Gleanings – Storys aus dem Scythe-Universum - Neal Shusterman - E-Book
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Gleanings – Storys aus dem Scythe-Universum E-Book

Neal Shusterman

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Beschreibung

Ein Muss für alle Fans: Lieblingscharaktere, neue Helden und alte Feinde aus dem »Scythe«-Universum Stell dir eine Welt vor, in der Armut, Krankheit und Tod besiegt sind. Aber auch in dieser perfekten Welt müssen Menschen sterben. Und die Entscheidung über Leben und Tod treffen die Scythe: Sie allein entscheiden, wer sterben muss. Doch nicht alle Scythe halten sich an die Regeln …  »Gleanings« erzählt Storys aus dieser erschreckenden und faszinierenden Welt, die vielleicht unsere Zukunft ist. Eine Reise zu den verborgenen Geheimnissen der mächtigsten Scythe und den bisher unerzählten Geschichten der Hüter des Todes. Wahrheiten bekommen Risse, dunkle Seiten der Helden gelangen ans Licht, vermeintlich besiegte Feinde erstehen wieder auf, und neue Scythe – ein Hund?! – betreten die Bühne …

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Seitenzahl: 651

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Neal Shusterman

Gleanings

Storys aus dem Scythe-Universum

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Kristian Lutze und Pauline Kurbasik

 

Über dieses Buch

 

 

Stell dir eine Welt vor, in der Armut, Krankheit und Tod besiegt sind. Aber auch in dieser perfekten Welt müssen Menschen sterben, und die Entscheidung über Leben und Tod treffen die Scythe. Sie allein entscheiden, wer sterben muss. Doch nicht alle Scythe halten sich an die Regeln …

 

»Gleanings« erzählt neue Storys aus dieser erschreckenden und faszinierenden Welt, die vielleicht unsere Zukunft ist. Die dunklen Geheimnisse der mächtigsten Scythe gelangen ans Licht, Wahrheiten bekommen Risse, vermeintlich besiegte Feinde erstehen wieder auf, und neue Hüter des Todes betreten die Bühne …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, ist in den USA ein Superstar unter den Jugendbuchautoren. Er studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem National Book Award.

Inhalt

[Widmung]

[Disclaimer]

Kapitel 1: Der erste Hieb

Kapitel 2: Formidabel

Kapitel 3: Arbeite niemals mit Tieren

Kapitel 4: Ein vielfarbiger Tod

Kapitel 5: Die Straße der Widerlinge

Kapitel 6: Eine Marsminute

Kapitel 7: Der letzte Tag der Sterblichkeitsära

Kapitel 8: Black Knights’ Tango

Kapitel 9: Cirri

Kapitel 10: Anastasias Schatten

Kapitel 11: Hartnäckige Erinnerungen

Kapitel 12: Eine romantische Komödie mit Todesfolgen

Kapitel 13: Vielleicht eine Nachlese

Kapitel 14: Ein dunkler Vorhang hebt sich

Kapitel 15: Nicht schöner als ich

Für meinen Freund und Verleger

Justin Chanda,

der von Anfang an

an diese Serie

und immer an mich geglaubt hat.

 

N.S.

Für die non-binären Figuren Alex und Dayne in der Kurzgeschichte »Vielleicht eine Nachlese« wurde in der deutschen Übersetzung ebenso wie im Original versucht, auf Pronomen zu verzichten. Wo dies nicht möglich war, wurde das Neopronomen sier in seinen verschiedenen Formen verwendet.

Kapitel 1: Der erste Hieb

Co-Autorin Joelle Shusterman

Du zerschneidest die Luft mit gelassener Ruhe.

Das ist der Moment, du hast ausgeholt

zum ersten Hieb mit deiner Axt,

wie eine Meisterin der Nachlese-Kunst.

Die Umstehenden erstarren in Ehrfurcht,

ahnungslos, was du als Nächstes tun wirst.

In vollkommener Balance wie auf einer Bühne

tanzt du in ihrer Mitte deinen brutalen Tanz.

Sterne verglühen, deine Robe fällt

einem Wasserfall gleich auf die Erde

in einem Regen aus Gold.

Aber das ist nicht die Wahrheit.

Dein Wert ist ohne Bedeutung

für die, die dir jetzt etwas bedeuten.

In den Augen von deinesgleichen

bist du in Wahrheit nicht mehr

als ein winziger Sonnenfleck.

Ein unbedeutender Fleck.

Und als du zum ersten Hieb ausholst,

lachen sie über dich.

Du möchtest dich über ihren Spott erheben,

auf bescheidene Weise Aufmerksamkeit erregen,

Gunst in den Augen der Alten finden,

die niemals alt sind.

Den Respekt der Jungen gewinnen,

die ihre Jugend gemetzelt haben.

Den Hochmut rechtfertigen,

der mit dem Stolz einhergeht,

auserwählt worden zu sein.

Aber auch das ist nicht die Wahrheit.

Es wird Jahre dauern, bis du die Wahrheit erkennst:

Jene, die du verehrst, sind selbst bloß Diener

der Gemeinschaft, die wir zu stutzen haben.

Vor vielen Jahren war es ihre Entscheidung,

uns die Wahl zu überlassen.

Die Zuschauer, ehrfürchtig, erschrocken und erleichtert,

sind die eigentlich Mächtigen,

die bei all deinen Taten die Fäden ziehen.

Vor ihnen stehen wir perfekt aufgereiht,

die scharfe Klinge einer Avantgarde,

die die Äxte schwingt,

jede gleicht jenen, die vor ihr kamen.

Wir sind einer in allen

Und alle in einem und

Wir.

Werden.

Töten.

Unser Mantra, Gebot und unsere Pflicht,

die Unsterblichen ihrer Sterblichkeit zu gemahnen.

Sie zu lehren,

dass die ewige Ruhe fern sein mag,

aber nicht für immer vergessen ist.

Wer sind wir?

Wir sind Scythe.

Und die Waffen, die wir benutzen,

Sind mitnichten unsere Freunde.

Die zerstörerische Kraft

von Kugel, Klinge und Knüppel

zerreißt uns täglich aufs Neue,

Tag für Tag, Stück für Stück,

lässt uns mit einer Wunde zurück, die nie heilen wird.

Das verbindet uns mit der Masse

und hindert uns doch, mit ihr eins zu sein.

Und bei jeder einzelnen Nachlese

bluten wir aufs Neue gebrochen

und bleiben doch unverändert entschlossen.

Denn wir sind Scythe.

Nichts kann das ändern.

Und wenn es an dir ist zu bluten,

wirst du es merken,

und du wirst lernen.

Kapitel 2: Formidabel

»Es braucht Zeit, Susan«, hatte Michael ihr erklärt. »Bald wird das Mädchen, das du einmal warst, in der Erinnerung verblassen. Du wirst komplett und vollständig in deiner neuen Identität leben.«

Er hatte gut reden – Michael war schon seit fünf Jahren Scythe. Sie fragte sich, wie lange er gebraucht hatte, um in sich selbst »zu leben«. Er war so durch und durch Faraday, dass sie sich ihn nicht als jemand anderen vorstellen konnte.

Ich bin Marie. Ich bin nicht Susan, erinnerte sie sich immer wieder. Denn sie musste die Scythe Marie Curie nicht nur darstellen, sondern anfangen, sich selbst so zu sehen. Sie musste es real spüren. Die öffentliche Person war eine Sache, aber diese Person in die eigenen Gedanken zu integrieren war eine ganz andere. Es fühlte sich an, als würde man in einer fremden Sprache denken.

»Irgendwann ist es keine Rolle mehr, die du spielst, sondern die Person, die du bist«, hatte Faraday ihr versichert. »Und ich habe so ein Gefühl, dass du, wenn es so weit ist, formidabel sein wirst!«

Im Moment fühlte sie sich allerdings kein bisschen formidabel. In den ersten Monaten waren ihre Nachlesen eher unauffällig gewesen. Zweckmäßig. Nützlich. Sie erledigte ihren Job, suchte jedoch noch nach einem Stil, der sie definieren würde. Ohne fühlte sie sich nachlässig. Ziellos.

In dieser Geistesverfassung kam Susan – nein, Marie – zum Herbstkonklave im Jahr des Marlins, ihrem ersten Konklave als offiziell berufene Scythe. Sie hatte naiverweise angenommen, die große Versammlung der Scythe würde leichter durchzustehen sein, wenn sie kein Lehrling mehr war, aber weit gefehlt …

Während die meisten Scythe in führerlosen Fahrzeugen, Publicars oder – die pompöseren Vertreter der Zunft – in Scythe-Limousinen eintrafen, fuhr Marie in einem Porsche aus der Sterblichkeitsära vor, den ihr der Sohn eines Mannes geschenkt hatte, den sie nachgelesen hatte. Anstatt den Wagen beim Aussteigen einem Mitglied der Bladeguard zu überlassen, wandte sie sich an die versammelte Menge.

»Kann irgendjemand einen nicht autonomen unregistrierten Schaltwagen fahren?«

Ein paar Hände reckten sich in die Höhe. Sie entschied sich für einen jungen Mann in ihrem Alter. Um die neunzehn. Als ihm klar wurde, dass er ausgewählt worden war, trat er eifrig wie ein junges Hündchen vor.

»Vorsicht«, warnte sie ihn. »Der Wagen hat es in sich.«

»Ja, Euer Ehren. Danke, Euer Ehren. Ich werde vorsichtig sein, Euer Ehren.«

Sie gab ihm die Schlüssel und hielt ihm ihre andere Hand hin. Er kniete nieder, um ihren Ring zu küssen; der Anblick ließ ein kleines Mädchen im Publikum entzückt aufjuchzen.

