag, Leo.

Elf Minuten später

RE:

Oh je! Ich habe Sie verletzt. Das wollte ich nicht. Ich dachte, Sie halten das aus. Da habe ich Ihnen zu viel zugemutet. Ich werde in innere Klausur gehen. Gute Nacht, Emmi.

PS: Zu Punkt drei: Ich war erst einmal verheiratet. – Und bin es noch immer!

KAPITEL ZWEI

Eine Woche später

Betreff: S.W.

Scheißwetter heute, stimmt’s? Lg, E.

Drei Minuten später

AW:

1.) Regen 2.) Schnee 3.) Schneeregen Mfg, Leo.

Zwei Minuten später

RE:

Sind Sie noch beleidigt?

50 Sekunden später

AW:

War ich nie.

30 Sekunden später

RE:

Oder unterhalten Sie sich nicht gern mit verheirateten Frauen?

Eine Minute später

AW:

Oh doch! Mich wundert aber mitunter, warum sich verheirateteFrauen so gern mit völlig fremden Männern wie mir unterhalten.

40 Sekunden später

RE:

Haben Sie da mehrere in Ihrer Mailbox? Der wievielte Bruchteil Ihrer Marlene-Verarbeitungstherapie bin ich eigentlich?

50 Sekunden später

AW:

Schön, Emmi, Sie kommen langsam wieder in Form. Sie sind mir vorhin fast ein bisschen antriebsschwach, kleinlaut und schüchtern vorgekommen.

Ein halbe Stunde später

RE:

Lieber Leo, im Ernst, was mir ein Bedürfnis ist, Ihnen mitzuteilen: Meine Sieben-Punkte-E-Mail vom vergangenen Montag tut mir aufrichtig Leid. Ich habe sie ein paar Mal durchgelesen und muss gestehen: Sie klingt wirklich ekelhaft, wenn man sie leise liest. Das Problem ist, dass Sie nicht wissen können, wie ich bin, wenn ich so etwas sage. Würden Sie mich dabei sehen, könnten Sie mir gar nicht böse sein. (Bilde ich mir zumindest ein.) Glauben Sie mir: Ich bin alles andere als frustriert. Enttäuschungen mit Männern haben sich bei mir in den natürlichen Grenzen derselben gehalten. Das heißt: Natürlich gibt es begrenzte Männer. Aber ich hab Glück gehabt. Mir geht es verdammt gut, was das betrifft. Mein Zynismus ist mehr Sport und Spiel als Ärger und Abrechnung.

Im Übrigen weiß ich das sehr zu schätzen, dass Sie mir von Marlene erzählt haben. (Wobei mir gerade auffällt, dass Sie mir eigentlich gar nichts von Marlene erzählt haben. Was ist/war sie für eine Frau? Wie sieht sie aus? Was hat sie für eine Schuhgröße? Was trägt sie für Schuhe?)

Eine Stunde später

AW:

Liebe Emmi, seien Sie mir bitte nicht böse, aber mir ist nicht danach, Ihnen von Marlenes Schuhgeschmack zu erzählen. Am Strand ging sie meistens barfuß, so viel will ich Ihnen gerne mitteilen. Ich muss jetzt aufhören, ich krieg Besuch. Angenehmen Tag noch, Leo.

Drei Tage später

Betreff: Krise

Lieber Leo, eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, die nächste E-Mail von Ihnen zu bekommen – und nicht selbst zu schreiben. Ich hab zwar nicht Sprachpsychologie studiert, aber in meinem Kopf reimen sich da zwei Dinge zusammen. 1.) Ich habe Ihnen zwischen den Zeilen verraten, dass ich nicht nur verheiratet, sondern sogar glücklich verheiratet bin. 2.) Sie reagieren darauf mit der lustlosesten Antwort seit dem viel versprechenden Beginn unserer virtuellen Zweisamkeit vor mittlerweile mehr als einem Jahr. Und danach melden Sie sich gleich überhaupt nicht mehr. Kann es sein, dass Sie das Interesse an mir verloren haben? Kann es sein, dass Sie das Interesse an mir verloren habe, weil ich vergeben bin? Kann es sein, dass Sie das Interesse an mir verloren haben, weil ich noch dazu »glücklich vergeben« bin? Wenn das der Fall ist, dann seien Sie wenigstens »Manns genug«, mir das zu sagen. Mit freundlichen Grüßen, Emmi.

Am nächsten Tag

Kein Betreff

HERR LEO?

Am nächsten Tag

Kein Betreff

LEEEEEEEEEOOOOOOO, HUUUUUUU-UUUUUUHHHH????????

Am nächsten Tag

Kein Betreff

Arschloch!

