Glückskind - Karla Schneider - E-Book

Glückskind E-Book

Karla Schneider

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Beschreibung

Was hat es mit dem Knallbonbon auf sich, das Suse all ihre Wünsche erfüllt? Und warum sieht die mysteriöse Frau, die ihr dieses Knallbonbon geschenkt hat, der Mutter von Felix so ähnlich? Den hat sich Suse zwar nicht gewünscht (oder höchstens heimlich), aber Felix erweist sich als wahrer Glückstreffer ...Ein liebenswert heiterer Kinderroman über das erste Verliebtsein und das Glück.

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Über das Buch

Was hat es mit dem Knallbonbon auf sich, das Suse all ihre Wünsche erfüllt? Und warum sieht die mysteriöse Frau, die ihr dieses Knallbonbon geschenkt hat, der Mutter von Felix so ähnlich? Den hat sich Suse zwar nicht gewünscht (oder höchstens heimlich), aber Felix erweist sich als wahrer Glückstreffer ...Ein liebenswert heiterer Kinderroman über das erste Verliebtsein und das Glück.

Karla Schneider

Glückskind

Carl Hanser Verlag

Eines der vielen Glücksgeschenke ist Freundschaft. Deshalb widme ich dieses Buch M. L.

Magic may exist in any setting.

(Edith Nesbit)

Mitten in der Rechenstunde klopfte es an die Tür der Klasse 4a.

Voller Freude über die Unterbrechung legten alle Schüler und Schülerinnen ihre Füller hin. Nur Frau Spalteholz, die Lehrerin, war nicht begeistert. Sie hasste Unterbrechungen. Hinterher hatten die Schüler immer alles vergessen, was sie ihnen vor der Unterbrechung erklärt hatte.

Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen und über die Schwelle trat der Direktor. In seiner Begleitung befand sich eine Frau. Sie war nicht mehr jung, aber auch nicht direkt alt. Ihr Rock fegte den Boden. Ihre Haare hingen offen bis zum Gürtel und waren blond mit schon vielen grauen Strähnen. Ein bisschen sah sie aus wie eine Fee. Aber auch ein bisschen wie eine Hexe.

»Darf ich euch Frau Fortuna vorstellen«, sagte der Direktor. »Sie hat sich eure Klasse ausgesucht, um eine kleine Befragung durchzuführen. Ich hoffe, ihr gebt Frau Fortuna auf ihre Fragen klare und deutliche Antworten.«

»Und ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern«, fügte Frau Spalteholz hinzu. »Die Klasse kann es sich nicht erlauben, eine Mathestunde einzubüßen.« Dann zog sie sich ans Fenster zurück und verschränkte die Arme zu einer Brezel.

Frau Fortuna lächelte über die Klasse hin, als hätte sie einen großen Spaß vor. Sie begann zwischen den Tischen auf und ab zu spazieren. Und sagte keinen Ton. Große grüne und türkisblaue Steinklumpen schlackerten an Schnüren auf ihrer Brust. Zehn oder zwanzig Gold- und Silberketten klirrten leise bei jedem ihrer Schritte. Prächtige Ohrgehänge machten Geräusche wie kleine Glöckchen. Und wenn Frau Fortuna die Hand hob, um einen Schüler oder eine Schülerin unterm Kinn zu berühren, klingelten massenhaft dünne Reifen ihren Arm hinauf und wieder herunter.

Die Schüler und Schülerinnen der 4a saßen da wie hypnotisierte Kaninchen. Sie ließen kein Auge von dieser sonderbaren Person, die zwischen den Tischreihen umherging. Unversehens pickte sie bald dieses, bald jenes Kind heraus und schaute ihm mit bohrendem Blick ins Gesicht.

Endlich begann Frau Fortuna zu sprechen.

»Was hast du für Wünsche im Leben?«, fragte sie Oswald. »Was möchtest du gern sein, wenn du groß bist?«

»Reich«, sagte Oswald.

Frau Fortuna gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange, als wollte sie sagen: Fein, fein. Sie griff in ihren Umhängebeutel und fischte etwas heraus. Das überreichte sie Oswald.

Alle reckten neugierig die Köpfe. Es war ein Portemonnaie. Oswald machte es sofort auf, aber es war leer.

»Später, später«, sagte Frau Fortuna. »Heb es nur gut auf.« Dazu lächelte sie verheißungsvoll.

»Und was erhoffst du dir vom Leben?«, wandte sich Frau Fortuna jetzt an Graziella. »Was willst du später mal sein?«

Graziella kicherte. »Prinzessin.«

»Prinzessin von was?«, wollte Frau Fortuna wissen.