»Geben Sie die Schlüssel bei einem Mitglied der Bladeguard ab, dann landen sie schon wieder bei mir«, wies sie ihn an.

Er verbeugte sich vor ihr. Er verbeugte sich wirklich. In alter Zeit war die Verbeugung ein Zeichen der Lehenstreue gewesen – man bot einer königlichen Hoheit seinen Kopf zur Enthauptung an. Manche Scythe genossen diese kriecherische Unterwürfigkeit, doch Marie fand sie lächerlich und peinlich. Sie fragte sich, ob es Scythe gab, die Menschen, die sich vor ihnen verbeugten, wirklich enthaupteten.

»Es ist das Privileg eines Scythe, wahllos Menschen willkürliche Aufgaben aufzutragen«, hatte Michael ihr erklärt. »Genauso wie es das Privileg eines Scythe ist, sie für diese Dienste zu belohnen.«

Sie hatte gelernt, dass es nicht darum ging, sich überlegen zu fühlen – es war nur ein Weg, die Erteilung von Immunität zu rechtfertigen. So hatte Michael sie gelehrt, etwas, das man auch als Anspruch betrachten könnte, in eine freundliche Geste zu verwandeln.

Der junge Mann fuhr mit ihrem Wagen davon, und Marie schloss sich dem prunkvollen Umzug an – denn genau das war es: ein absichtsvolles Spektakel von Scythe, die in ihren bunten Roben die Marmortreppe zum Kapitol von Fulcrum City hinaufstiegen. Die festliche Ankunft war ebenso wichtig wie alle Angelegenheiten, die in dem Gebäude verhandelt wurden, denn es erinnerte die Öffentlichkeit daran, wie Ehrfurcht gebietend das Scythetum war.

Hinter einem Kordon der Bladeguard drängten sich auf beiden Seiten der Treppe jedes Mal Horden von Menschen, die hofften, einen Blick auf ihre Lieblingsscythe zu erhaschen. Einige Scythe produzierten sich für ihr Publikum, andere wahrten Distanz. Aber egal ob sie lächelten, winkten oder abschreckend finstere Mienen zogen, der Eindruck, den sie hinterließen, war wesentlich für das öffentliche Bild des Scythetums.

Als Marie die Stufen hinaufstieg, reagierte sie nicht auf die Menge. Sie wollte diesen Teil der Veranstaltung nur möglichst schnell hinter sich bringen und in das Gebäude gelangen. Und obwohl sie den Weg die Treppe hinauf zusammen mit anderen Scythe zurücklegte, fühlte sie sich mit einem Mal sehr allein. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr ihr diese gefühlte Isolation zusetzen würde. Bei ihren vorherigen Konklaven war sie als Lehrling immer in Begleitung von Faraday gekommen. Aber heute zeigte sich kein einziger Scythe in ihrer Nähe gesellig oder umgänglich.

Beim Frühlingskonklave vor vier Monaten hatten fünf Lehrlinge die Abschlussprüfung absolviert. Marie war die Einzige, die bestanden hatte, die Einzige, die zur Scythe berufen worden war. Deshalb blieb ihr nicht einmal die Kameraderie mit anderen Debütanten. Und natürlich konnte sie sich nicht mit den Nachwuchslehrlingen zusammensetzen, weil das unter ihrer Würde als Scythe war und ein schlechtes Licht auf sie werfen würde.

Die übrigen Scythe waren entweder zu beschäftigt damit, die Verehrung der Menge entgegenzunehmen, oder zu ichbezogen, um Maries Einsamkeit zu bemerken. Oder sie bemerkten sie doch und ergötzten sich daran. Nicht weil sie Marie persönlich nicht mochten, sie mochten bloß das Prinzip nicht, das sie verkörperte. Sie waren empört, dass ein so junger Scythe wie Faraday nur wenige Jahre nach seiner Berufung überhaupt einen Lehrling angenommen hatte. Und den Großteil ihrer Missbilligung bekam Marie ab.

Viele Scythe zelebrierten diese Missbilligung regelrecht. Sie behandelten Marie mit Verachtung und musterten sie mit geringschätzigen Seitenblicken, die erkennen ließen, dass ihnen die Farbe von Maries leuchtend violetter Robe missfiel. Für eine so knallige Farbe hatte Marie sich nur aus Trotz gegen ihre Tonisten-Eltern entschieden, die alle Farben außer gedeckten Erdtönen verabscheuten. Aber nun bereute sie ihre Wahl, weil sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihre Person lenkte.

Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, auch ihr Haar in demselben Ton zu färben – doch ihr Friseur hatte das Gesicht verzogen und erklärt, dass ihr wunderschöner geflochtener Zopf vor dem Hintergrund des Stoffes verblassen würde. »Silber!«, hatte er vorgeschlagen. »Oh, das wäre wirklich markant.«

Marie hatte seinen Rat angenommen. Ihr silberner, geflochtener Zopf fiel bis zur Taille auf den Rücken ihrer Robe. Sie hatte gedacht, diese Aufmachung würde ihr helfen, sich neu zu definieren und sich von einem Schützling Faradays zu einer eigenständigen Scythe zu emanzipieren, doch nun erkannte sie, dass der Plan nach hinten losgegangen war. Sie hörte Feixen und Kichern und wurde rot – was sie noch verlegener machte, weil sie den anderen damit zeigte, dass sie ihr zugesetzt hatten.

In dem Vorraum, wo für die Blicke und den Appetit aller Anwesenden das traditionelle üppige Frühstücksbuffet aufgebaut war, sprach sie endlich jemand an. Scythe Vonnegut kam auf sie zu, in seiner säuregebleichten Jeansrobe, die aussah wie die Mondoberfläche und an eine Zeit erinnerte, an die sich niemand recht erinnern konnte.

»Nun, wenn das nicht unsere ›Kleine Miss Tunichtgut‹ ist«, begrüßte er sie grinsend. Er hatte die Art Lächeln, bei dem sie sich immer unsicher war, ob es falsch oder aufrichtig war. Was den Spitznamen betraf, hatte Marie keine Ahnung, wer ihn geprägt hatte, doch er hatte sich durchgesetzt und noch vor ihrer Berufung im midMerikanischen Scythetum verbreitet. Die kleine Miss Tunichtgut. Es war bloß eine weitere Unfreundlichkeit, schließlich war sie weder klein noch besonders mutwillig. Sie war eine hochgewachsene junge Frau, schlank und schlaksig und kein bisschen schelmisch oder übermütig, eher mürrisch und immer viel zu ernst, um irgendwelchen Unfug auszuhecken.

»Es wäre mir lieber, wenn Sie mich nicht so nennen würden, Scythe Vonnegut.«

Er lächelte wieder zweideutig. »Es ist nur ein Kosename«, sagte er und wechselte das Thema. »Wirklich toll, was Sie mit Ihrem Haar gemacht haben!«

Wieder wusste Marie nicht, ob er sie verspottete oder ob er es ernst meinte. Sie würde lernen müssen, diese Leute besser zu durchschauen, auch wenn Scythe überaus versiert darin waren, unergründlich zu bleiben.

Sie entdeckte Faraday auf der anderen Seite des Raumes. Er hatte sie noch nicht gesehen. Oder vielleicht tat er nur so. Nun, was kümmerte es sie? Sie war jetzt selbst eine Scythe und keine unterwürfige Schülerin mehr – Herzensangelegenheiten hatten in ihrem Leben keinen Platz.

»Sie müssen lernen, weniger offensichtlich zu sein«, flüsterte Scythe Vonnegut ihr zu. »Man könnte Ihre Schwärmerei genauso gut an die Wände projizieren.«

»Was spielt das für eine Rolle? Scythe Faraday hegt keine Gefühle für mich.«

Wieder dieses Grinsen. »Wenn Sie das sagen.«

Ein Gong kündigte an, dass sie noch eine Viertelstunde Zeit hatten, sich den Bauch vollzuschlagen.

»Ich wünsche Ihnen ein gutes Konklave«, sagte Vonnegut und wandte sich zum Gehen. »Und essen Sie, bevor die Vielfraße nur noch Ruinen des Buffets übrig gelassen haben.«

Erst kurz bevor sie in den Plenarsaal gebeten wurden, sprach Michael sie in dem Vorraum an, doch ihre Unterhaltung war gestelzt. Beide waren sich allzu bewusst, dass man sie beobachtete, beurteilte und über sie tuschelte.

»Du siehst gut aus, Marie«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass du eine gute erste Saison hattest.«

»Ich habe meine Quote erfüllt.«

»Daran habe ich nicht gezweifelt.«

Sie dachte, er würde vielleicht für ein paar persönliche Worte nähertreten, doch stattdessen wandte er sich ab. »Schön, dich zu sehen, Marie.«

Sie fragte sich, ob er spüren konnte, wie ihr Mut sank.

 

Das Ritual des Konklavevormittags war öde bis quälend. Das Läuten der Namen. Zehn für jeden Scythe, ausgewählt aus den Dutzenden, die sie nachgelesen hatten. Maries Favoriten waren Taylor Vega gewesen, der ihr mit seinen letzten Atemzügen dafür gedankt hatte, dass sie ihn nicht vor den Augen seiner Familie nachgelesen hatte, und Toosdai Riggle, weil sie den Klang seines Namens mochte.

Schließlich widmete sich die Versammlung den anstehenden Themen. Die aktuelle, chaotische Debatte drehte sich um die Frage, was man wegen der Unruhestifter in der alten Hauptstadt unternehmen sollte. Aber eigentlich war es weniger eine Debatte als vielmehr eine Gelegenheit, sich zu beklagen.

»Die Windbeutel aus Washington rühren weiter in einem zunehmend ranzigen Gebräu«, sagte Scythe Douglass.