Zwei Tage später

Betreff: Nette Post von Emmi

Hallo Emmi! Das ist ein herrliches Gefühl, von einer anstrengenden Seminarreise aus dem mit Reizen nicht gerade reich gesegneten und auch farblich eher bescheidenen Bukarest im perverserweise auch dort so genannten Frühling (Schneestürme, Frostschübe) nach Hause zu kehren, sofort den Computer anzuwerfen, die Mailbox zu öffnen, im Dickicht von 500 gnadenlosen Mitteilern entbehrlicher bis erbärmlicher Botschaften vier E-Mails von der für ihre Sprachbegabung, Ausdrucksweise und Punkteprogramme hoch geschätzten Frau Rothner vorzufinden, sich wie ein rumänischer Graupelbär im fortschreitenden Auftauungsprozess darauf zu freuen, endlich ein paar nette, gefühlvolle, witzige, herzenswarme Sätze lesen zu können. Man öffnet euphorisch die erste E-Mail, und worauf stößt man mit beiden Augen gleichzeitig? Auf: ARSCHLOCH! – Danke für die Begrüßung!

Emmi, Emmi! Sie haben sich da wieder schöne Sachen zusammengereimt. Ich muss Sie aber enttäuschen: Mich stört es überhaupt nicht, dass Sie »glücklich vergeben« sind. Ich hatte nie vor, Sie näher kennen zu lernen, näher als es im elektronischen Briefaustausch möglich ist. Ich wollte auch nie wissen, wie Sie aussehen. Ich mache mir aus den Texten, die Sie mir schreiben, mein eigenes Bild von Ihnen. Ich bastle mir meine eigene Emmi Rothner. Ich habe Sie in den Grundzügen noch immer so vor mir, wie Sie mir schon zu Beginn unseres Kontakts begegnet sind, egal, ob Sie dreimal tragisch verheiratet, fünfmal glücklich geschieden oder täglich munter aufs Neue »noch frei« und in den Samstagnächten ausschweifend ledig sind.

Ich stelle allerdings mit Bedauern fest, dass der Kontakt mit mir Sie offensichtlich aufreibt. Und überdies wundert mich schon eines: Warum liegt einer glücklich verheirateten, von Männern alles andere als frustrierten, ironisch-witzigen, über den Dingen stehenden, charmanten, selbstbewussten Frau mit Schuhgröße 37 (und unbestimmten Alters) so viel daran, sich mit einem fremden, manchmal mürrischen, beziehungsgeschädigten, krisenanfälligen, wenig humorvollen Professorentyp so intensiv über so viel Persönliches zu unterhalten? Was sagt eigentlich Ihr Mann dazu?

Zwei Stunden später

RE:

Das Wichtigste zuerst: Graupelbär Leo is back from Bukarest!Willkommen. Verzeihen Sie das »Arschloch«, aber es lag einfach auf der Hand. Wie kann ich wissen, dass ich es mit einem außerirdisch veranlagten Mann zu tun habe, der nicht enttäuscht ist, wenn er erfährt, dass seine treue und ehrgebieterisch sarkastische Schreibpartnerin schon vergeben ist? Dass ich es mit einem Mann zu tun habe, der sich lieber »seine eigene Emmi Rothner bastelt«, als die echte kennen lernen zu wollen. Wenn ich Sie diesbezüglich wenigstens ein bisschen provozieren darf: So gut Sie in Ihren kühnsten Fantasien auch basteln, lieber Leo Sprachpsychologe, an die echte Emmi Rothner kommen Sie damit nicht heran.

Fühlen Sie sich provoziert? Nein? Hab ich mir gedacht. Ich fürchte, es ist eher umgekehrt: Sie provozieren mich, Leo. Sie haben eine unorthodoxe, aber äußerst zielstrebige Art, sich bei mir immer spannender zu machen: Sie wollen gleichzeitig alles und nichts von mir wissen. Sie bekunden, je nach Tagesverfassung, Ihr »wahnsinniges Interesse« und Ihr fast schon pathologisches Desinteresse an mir. Und das regt mich abwechselnd auf und an. Momentan gerade wieder: an. Ich gestehe es. Aber vielleicht sind Sie ja so ein einsamer, verklemmter, streunender, grauer (rumänischer) Graupelwolf, der einer Frau nicht in die Augen schauen kann. Einer, der massive Angst vor wirklichen Begegnungen hat. Der sich ständig seine Fantasiewelten schaffen muss, weil er sich in den gegenständlichen, lebbaren, greifbaren, realen Umgebungen nicht zurechtfindet. Vielleicht sind Sie ein waschechter Frauenkomplexler. Ach, da würde ich jetzt gerne Marlene fragen. Haben Sie zufällig eine aktuelle Telefonnummer von ihr, oder die vom spanischen Piloten? (War ein Scherz, bitte nicht wieder drei Tage beleidigt sein.)