»Das ist mir egal«, sagte Graziella und knabberte sich ein Stück Daumennagel ab.

Frau Fortuna wühlte in ihrem Beutel. Die Fransen und Holzperlen, mit denen er verziert war, wackelten und klackerten. Es war so still im Klassenzimmer, dass man hören konnte, wie der Tafelschwamm sein Wasser verdunstete. Frau Fortuna hielt etwas in der geschlossenen Faust. Genau über Graziellas Kopf öffnete sie die Faust — und ein Konfettiregen rieselte auf Graziellas Haare nieder.

»Prinzessin Graziella die Erste!«, rief Frau Fortuna, nein, schrie Frau Fortuna, als müsse sie sich gegen eine gewaltige Menschenmenge behaupten. Sie packte Graziellas Hand und machte damit langsame Bewegungen durch die Luft. Es sah aus wie Grüßen. Oder wie Winken.

Komisch war, dass Frau Fortuna nicht alle Kinder der 4a befragte, was sie sich vom Leben wünschten. Oder was sie später gern sein wollten. Ungefähr ein Drittel der Klasse wurde von ihr glattweg übersehen. Da sie auch nicht der Reihe nach vorging, wusste niemand, wen sie sich als Nächstes herauspicken würde. Jeder, der eine Antwort gegeben hatte, erhielt ein Geschenk aus dem Beutel.

Jadwiga zum Beispiel bekam einen einzelnen rosa Ballettschuh mit Flecken an der Spitze.

»Iiih, das sind ja Blutflecken!«, rief sie angeekelt.

Morten wiederum starrte verlegen auf eine Hand voll loser Schräubchen.

Und Salome, deren Geschenk ein total zerfledderter Reisepass war mit lauter voll gestempelten Seiten, murmelte: »Was soll ich mit dem Kack?«

Weil keiner ahnte, ob er jetzt gleich ausgewählt werden würde, bekam Suse Sperling immer stärkeres Herzklopfen vor Aufregung. Die Nächste bin ich, dachte sie, je schneller die Stunde verrann.

»Wir kommen nicht dran, wirst schon sehen«, murrte ihre Freundin Ivonne enttäuscht.

In dem Moment blieb Frau Fortuna vor dem Tisch von Suse und Ivonne stehen, so nah, dass die beiden ihr Parfüm riechen konnten. Es roch süß und stechend, wie Erdbeermarmelade, in die Ameisen hineingekommen sind.

»Nun, meine Kleine?« Frau Fortuna hielt die Augen auf Ivonne gerichtet. »Was sind deine Wünsche fürs Leben? Sag es, ich möchte es hören.«

Ivonne war so erschrocken, dass sie nur stottern konnte und etwas ganz anderes sagte, als sie ursprünglich vorgehabt hatte.

»Ich … ich will auf jeden Fall ein eigenes Haus haben, und ich bin Mittelpunkt der Familie, alle lieben mich, auch die Katzen und unser Hund hören nur auf mich, denn ich bin total perfekt.«

Frau Fortuna langte in ihren Beutel und stellte eine große Glaskugel vor Ivonne auf den Tisch. Zarter Schnee fiel im Innern der Kugel. Er fiel auf ein winziges Häuschen und auf eine winzige Zwergenfamilie.

»Aaahhh«, sagten alle Kinder. Denn das war bis jetzt mit Abstand das schönste Geschenk.

Suse Sperling war so fasziniert von Ivonnes Schneekugel, dass sie gar nicht mehr auf Frau Fortuna geachtet hatte. Als sie nun die Hand mit den klingelnden Armreifen auf ihrem Kopf spürte, fuhr sie zusammen. Sie setzte sich kerzengerade hin. Und noch ehe Frau Fortuna sie gefragt hatte, platzte Suse mit dem Satz heraus: »Ich möchte ein Glückskind sein! Aber nicht erst, wenn ich groß bin, sondern schon jetzt.«

»So, so. Ei, ei«, sagte Frau Fortuna. Sie wirkte etwas unsicher und zögerte eine Weile, ehe sie in ihren Beutel hineingriff. Da schrillte die Pausenglocke. Hastig drückte Frau Fortuna einen Knallbonbon aus blaugoldenem Papier in Suses Hand. Dann ließ sie sich vom Direktor hinausgeleiten.

Mit Ivonnes Hilfe zog Suse den Knallbonbon auseinander. Aus seinem Innern fiel ein schmaler Streifen Papier. Mühsam buchstabierte Suse die altertümliche Schrift:

Ich … werde … dir … alle … Wünsche … erfüllen.

