Goddess of Poison – Tödliche Berührung - Melinda Salisbury - E-Book

Goddess of Poison – Tödliche Berührung E-Book

Melinda Salisbury

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Twylla ist kein Mädchen wie jedes andere: Sie ist die Verkörperung der Großen Göttin und wird als solche im ganzen Land verehrt - außerdem ist es ihr bestimmt, einmal den Kronprinzen zu heiraten. Doch ihr göttliches Schicksal bringt auch eine schreckliche Verpflichtung mit sich: Jeden Monat muss sie tödliches Gift trinken, gegen das nur sie, als göttliche Inkarnation, immun ist. Doch jeder, der Twylla berührt, wird von dem Gift infiziert und stirbt. Twylla ist der einsamste Mensch der Welt. Wer kann schon ein Mädchen lieben, das regelmäßig Verbrecher und Verräter durch seine Berührung hinrichtet? Vor der alle erschrocken zurückweichen, sobald sie einen Raum betritt? Sogar der Kronprinz, der ja einmal ihr Mann werden soll, meidet sie. Doch alles ändert sich, als Twylla ein neuer Wächter zur Seite gestellt wird. Mit frechem Grinsen und unangemessenen Bemerkungen zieht der junge Mann alles, woran Twylla geglaubt hat, in Zweifel. Ist ihre Heirat mit dem Prinzen wirklich vom Schicksal vorherbestimmt? Ist sie tatsächlich die Verkörperung einer Gottheit? Und nicht zuletzt: Was hat es mit dem schrecklichen Gift auf sich, das auf alle, außer auf Twylla, eine tödliche Wirkung hat? Nach und nach deckt Twylla mit Hilfe ihres charmanten Beschützers eine mörderische Intrige auf, die die Grundfesten des gesamten Landes Lormere ins Wanken bringt …

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Melinda Salisbury

Goddess of poison

Tödliche Berührung

Übersetzung aus dem Englischen von A. M. Grünewald

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2016

Text © Melinda Salisbury, 2015

Titel der Originalausgabe: The Sin Eater’s Daughter

Die Originalausgabe ist 2015 im Verlag Scholastic Children’s Books, London, erschienen.

© 2016 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH,

Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Melinda Salisbury

Übersetzung: A. M. Grünewald

Covergestaltung: © Rekha Garton, 2015

Illustration Landkarte: © Maxime Plasse

Verwendung von Cover und Landkarte mit freundlicher Genehmigung von Scholastic Ltd

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-1846-7

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1513-8

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für meine Großmutter,

Florence May Kiernan

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Danksagungen

Weitere Titel

Leseprobe zu "Sunshine Girl"

Kapitel 1

Es sind keine Gefangenen hier, aber ihre Schreie höre ich dennoch. Wie Geister leben sie in den Mauern und das Echo ihres Wehklagens erklingt bei jedem Schritt. Wenn man tief genug in die Kellergewölbe des Schlosses hinabsteigt, wenn man auch noch die Unterkünfte der Wächter und den Raum der Weissagung hinter sich lässt, können sie einem in der tiefsten Stille begegnen.

Als ich das erste Mal dort hinabgeführt wurde, habe ich meine Wächter gefragt, was man mit ihnen anstellte, dass sie so schreien. Einer von ihnen, Dorin, schaute mich nur an und schüttelte den Kopf, die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie ganz weiß wurden. Dann beschleunigte er seine Schritte auf den Raum der Weissagung zu. Ich erinnere mich, dass mich in diesem Moment die Furcht packte, es müsse etwas wahrhaft Entsetzliches sein, wenn selbst mein ruhiger, starker Wächter es nicht laut auszusprechen wagte. Ich versprach mir, es herauszufinden, das dunkle Geheimnis aufzudecken, das so tief unter der Erde verborgen war. In meinem dreizehnten Erntejahr war ich noch naiv. Hoffnungslos naiv.

Als ich, vor vielen, vielen Monden, zum ersten Mal ins Schloss kam, machte es mich ganz ehrfürchtig: all der Schmuck und die Schönheit und der Reichtum. Hier liegen keine Binsen auf dem Boden, kein Stroh, in das Lavendel und Basilienkraut gemischt wurde, damit es nicht so streng riecht. Die Königin hat Teppiche, Vorleger und Läufer weben lassen, und so machen unsere Schritte kein Geräusch.

Die Mauern hinter den kostbaren roten und blauen Wandteppichen bestehen aus grauem Gestein, durchzogen von Katzensilber, das aufleuchtet, wenn die Dienstboten die Behänge beiseiteziehen, um die Wände zu reinigen. Gold ziert die Leuchter aus Hirschgeweih über meinem Kopf, die Kissen bestehen aus Samt und sind mit Quasten besetzt, und glänzen sie nicht mehr, werden sie sogleich ausgetauscht. Alles hier ist makellos, alles wird stets in Ordnung gehalten und gepflegt. Die Rosen in den großen Kristallvasen sind allesamt auf dieselbe Länge geschnitten, haben alle genau dieselbe Farbe und sind auf genau dieselbe Weise arrangiert. In diesem Schloss ist kein Platz für Unvollkommenheit.

Meine Wächter gehen aufmerksam an meiner Seite, halten sich streng aufrecht und wahren einen großen Abstand zu mir. Wenn ich einen Arm nach ihnen ausstrecken würde, würden sie entsetzt vor mir zurückschrecken. Wenn ich stolpern würde oder in Ohnmacht fallen und sie reflexhaft vorstürzen und mir helfen würden, dann wäre das ihr Todesurteil. Man würde ihnen als Akt der Gnade noch an Ort und Stelle die Kehlen durchschneiden. Verglichen mit einem qualvollen Tod durch meine giftige Haut, wäre dies ein reines Glück.

Tyrek hat dieses Glück nicht gehabt.

Im Raum der Weissagung positionieren sich meine Wächter vor der Tür, und Rulf, der Herbalist der Königin, nickt ehrerbietig in Richtung des Hockers, auf dem ich Platz nehmen soll, bevor er mir den Rücken zukehrt und seine Gerätschaften überprüft. Die Wände sind gesäumt von Regalen, auf denen Gläser mit trüben Flüssigkeiten stehen, seltsame Puder und namenlose Kräuter, alle zusammengestellt ohne ersichtliche Ordnung. Nichts ist beschriftet, zumindest kann ich in der spärlichen Kerzenbeleuchtung nichts erkennen, so tief unter dem Schloss gibt es schließlich keine Fenster.

Anfangs fand ich es merkwürdig, dass etwas wie die Weissagung ausgerechnet hier stattfinden sollte, versteckt im Gewirr finsterer, unterirdischer Gänge, aber inzwischen verstehe ich es. Falls ich scheitern sollte … dann besser nicht dort, wo der Hofstaat, wo das ganze Königreich es mitbekommen kann. Weit besser, wenn es in diesem geheimen kleinen Raum passiert, der genau auf halber Strecke zwischen den Kerkerverliesen und dem paradiesischen Glanz der Großen Halle liegt.

Während ich auf dem Hocker sitze und meine Röcke richte, schlurft der jüngere der beiden Wächter mit den Füßen über den Boden – ein zu lautes Geräusch in der steinernen Kammer. Rulf starrt ihn strafend an, und als er sich wieder abwendet, begegnen sich kurz unsere Blicke. Er bleibt völlig ausdruckslos, wenn er mich betrachtet, sein Gesicht ist nur eine Maske. Aber selbst wenn er nicht stumm wäre, hätte er mir in diesem Augenblick wohl nicht das Geringste zu sagen.