Nein Leo, ich hab einfach einen Narren an Ihnen gefressen. Ich mag Sie. Sehr sogar! Sehr, sehr, sehr! Und ich kann einfach nicht glauben, dass Sie mich nicht sehen wollen. Das heißt nicht, dass wir uns tatsächlich sehen sollten. Sollen wir natürlich nicht! Aber ich würde zum Beispiel schon gerne wissen, wie Sie aussehen. Es würde vieles erklären. Ich meine, es würde erklären, wieso Sie so schreiben, wie Sie schreiben. Weil Sie dann nämlich so aussehen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. Und ich würde verdammt gerne wissen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. Das würde es dann erklären. Apropos erklären: Ich will hier eigentlich nicht von meinem Mann reden. Sie können gern über Ihre Frauen reden (falls es solche nicht nur in der Mailbox gibt). Ich kann Ihnen auch gute Ratschläge geben, ich kann mich hervorragend in Frauen hineinfühlen, ich bin nämlich eine. Aber mein Mann ... Schön, ich sage es Ihnen: Wir haben eine wunderbare, harmonische Beziehung mit zwei Kindern (die er freundlicherweise mitgebracht hat, um mir Schwangerschaften zu ersparen). Wir haben an sich keine Geheimnisse voreinander. Ich hab ihm erzählt, dass ich mich mit einem »netten Sprachpsychologen« öfters per E-Mail unterhalte. Er hat gefragt: Willst du ihn kennen lernen? Ich hab geantwortet: Nein. Er sagt darauf: Was soll das dann? Ich: Gar nichts. Er: Ah so. – Das war’s. Mehr wollte er von mir nicht wissen, mehr wollte ich ihm nicht sagen. Mehr möchte ich über ihn nicht reden. Okay?

So, lieber Graupelbär, nun zu Ihnen: Wie sehen Sie aus? Sagen Sie’s mir. Bitte!!! Alles Liebe, Ihre Emmi.

Am nächsten Tag

Betreff: Test

Liebe Emmi, ich kann mich Ihren Kalt-warm-Bädern auch nur schwer entziehen. Wer zahlt uns eigentlich die Zeit, die wir hier miteinander (ohne einander) versitzen? Und wie bringen Sie das mit Ihrem Beruf und Ihrer Familie unter einen Hut? Vermutlich hat jedes Ihrer beiden Kinder noch mindestens drei Streifenhörnchen oder Ähnliches. Wo nehmen Sie da die Muße her, sich so intensiv und akribisch mit fremden Graupelbären zu beschäftigen?

Sie wollen also unbedingt wissen, wie ich aussehe? Gut, ich stelle jetzt eine Behauptung auf und schlage Ihnen ein Spiel vor, zugegeben, ein verrücktes Spiel, aber Sie sollen mich auch von einer anderen Seite kennen lernen. Also: Ich wette, ich finde unter, sagen wir, zwanzig Frauen sofort die eine und einzige Emmi Rothner heraus, während Sie unter ebenso vielen Männern den echten Leo Leike niemals erraten würden. Wollen wir es auf diesen Test ankommen lassen? Wenn Sie ja sagen, können wir uns einen entsprechenden Modus überlegen. Angenehmen Vormittag, Leo.

50 Minuten später

RE:

Aber sicher machen wir das! Sie sind ja ein echter Abenteurer! Vorweg meine Bedenken, Sie dürfen mir das aber nicht übel nehmen: Ich rechne damit, dass Sie mir optisch überhaupt nicht gefallen, lieber Leo. Und die Chance dafür ist groß, denn mir gefallen Männer prinzipiell nicht, sieht man von wenigen (zumeist schwulen) Ausnahmen ab. Umgekehrt – na ja, da sage ich jetzt lieber nichts dazu. Sie bilden sich ja ein, mich sofort zu erkennen. Dann werden Sie wohl eine Vorstellung haben, wie ich aussehe. Wie war das damals? »42 Jahre alt, klein, zierlich, quirlig, kurze dunkle Haare.« Da wünsche ich Ihnen jetzt schon viel Erfolg beim Erkennen! Also wie machen wir es? Schicken wir uns je zwanzig Bilder, darunter das eigene? Lieber Gruß, Emmi.

Zwei Stunden später

AW:

Liebe Emmi, ich schlage vor, dass wir uns persönlich begegnen, ohne es zu wissen, also so, dass wir in der Masse von Menschen verwechselbar bleiben. Wir könnten zum Beispiel das Große Messecafé Huber in der Ergeltstraße wählen. Das kennen Sie bestimmt. Dort trifft laufend sehr gemischtes Publikum ein. Wir wählen eine Zeitstrecke von zwei Stunden, vielleicht an einem Sonntagnachmittag, und innerhalb dieser Zeit sind wir beide anwesend. Durch das ständige Auf und Ab und das dichte Gedränge im Salon wird nicht auffallen, dass wir uns gegenseitig zu entdecken versuchen.