Nach der Pause bewahrheiteten sich leider die schlimmsten Befürchtungen von Frau Spalteholz. Die gesamte 4a war so überdreht, dass sie einfach nicht im Stande war, zuzuhören oder gar zu begreifen, was Frau Spalteholz ihnen erklärte. Die Schüler und Schülerinnen konnten und wollten über nichts anderes reden als über diese ulkige Frau Fortuna, ihre ulkige Befragung und ihre ulkigen Geschenke.

»Auf der Stelle räumt ihr endlich das Zeug weg«, befahl Frau Spalteholz. »Ich zähle bis drei, dann will ich weder Ballettschuhe noch rostige Schrauben, weder Straußenfedern noch Speisekarten irgendwo herumliegen sehen. Haben wir uns verstanden, Herrschaften?«

Suse Sperling war ein bisschen neidisch auf Ivonnes Schneekugel. Sie hatte den Zettel aus dem blöden Knallbonbon in ihre Federmappe gelegt. Die leere Knallbonbonhülle schmiss sie in Richtung Papiertonne. Die meisten Kinder der 4a schmissen nach der letzten Stunde Frau Fortunas Geschenke einfach in den Mülleimer. Wozu sollte man zum Beispiel einen speckigen alten Reisepass aufheben? Oder das Elfenbeinplättchen einer Klaviertaste?

Als Suse an diesem merkwürdigen Tag mittags nach Hause kam, roch es schon in der Diele nach gebratener Putenleber. Dazu gab es für gewöhnlich braunen Reis und grünen Salat.

Suse rümpfte die Nase. Sie hatte zwar Hunger, großen sogar, aber nicht auf so etwas. Für ihren Bruder Daniel wurde statt der Leber ein Tofubratling gebrutzelt, weil er Vegetarier war. Das war noch weniger nach Suses Geschmack. Missmutig brummelte sie vor sich hin: »Möchte mal wissen, wer erfunden hat, dass es mittags immer so gekochtes Zeug geben muss.«

»Und was hättest du für Verbesserungsvorschläge zu machen?«, fragte Daniel.

»Na ja«, sagte Suse, »es könnte doch so ein Selbstbedienungsbufett geben, wo jeder sich das zusammensucht, worauf er gerade Appetit hat. Außerdem wäre das für die Mütter viel weniger Arbeit. Sie brauchten bloß jeden Tag das Bufett wieder auffüllen.«

»Und wie lauten deine Wünsche bezüglich des heutigen Mittagessens?«, erkundigte Daniel sich.

»Schokoladentorte«, sagte Suse und schmatzte genießerisch. »Und … na ja, vielleicht noch Kokoseis. Und kandierte Früchte, mindestens acht Sorten. Ach, das wünsche ich mir!«

»Arme Irre«, sagte Daniel. »Und das jeden Tag? Oder hab ich mich da verhört?«

»Klar, warum nicht«, trumpfte Suse auf. »Ich könnte das morgens, mittags und abends essen.«

Daniel tippte ihr an die Stirn und pustete auf seinen Finger, als habe er sich verbrannt.

»Wetten, dass es dir spätestens am Abend zum Hals raushängen würde? Wetten, dass du mich dann um eine Scheibe Sonnenblumenbrot anbetteln würdest? Wetten?«

»Nie!«, schrie Suse. »Die Wette hast du schon verloren.«

Sie stocherte mit der Gabel in ihrem Reis herum und steckte ein paar Körnchen in den Mund. Komisch — es schmeckte überhaupt nicht nach Reis. Es schmeckte einwandfrei nach Kokoseis. Es war Kokoseis!

Auch die Putenleber labberte nicht wie sonst von der Gabel herunter, sondern krümelte, als Suse probeweise etwas davon abschnitt. Sie kostete. Und kostete noch einmal. Kein Zweifel, das war alles andere als gebratene Putenleber. Das war Schokoladentorte von der allerfeinsten Sorte.

Hastig fuhr Suse nun auch noch mit der Gabel in den Gurkensalat: kandierte Früchte. Ein Wunder war geschehen!

Suse mampfte und stopfte und kaute und schluckte. Dabei warf sie immer wieder prüfende Blicke zu ihrer Mutter hinüber. Hatte sie etwa vorhin ihr Gespräch mit Daniel mit angehört? Hatte sie sich vielleicht einen Spaß gemacht? Aber woher sollte sie so plötzlich all das hergezaubert haben, was sich Suse gerade heute zu Mittag wünschte?