»Ja, aber das ist nicht unser Problem«, bemerkte High Blade Ginsburg. »Die alte Hauptstadt ist in EastMerica. Sollen die sich darum kümmern.« Als High Blade erinnerte sie die midMerikanischen Scythe beständig daran, sich aus Angelegenheiten herauszuhalten, die sie nichts angingen – aber dieses Mal irrte sie. Es war mehr als ein rein ostMerikanisches Problem.

Marie schnaubte, als die High Blade das Thema abtat. Eigentlich hatte es niemand hören sollen, aber irgendjemand neben ihr – sie glaubte, dass es Scythe Streisand war – stieß sie an.

»Wenn Sie eine Meinung haben, äußern Sie sie«, sagte sie. »Sie sind jetzt eine Scythe. Es wird Zeit, dass Sie lernen, rechthaberisch und von sich selbst überzeugt zu sein.«

»Niemand will hören, was ich zu sagen habe.«

»Ha! Niemand will hören, was irgendjemand zu sagen hat, aber man sagt es trotzdem. So läuft das hier.«

Also erhob sich Marie und wartete, bis High Blade Ginsburg sie bemerkte und einen Moment lang betrachtete, bevor sie sprach.

»Möchte unser neuestes Mitglied eine Meinung zu dem Thema äußern?«

»Ja, Eure Exzellenz«, sagte Marie. »Meinem Eindruck nach ist die alte Regierung aus der Zeit vor dem Thunderhead auch das Problem von MidMerica – weil sie nach wie vor die Herrschaft nicht nur über EastMerica, sondern auch über MidMerica und Texas beansprucht.«

Ohne darauf zu warten, das Wort erteilt zu bekommen, rief ein anderer Scythe: »Die läppischen Ansprüche der Washingtoner sind in der Realität bedeutungslos! Ein Ärgernis, mehr nicht.«

»Aber solange sie Ärger machen«, entgegnete Marie, »schwächen sie alles, wofür wir stehen.«

»Sie wettern gegen den Thunderhead«, sagte der Scythe, der unaufgefordert gesprochen hatte, »soll der Thunderhead das regeln.«

»Das ist kurzsichtig!«, wagte Marie zu widersprechen. »Wir können nicht leugnen, dass das Scythetum und der Thunderhead zwei Seiten einer Medaille sind. Wenn eins bedroht wird, ist auch der andere angegriffen.«

Darauf reagierte das übrige Konklave mit einem leisen Grummeln. Marie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.

»Sollen die Politiker der alten Welt ihren bitteren Zorn verbreiten«, rief ein anderer. »Wenn der Thunderhead es zulässt, sollten wir es auch tun.«

»Der Thunderhead ist verpflichtet, ihre Freiheit zu akzeptieren – einschließlich ihrer Freiheit, die Ordnung zu stören«, erwiderte Marie. »Aber wir haben diese Verpflichtung nicht. Das heißt, dass wir in der Sache tatsächlich handeln können.«

High Blade Ginsburg verschränkte die Arme. »Und was schlägt die Ehrenwerte Scythe Curie vor, was wir tun sollten?«

Alle Blicke richteten sich auf sie. Marie wurde unvermittelt von großer Verlegenheit erfasst wie von einem rauen Herbstwind.

»Wir … wir können machen, was der Thunderhead nicht machen kann. Wir lösen das Problem …«

Schweigen. Dann rief von der anderen Seite des Raumes ein anderer Scythe mit volltönender Stimme. »Könnte es sein, dass die ›Kleine Miss Tunichtgut‹ ihrem Namen endlich alle Ehre macht?«

Das löste ein herzliches Gelächter in der Versammlung aus, das in der gesamten Kammer widerhallte. Marie versuchte, es mit Würde zu ertragen, doch sie spürte, wie ihr Mut und ihre Entschlossenheit bröckelten.

Nachdem die Heiterkeit sich gelegt hatte, wandte High Blade Ginsburg sich immer noch glucksend in ihrem gönnerhaftesten Ton an Marie: »Mein liebes Nachwuchsflorett, die Stabilität des Scythetums gründet sich auf Beständigkeit und ruhige Erwägung. Sie wären gut beraten, nicht so … rückwärtsgewandt zu sein, Scythe Curie.«

»Hört, hört!«, pflichtete jemand bei.

Und das war’s. Die High Blade rief einen anderen Tagesordnungspunkt auf, und die Debatte wandte sich der Frage zu, ob es Scythe verboten werden sollte, denselben Nachnamen wie ein anderer lebender Scythe anzunehmen, weil es aktuell permanente Verwechslungen zwischen den Scythe Armstrong, Armstrong und Armstrong gab.

Marie stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen ihren Atem aus, und es klang wie ein Zischen. »Na, das war sinnlos.«

»Stimmt«, bestätigte Scythe Streisand, »aber es war unterhaltsam.«

Das verärgerte Marie nur noch mehr. »Ich bin nicht zur Unterhaltung von irgendjemandem hier.«

Scythe Streisand bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. »Ehrlich, Kindchen, wenn Sie nicht mit einer kleinen Klatsche klarkommen, haben Sie hier als Scythe nichts zu suchen.«

Darauf biss Marie sich auf die Lippe und schluckte alle Erwiderungen hinunter. Sie schaute zu Faraday auf der anderen Seite der Kammer. Er würdigte sie keines Blickes. War ihm ihr Auftritt peinlich? War er zufrieden, dass sie eine Meinung geäußert hatte? Sie konnte es unmöglich sagen. Er hatte jedenfalls keinen Finger gerührt, um sie zu unterstützen. Aber war das so überraschend? So ungern Marie es zugab, es war richtig, dass Michael sich von ihr distanzierte – nicht nur wegen der Gerüchte und des Klatsches, sondern auch weil Marie sich ohne ihn beweisen musste. Aber wie konnte sie bei dieser Meute je etwas leisten, worauf die anderen nicht mit Feixen, Kichern oder verschränkten Armen reagieren würden?

»Scythe sind Figuren der Aktion«, hatte Farady ihr während der Lehre erklärt und mit einem spitzbübischen Grinsen hinzugefügt: »nicht nur weil man Actionfiguren von uns macht.«

Er hatte recht. Ein Scythe musste entschlossen und ohne Zögern handeln – selbst wenn es schwierig war. Wenn Marie sich beweisen wollte, musste sie etwas so Atemberaubendes tun, dass dem Scythetum keine Luft mehr zum Lachen übrigblieb.

 

Marie lebte allein. Wie die meisten Scythe. Es gab kein Gebot, dass die Einsamkeit vorschrieb. »Du sollst haben weder Ehepartner noch Nachwuchs« bedeutete nicht, dass man keinen Geliebten oder Gefährten haben durfte. Aber Marie hatte schnell herausgefunden, was die meisten Scythe bereits wussten: Jeder, der sich für das Zusammenleben mit einem oder einer Scythe entschied, war kein Gefährte, mit dem man sein Zuhause teilen wollte.

Einige junge Scythe kehrten in ihr Elternhaus zurück, doch das hielt nie lange. Marie könnte niemals wieder zu ihren Eltern ziehen, selbst wenn diese nicht Mitglieder dieses absurden Tonisten-Kults wären. Sie konnte sich nicht vorstellen, nach einer Nachlese nach Hause zu kommen und ihnen gegenüberzutreten. Nachlesen waren zwar ein lebenswichtiger, beinahe heiliger Dienst an der Menschheit, aber Tod blieb Tod, und Blut blieb Blut.

Marie hatte ein recht großes Haus im Wald bezogen, mit hohen Decken und riesigen Fenstern mit Blick auf die Berge und einen murmelnden Bach. Sie hatte festgestellt, dass das Geräusch von fließendem Wasser sie beruhigte und innerlich reinigte. Sie hatte gehört, dass es irgendwo eine berühmte Residenz gab, durch die tatsächlich ein Fluss floss. Das war irgendwann eine Erkundung wert, doch für den Moment war sie zufrieden mit ihrem rustikalen Heim. Sie hatte es mit Mitteln des Scythetums gekauft, anstatt es dem Besitzer einfach wegzunehmen, wie es manche Scythe machten. Nach vier Monaten war das Haus nach wie vor kaum möbliert. Ein weiterer Aspekt der Tatsache, dass sie nicht in ihrer Identität »lebte«.

Am Tag nach ihrer Rückkehr von dem Konklave machte sie einen Spaziergang durch den Wald, weil sie hoffte, dass die klare erdige Luft das üble Gefühl vertreiben würde, das das Konklave bei ihr hinterlassen hatte. Aber dann traf sie auf ihrem Weg auf zwei Joggerinnen, die laut darüber tratschten, wer seinen Ehepartner in virtuellen Bordellen betrog, wer für ausgefallene Körperveränderungen nach Tasmanien geflogen war und wer sich ohne guten Grund resetten ließ. Es erinnerte Marie an die kleinlichen Intrigen auf dem Konklave.

Marie las beide Joggerinnen nach und bereute es augenblicklich. War es nicht ebenso kleinlich, sie wegen ihres Klatsches zum Tode zu verurteilen? Außerdem waren es keine sauberen Nachlesen. Hätte Marie ihre Arbeit korrekt erledigt, hätten die Herzen der beiden schnell aufhören sollen zu schlagen, und die Sauerei wäre minimal geblieben. Aber dieses Mal nicht. In ihrem Kopf hörte sie Michaels Stimme, der sie tadelte und ermahnte, die Kunst des Tötens zu trainieren.

Als Marie heimkehrte, strich ihre Katze Sierra um ihre Knöchel. Marie hatte eine teilzeitbeschäftigte Haushälterin – der einzige Luxus, den sie sich gönnte –, die beim Anblick von Maries blutbespritzter Robe erschrocken die Luft anhielt. Das tat sie jedes Mal und entschuldigte sich dann stets dafür, aber Marie war dankbar für ihre ehrliche Reaktion. Die Folgen einer Nachlese sollten schockierend sein. Wenn sie das irgendwann nicht mehr sein würden, wäre etwas verkehrt.