Was Ihre mögliche Enttäuschung betrifft, wenn ich Ihren optischen Wünschen nicht entspreche, so meine ich, dass wir das Geheimnis um unser Äußeres ja auch nach der Begegnung nicht preisgeben müssen. Interessant ist, ob und woran einer den anderen zu erkennen glaubt, nicht, wie wir beide tatsächlich aussehen, meine ich. Ich sage noch einmal: Ich will nicht wissen, wie Sie aussehen. Ich will Sie nur erkennen. Und das werde ich. Übrigens halte ich meine früher einmal geäußerte Personenbeschreibung nicht mehr aufrecht. Sie sind für mich (trotz Ehemann und Kindern) etwas jünger geworden, Frau Emma Rothner.

Und noch etwas: Ich freue mich sehr, dass Sie immer wieder aus alten E-Mails von mir zitieren. Das bedeutet, dass Sie sie offensichtlich aufgehoben haben. Das ist schmeichelhaft.

Was halten Sie von meiner Idee der Begegnung? Alles Liebe, Leo.

40 Minuten später

RE:

Lieber Leo, ein Problem gibt es schon: Wenn Sie mich erkennen, wissen Sie, wie ich aussehe. Wenn ich Sie erkenne, weiß ich, wie Sie aussehen. Sie aber wollen gar nicht wissen, wie ich aussehe. Und ich habe die Befürchtung, dass Sie mir nicht gefallen werden. Ist das dann das Ende unserer spannenden gemeinsamen Geschichte? Oder anders gefragt: Wollen wir uns plötzlich so dringend erkennen, damit wir uns nicht mehr schreiben müssen? – Dafür wäre mir der Preis meiner Neugierde zu hoch. Da lieber anonym bleiben und bis ans Lebensende Post vom Graupelbären bekommen. Bussi, Emmi.

35 Minuten später

AW:

Das haben Sie lieb gesagt! Ich mache mir wegen unserer Begegnung keine Sorgen. Sie werden mich nicht erkennen. Und ich habe eine so klare Vorstellung von Ihnen, dass sich diese nur bestätigen kann. Sollte mein Bild von Ihnen (entgegen all meiner Erwartungen) allerdings nicht stimmen, dann werde ich Sie ohnehin nicht identifizieren. Dann kann ich mein Fantasiebild aufrechterhalten. Ebenfalls Bussi, Leo.

Zehn Minuten später

RE:

Meister Leo, das macht mich wahnsinnig, dass Sie so sicher sind zu wissen, wie ich aussehe! Das ist ziemlich impertinent von Ihnen. So, das hat auch einmal gesagt werden müssen. Eine Frage noch: Wenn Sie dieses konturenscharfe Fantasiebild von mir betrachten, Leo, gefalle ich Ihnen da wenigstens?

Acht Minuten später

AW:

Gefallen, gefallen, gefallen. Ist das wirklich so wichtig?

Fünf Minuten später

RE:

Ja, das ist total wichtig, Herr Moraltheologe. Zumindest für mich. Ich mag 1.) Gefallen finden. Und ich mag 2.) gefallen.

Sieben Minuten später

AW:

Reicht es nicht, wenn Sie 3.) sich selbst gefallen?

Elf Minuten später

RE:

Nein, dafür bin ich viel zu unbescheiden. Außerdem gefällt man sich ein bisschen leichter, wenn man anderen gefällt. Sie wollen 4.) vermutlich nur Ihrer Mailbox gefallen, stimmt’s? Die ist geduldig. Dafür müssen Sie nicht einmal Zähne putzen. Haben Sie übrigens noch welche? Oder ist das auch nicht so wichtig?

Neun Minuten später

AW:

Endlich habe ich wieder für die Anregung von Emmis Blutkreislauf gesorgt. Um das Thema vorläufig abzuschließen: Das Fantasiebild von Ihnen gefällt mir außerordentlich gut, sonst würde ich nicht so oft daran denken, liebe Emmi.

Eine Stunde später

RE:

Sie denken also oft an mich? Das ist schön. Ich denke auch oft an Sie, Leo. Vielleicht sollten wir uns wirklich nicht treffen. Gute Nacht!

Am nächsten Tag

Betreff: Prost

Hallo Leo, verzeihen Sie die späte Störung. Sind Sie zufällig online? Trinken wir ein Glas Rotwein? Jeder für sich allein natürlich. Es ist schon mein drittes Glas, müssen Sie wissen. (Wenn Sie prinzipiell keinen Wein trinken, dann lügen Sie mich bitte an und sagen Sie, Sie trinken gerne ab und zu ein Glas oder eine Flasche Wein, also alles mit Maß und ohne Ziel. Ich kann nämlich zwei Arten von Männern nicht ausstehen: Betrunkene und Asketen.)