»Na, siehst du, wie schön du alles aufgegessen hast«, sagte die Mutter zufrieden und räumte Suses leeren Teller weg. »Willst du noch was?«

»Mm-mm«, sagte Suse und musste aufstoßen. Ihr war fast ein bisschen schlecht. Wie konnte einem von solchen herrlichen Sachen schlecht werden?

Beim Abendbrot ging es ähnlich zu. Das Roggenbrot entpuppte sich als Schokoladentorte. Und der Quark, den Suse sich draufschmieren wollte, verwandelte sich unter ihrem Messer in Kokoseis. Alle anderen hatten Bohnensalat — die Mutter, der Vater und Daniel. Suses Bohnensalat bestand aus grünen Limonen- und Bananenscheibchen. Kandierten selbstverständlich. Diesmal tat es Suse ein kleines bisschen Leid um den schönen sauren Bohnensalat.

Sie schaffte nur die Hälfte von dem, was sie zu Mittag so begeistert gegessen hatte. Dann wurde ihr wieder schlecht. Seltsamerweise merkten weder Daniel noch die Eltern, dass auf Suses Teller nicht dasselbe Abendbrot war wie auf ihren eigenen Tellern. Für ihre Augen schien es auszusehen wie Brot und Quark und Bohnensalat.

Heimlich hoffte Suse, dass über Nacht alles wieder normal würde. Aber ihre Frühstücks-Cornflakes mit Milch schmeckten wie die harten Krümel altbackener Schokoladentorte. Und die Milch war zerlaufenes Kokoseis. Hungrig trottete Suse in die Schule.

»Hast du Stress gehabt zu Hause?«, fragte Ivonne, als sie Suses Miene sah.

Suse schüttelte den Kopf. »Ich bin verhext«, sagte sie im Grabeston. Und sie erzählte Ivonne alles. Angefangen vom Mittagessen bis zum Frühstück gerade eben.

»Du spinnst doch«, sagte Ivonne. »Wo gibt’s denn so was?«

Doch Suse rief: »Soll ich’s dir beweisen?« Sie holte ihre Pausenbrotschachtel aus der Tasche. »Na, bitte — was ist das?«

Ivonne kostete.

»Einwandfrei Schokoladentorte«, gab sie zu. »Warte, lass uns tauschen. Ich geb dir dafür mein Käsebrötchen.«

Gierig griff Suse danach. Obwohl die Stunde bereits angefangen hatte, konnte sie sich vor lauter Heißhunger nicht bezähmen. Sie biss hinein. Löcherkäse — mmhm! Aber nein …

»Schon wieder diese verdammte Schokoladentorte«, mümmelte sie mit vollem Mund. »Hier, guck her, da siehst du’s selber. Ich bin echt verhext.«

Man konnte förmlich sehen, wie es in Ivonnes Kopf arbeitete.

»Ich wünsche, dass alle Schüler ihre Aufmerksamkeit der Tafel zuwenden«, forderte Frau Spalteholz.

»Wünschen — klar, das ist es«, sagte Ivonne zu Suse. »Du hast dir gestern gewünscht, dass du morgens, mittags und abends nur immer dieses Zeug zu essen kriegst. Und dann hast du es bekommen. Stimmt’s? Wünsch dir mal, dass es aufhört. Los, sag es! Aber sag es laut.«

»Ich möchte, dass alles, was ich esse, das bleibt, was es ist!«, rief Suse in die Stille der Biologiestunde hinein.

»Ruhe dahinten«, mahnte Frau Spalteholz. »Essen könnt ihr in der Pause.«

»Hier, ich hab noch einen Kohlrabi mit«, tuschelte Ivonne. »Probier mal. Aber halt die Hand drunter für den Fall, dass er sich in Kokoseis verwandelt; das tropft.«

»Ich fasse es nicht!«, zeterte Frau Spalteholz. »Suse Sperling, was tust du da mitten in der Unterrichtsstunde?«

»Ich ess einen Kohlrabi«, antwortete Suse.

Langsam geriet der Besuch von Frau Fortuna in Vergessenheit. Es gab mittlerweile Wichtigeres zu besprechen. Ein Diktat stand bevor. Und das große alljährliche Schulfest, bei dem jede Klasse etwas vorführte. Da die Schüler und Schülerinnen der 4a sich bisher nicht hatten einigen können, was sie machen wollten, hatte Frau Spalteholz die Sache selber in die Hand genommen.