Früher hat er noch gelächelt und den Kopf geschüttelt, wenn Tyrek mir von den Bäumen erzählte, auf die er geklettert war, und von den Pasteten, die er aus der Küche stibitzt hatte. Er hatte mit der Hand gedroht, um Tyrek vom Aufschneiden abzuhalten, in seinen Augen aber hatte stets die Zuneigung zu seinem einzigen Sohn aufgeleuchtet. Auch wenn die Weissagung nur wenige Augenblicke dauert, bin ich früher immer eine ganze Stunde hier unten geblieben, manchmal sogar zwei, habe mich Tyrek gegenübergesetzt – zwei Armeslängen von ihm entfernt –, und dann haben wir uns Geschichten erzählt. Meine Wächter standen unweit parat, hielten aufmerksam ein Auge auf Rulf, während er seine Experimente durchführte, und das andere auf Tyrek und mich. Damals habe ich nach der Weissagung nirgendwo hingehen müssen, höchstens in meinen Tempel oder in mein Gemach, und niemand hat mich davon abgehalten, mir im Raum der Weissagung und unter der sorgsamen Beobachtung meiner Wächter diese wenigen Stunden zu nehmen. Aber jetzt ist alles anders, zurzeit habe ich andere Verpflichtungen.

Ich halte meinen Blick gesenkt, während Rulf die Weissagung durchführt, meinen Arm anritzt und einige Tropfen meines Blutes in einer daruntergehaltenen Schale auffängt, die er anschließend durch den Raum trägt. Er schüttet einen einzigen Tropfen in den Morgenandorn – ein tödliches Gift, für das es auf dieser Welt kein Gegenmittel gibt. Ich warte stumm und mit gesenktem Kopf, während er Blut und Gift miteinander verbindet und die Flüssigkeit in eine Phiole träufelt. Ich rühre mich nicht, während er sich mir nähert und mir die Phiole in den Schoß legt, dann hebe ich sie hoch. Die ölige Flüssigkeit schimmert kristallklar im Kerzenschein, und nichts deutet darauf hin, dass mein Blut in ihr ist. Ich ziehe den Stöpsel ab und trinke.

Wir alle halten inne und warten, ob das Gift mich dieses Mal töten wird. Es tut es nicht; ich spiele meine Rolle, wie man es von mir verlangt. Ich lege die Phiole auf das Tischchen neben meinem Hocker, streiche meine Röcke glatt und schaue meine Wächter an.

»Seid Ihr bereit, Mylady?«, fragt Dorin, der ältere der beiden, und sein Gesicht sieht im Licht seiner Fackel unheimlich blass aus. Die Weissagung ist vorbei, aber auf mich wartet noch eine weitere Pflicht, und ich spüre Rulfs hasserfüllten Blick im Nacken, als ich den Raum der Weissagung verlasse.

Ich nicke und wir gehen zur steinernen Treppe, Dorin zu meiner Rechten und mein zweiter Wächter, Rivak, links von mir. Und dann steigen wir in die Verliese hinab, in denen die Gefangenen warten. Auf mich.

Als wir vor dem Morgenraum ankommen, schrecken wir die Dienstboten auf, die dort gerade die Überreste der Henkersmahlzeit abräumen. Als sie mich sehen, drücken sie sich rasch gegen die Mauer, bevor sie mit gesenkten Köpfen und ihren schmutzigen Tellern und Kelchen davonhuschen. Dorin nickt Rivak zu und er betritt die kleine Kammer. Gleich darauf erscheint er wieder in der Tür und gibt uns zu verstehen, dass wir eintreten können.

Zwei Männer sitzen an einem kleinen Holztisch, beide von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gehüllt, ihre Arme an die Lehnen der Stühle gefesselt. Ihre Augen heben sich langsam, begegnen meinem Blick, während meine Wächter sich mit gezogenen Schwertern an der Tür aufstellen, obwohl ich vollkommen sicher bin, selbst im Angesicht dieser Verbrecher, die Krone und Reich verraten haben.

»Als die Gottgleiche Daunen schenke ich euch meinen Segen.« Ich versuche, majestätisch und stark zu klingen und den Aufruhr in meinem Magen nicht zu beachten. »Eure Sünden werden nicht verspeist werden, wenn ihr tot seid, aber den Segen der Götter kann ich euch versprechen. Sie werden euch vergeben, wenn die Zeit kommt.«

Die Männer sehen nicht besonders dankbar aus und ich kann es ihnen nicht verübeln. Die Worte sind hohl, wir alle wissen das. Ohne die Totenspeisung sind sie verdammt, ob ich sie nun segne oder nicht. Ich warte, ob sie etwas sagen werden. Manche haben mich verflucht oder mich angefleht, ich möge mich für sie einsetzen, haben um die Gnade gefleht, durch das Schwert oder den Strick umkommen zu dürfen. Ein Verzweifelter bat sogar darum, von den Hunden zerfleischt zu werden. Aber diese Männer sagen kein Wort, halten nur ihren stumpfen Blick auf mich gerichtet. Einer von ihnen hat einen Tick: Die Braue über seinem linken Auge zuckt, aber das ist das einzige Zeichen, dass sie überhaupt zur Kenntnis nehmen, dass ich hier bin.

Da sie nichts sagen, nichts tun, neige ich den Kopf. Ich danke den Göttern für ihren Segen und nehme meinen Platz hinter den Verurteilten ein. Ich stelle mich zwischen sie, strecke meine Hände aus, lege sie den Männern in den Nacken. Ich kann spüren, wie unter der Haut das Blut in ihren Adern pulst. Als ich meine Augen schließe und warte, ist ihr Herzschlag im Einklang. Als sich ihr Puls beschleunigt, trete ich beiseite, lasse meine Hände unter meinen Ärmeln verschwinden und habe sofort das Bedürfnis, sie zu waschen.

Es dauert nicht lang.

Nur Augenblicke nachdem ich sie berührt habe, sacken sie auf der Tischplatte zusammen. Blut rinnt aus ihren Nasen und bildet Pfützen auf dem ohnehin von Flecken übersäten Holz. Ich sehe zu, wie ein dünner roter Fluss über die Kante läuft und auf die Bolzen spritzt, mit denen die Stühle am Boden befestigt sind. Wenn diese Bolzen nicht wären und die Stricke, mit denen die Beine der Toten an die Stühle gefesselt sind, würden ihre Körper jetzt von Krämpfen entstellt zu meinen Füßen liegen. Der Morgenandorn ist ein brutales Gift.

Die Augen des Mannes, dessen Braue gezuckt hat, sind offen und starren mich an. Ich merke, dass ich zurückstarre, dass mir die Augen brennen. Es spielt keine Rolle, wie viele Männer, Frauen und Kinder ich schon hingerichtet habe, es reißt immer noch an meinem Inneren. Aber das ist wohl kein Wunder, denn bei jeder Hinrichtung kommt es mir so vor, als würde ich Tyrek noch einmal töten.

Tyrek war mein einziger Freund, einer von zwei Menschen auf dem Schloss, die sich immer freuten, mich zu sehen. Meine hohe Stellung am Hofe bedeutete, dass wir einander nie Gesellschaft leisten durften, außer in der kurzen Zeit, die ich im Raum der Weissagung verbrachte. Aber dort begegneten wir uns und unterhielten uns über alles, was wir erlebt hatten. Ich hatte nie jemanden wie ihn getroffen; er war furchtlos und hatte eine starke Meinung. Die Tage zwischen den Weissagungen kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Sie schlichen nur so dahin, bis mich meine Wächter endlich wieder hinabführten. Und da war er dann, wartete schon in der Tür und strich sich ungeduldig sein blondes Haar aus dem Gesicht.

»Da bist du ja«, sagte er. »Beeil dich. Ich will dir unbedingt was zeigen.«

Als er älter war, wollte er einer meiner Wächter werden, und es machte ihm großen Spaß, sie zu Kämpfen herauszufordern – mit seinem hölzernen Übeschwert gegen ihren blitzenden Stahl. Und während sein Vater mir das Blut für die Weissagung entnahm, saß ich auf meinem Hocker und schaute grinsend ihren Albernheiten zu.