RE:

Ein viertes trinke ich noch, bevor ich bewusstlos werde. Ihre letzte Chance für heute.

RE:

Schade. Sie haben was versäumt. Ich denke an Sie. Gute Nacht.

Am nächsten Tag

Betreff: Schade

Liebe Emmi, das tut mir wirklich Leid, dass ich unsere romantische Mitternachtseinlage vor dem jeweiligen Computer versäumt habe. Ich hätte sofort ein Glas mit Ihnen, auf Sie und gegen die virtuelle Anonymität getrunken. Hätte es auch Weißwein sein dürfen? Ich trinke lieber weiß als rot. Nein, ich muss Sie zum Glück nicht anlügen: Ich bin weder oft betrunken noch immer ein Asket. Also zehnmal eher bin ich betrunken als ein Asket, zehnmal eher und zwanzigmal öfter. Marlene zum Beispiel (erinnern Sie sich?), Marlene hat keinen Tropfen Alkohol getrunken. Sie hat ihn nicht vertragen. Und was noch schlimmer war: Sie hat keinen Tropfen Alkohol vertragen, den ich getrunken habe. Verstehen Sie? Das sind so die Dinge, wo man beginnt, emotionell gegeneinander zu leben. Zum Trinken gehören immer zwei oder keiner.

Also, wie gesagt: Ewig schade, dass ich Ihr verlockendes Angebot gestern Nacht nicht annehmen konnte. Ich bin leider viel zu spät nach Hause gekommen. Auf ein anderes Mal, Ihr Online-Trinkkamerad in spe, Leo.

20 Minuten später

RE:

Viel zu spät nach Hause gekommen? Leo, Leo, wo treiben Sie sich in der Nacht herum? Sagen Sie bloß, da kündigt sich eine Marlene-Nachfolgerin an. Wenn das der Fall ist, müssen Sie mich umgehend und im Detail über diese Frau informieren, damit ich sie Ihnen ausreden kann. Meine Intuition sagt mir nämlich, dass Sie sich momentan nicht binden sollten, Sie sind noch nicht bereit für die nächste Beziehung. Sie haben ohnehin mich. Und Ihre Fantasievorstellung von mir kommt Ihrem Frauenideal sicher näher als irgendeine dahergelaufene Bekanntschaft aus einer vermutlich in rotem Plüsch gehaltenen Bar (für einsame graupelbärige Professorentypen) um zwei Uhr nachts, oder wie spät es auch immer war. Also bleiben Sie künftig bitte daheim, trinken wir ab und zu gegen Mitternacht simultan ein Glas Wein aufeinander (ja, es darf ausnahmsweise auch Weißwein sein). Und danach sind Sie müde und gehen schlafen, damit Sie am nächsten Tag wieder fit für neue E-Mails an Ihre Fantasiegöttin Emmi Rothner sind. Machen wir es so?

Zwei Stunden später

AW:

Liebe Emmi, ach, ist das angenehm, wieder einmal so einen richtig bezaubernden Ansatz einer Eifersuchtsszene erleben zu können. Ich weiß schon: Das war natürlich italienisch konstruiert, aber ich habe es trotzdem genossen. Was meine Frauenbekanntschaften anbelangt, so schlage ich vor, dass wir es so halten wie mit Ihrem Ehemann und den beiden Kindern und deren sechs Streifenhörnchen. Dies alles gehört einfach nicht hierher! Uns zwei gibt es hier nur für uns zwei. Wir werden so lange in Kontakt bleiben, bis einem von uns die Luft ausgeht oder die Lust vergeht. Ich glaube nicht, dass ich es sein werde. Schönen Frühlingstag, Ihr Leo.

Zehn Minuten später

RE:

Da fällt mir gerade ein: Was ist aus unserem Verabredungs- und Erkennungsspiel geworden? Wollen Sie nicht mehr? Muss ich mir wegen dieser übernächtigten Plüschbar-Tussi wirklich Sorgen machen? Also, wie wäre es mit übermorgen, Sonntag, 25.3., ab 15 Uhr im überfüllten Großen Messecafé Huber? Machen wir es! Emmi.

20 Minuten später

AW:

Doch, liebe Emmi. Gerne werde ich Sie erkennen. Allerdings ist mein kommendes Wochenende schon verplant. Ich fliege morgen Abend für drei Tage nach Prag, ganz »privat« sozusagen. Aber am nächsten Sonntag können wir unserem Gesellschaftsspiel gerne frönen.

Eine Minute später

RE:

PRAG MIT WEM???

Zwei Minuten später

AW:

Nein, Emmi, wirklich nicht.