»Also … ich habe mir gedacht, wir werden dieses Jahr ein Märchen aufführen«, sagte sie. »Ich gehe mal davon aus, dass die Mehrzahl von euch es kennt. Es handelt sich um Dornröschen.«

Ein Stöhnen ging durch die Klasse. Es kam von den Jungen. Sie protestierten: »Das ist doch was für Babys! Können wir nicht Robin Hood nehmen oder Krieg der Sterne oder was, wo Monster vorkommen?«

»Nein, lieber die drei Musketiere«, schrie Oswald. »Die werden andauernd überfallen und müssen sich wehren, so hier — mit dem Degen. Gucken Sie mal, Frau Spalteholz!« Oswald sprang in den Gang zwischen den Tischen und fuchtelte herum, als müsste er sich gegen drei Flugsaurier verteidigen.

Doch Frau Spalteholz ließ sich nicht von Dornröschen abbringen. Schließlich hatte sie zwei Wochenenden dafür geopfert, das Märchen in Theaterszenen umzusetzen. Das Dornröschen, so bestimmte Frau Spalteholz, sollte Graziella spielen; sie hatte die längsten und dicksten Haare von allen Mädchen. Zum Erstaunen der Lehrerin wollte keiner der Jungen der Königssohn sein.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Frau Spalteholz. »Was ist denn so schlimm daran, das schlafende Dornröschen aufzuwecken?«

»Mit einem Kuss«, rief Graziella.

»Iiih — vor allen Leuten knutschen!«, rief Morten. Und alle anderen Jungen schmatzten knallende Prinzenküsse in die Luft.

»Ach kommt, seid nicht so albern«, meinte Frau Spalteholz. Kurzerhand ernannte sie Gernot. Gernot stellte sich an, als hätte er sein Todesurteil erhalten.

Dann wurden die restlichen Rollen verteilt: die zwölf guten Feen und die böse dreizehnte, Dornröschens Eltern, der Haushofmeister, der Koch und der Küchenjunge, der Ausrufer, der die Geschichte mit der Dornenhecke überall im Lande verkünden sollte. Außerdem zwei wagemutige Prinzen, die jedoch in den Dornen stecken bleiben würden, weil die hundert Jahre noch nicht vorbei waren. Zuletzt noch die Katze der Königin und der Hund des Königs.

»So, das wär’s«, sagte Frau Spalteholz. »Wie viele von euch sind jetzt noch übrig?«

Sieben Kinder hoben die Hand.

»Ihr werdet die Fliegen sein, die an der Wand einschlafen, wenn alles im Schloss in den hundertjährigen Schlaf versinkt«, entschied Frau Spalteholz.

Zu den Fliegen gehörten auch Suse und Ivonne.

Nach dem Unterricht legten sie ihr Taschengeld zusammen und kauften sich einen Riesenbeutel Lakritzmischung, um ihren Frust loszuwerden. Eine Fliege — das war das Letzte!

»Graziella kann überhaupt nicht spielen«, fand Suse. »Die wird bloß an ihren Fingernägeln rumknatschen und blöde kichern. Ich wäre viel besser als Dornröschen, ehrlich.«

»Aber du hast keine Haare bis runter zum Po«, wandte Ivonne ein. »Deine reichen gerade mal bis ans Ohrläppchen.«

Suse seufzte tief. Ivonne hatte Recht. Prinzessinnen mussten Haare haben wie ein Wasserfall.

Zwei Tage vor dem Schulfest wurde Suse von ihrem Bruder Daniel gefragt: »«Wie ist es? Kannst du deinen Rollentext schon auswendig? Oder soll ich ihn dir ein bisschen abhören? Bzzz … bzzz … bzzz … Fliegengesumm muss gründlich geübt werden.«

»Bäh, bäh, bäh«, machte Suse.

Und wieder stellte sie sich vor, was sie sich schon unzählige Male vorgestellt hatte: sie, Suse Sperling, als Dornröschen. Ich habe eben nie Glück, dachte sie trübe. Plötzlich fiel ihr der Zettel aus dem Knallbonbon ein:

Ich werde dir alle Wünsche erfüllen.

Ob das noch immer funktionierte? Seit der Sache mit der ewigen Schokoladentorte und dem ewigen Kokoseis hatte Suse Angst gehabt, es noch einmal mit einem laut ausgesprochenen Wunsch zu versuchen. Damit Daniel sie nicht hören konnte, sperrte sie sich auf der Toilette ein.

Laut und vernehmlich sagte sie: »Ich wünsche mir, dass Frau Spalteholz mich das Dornröschen sein lässt.« Dann fügte sie noch schnell hinzu: »Aber Graziella darf nichts Schlimmes passieren.«

Am nächsten Vormittag, nach der großen Pause, trat Frau Spalteholz mit sorgenvoller Miene vor die Klasse.