»Nimm das!« Er stieß sein Schwert auf Dorin zu, der den Schlag mit Leichtigkeit parierte.

»Das war Absicht!«, rief Tyrek. »Ich wollte dir schließlich nicht wehtun.«

»Natürlich«, sagte Dorin und ich musste lachen.

»Und dann vor und zurück und links und dann … ha!« Er jubelte auf, als er es schaffte, Dorins Arm zu berühren.

Ich applaudierte und Dorin streckte dem Jungen sein Schwert entgegen. »Ich ergebe mich.«

»Seht Ihr, Mylady?« Tyrek wandte sich zu mir. »Ich wäre in der Lage, Euch zu beschützen.«

Am Tag, als meine Welt einstürzte, rief er mir nicht zu, ich solle mich beeilen, und er erzählte mir auch nicht, wie hart er geübt hatte. Er blickte mich überhaupt nicht an. Zum ersten Mal im Verlauf der zwei Ernten, die ich nun im Schloss war, grinste er nicht, als er mich sah, sondern verbeugte sich. Da hätte ich schon wissen müssen, dass Unheil drohte, aber ich begriff es nicht. Ich hielt es bloß für ein neues Spiel, bei dem wir besonders höflich miteinander umgingen. Auch ich verbeugte mich vor ihm, spielte die höfische Dame, war aber auf eine unerklärliche Weise aufgeregt. Selbst Rulfs Schweigen war anders als sonst. Bevor er mein Blut nahm, zog er Tyrek von mir fort und reichte ihm die Schale, damit er sie zum Weissagungstisch brachte.

Als die Tür aufgerissen wurde und die Gardisten der Königin hereingestürmt kamen, hielt ich es für einen Überfall und hob die Hände, um mich zu verteidigen. Etwas ging zu Bruch, als die Wachen an mir vorbeieilten. Ich drehte mich auf meinem Platz, rasch genug, um zu sehen, wie sie Tyrek ergriffen. Sein Gesicht war ganz grau vor Angst, sein Vater stand bewegungslos neben ihm.

»Was hat das zu bedeuten?«, rief ich, aber die Soldaten beachteten mich nicht, während sie meinen Freund zur Tür schleiften.

Ich sprang auf sie zu – das genügte, um sie zum Erstarren zu bringen. »Lasst ihn frei und erklärt euch«, forderte ich, aber sie schüttelten nur den Kopf.

»Die Königin hat Befehl gegeben, ihn unter Arrest zu stellen.«

Ich lachte. Die Vorstellung, dass Tyrek etwas angestellt haben sollte, kam mir völlig lächerlich vor.

»Unter welcher Anklage?«

»Hochverrat.«

Hinter mir ertönte ein Röcheln, und unwillkürlich wandte ich mich zu Rulf um, der sich mit der einen Hand an die Brust griff und mit der anderen an seiner hölzernen Arbeitsbank festklammerte. Als ich mich wieder umdrehte, hatten sich die Soldaten neuerlich in Bewegung gesetzt, und Tyrek, der zwischen ihnen hing wie eine willenlose Strohpuppe, schüttelte immer wieder den Kopf.

Ich wollte hinter ihnen her, aber Dorin war mit gezücktem Schwert zwischen mich und die Tür getreten.

»Mylady«, sagte er mit einer deutlichen Warnung im Blick. Also blieb ich stehen.

»Bringt mich zur Königin«, forderte ich und er nickte.

Doch das war nicht nötig, denn als wir den Raum der Weissagung verließen, stand sie im Gang, als hätte ich sie herbeigerufen. Ihr Gesicht war sanftmütig und ruhig und sie trug ein Gewand aus weißgoldener Seide. Sie sah wie eine Maifeuerbraut aus, unschuldig und engelsgleich, und ich war erleichtert, sie zu sehen. Bestimmt hatte sie bemerkt, dass hier ein Fehler passiert war, und nun war sie gekommen, um Tyrek persönlich zu begnadigen.

Als ich meinen Mund öffnete, um ihr für ihr Kommen zu danken, hob sie jedoch energisch die Hand, was mich zum Schweigen brachte. »Folge mir«, befahl sie. Sie glitt an uns vorbei, und wir mussten uns beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Als wir den Fuß der Treppe erreicht hatten, blieb sie unvermittelt stehen. Ich wäre beinahe gegen sie gestoßen, und ich hörte, wie mein Wächter hinter mir scharf Luft einsog, als er ebenfalls in letzter Sekunde abbremsen konnte.

»Verlasst uns«, befahl sie meinen Wächtern, die sich unverzüglich umdrehten und die Stufen wieder hinaufstiegen, über die wir gerade gekommen waren.

Ich schaute sie an und wartete, während mir kalte Schauer über den Rücken liefen. Das alles hatte nichts Gutes zu bedeuten.

»Zwei Ernten über habe ich vor dir verborgen, was deine Position bei uns beinhaltet, Twylla. Ich wollte sichergehen, dass du verstehst, welches Privileg dir zuteilgeworden ist, und dass du die Bürde, die es mit sich bringt, auch zu tragen weißt.« Sie hielt inne und musterte mich, bevor sie fortfuhr. »Denn dieses Privileg hat seinen Preis. Es hat seinen Preis, die Auserwählte zu sein. Bald schon bist du kein kleines Mädchen mehr, und nun ist es an der Zeit für dich zu handeln wie die Gottgleiche Daunen.«

Ich hatte meinen Blick nicht von ihr abgewandt, verstand aber nicht, was sie mit dem Preis meinte. Ich trank schließlich das Gift, wie sie es verlangte. Was war denn noch zu tun?

»Der Junge in der Zelle am Ende dieses Ganges hat sich des Hochverrates schuldig gemacht«, sagte sie und hob die Hand, damit ich sie nicht unterbrach. »Auch wenn ich weiß, dass du das nicht glauben willst, vertrau mir, wenn ich dir sage, dass meine sorgfältigen Nachforschungen keinen Zweifel zulassen. Was schwerer wiegt: Du selbst hast einen Anteil daran.« Sie ließ ihre Worte sacken.

»Er hat dich nach deinen Geheimnissen befragt – nach unseren Geheimnissen –, hat sich um deine Freundschaft bemüht und deine Worte an unsere Feinde verkauft.«

»Niemals! Das ist unmöglich! Ich habe ihm nichts gesagt … ich weiß doch von gar keinen Geheimnissen.«

»Du hast ihm Informationen gegeben, Twylla. Zum Glück hast du recht: Nur weniges, was von Bedeutung ist, ist dir bekannt. Aber du hast ihm von deinem Leben und von deinen Pflichten hier bei uns erzählt – von geheimen, heiligen Ritualen, die unser Innerstes betreffen. Deshalb musst auch du diejenige sein, die die Strafe vollstreckt. Dass du die Gottgleiche Daunen bist, heißt nicht nur, dass du singen und beten musst. Nicht nur der Morgenandorn ist deine Prüfung, es stehen dir noch andere bevor. Das Gift und du, ihr habt noch eine andere Bestimmung.«

Ich starrte sie an, versuchte zu verstehen. Was bedeutete das? Welche Strafe konnte ich vollstrecken? Dann überlief es mich eiskalt. Sie wollte, dass ich meinen Freund berührte.

Seit ich im Schloss angekommen war, hatte ich einmal in jedem Mond den Morgenandorn getrunken, um dem Königreich zu beweisen, dass ich die wiedergeborene Daunen war, die wahrhaft von den Göttern Erwählte. Das mit meinem eigenen Blut vermischte Gift zu trinken, bewies, dass ich gottgleich war, mehr als ein gewöhnliches Mädchen.