35 Minuten später

RE:

Okay, wie Sie wollen (oder nicht wollen). Kommen Sie mir dann aber nicht mit Liebeskummer zurück! Prag ist wie geschaffen für Liebeskummer, vor allem Ende März: Alles grau in grau, und am Abend isst man in einem Lokal, das mit dem dunkelsten braunen Holz der Welt verkleidet ist, vor den Augen eines unterbeschäftigten depressiven Kellners, der aufgehört hat zu leben, nachdem er bei einem Staatsbesuch Breschnjew bedient hat, weiße Knödel und trinkt braunes Bier. Danach geht gar nichts mehr. Warum fliegen Sie nicht nach Rom? Da kommt Ihnen der Sommer entgegen. Also ich würde mit Ihnen nach Rom fliegen.

Unser Erkennungsspiel wird übrigens noch warten müssen. Ich bin ab Montag eine Woche Skifahren. Selbstverständlich sage ich Ihnen, meinem vertrauten Schreibkumpanen, mit wem: mit einem Stück Ehemann und zwei Stück Kindern. (Und ohne Streifenhörnchen!) Auf Wurlitzer passen die Nachbarn auf. Wurlitzer ist unser fetter Kater. Er sieht aus wie ein Wurlitzer, hat aber nur eine Platte drauf. Und er hasst Skifahrer, deshalb bleibt er daheim. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend. Emmi.

Fünf Stunden später

RE:

Sind Sie schon zu Hause oder noch in der Dingsa-Plüschbar? Gute Nacht, Emmi.

Vier Minuten später

AW:

Ich bin schon zu Hause. Ich habe darauf gewartet, dass mich Emmi endlich kontrolliert. So, jetzt kann ich in Ruhe schlafen gehen. Da ich morgen zeitig unterwegs bin, wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie jetzt schon eine angenehme Skiwoche. Gute Nacht. Wir lesen uns! Leo.

Drei Minuten später

RE:

Tragen Sie einen Pyjama? Gute Nacht, E.

Zwei Minuten später

AW:

Schlafen Sie vielleicht nackt? Gute Nacht, L.

Vier Minuten später

RE:

Hey, Meister Leo, das war ja richtiggehend erotisch gefragt. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Um diese plötzlich aufkeimende knisternde Spannung zwischen uns nicht zu zerstören, verzichte ich besser darauf, Sie zu fragen, wie Ihr Pyjama aussieht. Also gute Nacht und schönes Prag!

50 Sekunden später

AW:

Also schlafen Sie nackt?

Eine Minute später

RE:

Er will es wirklich wissen! Sagen wir, exklusiv für Ihre Fantasiewelt, lieber Leo: Das kommt darauf an, neben wem. Und nun genießen Sie Prag zu zweit! Emmi.

Zwei Minuten später

AW:

Zu dritt! Ich reise mit einer guten alten Freundin und ihrem Lebensgefährten. Leo. (Ich drehe jetzt ab.)

Fünf Tage später

Kein Betreff

Liebe Emmi, sind Sie online, wenn Sie Ski fahren? Liebe Grüße, Leo. PS: Sie hatten Recht mit Prag, mein befreundetes Paar hat beschlossen, sich zu trennen. Aber Rom wäre da noch schlimmer gewesen.

Drei Tage später

Kein Betreff

Liebe Emmi, jetzt könnten Sie dann aber langsam zurückkommen. Mir fehlen Ihre Kontroll-E-Mails. Es macht mir momentan gar keinen Spaß mehr, nächtens in den Plüschbars herumzuhängen.

Einen Tag später

Kein Betreff

Damit Sie drei E-Mails von mir in Ihrem Posteingang haben. Alles Liebe, Leo. (Gestern habe ich mir extra für Sie oder zumindest in Gedanken an Sie einen neuen Pyjama gekauft.)

Drei Stunden später

AW:

Schreiben Sie mir nicht mehr?

Zwei Stunden später

AW:

Können Sie mir noch nicht schreiben oder wollen Sie mir nicht mehr schreiben?

Zweieinhalb Stunden später

AW:

Ich kann den neuen Pyjama auch umtauschen, wenn das das Problem ist.

40 Minuten später

RE:

Ach Leo, Sie sind so süß!!! Aber es hat doch keinen Sinn, was wir hier tun. Das ist ja doch kein Ausschnitt aus dem wirklichen Leben. Meine Skiwoche: die war ein Ausschnitt aus dem wirklichen Leben. Sie war nicht der allerbeste Ausschnitt, aber sie war ein guter Ausschnitt, und ich bekenne mich dazu, ich wollte es nicht anders haben, also hab ich es, wie es ist, und so wie es ist, ist es schon okay so, wie es ist. Die Kinder haben ein bisschen genervt, aber das ist ihre Pflicht als Kinder. Außerdem sind sie nicht von mir, und das werfen sie mir gelegentlich vor. Aber der Urlaub war schon okay so, wie er war. (Hab ich schon gesagt, dass er okay war, oder?)