»Hört mal alle her. Eben war Graziellas Mutter bei mir. Sie hat vom Direktor eine Sondererlaubnis erhalten, Graziella für eine Woche mit nach Ustica zu nehmen. Ihre Ururgroßtante feiert hundertsten Geburtstag. Ein großes Familientreffen. Wir brauchen also schnellstens ein neues Dornröschen. Andernfalls fällt der Festbeitrag der 4a ins Wasser. Wer von euch Mädchen würde es sich zutrauen, den Text der Rolle bis morgen zu lernen?«

Suses Herz pochte und puckerte bis in den Hals hinauf, als sie die Hand hob: »Ich.«

Da sich sonst niemand meldete, blieb Frau Spalteholz keine andere Wahl. »Wo kriege ich jetzt in letzter Minute eine Perücke für dich her, damit du wie ein richtiges Dornröschen aussiehst?«, jammerte sie.

»Och, ich wünsche mir einfach lange Haare«, sagte Suse.

Alle lachten.

Nur Ivonne tuschelte: »Meinst du, das mit Frau Fortuna klappt noch mal?«

»Hat es schon«, tuschelte Suse zurück. »Was glaubst du denn, warum ihr nur noch sechs Fliegen seid. Rate mal.«

Abends im Bett riskierte Suse den nächsten wichtigen Wunsch: »Ich möchte bitte, bitte lange Haare haben, aber es muss schnell gehen. Ich wünsche mir, dass ich morgen genauso aussehe wie das echte Dornröschen.«

Sie schlief schlecht in dieser Nacht, weil sie von schrecklichen Kopfschmerzen immer wieder geweckt wurde. Aber die Schmerzen hatten sich gelohnt. Am Morgen waren Suses sämtliche Kissen und die Bettdecke unter einer gewaltigen Masse von Haaren verschwunden. Suse lag wie in einem Nest aus Haaren. Bis auf den Teppich vor ihrem Bett hingen sie. Jedes einzelne Haar war über Nacht drei Meter gewachsen.

»Mama!«, schrie Suse. Aber die war bereits unterwegs zum Kaufhaus, wo sie halbtags arbeitete.

»Daniel!«, schrie Suse jetzt. Das tat sie nur im Notfall. Aber das Gewicht der Haare zerrte dermaßen an ihrem Kopf, das sie ihn kaum heben konnte.

Ihrem Bruder blieb der Mund offen stehen. »Was ist denn hier los?«

Suse fing an zu heulen und erzählte ihm alles. Von Frau Fortuna und dem Zettel im Knallbonbon, von der ewigen Schokoladentorte und dem ewigen Kokoseis. »Du musst mir helfen. Bitte!«

»Wenn ich die Haare nicht mit eigenen Händen anfassen könnte, würde ich schwören, ich träume«, sagte Daniel beeindruckt. »Ist doch toll, dass dir jemand alle Wünsche erfüllt, du Glückskind!«

»Gar nicht! Denn das Glück ist immer ganz anders, als ich es mir vorstelle«, weinte Suse. »Ich wollte ja lange Haare, aber nicht sooo furchtbar lange. Wie soll ich denn jetzt aufstehen?«

»Selber schuld«, sagte Daniel. »Wenn du dir Haare wünschst wie die von Dornröschen, hättest du einkalkulieren müssen, dass Dornröschen hundert Jahre geschlafen hat. Und während man schläft, wächst das Haar ja weiter. Verstehst du?«

Er holte eine Schere. Aber das Haar ließ sich nicht abschneiden. Es war wie Eisendraht. Und doch wie richtiges Haar.

»Wünsch sie dir doch einfach wieder kurz«, schlug Daniel vor.

»Aber dann bin ich kein echtes Dornröschen mehr«, sagte Suse kläglich.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Suses Haare im Bergsteigerrucksack von Vater Sperling unterzubringen.

»Schnell, schnell« rief Frau Spalteholz, als Suse die Nase in das Künstlerzimmer hinter der Bühne steckte. »Wir sind in einer halben Stunde dran und du musst noch dein Kostüm anziehen. Kannst du deinen Text, Dornröschen?«

Suse nickte. Der Text war das wenigste. Sie zögerte den Moment hinaus, wo sie den Rucksack abnehmen musste und alle die Bescherung entdecken würden. Aber die hatten genug mit sich selbst zu tun.