Ich glaubte, der Preis, den ich für mein neues Leben im Schloss zu zahlen hätte, sei es, niemals jemanden berühren zu dürfen, da das Gift, das ich bereitwillig trank, in meiner Haut blieb und jeden töten würde, der damit in Berührung kam – außer jene, die selbst von den Göttern gesegnet waren: die Königin, der König und der Prinz. Es schien kein allzu furchtbarer Preis, nie zu berühren und nie berührt zu werden; schließlich hatte ich den einzigen Menschen zurückgelassen, der mir je Liebe und Zuneigung gezeigt hatte. Aber ich hatte mich geirrt.

Der Preis war, dass ich andere berühren sollte, und zwar absichtsvoll. Ich würde es auf Befehl tun, im vollen Wissen, dadurch zu töten. Es gibt kein Gegengift für den Morgenandorn, schon die flüchtigste Berührung meiner Haut genügt, um erwachsene Männer in Sekunden zu töten. Dies war also meine Rolle, der Preis, den ich dafür zahlte, von den Göttern erwählt worden zu sein. Ich würde zur Scharfrichterin werden, zur Mörderin. Zur Waffe.

»Ich kann das nicht«, sagte ich schließlich.

»Du musst, Twylla. Denn ich kann nicht dafür sorgen, dass du selbst vor dem Gift in deinen Adern sicher bist, wenn du dich deiner Pflicht gegenüber den Göttern verweigerst. Es ist ihr Wille, dass du dies für sie tust.«

»Aber sie werden doch gewiss …«

»Genug, Twylla«, unterbrach mich die Königin barsch. »Das eben bedeutete es, die Gottgleiche Daunen zu sein. Jede zu uns zurückgekehrte Daunen ist Hoffnung und Gericht zugleich gewesen. Du bist hier, um dem Königreich zu zeigen, dass wir in einem gesegneten Zeitalter leben. Und du bist hier, um diejenigen niederzustrecken, die uns schaden wollen. Du wirst deine Pflicht erfüllen. Du willst doch nicht die Götter erzürnen, oder?«

»Nein.«

Die Königin nickte. »Dies steht dir wohl zu Gesicht, Twylla.«

»Nein, ich meine, ich kann das nicht«, hörte ich mich sagen. »Ich kann niemanden töten.«

»Wie bitte?«

»Ich glaube, ich kann nicht die Gottgleiche Daunen sein, wenn es das bedeutet. Ich bin nicht die Richtige dafür.«

Die Königin lachte, ein sprödes, heiseres Lachen. »Glaubst du, die Götter hätten die falsche Wahl getroffen? Glaubst du, dass es ein Irrtum ist, dass du bei jeder Weissagung den Morgenandorn überlebst? Und was ist mit deiner Familie, mit deiner kleinen Schwester? Willst du wirklich das Brot und die Münzen opfern, die ich ihnen schicke, nur weil dir der Pfad nicht gefällt, auf den die Götter dich gesetzt haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass du nicht zurückkehren kannst«, sagte sie sanft. »Die Götter würden es niemals zulassen. Sie haben dich in meine Obhut geben, in die von Lormere. Du kamst hierher ohne Aussteuer, hast uns keine Bündnisse gebracht. Und doch habe ich dich aufgenommen, weil dies die Bestimmung deiner Geburt ist, Twylla. Wir gehorchen den Göttern und du musst es auch tun.«

»Aber …«

Ihr Blick ließ mich verstummen.

»Ich werde vergessen, dass du versucht hast, dich mir zu widersetzen«, sagte sie leise. »Ich werde vergessen, dass du meine Großzügigkeit und meinen Schutz abweisen wolltest. Ich werde vergessen, dass du undankbar warst. Ich werde Gnade walten lassen. Bete dafür, dass die Götter es ebenso halten werden.«

Ich tat, was sie befahl. Ich betrat den kahlen Raum, in dem mein bester Freund an einen Stuhl gefesselt worden war, sein Mund brutal mit einem dunklen Stück Stoff geknebelt, der ihm in die Wangen schnitt. Aus seinen Augen strömten Tränen, und seine Handgelenke waren wund gescheuert, weil er versucht hatte, sich von den Stricken zu befreien. Er hatte sich eingenässt; die Vorderseite seiner Beinkleider war dunkel von Urin. Ich wurde rot, weil mich seine Erniedrigung so tief erschütterte. Den Kopf riss er wie wild von einer Seite zur anderen, während ich mich ihm näherte. Er war fünfzehn, genauso alt wie ich.

Die Königin stand in der Tür und sah zu, wie ich meine Hände auf seinen Nacken legte, auf die einzige entblößte Hautstelle, die ich an seinem Körper sehen konnte. Als nichts passierte, glaubte ich, die Götter hätten eingegriffen, um zu beweisen, dass er unschuldig war. Doch dann schauderte er, sein Körper verkrampfte sich und begann zu zucken. Ich riss meine Hände zurück, aber es war zu spät. Blut tropfte aus seiner Nase und seinem Mund, und im nächsten Moment war er tot. Es hatte weniger als eine Minute gedauert, um ihn mit meiner Berührung zu töten.

Ich starrte ihn noch immer mit großen Augen an, ohne irgendetwas zu sehen, als die Königin sich räusperte.

»Du musstest diejenige sein, die es tut. Um zu verstehen, was es bedeutet, die Auserwählte zu sein. Du kannst es nicht zurücknehmen, jetzt nicht mehr. Dies ist deine Bestimmung.«

Zwei Ernten sind ins Land gegangen, seit ich meinen besten Freund hingerichtet habe. Vierundzwanzig Weissagungen. Vierundzwanzig Mal musste ich in den Raum hinabsteigen, aus dem Tyrek verschleppt worden war, und das Gift trinken, mit dem ich ihn getötet habe. Ich habe in diesen vierundzwanzig Monden dreizehn Verräter getötet, einschließlich der Männer heute und Tyrek. Für Lormere. Für mein Volk. Für meine Götter.

Denn ich bin Daunen, die wiedergeborene Tochter der Götter. Die Welt ist schon immer beherrscht worden von den zwei Göttern, von Daeg, dem Herrn der Sonne, der am Tage herrscht, und von seiner Gemahlin, Naeht, der Kaiserin der Dunkelheit, die über die Nächte gebietet. Und einst, vor unzähligen Zeitaltern, als Lormere nicht mehr war als eine Ansammlung sich gegenseitig bekämpfender Dörfer, entschied die gierige Naeht, dass es ihr nicht genügte, über die Nacht zu herrschen. Sie schmiedete einen Plan und verführte ihren Gemahl, laugte ihn so aus, dass er es nicht mehr schaffte, sich zu erheben. Dann übernahm sie die alleinige Herrschaft über die Himmel und tauchte die ganze Welt in vollständige Finsternis. Nichts lebte, nichts gedieh. Überall war der Tod, nun, da der Herr der Sonne nicht da war, um die Welt zu erleuchten und den Menschen Wärme und Freude zu spenden.

Doch als Naeht Daeg verführte, empfing sie Daunen, ihre Tochter. Und als Daunen geboren wurde, weckte ihr Lied Daeg aus seinem Schlummer und er stand auf und nahm seinen Platz am Himmel wieder ein. Daegs Rückkehr brachte das Licht und das Leben zurück nach Lormere, und in seiner Dankbarkeit schwor er, wann immer Lormere in höchster Not sei, würde er den Geist seiner Tochter auf die Welt entsenden als Zeichen der Hoffnung. Erkennen würden die Menschen sie an ihrem roten Haar – das die Farbe des Sonnenaufgangs hatte – und an ihrer Stimme, die so wunderschön war, dass sie einen Gott erwecken konnte. Man würde sie die Gottgleiche Daunen nennen und sie würde ein Segen sein für das Land.

Doch Daunen war das Kind zweier Götter, das Kind von Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Als Daeg schwor, seine Tochter zurück in die Welt zu schicken, bestand Naeht darauf, dass Daunen auch sie widerspiegeln müsse. Und so ist Daunen das Gleichgewicht zwischen Gott und Göttin; für ihre Mutter muss sie der Tod sein und das Leben für ihren Vater. Einmal in jedem Mond muss Daunen sich in der Weissagung prüfen lassen, indem sie den Morgenandorn trinkt und trotzdem lebt. Und sie muss das Gift in ihrer Haut tragen, sodass ihre Berührung allen Verrätern den Tod bringt, so wie auch die Berührung ihrer Mutter tödlich ist.

Beinahe sofort nachdem die Königin mir befohlen hatte, Tyrek zu töten, gab einer der beiden Wächter seinen Dienst auf. Vorher aber erzählte er mir noch, warum die Gefangenen so laut schrien. Als Dorin fortgegangen war, um mein Abendessen zu holen, lehnte er sich näher, so weit er es wagte, und grinste gehässig.

»Ihr wollt wissen, warum sie so schreien?« Er wartete nicht auf meine Antwort. »Die Männer der Königin foltern sie nach Lust und Laune mit ihren stumpfesten Schwertern.« Er grinste. »Und in die offenen Wunden schütten sie Branntwein. Das brennt. Bei den Göttern, wie das brennt, kleines Mädchen. Trinkt man das Zeug, ist es flüssiges Feuer in der Kehle, in einer Wunde aber, in einer tiefen, offenen Wunde brennt es heißer als Daeg selbst. Das ist nicht schön. Gar nicht schön. Manchmal müssen sie es wieder und wieder tun, bei den ganz besonders schlimmen Verbrechern.«

Er machte eine Pause und leckte sich die Lippen, während er mein Gesicht musterte, um zu sehen, wie schwer mich seine Worte erschüttert hatten.

»Aber das ist nicht der Grund, warum sie schreien. Sie schreien Euretwegen. Denn ganz gleich, was die Folterer ihnen antun, es ist nichts im Vergleich zu dem, was sie von Euch zu erwarten haben. Also, kleines Mädchen, versteht Ihr nun, warum sie so schreien?«

Ich verriet nie jemandem, was er mir gesagt hatte, denn es wäre sein Ende gewesen. Ich habe schon genug vom Tod gesehen. Manchmal kann auch ich Gnade walten lassen. Genau wie die Königin.

Kapitel 2

Ich stehe in meinem Gemach und schrubbe meine Hände, spüle sie in der kleinen Waschschüssel ab, wieder und wieder, als es plötzlich an der Tür klopft.

»Herein.« Ich greife nach einem Tuch, um meine Hände abzutrocknen, auch wenn sie sich immer noch nicht sauber anfühlen, und wende mich meinem Besucher zu.

Dorin steht vor mir und deutet eine kurze Verbeugung an.

»Verzeiht die Störung. Eine Jagd ist einberufen worden, Mylady.«

»Jetzt?« Es gibt nichts, was ich in diesem Augenblick weniger gern tun würde, als ein unschuldiges Geschöpf durch den Wald zu hetzen. Ich reibe weiter meine Hände mit dem Tuch ab und hoffe, dass ich nicht mitzugehen brauche, dass er mich nur über die Pläne der Königin informieren will.

»Die Königin besteht darauf, dass Ihr teilnehmt, Mylady.«

Ich wende mich ab, schließe die Augen. Doch sofort starren mich die toten Männer an, also reiße ich sie rasch wieder auf. Warum veranstalten sie heute eine Jagd? Wir halten fast nie eine ab, und dann ausgerechnet heute …? Eigentlich möchte ich in meinen Tempel. Ich möchte die Türen schließen und an nichts mehr denken. Ich möchte, dass sich meine Hände wieder sauber anfühlen.

»Ich verlasse Euch, Mylady, damit Ihr Euch bereit machen könnt«, sagt Dorin und zieht sich zurück.

Ich starre ihm nach und fühle, wie sich in meinem Magen ein Knoten bildet. Es hat keinen Zweck, darum zu bitten, dass ich zu meinem Tempel gehen darf. Sie weiß, dass ich kommen werde. Es spielt keine Rolle, ob ich heute Morgen einen oder hundert Männer in den Tod geschickt habe, ihrem Befehl muss ich in jedem Fall folgen. Meine Familie kann nicht auf das Geld und das Brot verzichten, das sie ihnen jeden Mond zukommen lässt. Wenn ich mich ihr widersetzte, würde sie es einbehalten – das hat sie schon einmal getan. Sie weiß, dass ich es nicht darauf ankommen lassen werde, dass meine Schwester meinetwegen noch mehr leiden muss. Sie weiß, wie schuldig ich mich fühle, Maryl zurückgelassen zu haben. Sie kennt mich genau und ich bin eine brave kleine Marionette.

Man muss nur wissen, welche Fäden man zu ziehen hat: den Faden, an dem meine Schwester hängt, wenn man meinen Gehorsam haben möchte. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, spricht sie mit der Autorität der Götter. Es ist ihr Wille, dass ich Leben nehme. Und dagegen bin ich machtlos.

Als ich mit meinem Umhang um den Schultern den Raum verlasse, wartet nur Dorin auf mich.

»Wo ist Rivak?« Ich schaue mich nach meinem zweiten Wächter um.

Dorin verzieht den Mund. »Er hat einen neuen Auftrag bekommen, Mylady.«

Der heutige Tag wird immer besser, denke ich im Stillen, auch wenn es mich nicht überrascht. Beinahe alle meine Wächter sind nach ein paar Monden im Dienst wieder verschwunden. Auch wenn die Männer, die die Königin für dieses Amt wählt, eigens dazu ausgebildet sind zu töten, und das rasch und ohne Gnade, kenne ich nur einen, der stark genug ist, in der Gesellschaft eines Mädchens zu bleiben, das ihn mit einer einzigen Berührung umbringen könnte … Die übrigen bitten um Versetzung und sie wird ihnen stets gewährt. Ich bin davon überzeugt, dass es der Königin so lieber ist. Schließlich könnte ein Wächter, der lange an meiner Seite bleibt, die Angst vor mir verlieren, vielleicht sogar beginnen, mich zu mögen, und mir seine Gefolgschaft versprechen. Das könnte sie nie zulassen.

Nur einmal, einmal hat sie es erlaubt – auch wenn ich meine Zweifel habe, dass sie das bemerkt hat:

Dorin ist von Anfang an bei mir gewesen. Er ist älter als der König, mit grauen Strähnen in seinem sorgfältig gepflegten Bart und an den Schläfen. Er trägt sein Haar lang, zusammengebunden zu einem Zopf im Nacken, und seine Augen sind haselnussbraun und wachsam. Er ist der perfekte Wächter, ruppig und professionell, und ich weiß, dass wir keine Freunde sind. Aber etwas ist doch zwischen uns. Ich lebe in der ständigen Angst, dass auch er mir eines Tages genommen wird. Wir kennen inzwischen jede Bewegung des anderen, und es wäre schwer, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen. Wie ein altes Ehepaar wissen wir um die Eigenheiten des anderen, und ich muss keine Angst haben, dass er einen Fehler machen könnte.

»Das heißt, nun sind nur wir beide übrig?«

»Für den Augenblick, Mylady. Gestern wurde ein Probekampf abgehalten, und ich glaube, der neue Wächter wird sich noch im Laufe des Tages zu uns gesellen. Ich soll ihn in alles einweisen, während Ihr bei der Jagd seid. Die Gardisten der Königin werden Euch dort schützen, wie immer.«

»Wurde Rivak nach der Weissagung versetzt?«, frage ich und versuche, meine Stimme ruhig zu halten.

»Er hat schon vor einer ganzen Weile um eine Versetzung ersucht, Mylady, aber die Königin hatte noch keinen neuen Wächter für gut befunden. Soweit ich gehört habe, ist das jetzt anders.«

»Was meint Ihr, wie lange wird der Neue es wohl aushalten?« Ich lächle bitter.

»Nicht so lange, wie Ihr es verdient hättet, Mylady. Kommt, wir wollen die Majestäten nicht warten lassen.« Er lächelt freundlich, und ich spüre, wie sich der Knoten in meinem Bauch weiter zusammenzieht.

Er steigt mir voran die Treppe hinab, und ich halte mich in einigem Abstand, die Hände immer am Körper, während ich zu den Göttern bete, dass Dorin mir nicht genommen wird.

Die Jagdgesellschaft hat sich bereits versammelt. Die Damen tragen Grün und Silber, die Männer ihre blauen und goldenen Jagdkostüme und ich meinen scharlachroten Umhang. Die Königin hat es gern, wenn ich Rot trage; sie findet, dass es meine Rolle unterstreicht, und so sind die meisten meiner Gewänder und Umhänge rot. Die Hunde springen um den König herum, fletschen ihre Zähne. Ihre Blicke nur auf ihn gerichtet, wie es ihnen anerzogen wurde, warten sie auf sein Signal. Ich hasse diese Hunde, fast mehr als alles andere.

Sie sind anders als die Hunde in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Sie ziehen nicht den Schwanz ein, wenn man sie zurechtweist, und drehen sich auch nicht auf den Rücken, wenn man etwas Freundliches zu ihnen sagt. Diese Hunde haben lange, muskulöse Beine und ihre großen Köpfe sind länglich und flach. Sie sind eine Kreuzung aus Alaunt, Mastiff und etwas Wilderem und Tödlicherem. Ihr Fell ist rau, fleckig und braungold gesprenkelt. Es würde mir keine Freude machen, sie zu streicheln, selbst wenn sie es zuließen. Sie scheinen hechelnd zu grinsen, und in ihre leeren Augen zu blicken, fühlt sich genauso an, wie in die Augen der Männer zu sehen, die ich an diesem Morgen hingerichtet habe. Sie sind stumpf, ohne Gewissen, ohne Seele.

Über Seelen weiß ich alles. Denn bevor ich zur Gottgleichen Daunen wurde, war ich die Tochter der Sündenesserin.

Der moschusartige, ranzige Geruch der Hunde erfüllt die Halle, ein Geruch nach Fleisch und Tod, und ich sehe, wie die Königin ihr Gesicht mit einem hauchdünnen Schal bedeckt. Die Hunde mögen kein totes Fleisch. Sie reißen es lieber direkt von ihrem noch lebenden Opfer, darum sind sie ganz versessen auf die Jagd. Sie wissen, was es bedeutet, wenn sie in diesen Saal geführt werden, und ihre Aufregung, ihr Hin- und Herwetzen lässt einen bitteren Geschmack in meinem Mund entstehen. Ich hoffe, dass sie heute ein Tier jagen sollen und keinen Menschen.

Als ich zum ersten Mal miterlebte, wie die Königin die Hunde auf einen Gefangenen hetzte – es war ein Dieb, der in eines der Herrenhäuser des Königs eingebrochen war –, hätte ich beinahe mein Frühstück auf den Boden der Halle erbrochen. Ich wusste auch damals schon, dass sie solche Strafen verhängt, das ganze Reich weiß, dass die Strafen der Königin ungewöhnlich grausam sind. Aber zu sehen, zu riechen, zu hören, wie sie den Mann zerfleischten, war zu viel. Selbst für jemanden wie mich.

Dorin hatte mich gedeckt, der Königin ausgerichtet, dass mir schon den ganzen Morgen über nicht wohl gewesen war. Mir wurde gestattet, mich auszuruhen; auch ein Heiler wurde nach mir geschickt, der mich mit einer Glasstange stupste und mir einen widerlich riechenden Tee einflößte. Seitdem quälen mich Albträume davon, wie die Hunde mich, meine Schwester, Tyrek, auch Dorin verfolgen. Ich wache schweißgebadet und zitternd auf und bin immer noch überzeugt, sie in meinem Zimmer riechen zu können. Kein Verbrechen rechtfertigt dieses Schicksal, ganz gleich, was die Königin sagt. Aber andererseits bin ich mir sicher, dass die Menschen dasselbe über das sagen, was ich tue, selbst wenn es Verräter des Reiches sind, die ich hinrichte.

»Twylla«, ruft die kalte Stimme der Königin, woraufhin ich mich sofort tief verbeuge. Wie eine Maus, die im nächsten Erdloch verschwindet, wenn sie den Ruf einer Eule hört. »Gesegnete Weissagung«, sagt sie und der Hofstaat murmelt es ihr nach. »Du darfst in den Tempel gehen nach der Jagd.«

Ich senke meinen Kopf daraufhin noch tiefer. »Ich danke Euch, Euer Majestät.«

Zwei ihrer Gardisten kommen zu mir herüber, halten aber einen geradezu peinlich großen Abstand. Nachdem sich die hölzernen Tore geöffnet haben, begeben wir uns zu den Pferden, die gesattelt bereitstehen; die Königin und ihre Garde, ich und meine Wachen und dann der Rest des Hofes.

Ich steige ohne Hilfe auf den breiten Rücken meines Pferdes. Der Wächter der Königin steht neben mir und sieht mir verstockt dabei zu, wie ich mich abmühe und dann mein Pferd antreibe, um mich dem Zug der Königin anzuschließen. Pferde sind immun gegen Morgenandorn, also lasse ich meine Finger durch die Mähne gleiten, die bis auf meinen Rock hinabreicht. Es ist so schön, etwas Warmes zu berühren, etwas, das lebt, und zu wissen, dass dieses Tier darunter nicht zu leiden hat.

Stumpfe Augen starren mich an, Blut tropft auf beflecktes Holz.

Ich schaudere, und meine Finger verkrampfen sich in der Mähne der Stute, aber das zieht die Aufmerksamkeit der Königin auf mich. Also lasse ich die Haare des Pferdes los und greife stattdessen nach den Zügeln.

Die Königin führt uns an, biegt jedoch in eine andere Richtung als der König mit den Hunden. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus, weil wir nicht den jagenden Männern folgen, und ich vermute, ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Das geifernde Kläffen der Hunde verstört die Pferde noch mehr als ihre Reiter. Außerdem ist es schon vorgekommen, dass sie das Interesse an ihrer Beute verloren und stattdessen Pferd und Reiter angegriffen haben.

Ich blicke zu den Bergen hinüber. Das Land Lormere wird von ihnen begrenzt; sie behüten das Königreich wie eine Mutter ihr neugeborenes Kind. Die Stadt Lortune und das Schloss Lormere befinden sich am östlichsten Punkt des Landes, und Teile des Schlosses sind in den Berg hineingebaut worden, sodass es aussieht, als seien die weitgefassten Außengebäude aus dem Gebirge selbst erwachsen; aber auch ein wenig, als versuchten sie, ihm zu entkommen.

»Eine natürliche Festung«, wie meine Mutter einmal zu mir gesagt hat. »Schloss Lormere wird niemals fallen wegen dieser Berge.«

Wir haben Glück mit der Lage des Königreichs, zumindest heißt es das immer. Die Berge machen es unmöglich, uns zu erobern, und auch der gewaltige und dichte Westwald schützt uns. Der Wald wächst auf einer riesigen Steigung, die sich bis zu der Hochebene erhebt, auf der Lormere liegt, sodass wir immer auf unsere Feinde hinabblicken können.

Hinter dem Westwald liegt das Königreich Tregellan, das Land unserer früheren Erzfeinde. Vor hundert Ernten fochten wir einen blutigen Krieg gegen sie, einen Krieg, den die Tregellianer angezettelt hatten. Lormere ging jedoch siegreich daraus hervor und von unserer Königsfamilie und dem Rat von Tregellan wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet.

Im Norden, am Fuße steiler, unüberwindlicher Klippen, liegt hinter dem Ausläufer des Tallithischen Meeres, der Meerenge von Aurmere, das untergegangene Königreich Tallith, das seit einem halben Jahrtausend mehr oder weniger verlassen ist. Nur noch kleine Ansiedlungen gibt es dort, die in endlose Fehden verstrickt sind.

Tallith war einst das wohlhabendste aller Königreiche, in jenen Zeiten, als Lormere aus nicht viel mehr als einigen herrschaftlichen Dörfern in den Bergen bestand, die von den Vorfahren der Königin regiert wurden. Aber nachdem die Königsfamilie von Tallith ohne Erbe geblieben und ihr letzter Vertreter gestorben war, lag ihr Land in Trümmern und die Menschen verließen es in Massen. Manche ließen sich in Tregellan nieder, und andere zogen weiter, bezwangen den Wald und die Höhenzüge und kamen bis nach Lormere. Es heißt, ein Viertel aller Menschen hier hätten das Blut der Tallithi in sich. Manchmal lassen sich die Eigenheiten auch erkennen, wenn ein Kind mit dem Göttermal oder dem graublonden Haar auf die Welt kommt, für die die Menschen aus Tallith berühmt waren.

Wir reiten schweigend, und auch der Wald um uns herum scheint zu verstummen, als unser Zug zwischen seine Bäume taucht. Lormere ist fruchtbar, aber wegen der Höhe eignet sich ein großer Teil des Landes am besten für die Viehzucht. Wir bauen Kartoffeln, Steckrüben, Pastinaken, Roggen und Bohnen an, aber Getreide gedeiht nicht gut bei uns. Wir müssen es aus Tregellan einführen, wo es ein Übermaß an Ackerland gibt. Alles, was uns an Fisch und Meeresfrüchten aufgetischt wird, stammt ebenfalls aus Tregellan, wo es von den Fischern, die es mit dem Tallithischen Meer aufnehmen, flussaufwärts gebracht wird. Das macht diese Speisen zu den kostbarsten, die es hierzulande gibt. Bevor ich ins Schloss gekommen bin, habe ich nie weißes Brot gegessen.

In den Bäumen rechts von uns ist ein Rascheln zu hören und wir drehen uns alle um. Die Männer der königlichen Garde ziehen ihr Schwert. Einen Augenblick später bricht ein Baummarder aus einem Busch und faucht wütend, während er den Stamm einer alten Fichte hinaufschießt. Eine der Hofdamen lacht leise, während die Gardisten ihre Schwerter mit verlegener Miene zurück in die Scheiden stecken. Die Königin reitet vor mir und die Garde formt einen Ring um uns. Ihr langes kastanienbraunes Haar schimmert im Sonnenlicht, das in einzelnen Sprenkeln durch das Dickicht aus Eichen, Linden und Fichten fällt.

Sie ist wunderschön, und wenn sie sich umwendet, um zu prüfen, ob der Tross ihr ordnungsgemäß folgt, offenbart sie ihr stolzes Profil. Ihre Haut ist blass und makellos, die Wangenknochen hoch und ihre Augen dunkel, wie bei allen Mitgliedern ihrer Familie. Alle sind sie dunkelhaarig und gut aussehend, ihr Blut setzt sich immer durch. Am Hof ist es Mode geworden, die königlichen Farben zu imitieren: Die Frauen mit den blonden Haaren färben es sich mit Mischungen aus Rinde und Beeren – was nicht immer gelingt. Und mehr als eine Hofdame ist beinahe erblindet beim Versuch, sich Tollkirschensaft ins Auge zu träufeln, um eine blaue oder hellbraune Iris zu verdunkeln. Neben ihnen sehe ich mit meinem roten Haar, den grünen Augen und den vielen Sommersprossen aus wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Und das bin ich wohl auch.

Tief im Waldland nördlich des Schlosses wartet ein goldener Pavillon auf uns, mit Wimpeln auf jeder Spitze, die flattern, wenn ein Windstoß sie streift. Unter dem Dach krümmt sich ein langer Tisch unter dem Gewicht von Speisen – mehr als die Jagdgesellschaft je verzehren könnte: gebratenes Wildschwein, kandierte Ente, Lebkuchentaschen und dickes Gulasch, Brote und Desserts. Seidene Teppiche, die aus fremden, exotischen Orten stammen, bedecken den Waldboden, außerdem warten bequeme Schuhe auf uns. Als die Königin von ihrem Pferd steigt, tun wir es ihr gleich, tauschen unsere Reitstiefel gegen die weichen Pantoffeln und nehmen unsere Plätze ein. Als ich den Stuhl rechts neben der Königin so weit es geht von ihrem üppig geschmückten Platz wegschiebe, werfen mir zwei der Dienerinnen Blicke zu. Sie flüstern erregt miteinander und dann gibt die größere der anderen einen Stoß in meine Richtung. Ich schaue weg, sehe aber genau, wie die siegreiche selbstzufrieden grinst.

»Ein Glas Wein, Mylady?« Das Mädchen, das mich nun bedienen muss, steht in sicherer Entfernung vor mir und hält eine Karaffe in Händen.

»Nein«, sage ich. »Ich hätte gern etwas Wasser.«

Das Mädchen vollführt einen höflichen Knicks, eilt davon und kehrt kurz darauf mit meinem Wasser zurück. Als sie sich mir nähert, versteife ich mich, rühre mich nicht vom Fleck. Sie beugt sich so weit vor, dass sie beim Eingießen einiges auf den Tisch verschüttet. Ich kann nur zusehen, wie die Flüssigkeit in das goldene Tischtuch einsickert und die Seide ruiniert. Sie kümmert sich nicht um den dunklen Fleck, huscht nur eilig zurück zu ihrer Freundin und tuschelt wieder mit ihr.

Als ich damals aufs Schloss kam und man mir sagte, was passieren würde, wenn man mich berührt, kam ich mir wie etwas Besonderes vor, so mächtig wie die Königin. Niemand konnte mich je wieder schlagen oder mich kneifen oder mir etwas wegnehmen. Ich wurde bösartig. Wenn ich nicht bekam, was ich wollte, drohte ich den Dienern mit meinen Fingern und war hocherfreut, wenn sie blass wurden und sich gegenseitig umrannten, nur um meine Wünsche zu erfüllen. Damals glaubte ich noch, der Zweck des Morgenandorns liege bloß darin, meine gottgleiche Stellung zu beweisen. Doch die Dienstboten begriffen von Anfang an, dass ich eine Waffe war. Ich kann ihnen ihren Hass auf mich nicht verübeln; wäre ich nicht so naiv gewesen, hätte ich mich ihnen gegenüber bestimmt nicht so grausam verhalten. Aber es ist besser für sie, wenn sie sich von mir fernhalten, damit sie nicht Tyreks Schicksal teilen.

Die Königin spielt mit einem Fächer herum, öffnet und schließt ihn. Dabei lässt sie ihren Blick über den Wald schweifen, um den ersten blauen Jägerrock zu erspähen, und legt ihren Kopf schief, um das erste Schmettern der Hörner zu erlauschen, das die Ankunft ihres Gemahls ankündigen wird. Es ist ungewöhnlich, dass sie sich so sehr dafür interessiert, wo der König steckt, und die ganze Gesellschaft macht das nervös. Wir sitzen aufrecht und starr auf unseren Plätzen und atmen so flach wir können. Unauffällig schaue ich mich um, beobachte, wie die Königin mit ihrem Fächer herumfuchtelt und den Wald nach der kleinsten Bewegung absucht.

Wir wissen nie, wann die Jäger zu uns stoßen werden. Sie legen keine Pause ein, bis die Hunde etwas gerissen haben, und wenn Wild gejagt wird, kann man nie vorhersehen, wann es so weit sein wird. Unsere Aufgabe ist es, hier zu warten und bei ihrer Ankunft hübsch und malerisch auszusehen. Es ist der Königin wichtig, dass die Schreiber, wenn sie die Tage dieses Hofstaates in die Geschichtsbücher aufnehmen, von Eleganz und Schönheit und gewahrten Traditionen zu berichten wissen. Sie ist fest entschlossen, dass ihre Regierung als eines von Lormeres Goldenen Zeitaltern in Erinnerung bleiben wird, also muss alles vollkommen sein.

»Twylla, was wirst du heute für uns singen?« Die Königin wendet sich mir zu und winkt einen Pagen herbei.

»Wären Eurer Majestät ›Die Ballade von Lormere‹, ›Die Blaue Hirschkuh‹ und ›Carac und Cedany‹ genehm?«

»Sehr gut«, sagt sie.

Sie tut so, als würde ich die Lieder auswählen, aber davon kann keine Rede sein. Hätte ich »So schön und fern« oder »Die Lachende Magd« vorgeschlagen, hätte sie mich mit einem kalten, dunklen Blick gestraft und mit täuschend sanfter Stimme gefragt: »Und wodurch scheinen sie dir angemessen? Für eine Jagd, Twylla? Diese Lieder?«

Die Stücke, die ich gewählt habe, werden immer bei der Jagd gesungen, das weiß ich inzwischen. In der »Ballade von Lormere« geht es um den Urururururgroßvater der Königin, der einst das Königreich gegründet hat. »Die blaue Hirschkuh« ist ein jüngeres Lied. Es erinnert daran, wie die Mutter der Königin in ihrem blauen Gewand für eine magische Hirschkuh gehalten wurde, vom damaligen König gejagt und in letzter Minute von ihm gerettet wurde, bevor die geifernden Hunde sie reißen konnten. »Carac und Cedany« ist ein Kriegsgesang, der für die Großeltern der Königin komponiert wurde. Die Zeit ihrer Herrschaft gilt als das letzte Goldene Zeitalter von Lormere, und damals war auch die letzte Gottgleiche Daunen am Hofe. Es ist das Lieblingslied der Königin. Sie kann nicht oft genug hören, wie die Soldaten Lormeres die einfallenden tregellianischen Truppen zurückschlugen und das Volk der Tregellianer noch weiter dezimierten, obwohl es sich bereits ergeben und das Gold seiner Vorratskammern aufgegeben hatte.

König Carac und Königin Cedany forderten zudem, dass Tregellans Alchemisten ausgeliefert würden, damit Lormere in der Lage wäre, sein eigenes Gold herzustellen, so wie Tregellan es vermochte. Doch Tregellan weigerte sich und drohte, die eigenen Alchemisten hinzurichten, um ihre Geheimnisse zu bewahren.

Carac und Cedany willigten schließlich ein, auf die Auslieferung zu verzichten und sich stattdessen riesige Mengen alchemistischen Goldes überbringen zu lassen. Und so kam die Bezeichnung »Goldenes Zeitalter« zustande. Es heißt, die Alchemisten Tregellans würden heute versteckt an geheimen Orten leben, aus Angst, wir würden sie verschleppen und dazu zwingen, für unser Reich zu arbeiten.

Bevor ich auf das Schloss kam, sang ich immer, was mir gerade in den Sinn kam. Ich erfand meine eigenen Lieder über den Himmel und das Meer und die königlichen Fischer. Als ich zum ersten Mal als Gottgleiche Daunen vor dem König und der Königin sang, trug ich ebenfalls eines dieser Lieder vor. Die Königin war nicht beeindruckt.

»Wer hat dir das beigebracht?«

»Ich habe es mir ausgedacht, Eure Majestät. Es ist mein eigenes Lied.«

»Dann schlage ich vor, du vergisst es wieder. Ich bin sicher, die Tochter der Sündenesserin kann derartigen Unsinn singen, aber für die Gottgleiche Daunen ziemt es sich gewiss nicht. Den Göttern würde das gar nicht gefallen.«

Ich nickte. Damals versuchte ich noch verzweifelt, ihr zu gefallen, mich ihr zu beweisen. Bevor ich wusste, was das bedeuten würde.

Ein schrecklicher Schrei ertönt aus dem Wald und wir alle wenden gleichzeitig den Kopf. Ich versuche, mir nicht die Brutalität auszumalen, mit der die Hunde ihre Beute zu Fall bringen. Ich hoffe, dass es schnell geht.

»Sie kommen.« Die Königin erhebt sich und klatscht in die Hände. »Bereitet das Festmahl.«

Es ist ein überflüssiger Befehl. Die Pagen haben lange bevor wir hierherkamen alles bereitgestellt, aber auf ihr Kommando bewegen sie sich sofort schneller, füllen die Weinkaraffen auf und stellen weitere Pasteten und gebratene Vögel auf den ohnehin schon unter seiner Last ächzenden Tisch. Wir nehmen eine entspannte Haltung ein, zwingen uns zu einem Lächeln und blicken mit gehobenen Augenbrauen und überaus aufmerksam zur Königin hinüber, als hätte sie gerade einen Scherz gemacht.

Das Horn erschallt und die Männer tauchen auf. Schwitzend, aber triumphierend steigen sie von ihren Pferden, während hinter ihnen die Hunde die Überreste ihrer Beute näher schleifen. Die vier größten scheinen darum zu kämpfen, fletschen die Zähne und ihr Knurren schallt unheilvoll über die friedliche Lichtung. Ich kann nicht hinschauen. Es wird nichts übrig bleiben von der Beute, keine Trophäen. Die Hunde werden alles verschlingen, selbst die Knochen. Für die Männer liegt die Freude sowieso nur in der Hetzjagd, und sie sehen aus, als seien sie ganz zufrieden mit ihrem Werk.

Wir erheben uns, als sich der König nähert, aber schon im nächsten Augenblick zieht sich mir der Magen zusammen. Der Prinz ist bei ihm.

Kapitel 3

Mir bleibt der Mund offen stehen; es verblüfft mich, dass er hier ist, dass er so groß geworden ist, dass er wie ein Prinz aussieht und nicht mehr wie der schlaksige, mürrische Junge, auf den ich früher auf meinem Weg zum Tempel dann und wann einen Blick geworfen habe. Seine Schultern sind breit, und seine dunklen Locken fallen über sein Wams, als er sich vor seiner Mutter verneigt. Er ist tatsächlich hübsch. Der mir versprochene Gemahl ist hübsch, trotz derselben grausamen Züge, die auch seine Mutter hat, trotz derselben wachsamen braunen Augen.

Dann überkommt mich Wut. Niemand hat mir gesagt, dass er zurückgekehrt ist, nicht einmal, dass er es vorhatte.

Als die Königin mich damals zum Schloss brachte, sagte sie, Naeht wäre ihr in einem Traum erschienen und hätte ihr die Verkörperung ihrer eigenen Tochter versprochen – mich – anstelle der verstorbenen Prinzessin, die ihr Sohn hätte heiraten sollen. Erst durch meine Vermählung mit dem Prinzen wird meine Rolle als Gottgleiche Daunen wieder von mir genommen, weil Naeht dies so will. Wenn ich vermählt bin, werde ich nicht mehr rein genug sein für diese Funktion. Dafür werde ich eines Tages die Königin von Lormere sein und auf dem Thron Platz nehmen, auf dem die Königin heute sitzt.

Der Hofstaat verbeugt sich, erst vor dem König und dann vor Prinz Merek. Zwei Ernten lang ist er nicht hier gewesen und hat auf Reisen seine höfische Erziehung abgeschlossen. Er hat entfernte Bezirke des Reiches besucht und Zeit mit den dortigen Herren verbracht, hat gelernt, wie das Königreich funktioniert und wie seine Geschichte verlaufen ist, hat Freunde gefunden und Bündnisse geschlossen. Ich weiß, dass er als Ehrengast auch Zeit in Tregellan verbracht hat. Ich meine sogar, einmal mitbekommen zu haben, wie zwei der Mägde gesagt haben, er wäre gerade in Tallith. Niemand hat mir direkt erzählt, wo er sich aufhält oder wann er wiederkommen würde, und ich war zu stolz, um zu fragen.