Leo, seien wir doch ehrlich: Ich bin für Sie ein Fantasiebild, real daran sind nur ein paar Buchstaben, die von Ihnen sprachpsychologisch in einen klangvollen Zusammenhang gebracht werden können. Ich bin für Sie wie Telefonsex, nur halt ohne Sex und ohne Telefon. Also: Computersex, nur ohne Sex und ohne Bilder zum Herunterladen. Und Sie sind für mich reine Spielerei, eine Flirt-Wiederauffrischungsagentur. Ich kann das tun, was mir fehlt: Ich kann die ersten Schritte einer Annäherung erleben (ohne mich tatsächlich annähern zu müssen.) Nun sind wir zwei Hübschen aber bereits bei den zweiten und dritten Schritten einer Annäherung, die sich nicht annähern darf. Langsam sollten wir stehen bleiben, meine ich. Sonst werden wir annähernd lächerlich. Wir sind ja keine 15 mehr, also ich natürlich viel eher als Sie, aber wir sind es nicht, es hilft nichts.

Leo, ich sage Ihnen noch etwas. Ich habe in dieser manchmal nervenden, aber insgesamt verdammt schönen, ruhigen, harmonischen, witzigen, ja phasenweise sogar romantischen Familien-Skiwoche ständig an diesen unbekannten Graupelbären namens Leo Leike denken müssen. Das ist nicht okay. Das ist doch krank, oder? Sollten wir nicht Schluss machen?, fragt Emmi.

Fünf Minuten später

RE:

Übrigens: Tut mir Leid wegen Ihres befreundeten Paares. Ja, Rom wäre vermutlich die Hölle gewesen.

Zwei Minuten später

RE:

Wie sieht er denn aus, der neue Pyjama?

Am nächsten Tag

Betreff: Treffen

Liebe Emmi, wollen wir nicht wenigstens noch unser »Erkennungstreffen« über die Runden bringen? Wahrscheinlich wird es uns danach um einiges leichter fallen, die »Annäherung, die keine sein darf«, sein zu lassen. Emmi, ich kann nicht einfach aufhören, an Sie zu denken, indem ich aufhöre, Ihnen zu schreiben und indem ich aufhöre, auf Post von Ihnen zu warten. Das kommt mir so billig und pragmatisch vor. Machen wir noch unseren Test! Was sagen Sie? Alles Liebe, Leo.

(Meinen neuen Pyjama kann man nicht beschreiben, den muss man sehen und angreifen.)

Eineinhalb Stunden später

RE:

Kommenden Sonntag, 15 bis 17 Uhr, im Großen Messecafé Huber? Lieber Gruß, Emmi.

(Leo, Leo, das mit dem Pyjama, »man muss ihn sehen und angreifen«, das war eine echte Anmache. Wenn das nicht von Ihnen gekommen wäre, hätte ich sogar gesagt: eine äußerst plumpe Anmache!)

50 Minuten später

AW:

Ja, das ist gut! Aber wir dürfen nicht um Punkt 15 Uhr kommen und das Lokal um Punkt 17 Uhr wieder verlassen. Und wir dürfen nicht allzu suchend dreinschauen. Und überhaupt: keine verräterischen Auffälligkeiten. Sie dürfen nicht im Aufdeckungsaffekt auf mich zugehen und mich fragen: Sie sind Leo Leike, stimmt’s? Wir müssen uns wirklich die Chance geben, uns nicht zu erkennen. Ja?

Acht Minuten später

RE:

Ja, ja, ja, keine Angst, Herr Sprachprofessor, ich werde Ihnen schon nicht zu nahe treten. Um für keine weiteren Verwirrungen zu sorgen, schlage ich vor, dass wir bis Sonntag ein gegenseitiges E-Mail-Verbot verhängen. Erst danach schreiben wir uns wieder, einverstanden?

40 Sekunden später

AW:

Einverstanden.

30 Sekunden später

RE:

Was aber nicht heißt, dass Sie jetzt jede Nacht in der Plüschbar versumpfen müssen.

25 Sekunden später

AW:

Aber nein, das macht ja ohnehin nur Spaß, wenn mich Emmi Rothner allein für die Vorstellung, es könnte so sein, stündlich zur Rechenschaft zieht.

20 Sekunden später

RE:

Dann bin ich beruhigt. Also bis Sonntag!

30 Sekunden später

AW:

Bis Sonntag!

40 Sekunden später

RE:

Und Zähne putzen nicht vergessen!

25 Sekunden später

AW:

Emmi, Sie müssen immer das letzte Wort haben, stimmt’s?

35 Sekunden später

RE:

An sich schon. Aber wenn Sie jetzt noch einmal antworten, dann lasse ich es Ihnen.