Gute Fee Nummer vier war Guter Fee Nummer acht auf den Kleidersaum getreten und hatte ihr den Rock halb abgerissen.

Dem Koch war schlecht.

Zwei der Fliegendarsteller übten mit Prinz Gernot das Küssen, indem sie ihm vormachten, wie er Dornröschen im letzten Akt mit einem lauten Schmatz aufwecken sollte.

Durch eine andere Tür, die halb offen stand, konnte man auf die Bühne sehen, wo bereits die Kulissen für den ersten Akt von Dornröschen aufgebaut waren: die Thronsessel für König und Königin, eine Wiege und ein langer Tisch mit zwölf Tellern aus goldenem Stanniol.

»Meine Eltern sind schon da, alle vier!«, verkündete Oswald, der den Küchenjungen spielen sollte. Er war auf die Bühne geschlichen und beobachtete durch das Loch im Vorhang den Zuschauerraum.

Auch Jadwiga spähte durch das Loch. Sie war besorgt, ob die Klopapierfetzen mit dem Wort BESETZT!!!, die sie auf zwei Stühle in der ersten Reihe gelegt hatte, auch von niemandem weggenommen würden. Dort sollten ihre Mutter und ihre Oma sitzen. Jadwiga war bereits fix und fertig als böse Fee gekleidet.

Frau Spalteholz schwitzte wie verrückt. So nervös war sie, ob auch alles klappen würde. Immerhin war Suse erst gestern für die Hauptrolle besetzt worden. Dass sie den Text beherrschte, bedeutete nicht, dass sie ihn auch entsprechend aufsagen konnte. Um mit ihr zu proben, war keine Zeit mehr gewesen.

»Suse, Kind, so nimm doch endlich diesen Riesenrucksack ab«, flehte Frau Spalteholz. »Du bist zwar erst im zweiten Akt dran, aber wenn es einmal angefangen hat, kann ich dich nicht mehr schminken. Dort, auf dem Bügel, das ist dein Kostüm. Und das hier — tut mir Leid, aber das ist die einzige Langhaarperücke, die ich auf die Schnelle auftreiben konnte.«

Sie fischte aus ihrer Einkaufstasche eine feuerrote Pippi-Langstrumpf-Perücke. Zwar hatte Frau Spalteholz die Zöpfe aufgemacht und ein bisschen gekämmt, aber die Haare standen weiterhin nach allen Seiten ab wie Garderobehaken.

»Die brauch ich nicht«, sagte Suse. »Wenn Sie mir bitte mal die Rucksackkordel aufziehen würden?«

»Ach du liebe Güte!«, kreischte Frau Spalteholz, als ihr Suses Haare vor die Füße plumpsten wie ein Ballen Stroh.

»Au weia«, sagte Ivonne. »Gucken Sie mal, Frau Spalteholz, sie kann ja kaum den Kopf drehen. Und allein umziehen kann sie sich auch nicht.«

»Mach mich nicht verrückt«, stöhnte Frau Spalteholz, »hilf mir lieber. Wir müssen das Haar unbedingt kürzen.«

»Geht nicht«, erklärte Suse weinerlich. »Mein Bruder hat es heute früh schon versucht. Ich kann es nur komplett wieder wegwünschen. Aber dann sehe ich so aus wie vorher und bin kein echtes Dornröschen mehr.«

»Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte Frau Spalteholz. »Ich hab auch momentan keine Zeit, mich zu wundern, wieso du auf einmal meterlange Haare hast. Ich weiß nur, dass ich innerhalb der nächsten fünf Minuten eine Lösung des Problems finden muss.«

Mit Ivonnes Unterstützung schälte sie Suse aus ihren Sachen und half ihr in das Dornröschenkostüm. Dann klemmte sie Suse zwischen ihre Knie und fing an sie zu schminken.

»Könnte ich nicht die Haare wieder in den Rucksack stopfen?«, schlug Suse schüchtern vor. »Wenn sie so schwer runterhängen wie jetzt, muss ich immer an die Decke starren. Dann sehe ich überhaupt nicht, wo ich hintrete.«

Ein zweistimmiger Aufschrei antwortete ihr. Frau Spalteholz und die Fliege Ivonne waren gleichermaßen entsetzt.

»Ein Prinzessinnenkleid, das bis zum Boden reicht, und ein Krönchen auf dem Kopf und dazu einen Rucksack, als wolltest du auf den Mount Everest? Ausgeschlossen!«

Kurzerhand machte Frau Spalteholz aus den Fliegen Ivonne und Salome zwei Pagen. Sie mussten nur ihre Höhensonnenbrillen absetzen, die sie als Fliegen kennzeichneten.

»Ihr beiden geht immer hinter Suse her und tragt ihr das Haar nach. Wie eine Brautschleppe«, befahl Frau Spalteholz. Da fing ihre Armbanduhr an zu fiepen: tüttüttü-tüüt, tüttüttü-tüüt! Das war das Zeichen. Gleich würde sich der Vorhang öffnen.

»König und Königin — raus auf den Thron!«, rief Frau Spalteholz. »Hund und Katze zu ihren Füßen. Der Haushofmeister nach vorn links. Und, Morten: Vergiss nicht, jedes Mal mit dem Stab aufzustoßen, wenn du die zwölf guten Feen ansagst.«

Der erste Akt lief wie geschmiert. Den meisten Beifall erhielt Jadwiga, die böse dreizehnte Fee. Sie tobte und schrie, sie fegte die zwölf goldenen Teller vom Tisch und verwünschte alles in Grund und Boden.

Im zweiten Akt, als Dornröschen im Schneckentempo auf die Bühne kam, hörte man bewundernde »Aahs!«. Suse gelangte auch ganz gut bis zum Thron ihrer königlichen Eltern, die ihr zum Geburtstag gratulierten. Die Haarträger jedoch konnten sich nicht einig werden, ob sie nun rechts oder links von Dornröschen stehen sollten. Suse wurde von ihrem Gezerre herumgeschleudert und landete unsanft auf dem Po. Mühsam rappelte sie sich wieder auf. Sie kämpfte mit den Tränen und sagte tapfer ihren Text.

»Bravo!«, rief es aus dem Publikum. Die Stimme hörte sich an wie die von Daniel.

Noch schlimmer wurde es im nächsten Akt. Das Turmstübchen, wo Dornröschen mit der bösen Fee zusammentreffen sollte, um sich an der Spindel zu stechen, war durch zwei Pappwände von der übrigen Bühne abgegrenzt. Als sich die beiden Haarträger ebenfalls in das Stübchen hineinquetschen wollten, wurden sie von der bösen Fee angefaucht.

»Was wollt ihr denn? Dornröschen muss allein kommen! Verschwindet!« Sie schubste Ivonne und Salome aus dem Stübchen hinaus. »Zuschließ, zuschließ«, sagte sie giftig.

Beleidigt rief Ivonne: »Frau Spalteholz hat aber gesagt, wir sollen immer bei Suse bleiben, du blöde Kuh!«

Die Zuschauer fingen an zu lachen. Und die arme Suse brüllte: »Aua! Aua! Was zieht ihr denn so doll! Das tut doch weh!«

Dass im letzten Akt Gernot, der Prinz, sich mit seinem vollen Gewicht auf Suses Haarpracht kniete, konnte man ihm nicht verübeln. Hinknien gehörte zu seiner Rolle. Dann kam der Kuss und danach der Satz: »Steh auf, schönste Prinzessin, die hundert Jahre des Fluchs sind nun vorüber. Du bist erlöst.«

Aber statt sich aufzurichten und erstaunt zu fragen: »Wo bin ich? Und wer bist du?«, zischte Suse: »Ich komm nicht hoch, du Heini. Du hockst auf meinen Haaren.«

»O Scheiß, ich hab gedacht, das ist ’n Bettvorleger«, sagte Gernot.

Tosender Applaus setzte ein. Das Publikum jauchzte vor Lachen. Und so hörte niemand, wie Suse sagte: »Ich wünsche mir, dass meine Haare so sind wie immer. Ich hab’s satt!«

»Ich verstehe Frau Spalteholz nicht«, meinte Suses Mutter hinterher. »Wie konnte sie dir eine so unhandliche Perücke zumuten? Aber deinen Text hast du sehr schön gesprochen, richtig mit Betonung.«

»Ich glaube, ich hätte doch lieber eine von den Fliegen spielen sollen«, sagte Suse. »Das hätte mehr Spaß gemacht.«

Noch tagelang kannte die 4a kein anderes Gesprächsthema als ihre Dornröschen-Aufführung zum Schulfest. Es gab nur eine Meinung darüber und die lautete: Wir waren die Besten. Mit Abstand! Denn was hatten die anderen Klassen schon Großes geleistet: Kuchenbasar — ph! Gruselkabinett mit nassen Lappen und Stöhnen vom Kassettenrekorder — gähn! Oder Ballwurf-Tombola auf Konservenbüchsen und als Gewinne irgendwelchen Pipifax aus dem Werkunterricht — da konnte man doch nur müde lächeln.