»Debora, könntest du diese Robe bitte in die Reinigung bringen?«, fragte Marie. »Sag ihnen, es ist nicht eilig, ich habe noch zwei andere.«

»Ja, Euer Ehren.«

Die Reinigung bewirkte bei den Roben immer wahre Wunder … obwohl Marie manchmal den Verdacht hatte, dass man ihr einfach neue gab.

Nachdem Debora gegangen war, ließ Marie sich ein Bad ein, um die Spuren des Tages abzuwaschen, und machte den Fehler, die Nachrichten einzuschalten, während sie sich in dem heißen Wasser durchweichen ließ.

Präsident Hinton von Alt-Amerika hatte einem Armeecorps von Ingenieuren, das aus irgendeinem seltsamen Grund noch existierte, den Befehl erteilt, die zerebralen Netzknoten des Thunderhead zu demontieren.

»Es ist unsere moralische Pflicht, diese große Nation aus dem Würgegriff der großen dunklen Wolke zu befreien«, sagte Hinton in seinem typisch salbadernden Tonfall – aber es waren nicht mehr als Worte in einem Whirlpool. Die öffentliche Meinung stand nicht auf Hintons Seite. Tatsächlich hatte nicht einmal jeder Zwanzigste überhaupt noch gewählt. So gut wie jeder wusste, dass das Konzept einer Regierung an sich obsolet war, nur eine verschwindende Minderheit teilte Hintons negative Ansichten über den Thunderhead. Aber Hinton und seine Spießgesellen hatten natürlich behauptet, dass die Umfragen des Thunderheads allesamt gefälscht waren. Hinton war so in seiner eigenen Blase giftiger Unwahrheiten gefangen, dass er sich eine Wesenheit, die unfähig war zu lügen, gar nicht vorstellen konnte.

Es war allseits bekannt, dass der Thunderhead Hinton das Gleiche angeboten hatte, was er Präsidenten seit Jahren schmackhaft zu machen versuchte: einen ehrenhaften Rücktritt, Exil an einem beliebigen Ort auf der Welt für ihn und sein Kabinett samt ihren Familien. Man würde ihnen eine neue Zukunft schenken, in der sie frei waren, jeder beliebigen Tätigkeit nachzugehen, solange es sich nicht um eine Position politischer Macht handelte. Hinton war bloß einer in einer Reihe von Präsidenten, die sich rundweg geweigert hatten.

»Ich mache Mr. Hinton keinen Vorwurf«, hatte der Thunderhead wie immer großmütig erklärt. »Niemand gibt freiwillig Macht ab. Widerstand ist eine natürliche und erwartbare Reaktion.«

Nach ihrem Bad saß Marie vor einem knisternden Feuer, nippte an einem Kakao und versuchte, in diesen einfachen Freuden Trost zu finden, doch ihr Unbehagen blieb. Als würde Sierra es spüren, sprang sie so behutsam auf Maries Schoß, dass der Kakao sich nicht einmal kräuselte. Dies war das dritte Leben der Katze. Marie hatte beschlossen, ihr neun Leben zu gönnen. Es fühlte sich poetisch an. Es fühlte sich gerecht an. Aber nicht immer war Gerechtigkeit so gefällig …

Seit dem Konklave hielt sich hartnäckig ein Gedanke in Maries Hinterkopf. Ein erschreckender, vielleicht sogar gefährlicher Gedanke. Sie hatte ihn nicht an die Oberfläche steigen lassen, hatte versucht, ihn zu unterdrücken, hatte sich mit hundert anderen Dingen beschäftigt. Aber während sie jetzt Sierra kraulte, wusste sie, dass dieser Augenblick sanften schnurrenden Wohlbehagens nicht von Dauer sein würde.

Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie eine Reise nach Washington unternehmen würde.

 

Der beunruhigende Zustand des District of Columbia machte deutlich, dass der Thunderhead bei all seiner Vollkommenheit einen passiv-aggressiven Zug hatte. Der als Washington Mall bekannte ausgedehnte Grüngürtel war weitgehend von der Natur zurückerobert worden. Eigenartig, weil der Thunderhead sonst akribisch für die Pflege von Parks und Gärten sorgte – doch die Grünanlagen von Washington wurden komplett ignoriert. Und nicht nur das, der Thunderhead hatte auch beschlossen, keinerlei Anstrengungen für den Erhalt der Infrastruktur der Region zu unternehmen. Er hatte aufgehört, sich um die Reparatur von Straßen und Brücken zu kümmern, und schon vor langer Zeit alle Museen der Smithonian Institution umgesiedelt, so dass nur die leeren Hüllen der alten Gebäude übrig geblieben waren.

Irgendwann hatte der Thunderhead zudem die komplette Beschilderung der Stadt ausgetauscht, die jetzt offiziell als »Washington Ruins« bekannt war.

Und als ob all das noch nicht reichte, hatte der Thunderhead Clubs und Orte für Widerlinge geschaffen, so dass mit der Zeit fast alle Bewohner ohne Widerling-Status fortgezogen waren.

All das folgte einem Plan – der ehrwürdige Ort sollte nicht diskreditiert, sondern in der Vergangenheit versiegelt werden, genau wie die Ruinen uralter Weltreiche. Washington sollte nach wie vor respektiert werden, aber nur auf die Art, wie man die verfallenden Zeugnisse der Antike bewundert.

Trotzdem hielten sich Reste der alten amerikanischen Regierung. Politiker, die sich als letzte Bastion einer besseren Zeit verstanden. Besser für sie vielleicht, aber genau wie alle anderen Regierungen vor der Herrschaft des Thunderhead keineswegs besser für alle anderen. Diese Politiker hatte keine reale Macht mehr – sie konnten nur poltern und versuchen, eine lose Naht im silbernen Gewebe des Thunderhead zu finden.

Ungeachtet all ihrer verbalen Attacken setzte der Thunderhead seine Kampagne wohlwollender Vernachlässigung fort und behandelte die Politiker innerhalb der maroden Stadtumgehung wie ein Vermieter der Sterblichkeitsära vielleicht einen Mietnomaden behandelt hätte. Er vertrieb sie nicht, sondern machte das Bleiben nur zunehmend beschwerlich.

Die meisten verstanden den Wink und machten sich auf zu angenehmeren Ufern. Der Kongress hatte sich aufgelöst, als der Thunderhead die Vereinigten Staaten von Amerika in die verschiedenen merikanischen Regionen aufgeteilt hatte. Die Justiz existierte nur noch, um sein unfehlbares Urteil abzunicken. Mit dem Verschwinden der Idee von »Nationen« war auch die Landesverteidigung überflüssig geworden – die letztendlich ein Hauptzweck dieser Nationen gewesen war.

Nun war nur noch die Exekutive übrig, der Präsident und sein Kabinett, die sich an ihre Posten klammerten wie störrisches Herbstlaub, das sich weigert zu fallen …

 

Marie traf an einem kühlen Novembertag zwei Monate nach dem Herbstkonklave ein. Sie hatte niemandem erzählt, was sie vorhatte. Dann konnte auch niemand über sie spotten, wenn es nicht gut lief.

Weil die Straßen nicht mehr instand gehalten wurden, war ihr in einem üblen Schlagloch in der Constitution Avenue ein Reifen geplatzt, so dass sie die letzte Meile zu Fuß zurücklegen musste.

Widerlinge lungerten in Gruppen herum, wie Widerlinge es zu tun pflegen, soffen sich blöde und zerstörten, was zu zerstören übrig geblieben war. Komisch, dass sie nie kapierten, dass sie dabei eigentlich dem Plan des Thunderhead Folge leisteten. Sie bauten die alte Stadt ab wie Bakterien die Überreste einer Leiche.

»Hey, Süße«, neckte einer von ihnen sie. »Ich hab deine Immunität gleich hier.« Als wäre es ein Zeichen von Mut, eine Scythe zu verspotten, und nicht hemmungslose Dummheit.

Marie ignorierte ihn sowie die Pfiffe und zotigen Bemerkungen, die aus dem Schatten entlang des Weges an ihr Ohr drangen. Es lohnte die Energie nicht, sich davon verstimmen zu lassen. Widerlinge machten, was sie so machten, nämlich eigentlich gar nichts, weil der Thunderhead ihnen nichts erlaubte, was wirklich widerlich war.

Das Weiße Haus samt umliegendem Grundstück war das einzige gut erhaltene Gebäude in der Umgebung, eine Oase hinter einem hohen Zaun, der rund um die Uhr bewacht wurde. Aber das war natürlich nur Theater.

Am Haupttor standen zwei Wachen in Tarnkleidung mit einschüchternden automatischen Waffen. Marie musste ein Lachen unterdrücken. Tarnkleidung? Im Ernst? Sie hätten eine mittelalterliche Rüstung tragen sollen, das wäre hübscher gewesen.

»Lassen Sie mich durch«, befahl sie.

Die beiden fassten ihre Waffen fester. »Das können wir nicht machen, Ma’am«, sagte einer von ihnen.

»Sie werden mich mit ›Euer Ehren‹ ansprechen und Sie werden zur Seite treten.«

Ihre Blicke wurden hart, und sie rührten sich nicht, doch Marie erkannte, dass sie Angst hatten.

»Was wollen Sie machen, mich erschießen?«, fragte sie. »Ihre Waffen sind nicht mal geladen.«

»Das wissen Sie nicht.«

»Natürlich weiß ich das. Der Thunderhead erlaubt es nicht, dass irgendjemand eine geladene Waffe besitzt. Mit Ausnahme von Scythe. Sie haben Glück, dass der Thunderhead Sie überhaupt mit diesen Spielzeugen herumhantieren lässt.«

»Euer Ehren«, sagte die andere Wache mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme, »wir machen bloß unseren Job.«

Nein, sie vergeudeten bloß ihre Zeit. »Ich möchte eine Unterhaltung mit Ihrem Boss führen«, erklärte Marie. »Wenn ich Sie dafür nachlesen muss, werde ich das tun. Also, was machen wir nun?«

Sie wartete. Die beiden blieben stur auf der Stelle stehen. Marie griff unter ihren Umhang, um einen Dolch zu ziehen –

Sofort senkte der Wachmann zur Linken die Waffe und trat zur Seite. Sein Kollege folgte seinem Beispiel umgehend.

»Weise Entscheidung«, sagte Marie, schritt durch das Tor und über die Rasenfläche auf der Südseite des Gebäudes, ohne sich noch einmal umzudrehen, um zu sehen, ob die Wachen ihre Waffen weggeworfen hatten und gegangen waren oder ob sie auf ihrem sinnlosen Posten verharrten.

Die Wachen am Vordereingang mussten irgendwie erfahren haben, dass eine Scythe auf dem Gelände war, denn die Tür war unbesetzt. Entweder sie hatten den Befehl zum Rückzug erhalten oder waren desertiert.

Im Innern des Gebäudes sah es genauso aus, wie Marie es sich vorgestellt hatte. Der beige-weiß geflieste Fußboden, die mit rotem Teppich ausgelegten Treppen. Ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben war, so dass er sich seit der Sterblichkeitsära kein bisschen verändert hatte. Porträts lange verstorbener Präsidenten blickten wehmütig von den Wänden, zwischen erhebenden Kunstwerken, die die Vorzüge demokratischer Herrschaft durch das Volk für das Volk feierten. Ein wundervoller Traum, der manchmal sogar funktionierte, doch solange Menschen fehlbar waren, konnte diese Herrschaft nie vollkommen sein. Für Perfektion brauchte es den Thunderhead. Und Scythe.

Auf ihrem Weg begegnete Marie einigen weiteren Wachen, jedoch längst nicht so vielen, wie sie erwartet hatte. Alle legten ihr ihre ungeladenen Waffen zu Füßen. Nur als sie den West Wing betreten wollte, stieß sie auf Widerstand. Ein einzelner Soldat hielt seinen Posten am Fuß der Treppe.

»Bitte zwingen Sie mich nicht, ihn zu verraten, Euer Ehren«, sagte er.

Er schien sich innerlich dafür zu wappnen, nachgelesen zu werden, was Marie jedoch nicht tat. Darauf entspannte er sich minimal. Er ließ Marie nicht ausdrücklich passieren, er tat vielmehr so, als wäre die Scythe gar nicht da. Er hielt seine Stellung, aber nur so, wie ein Fels in einem Fluss die Stellung hält. Marie floss an ihm vorbei und die prachtvolle Treppe hiauf.

Der sogenannte Präsident war weder in seiner Residenz, dem Oval Office, noch an einem der anderen üblichen Orte in dem weitläufigen Gebäude. Dann spielen wir eben verstecken, dachte Marie.

Sie steckte ein Sicherheits-Pad ein, das ihr, so verlangte es das Gesetz, den Zugriff erlaubte, und verschaffte sich damit Zutritt zu einem von mehreren geheimen Fluren. Vielleicht waren diese Gänge der Öffentlichkeit unbekannt, doch es gab keine Information, die sich Scythe nicht beschaffen konnten, und Scythe Curie hatte ihre Hausaufgaben gründlich erledigt. Sie stieg mehrere Treppen hinunter bis zu einem Betonbunker unter dem altehrwürdigen Gebäude, der konstruiert war, Angriffen jeder Art standzuhalten.

Niemand hielt sie auf, als sie sich der Tür der hoch gesicherten Stahlkammer näherte. Das Sicherheits-Pad las ihre biometrischen Daten, das massive Verriegelungssystem löste sich, und die Tür ging schwerfällig auf.

Dahinter hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen in einer Art Kommandozentrale versammelt. An den Wänden hingen Karten und Bildschirme, dazwischen eine gerahmte Flagge aus der Zeit, als solche Banner noch als Unterscheidung zwischen verschiedenen Ländern und Regionen dienten.

Als die Anwesenden Scythe Curie in ihrer leuchtend violetten Robe mit einem Dolch in der Hand erblickten, hielten sie entsetzt die Luft an und begannen zu wimmern. Marie erkannte jedes Gesicht. Dies war das Kabinett des Präsidenten und darunter auch Präsident Hinton persönlich.

Einige wandten sich von Marie ab und ließen unterwürfig kapitulierend die Köpfe sinken, andere bedeckten die Augen in der Hoffnung, noch für ein paar kostbare Momente leugnen zu können, was diese Augen ihnen sagten. Nur der Präsident blickte sie mit loderndem Trotz direkt an.

»Ich bin Scythe Marie Curie«, sagte sie. »Ich bin sicher, Sie wissen, warum ich hier bin.«

»Sie sind kaum mehr als ein Kind«, höhnte Hinton. »Und Sie sind nicht einmal aus dieser Region.«

»Ich dachte, Sie erkennen die Regionen des Thunderhead nicht an«, entgegnete sie. »Aber das spielt auch keine Rolle. Scythe sind nicht an ihre Regionen gebunden. Wir können nachlesen, wo immer es uns beliebt.«

»Sie haben kein Recht, herzukommen und mich zu bedrohen.«

»Natürlich habe ich das, Mr. President«, antwortete sie. »Die Menschheit hat mir das Recht gegeben zu tun, was mir gefällt. Das ist das Gesetz, unter dem wir jetzt leben – oder hatten Sie das vergessen?«

»Sie werden jetzt sofort gehen!«, befahl Hinton. »Und ich werde dieses Eindringen vielleicht vergessen.«

Marie gluckste. »Wir wissen beide, dass es nur einen Weg gibt, wie ich diesen Ort verlassen werde«, erklärte sie ihm.

Der Außenminister beugte sich vor und flüsterte Hinton ins Ohr: »Scythe sind für ihre Verhandlungsbereitschaft bekannt. Ich könnte einen Deal aushandeln.«

»So eine Scythe bin ich nicht«, sagte Marie.

»Nein«, stimmte Hinton ihr mit triefender Abscheu zu. »Sie sind die schlimmste Sorte von Scythe. Jung, idealistisch und starrköpfig. Sie glauben, Ihre Sache ist so rein und glänzend wie Ihre Klinge.«

»Vielleicht bin ich all das«, räumte Marie ein, »aber ich bin auch unausweichlich.«

In diesem Moment versuchte einer der Minister, zur Tür zu stürzen. Und es begann.

Marie war flink mit dem Dolch. Ihre Meisterschaft war ein staunenswerter Anblick – und bald würde die Welt sie in der Tat zu sehen bekommen, weil in jeder Ecke des Raumes Kameras montiert waren. Das wusste Marie, doch sie bot keine Vorstellung. Sie erledigte einfach nur zweckmäßig und würdevoll ihre Pflicht. Einer nach dem anderen fiel, bis nur noch Hinton selbst übrig war. Er kauerte in einer Ecke, all seine Großspurigkeit war verflogen.

Marie wusste instinktiv, dass dies ein Wendepunkt war. Nicht nur für sie, sondern für die ganze Welt, die gesamte Menschheit. Spürte Hinton das auch? Zitterten seine Hände deswegen?

»Es gibt keinen Platz mehr für Sie«, erklärte sie ihm. »Die Zivilisation ist vorangeschritten.«

»Na gut, ich trete ab«, bettelte er. »Ich gehe ins Exil. Sie werden mich nie wiedersehen.«

Aber Marie schüttelte den Kopf. »Damit wäre der Thunderhead zufrieden gewesen. Und wenn Sie seinem Angebot vor dem heutigen Tag zugestimmt hätten, wäre ich nicht hier. Aber Sie wollten das Exil nicht annehmen. Und ich arbeite nicht für den Thunderhead!«

»Das werden Sie noch bereuen«, sagte Hinton. »Merken Sie sich meine Worte: Sie werden den Tag, an dem Sie diese Entscheidung getroffen haben, gewiss bitter bereuen. Und dann –«

Aber jeder Monolog, den er womöglich geplant hatte, wurde mit einem einzigen Hieb an der Wurzel gekappt.

 

Marie ging die Treppe hinauf, zurück in das eigentliche Weiße Haus, und versuchte zu begreifen, was sie getan hatte. Sie hatte den Weg für die ungestörte Herrschaft des Thunderhead frei gemacht. Außerdem hatte sie die Macht und Souveränität des Scythetums in einer Weise gefestigt wie kein Mensch vor ihr. Sie fragte sich, ob sie gegen das Zweite Scythe-Gebot verstoßen hatte. Würde man die Nachlese der letzten lästigen Gestalten sterblicher Herrschaft als Voreingenommenheit betrachten? Und wenn, was konnte das Scythetum ihr schlimmstenfalls antun? Sie zensieren? Ihr für ein oder zwei Jahre das Recht zur Nachlese aberkennen? Die Welt von der Vergangenheit zu befreien war gewiss jeden Preis wert.

In der Residenz des Präsidenten fand sie ein Badezimmer und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Das Ganze war eine schmutzige Angelegenheit gewesen – das Blut an ihren Händen konnte sie abwaschen, aber ihre von Spritzern bedeckte und getränkte Robe blieb ein furchterregender Anblick.

Deshalb wendete sie den dicken Stoff nach innen, um das Blut zu verbergen. Sie hatte vermutet, dass es merkwürdig aussehen würde, aber das Futter ihrer Robe war aus lavendelfarbener Seide, ein dezenter, gedämpfter Farbton, der ihr, wie sie feststellte, eigentlich viel besser gefiel als das grelle Violett.

Entscheidende Wendepunkte der Geschichte entwickeln ihre eigene Anziehungskraft, deshalb sah Marie sich, als sie ins Freie trat, einer kleinen, aber wachsenden Menschenmenge gegenüber. Das Tor war geöffnet, die Wachen waren verschwunden. Und fast jeder in der Menge hatte irgendein Gerät in der Hand, mit dem er diesen Moment als neuen Fixpunkt für die Nachwelt aufnahm, streamte und festhielt.

Marie wurde bewusst, dass sie sich keine Rede zurechtgelegt hatte, aber irgendwas musste sie sagen. Deshalb kamen die Worte, die sie sprach – Worte, die bald auf der ganzen Welt bekannt sein würden –, wirklich von Herzen.

»Was ich heute getan habe, ist meine Last und mein Geschenk«, erklärte sie der Menge. »Die Zukunft ist uneingeschränkt offen. Es könnte keinen helleren Tag geben. Lang leben wir alle!«

 

Vielleicht wäre der Thunderhead in der Lage gewesen vorauszusagen, was in der Folge geschah, Marie jedoch war es gewiss nicht. In den Wochen nach der Nachlese wurde ihre Tat überall auf der Welt kopiert. Monarchen, Diktatoren und Staatsoberhäupter von Nationen, die größtenteils nicht mehr existierten, wurden einer nach dem anderen nachgelesen, bis kein Einziger mehr übrig war. Nationen waren offiziell aufgelöst, die einzige Trennung war jetzt die nach Regionen. Alle waren gleich, niemand stand im Wettbewerb mit anderen. Kein »die« mehr, nur noch »wir«. Und bei jeder politischen Nachlese wurden dieselben Worte gesprochen.

»Die Zukunft ist uneingeschränkt offen. Lang leben wir alle!«

Der Thunderhead, der die Mechanismen von Leben und Tod grundsätzlich nicht kommentierte, hatte in typischer Untertreibung nur dies zu sagen: »Ich habe nicht darum gebeten, doch es wird meine Verwaltung des Planeten ein wenig leichter machen.«

Trotzdem konnte Marie die letzten Worte des Präsidenten nicht vergessen. Dass sie den Tag bereuen würde, an dem sie diese Entscheidung getroffen hatte. Sie fragte sich, wann der Moment kommen würde.

 

Bei Maries Ankunft zum Winterkonklave wartete derselbe junge Mann wie beim letzten Mal auf sie, um ihren Porsche zu parken. Offenbar hatte er entschieden, dass dies seine dauerhafte Berufung war. Als sie die Marmortreppe vor dem Kapitol von Fulcrum City erreichte, wandten sich alle Blicke in der Menge, die die Scythe-Prozession verfolgte, ihr zu, und die Menschen begannen zu flüstern. Das Getuschel erstarb jedoch schnell wieder. Andere Scythe bemerkten Marie, traten zur Seite und ließen ihr den Vortritt.

»Die neue Robe steht Ihnen, Scythe Curie«, sagte Scythe Vonnegut ohne Feixen und jeden Hauch von Ironie. Sie bedankte sich mit einem Nicken. Dann drehte sie sich zum ersten Mal auf den Stufen um, wandte sich der Menge zu beiden Seiten der Treppe zu und winkte den Menschen knapp zu, die sich offenbar bereitwillig von ihr verzücken ließen. Sie hatte gehört, dass man sie jetzt die »kleine Miss Mord« nannte, was sie sehr viel weniger ärgerte, als sie gedacht hätte. Es verlieh ihr eine Persönlichkeit, die sie motivierte, ihr zu entwachsen.

Es war seltsam, doch auch die anderen Scythe wirkten nicht mehr einschüchternd. Marie brannte darauf zu sehen, wie Michael sich ihr gegenüber verhalten würde. Vielleicht betrachtete er sie jetzt weniger als Schülerin und mehr als seinesgleichen. Ein Zusatzbonus ihrer berüchtigten Nachlese.

Als sie den äußeren Vorraum des Plenarsaals betrat, wo das üppige Konklavenfrühstück wartete, hörte sie, wie eine Scythe, die sie gar nicht kannte, zu einer anderen sagte:

»Ich habe keine Zweifel, dass sie eines Tages High Blade werden wird. Das Mädchen ist formidabel.«

Marie lächelte, denn endlich war auch ihre eigene Zukunft uneingeschränkt offen.

Kapitel 3: Arbeite niemals mit Tieren

Co-Autor Michael H. Payne

Scythe Fields hielt sich den Hotdog unter die Nase, atmete tief ein und wieder aus. »Oh, der Duft von gutem, scharfem Senf unter einem vollkommenen, tiefblauen Himmel!« Er drehte sich um und strahlte den Hot-Dog-Verkäufer an. »Es gibt doch nichts Besseres auf der Welt, Charles.«

»Ja, Euer Ehren«, seufzte Charles.

Dieser Charles war eine Trantüte. Fields hätte ihn schon vor Jahren nachgelesen, wären seine Hot Dogs nicht so phantastisch. Die Würstchen waren ganz gewöhnlich, das schon, aber der Kerl konnte die Dinger phänomenal zubereiten. Genau die richtige Menge Senf, Krautsalat – knackig, nicht pampig – und ein perfekt temperiertes Brötchen. Fields inhalierte den Hot Dog fast, dann klopfte er sich die Krümel von der goldbraunen Robe.

»Ich glaube, ich nehme noch einen.« Fields lehnte sich gegen den Wagen und beobachtete die Einwohner Oxnards, WestMerica, wie sie durch den Park am Meer flanierten – die Blätter warfen in der Meeresbrise flackernde Schatten über die grasbewachsenen Hügel und gewundenen Pfade. »Wenn doch nur alle Tage so sein könnten!«, sagte er und blickte Charles an, wartete auf eine Reaktion.

»Meistens sind sie das«, sagte Charles mit seiner düsteren Stimme. »Regen oder Wolken gibt’s nur, wenn der Thunderhead es so bestimmt – also dann, wenn es die Leute wollen, vermute ich.«

Ein einfaches Nicken oder Lächeln, das hatte Fields ihm entlocken wollen – oder vielleicht sogar etwas Überschwänglicheres. Vielleicht eine ernst gemeinte Aussage, dass diese Stadt nur wegen Scythe Fields Bemühungen so wundervoll wäre – und nicht wegen des Thunderhead –, von dem Fields als Scythe ohnehin nichts hatte. Fields blickte finster drein, er war genervt, dass Charles ihn auf etwas Unschönes hingewiesen hatte. Fields merkte, wie seine Hand reflexartig nach dem Stockdegen griff, der an seinem Arm hing – ein Impuls, dem er sehr häufig nachgab.

Am häufigsten las er nach, wenn er sich über jemanden ärgerte – das hatten nachlässige Kellner, mürrische Teenager und unaufmerksame Haustierbesitzer in diesem Bereich der Küste in den letzten dreißig Jahren seiner Tätigkeit als Scythe am eigenen Leib erfahren müssen.

Aber so muffig Charles auch sein konnte, so angerührt war Fields von der Liebe, mit der er seine Arbeit verrichtete. Sogar jetzt sah man es an der Art und Weise, wie er das Würstchen ins Brötchen legte – wie ein Baby in die Wiege. Deswegen konnte Fields über seine vielen Fehler hinwegsehen.

Der Scythe schnappte sich den Hot Dog, obwohl Charles noch gar nicht fertig war. »Ich nehme auch noch einen dritten, wenn du so lieb wärst, Charles«, sagte Fields. »Ich versuche, ein paar Pfund zuzulegen, wie Xenokrates – der High Blade drüben in MidMerica.« Fields tätschelte den kaum sichtbaren Bauch unter seiner Robe. »Aber leider kann ich essen, was ich will, mein Körper arbeitet gegen mich.« Er nahm einen Bissen seines Hot Dogs und dachte nicht weiter darüber nach.

Ein leichtes Räuspern von Charles. »Sie könnten Ihre Naniten justieren lassen, Euer Ehren, dann nehmen Sie zu.«

Der Bissen wäre fast in die falsche Röhre gerutscht; Fields hustete, beugte sich nach vorne, stampfte mit dem Fuß auf, hatte seine Luftröhre wieder unter Kontrolle und schluckte angestrengt. »Und mich geschlagen geben?« Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Geist über Materie, Charles! Das ist das Leitprinzip, das diese Welt zu dem gemacht hat, was sie heute ist und –«

In dem Augenblick begann ein Hund zu bellen und zerstörte damit die ländliche Stille. Bei dem Geräusch zogen sich Fields’ Eingeweide zusammen. Er konnte nicht mehr klar denken.

»Godfrey Daniels!«, rief er.

Er hatte nie herausfinden können, was es mit diesem Ausruf tatsächlich auf sich hatte, aber sein Historischer Patron hatte das immer gesagt, wenn er verzweifelt war, deswegen hatte Scythe Fields das damals ebenso übernommen wie dessen Namen. Er schnappte sich seinen Stockdegen – noch ein altertümliches Accessoire, das er aus seiner geliebten Sterblichkeitsära übernommen hatte – und wirbelte weg vom Wagen – bereit, demjenigen eine tödliche Korrektur zuteilwerden zu lassen, der es wagte, die elegante Ruhe zu stören, für die er so lange und hartnäckig gekämpft hatte.

Er hatte nichts gegen Hunde – er liebte Hunde. Aber genau wie Kinder sollten sie besser leise sein.

Als Kind hatte er selbst einen Hund gehabt und ihn heiß geliebt – doch Hundeleben waren kurz und die Kosten für die Wiederbelebung und das Zurücksetzen ihres Alters verdoppelten sich von Mal zu Mal. Und schließlich, wenn es zu kostspielig wurde, entschieden sich viele Leute dafür, ihre Haustiere gehen zu lassen. Fields nahm an, das diente auch der Kontrolle der Haustierpopulation – schließlich gab es keine Haustier-Scythe, die sie nachlasen –, und als Kind hatte er es grausam gefunden.

Als Scythe jedoch musste er für nichts bezahlen – auch nicht für ständige Haustierwiederbelebungen. Derzeit hatte Fields aber keinen vierbeinigen Freund. Sein letzter Hund, ein Cockerspaniel, war schwächlich gewesen, und die häufigen Ausflüge zum Revival-Zentrum des Tierheims, wenn sich das Viech immer wieder totenähnlich gemacht hatte, waren lästig geworden. Er hatte den Köter einfach zur Wiederbelebung abgegeben und nicht mehr abgeholt.

»Besorgt ihm ein schönes neues Zuhause«, hatte er zu den Menschen im Revival-Zentrum gesagt. »Vielleicht jemanden, der mehr Geduld für ein Tier aufbringt, das Unfälle nahezu magisch anzieht.«

Er wusste nicht genau, aus welcher Richtung das Bellen gekommen war, aber als er sich umdrehte, sah er einen Hund ohne Leine, der auf ihn zu trottete – daneben ein junges Paar, wahrscheinlich die Besitzer.

Das Tier hatte seidiges gräulich-weißes Fell, und Fields blieb stehen. Es war ein ziemlich schöner Hund. Er hielt den Kopf hoch, hatte die Brust nach vorne gereckt, seine buschige Ringelrute berührte den Rücken.

Fields freute sich, dass dieses Tier nicht der Kläffer war – es sah derart selbstbeherrscht aus, dass er es sich überhaupt nicht bellend vorstellen konnte. Als wäre das unter der Würde des Hundes. Das Geräusch ertönte erneut.

Dieses Mal entdeckte Fields eine jaulende Kreatur in Rattengröße weiter hinten auf dem Weg. Das Vieh wurde von einer Frau in einem neonpinken Outfit auf den Arm genommen, das noch schriller war als das Tier. Sie versuchte, den Köter zu verstecken.

Fields kannte die beiden. Der jaulende Hund war ein Spitz namens Tea Biscuit und seine Besitzerin eine Constance Irgendwas. Er hatte ihr im Laufe der Jahre etliche ernste Blicke zugeworfen, aber was war das hier? Diese krasse Störung seines harmonischen Mittagessens? Alles konnte sein freundliches Gemüt nun auch nicht ertragen.

Aber er könnte sich später um die Frau kümmern. Viel mehr interessierte ihn dieses neue Paar und deren um Längen würdevollerer Hund.

Fields schlang den Rest seines Würstchens runter, stellte seinen Stock schwungvoll auf, dann ging er auf sie zu.

»Guten Tag!«, rief er, so jovial er konnte. »Ich hoffe, ich darf euch in Oxnard, dem schimmernden Juwel der WestMerikanischen Küste willkommen heißen.«

Das leichte Zucken, das ihre Gesichter verzerrte, war ein Effekt, den er überall hervorrief. Alle Scythe kannten das. Es war die Unterdrückung des menschlichen Kampf- oder Fluchtinstinktes, der immer dann ausgelöst wurde, wenn Menschen einen Scythe sahen.

Weil sowohl Kampf als auch Flucht jedoch eine Nachlese zur Folge hätten, hatten die Menschen gelernt, diesen Instinkt zu unterdrücken, obwohl er lautstark auf sich aufmerksam machte.

Ihre Reaktion nervte Scythe Fields, aber der Hund kläffte ihn nicht an, und deswegen blieb er freundlich. Wirklich ein außergewöhnliches Tier.

Fields lehnte sich vor und ließ die ringlose Hand vor der Hundenase baumeln, dabei strahlte er das junge Paar an. Die beiden wirkten tatsächlich jung, nicht wie so viele andere, die beim ersten Anzeichen einer Falte über den Berg kamen.

»Erlaubt mir, mich vorzustellen.« Er hätte seinen Hut gezogen, wenn er einen getragen hätte, aber ihm gefiel nicht, wie eine Kopfbedeckung sein Haar an den Schläfen platt drückte.

»Mein Name ist Fields, ich bin der örtliche Scythe und das Begrüßungskomitee. Ich freue mich immer, Neuankömmlinge willkommen zu heißen und sicherzustellen, dass sie verstehen, in welch kleiner und feiner Gemeinschaft wir hier leben. Seid ihr nach Oxnard gezogen oder seid ihr nur zu Besuch?«

Das Pärchen lächelte ein wenig nervös. »Es ist uns eine Ehre, Sie kennenzulernen, Euer Ehren«, sagte der Mann. »Wir sind gerade aus der Region der Aufgehenden Sonne hierhergezogen.«

Nun, wo Fields es wusste, sah er die leicht PanAsiatischen Züge – nicht, dass ihm so etwas wichtig war. Es war schön zu wissen, dass seine kleine Stadt am Meer Menschen aus weit entfernten Gegenden anzog. Aber zu viele sollten es seiner Meinung nach nun auch nicht werden.

»Ich heiße Khen Muragami. Das hier ist meine Frau Anjali, und unser Shikoku hört auf Jian …«

»Großartig, einfach großartig«, sagte Fields, der die Namen der beiden schon wieder vergessen hatte. Den Hundenamen erinnerte Fields noch, er stieß ihm sauer auf, und er musste einfach die Lippen schürzen. »Habe ich richtig verstanden, dass ihr dieses edle Tier ›John‹ genannt habt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde nie begreifen, warum Leute einem Hund einen profanen Menschennamen geben – und wenn ich nicht völlig falsch liege, ist dies ein weiblicher …«

Die junge Frau räusperte sich. »Entschuldigen Sie, Euer Ehren, aber sie heißt Jian.« In ihrem Gesicht zeigten sich gesunde Grübchen. »Unser Mädchen ist manchmal ganz schön anstrengend, deswegen ist ihr Name ein altes PanAsiatisches Wort für ein zweischneidiges Schwert.«

»Altes Wort?«, Fields Gesicht hellte sich auf. »Nun, ich bin ein ziemlicher Experte für die Sterblichkeitsära. Genau genommen war mein Historischer Patron einer der größten existenzialistischen Philosophen, der die vergangene Zeit in zwei Regeln konservierte, die ich auch in unserer modernen Welt passend finde. Die erste: ›Einen ehrlichen Mann kann man nicht betrügen‹ zeigt, wie das sterbliche Volk, das zufrieden lebte, sich niemals hat in die Irre führen lassen. Und die zweite: ›Gib einem Trottel nie eine faire Chance‹ rät uns, skrupellos mit denjenigen umzugehen, die vom Pfad der Tugend abkommen.«

Er legte sich die beringte Hand auf die Brust – eine aufrichtige Geste. »Wahre Worte, nach denen man leben sollte.« Er bemerkte, wie der Blick des Pärchens auf seinen Ring gerichtet war.

»Das ist wahr«, sagte der Mann, und sein Lächeln brachte ein paar mehr Zähne zum Vorschein als nötig. »Und wir danken Ihnen für die Begrüßung, Euer Ehren. Wir freuen uns darauf, Sie mal wieder in der Stadt zu treffen.«

»Mich kann man nicht verfehlen, nein. Einen schönen Tag euch beiden.« Dann beugte er sich etwas tiefer und schaute in die dunklen Augen des Hundes, die nicht blinzelten. »Dir auch, John.«

Er ging zurück zum Wagen, wo Charles den dritten Hot Dog für ihn zubereitet hatte. »Was für ein herrliches Tier. Es verdient auf jeden Fall einen passenderen Namen. Aber solche Dinge können behoben werden.«

Charles erstarrte fast hinter seinem Stand, und Fields konnte es ihm nicht verübeln.

Fields hatte seinen Beruf mit der Zeit natürlich lieben gelernt. Auch Goddard, dieser eloquente Scythe aus MidMerica, hatte ein paar wundervolle Maximen bezüglich der Beziehung eines Scythe zu seiner Arbeit vertreten. Wirklich bedauerlich, dass er vor einigen Monaten bei einer stümperhaften Tonisten-Nachlese so stark verbrannt wurde, dass keine Wiederbelebung mehr möglich war. Nun, vielleicht war der Verlust doch nicht so groß. Schließlich war Goddard wirklich nervtötend laut und schrill gewesen …

Fields seufzte schwer. »Ich muss heute Abend Johns Familie einen Besuch abstatten – aber zuvor muss ich bei Constance und Tea Biscuit vorbeischauen.« Dann kicherte er, weil es natürlich nicht beim Vorbeischauen bleiben würde.

 

Constance Sowieso hatte es ihm nicht leicht gemacht. Als er in ihrer Wohnung ankam, packte sie immer noch ihre Taschen, obwohl sie das Vergehen, mit dem sie sich ihre Nachlese eingebrockt hatte, schon vor Stunden begangen hatte. Wenn sie ihre Flucht nur etwas sorgfältiger geplant hätte, hätte sie ihm viel Arbeit sparen können, aber nein.

Sie heulte vor der Nachlese hysterisch Rotz und Wasser, aber zumindest hatte sie Tea Biscuit in seine Transportbox gesperrt, bevor Fields seinen Stockdegen zog.

Johns Besitzer waren viel zuvorkommender. Sie nahmen die Nachlese einfach hin – obwohl sie immer wieder betonten, wie besonders John sei und dass sie sachkundige Besitzer benötigte.

Nach der letzten Nachlese gab es noch eine angenehme Überraschung. Fields hatte sein Gewehr mit dem Beruhigungsmittel geladen und schussbereit in seiner Robe verstaut, um es dem Hund zu verabreichen, aber das Tier zeigte wieder einmal seinen edlen Charakter. Die Hündin knurrte ihn nicht einmal an, als er ihr das alte Halsband mit der Hundemarke auszog und es durch ein neues mit neuen Marken ersetzte. Ein wirklich überraschendes Verhalten, wenn man bedenkt, welch belastendes Ereignis sie gerade miterlebt hatte. Aber, nun ja, man legte sich in diesen aufgeklärten Zeiten keinen Hund zum Schutz zu, oder?

»Du heißt jetzt Trixie«, erklärte er ihr und klimperte mit den Marken, die inzwischen um ihren Hals baumelten. Er gab Hündinnen, die er adoptierte, immer diesen Namen. Er hatte viel Trixie-Zubehör zu Hause – da wäre es doch Verschwendung, das Tier anders zu nennen. Außerdem fand Fields, dass sie wie eine Trixie aussah. Und so war die Entscheidung gefallen. Er leinte sie an, und sie folgte ihm recht demütig in seine Limousine. Tea Biscuits Hundebox stellte er allerdings in den Kofferraum, der das unerträgliche Gekläffe des Köters dämpfte.

Zehn Minuten später hielt er mit einem abrupten Ruck am Bordstein an. Hinzu kam, dass diese verfluchte Karre heute Abend den längstmöglichen Weg genommen hatte – er wurde sauer oder besser gesagt richtig wütend. Die fahrerlosen Fahrzeuge des Scythetums durften nicht das elektronische Verkehrsnetz des Thunderhead nutzen – und genau das machte sie zu einer riesigen Flotte Künstlicher Nicht-Intelligenz. Trotzdem war ein fehleranfälliges Auto einem menschlichen Chauffeur immer noch vorzuziehen. Fields verstand nicht, wie irgendwer sich so völlig in die Hände von anderen Menschen geben konnte.

Mit der Box von Tea Biscuit in der einen und Trixies Leine in der anderen Hand ging er zum Haupteingang des Tierheims und Tier-Revival-Zentrums in Oxnard. Nur Sekunden, nachdem er geklingelt hatte, öffnete eine Frau mit grauen Haaren, mit der Fields schon einmal zu tun gehabt hatte.

»Guten Abend, Dawn«, sagte er und bedauerte schon wieder, dass er keinen Hut ziehen konnte. »Immer schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«

»Scythe Fields.« Dawn betrachtete den Mann und die beiden Hunde. »Diese Hunde sind ja lebendig. Sie sind also nicht wegen einer Haustierwiederbelebung hier?«

»Heute nicht, nein«, antwortete er. »Ich gebe die Töle in der Transportbox hier im Tierheim ab, wo Sie zweifelsohne eine strengere Besitzerin für sie finden als die vorherige. Und diese Schönheit hier« – er zeigte auf Trixie, die neben ihm saß, mit zurückgelegten Ohren und der Nase in der Luft – »werde ich selbst adoptieren. Ich vermute, wir erledigen den Papierkram an der gleichen Stelle wie sonst auch?« Er trat durch die Tür und eilte zum Empfangsschalter.

»Euer Ehren, als Scythe müssen Sie keine Formulare ausfüllen.«

»Ich muss auch keine Tiere hierherbringen, nachdem ich ihre Besitzer nachgelesen habe, und ich tue es trotzdem«, erklärte Fields. »Und ich muss Haustiere nach ihrer Wiederbelebung nicht zurückbringen, wenn sie sich als unwürdige Begleiter erwiesen haben, doch auch das mache ich. Weil ich mit dem Ausfüllen von Formularen und diesen anderen Nettigkeiten ein positives Beispiel abgebe. Ich muss mich zwar nicht an das Gesetz halten, ich will es aber.«

»Ja, Euer Ehren.« Sie nahm ihm Tea Biscuit aus den Händen, und Fields ging zur nächstgelegenen Computerkonsole. Als er näherkam, verschwand das freundliche Thunderhead-Interface und wurde von der einfachen, praktischen Bildschirmoberfläche ersetzt, die jeder Scythe sah, wenn er sich einem Bildschirm näherte. Er nahm die erforderlichen Formulare und machte sich an die Arbeit, während der neue Hund geduldig neben ihm wartete.

»Ich habe ein gutes Gefühl mit dem hier«, rief er Dawn zu, die immer noch dabei war, Tea Biscuit zu beruhigen.

Fields hatte in seinem Leben schon etliche Hunde erlebt, aber die Wahrheit lautete: Ein Mann von seinem Rang brauchte einen besonderen Hund, einen, den er noch finden musste, obwohl er doch bereits seit einer Ewigkeit suchte. Viele andere Hunde hatten eine unheimliche Tendenz zur Totenähnlichkeit, aber er vermutete, dass dieser hier ganz anders sein würde.

Als er die Adoptionsformulare ordentlich ausgefüllt hatte, verabschiedete er sich herzlich von Dawn und ging. Aber sobald er wieder auf der Straße stand, musste er feststellen, dass seine Limo verschwunden war. Er kramte mit einer Hand nach seinem Tablet, tippte es an und erfuhr, dass sein Auto zu Hause in der Garage stand und die Brennstoffzellen auflud.

»Godfrey Daniels«, murmelte er. Wenn man doch bloß unbelebte Objekte nachlesen könnte!

Er atmete ein und versuchte, sich zu entspannen. Es war doch sinnlos, sich so über eine Maschine zu ärgern. Außerdem war der Abend schön, und die Stadt war für ihre Ruhe bekannt, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit, wenn bloß noch Widerlinge draußen umherstromerten. Für solche Leute hatte er nichts übrig, und das hatte er mit seinen Nachlesen so deutlich wie möglich gemacht. Nicht dass er sich auf eine bestimmte Gruppe eingeschossen hatte, natürlich nicht – aber einige Exempel, so hatte er gedacht, könnten für Gerüchte sorgen und einen Eindruck vermitteln, der aber nicht so deutlich nachweisbar war, dass er mit High Blade Pickford und ihren Statistikmitarbeitern Probleme bekäme.

Fields lächelte den Hund an, der zu seinen Füßen saß. »Komm, Trixie«, sagte er so überzeugend wie möglich. »Wir machen einen hübschen kleinen Spaziergang und lernen uns besser kennen.«

Beim Gespräch mit Tieren, das wusste er, ging es um Stimmlage und Körpersprache. Aber das hieß nicht, dass die – wenn auch sehr einseitige – Unterhaltung inhaltsleer war. Fields musste sogar zugeben, dass ihm die Einseitigkeit gefiel. Gut erzogene Hunde erlaubten ihm zu reden, ohne dabei die Angst zu verspüren, er könne unterbrochen, abgelenkt oder überhaupt in Frage gestellt werden.

»Du wirst bestimmt bald verstehen, Trixie, dass du von deinem Onkel Bill nichts zu befürchten hast, und ich bin mir sicher, dass wir bald dicke Freunde und treue Begleiter werden.«

Die Ohren des Hundes schnellten nach vorn, und die Hündin gehorchte ihm pflichtbewusst … aber ihre Ausdruckslosigkeit war irgendwie seltsam … Sie hatte keine Angst, offenbar wollte sie ihm auch gar nicht gefallen. Fields wusste nicht, was er davon halten sollte. Doch er gestand sich ein, dass er eine zurückhaltende Reaktion besser fand als jaulen oder bellen oder sich auf ihn stürzen, wie es einige seiner früheren Schützlinge in den ersten gemeinsamen Momenten getan hatten.

»Ein schöner Spaziergang durch die Straßen deiner neuen Heimatstadt«, sagte er. »Das sollte dich aufheitern.«

Der Hund antwortete nicht, natürlich nicht.

 

Fields hatte gute und weniger gute Erinnerungen an den Hund aus seiner Kindheit, damals, als er noch der kleine Jimmy Randell war. Towser war ein kräftiger und willensstarker Malamute gewesen – und der kleine Jimmy, so hatten es die Eltern entschieden, sollte sich weitestgehend allein um ihn kümmern. Das hätte er auch gern gemacht, wäre er selbst ein wenig älter und kräftiger gewesen.

Towser war ein versierter Ausbrecher und konnte sich geschickt von Jimmy losreißen. Das Leben des armen Hundes wurde schmerzhaft unterbrochen, als Towser auf der anderen Straßenseite eine Malamute-Hündin entdeckte. Er flitzte auf die Straße und wurde direkt von einem Auto überfahren. Jimmys Eltern belebten Towser wieder, beschwerten sich aber über die Kosten und erteilten ihrem Sohn eine strenge Rüge.

»Ein Hund muss seinen Platz kennen«, erklärte ihm sein Vater wieder und wieder. »Ein Hund will wissen, wo er steht. Sobald er weiß, wer der Rudelführer ist, ist er glücklich und erleichtert.«

Von da an war Jimmy strenger mit Towser und wickelte sich die Leine doppelt ums Handgelenk, wenn er mit ihm Gassi ging. Anfangs funktionierte das, bis der Hund eines Abends einen Waschbären sah, der über die Straße wackelte. Towser rannte schon wieder los. Diesmal riss er Jimmy mit sich auf die Straße, wo beide von einem Truck totenähnlich gemacht wurden.

Und der Waschbär verschwand spurlos – so sind Waschbären eben.

Nach Jimmys Wiederbelebung wurde er erneut gescholten und bekam Towser nicht zurück. »Wir haben ihn wiederbelebt und auf eine Ranch geschickt«, hatte ihm sein Vater erklärt. »Dort hat er ein verantwortungsvolleres Herrchen«, fügte er hinzu, um noch einmal nachzutreten.