40 Minuten später

AW:

Nachwort zum Pyjama. Ich schrieb: »Man muss ihn sehen und angreifen.« Sie antworteten, das wäre eine plumpe Anmache gewesen, hätte dies ein anderer als ich gesagt. Dagegen verwehre ich mich. Ich fordere, dass Sie mir in Hinkunft plumpe Anmachen als plumpe Anmachen anrechnen, wie jedem anderen auch. Lassen Sie mich so plump sein, wie ich bin. Im Konkreten: Meinen Pyjama sollten Sie wirklich angreifen, er fühlt sich sensationell an. Geben Sie mir eine Adresse, und ich schicke ihn Ihnen zur Anfühl-Probe. (Noch immer plump?) Gute Nacht!

Zwei Tage später

Betreff: Disziplin

Alle Achtung, Emmi, Sie sind diszipliniert! Bis übermorgen im Café Huber. Ihr Leo.

Drei Tage später

Kein Betreff

Hallo Leo, waren Sie dort?

Fünf Minuten später

AW:

Natürlich!

50 Sekunden später

RE:

Scheiße! Ich hab’s befürchtet.

30 Sekunden später

AW:

Was haben Sie befürchtet, Emmi?

Zwei Minuten später

RE:

Alle Männer, die in Frage kommen, Leo Leike gewesen zu sein, waren absolut indiskutabel, ich meine, rein optisch. Tut mir Leid, das klingt jetzt vielleicht brutal, aber ich sage es, wie es ist. Leo, ehrlich: Waren Sie gestern zwischen drei und fünf wirklich im Café Huber? Also nicht versteckt in der Toilette oder verschanzt im Gebäude vis-à-vis, sondern echt an der Bar oder im Kaffeeraum, sitzend oder stehend, hockend oder kniend, ganz egal?

Eine Minute später

AW:

Ja, Emmi, ich war tatsächlich anwesend. Welche Männer sind denn für Sie in Frage gekommen, Leo Leike gewesen zu sein, wenn ich fragen darf?

Zwölf Minuten später

RE:

Lieber Leo, es graut mir, diesbezüglich ins Detail zu gehen. Sagen Sie mir nur bitte: Sie waren nicht zufällig der – äh, wie sag ich’s –, der mit naturbelassenem Vollkörper-Drahtbürstenhaar ausgestattete stämmige, eher kleingewachsene Herr im ehemals weißen T-Shirt, mit der um die Hüfte gebundenen violetten Skipullover-Attrappe, der am Eck der Bar einen Campari oder so etwas Rötliches getrunken hat? Ich meine, wenn Sie es waren, dann nur so viel: Geschmäcker sind eben verschieden. Es gibt sicher genügend Frauen, die so einen Typen rasend interessant und absolut attraktiv finden. Und ich mache mir da überhaupt keine Sorgen, dass auch irgendwann einmal eine Frau fürs Leben dabei sein wird. Aber ich muss gestehen: Mein Fall wären Sie dann offen gesagt eher nicht so ganz, tut mir Leid.

18 Minuten später

AW:

Liebe Emmi, Ihre entwaffnende und sich selbst entlarvende Offenheit in Ehren: Aber »nicht verletzend« zu sein, zählt nicht zu Ihren Stärken. Für Sie hat das Aussehen offenbar wirklich höchste Priorität. Sie tun gerade so, als würde Ihr Liebesleben der nächsten Jahrzehnte davon abhängen, wie körperlich anziehend Ihr E-Mail-Freund auf Sie wirkt. Ich kann Sie fürs Erste übrigens beruhigen: das nach Frischfleisch Ausschau haltende Zottelmonster an der Theke ist nicht identisch mit meiner Person. Aber schildern Sie ruhig weiter: Wer darf ich noch nicht gewesen sein? Und daran anschließend gleich die Zusatzfrage: Wenn ich einer von denen bin, die für Sie »optisch indiskutabel« waren, ist dann unser E-Mail-Verkehr beendet?

13 Minuten später

RE:

Lieber Leo, nein, natürlich mailen wir ungehemmt weiter. Sie kennen mich ja: Ich übertreibe maßlos. Ich steigere mich gerade in etwas hinein und will dabei nicht gestört werden. Ich habe eben gestern keinen einzigen Mann im Lokal gesehen, den ich auch nur annähernd so spannend gefunden habe, wie Sie mir schreiben, lieber Leo. Und genau das hatte ich befürchtet: An Ihre schüchterne, aufmerksame, dann wieder treffsichere, plötzlich offene, graupelbärig entzückende, mitunter sogar ansatzweise sinnliche, jedenfalls unheimlich feinfühlige Art, mir schriftlich zu begegnen, kommt keines dieser faden Sonntagnachmittagsgesichter im Café Huber auch nur im Entferntesten heran.

Fünf Minuten später

AW:

Wirklich kein einziges? Vielleicht haben Sie mich einfach übersehen.

Acht Minuten später

RE: