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Thomas Mann schrieb den politisch-literarischen Essays anlässlich des 200. Geburtstags von Goethe im Jahr 1949. Darin stellt er sich die Frage, wie Goethe, der »letzte Repräsentant und geistige Gebieter Europas«, zur Demokratie stehe. Mann diskutiert Goethes von Widersprüchen durchzogene Natur, der in mancher Hinsicht eine Opposition zum Demokratischen eigen sei. Doch letztlich sieht Thomas Mann in Goethes »Lebensfreundschaft«, seiner Gabe, aus den Dingen etwas zu machen, seinem »Willen zu überleben, statt poetisch in Stücke zu gehen, […] das entscheidende Merkmal dafür […], daß die europäische Demokratie ihn zu den ihren zählen darf.«
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Seitenzahl: 47
Thomas Mann
Goethe und die Demokratie
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Zweihundert Jahre nach Goethes Geburt, hundertundsiebzehn nach seinem Tode, tut man gut, einen Vortrag über ihn mit dem Satz zu beginnen: Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen. Dies wunderbare, große und gesegnete Leben ist, beinahe von dem Augenblick seines Erlöschens an und dann durch die Jahrzehnte hin, studiert und bis in den letzten Winkel abgeleuchtet und dargestellt, dies herrliche Werk kommentiert, gefeiert, philologisch durchpflügt und geistig erörtert worden, wie nicht leicht eines anderen Sterblichen Leben und Werk, und das Gefühl, daß man zu spät kommt mit allem Vorbringen über das Phänomen, ist nur zu berechtigt. Tout est dit – es ist alles gesagt, von Deutschen und Nicht-Deutschen, und das Schlimme ist: ich selbst habe das Meine gesagt und meinen Sack geleert, – in einem halben Dutzend Aufsätzen habe ich das getan und in einem ganzen Roman, und nicht nur eine Weltkonkurrenz habe ich also zu bestehen, indem ich es wage, noch einmal über Goethe zu sprechen, sondern auch meine eigene.
Offen gestanden bin ich nicht sehr stolz auf diese Beiträge, auf die kritische und sogar dichterische Versenkung in dies Leben und Werk, diese in ihrer Differenziertheit und Monumentalität freilich so unendlich fesselnde Persönlichkeit – eine Versenkung, die wahrhaftig zu dem Ruf eines gewissen Spezialistentums, ja einer imitatorischen Jüngerschaft geführt hat. Ich bin nicht stolz darauf, weil es die Versenkung ist eines Deutschen in das Deutsche. Weit mehr imponiert mir, was seit Carlyles und Emersons Tagen bis zu Gide und Valéry und der englischen Goethe-Forschung, von Nicht-Deutschen also, zur Erkenntnis der großen deutschen Erscheinung beigesteuert {607}worden ist. Vor vielen Jahren fragte ich einmal einen in Deutschland zurückgelassenen Freund, den berühmten Romanisten Carl Voßler, aus welchem Grunde und Antrieb er sich mit solcher Entschiedenheit von früh an dem Studium der lateinischen Sprachen und Literaturen ergeben und nicht Hölderlin oder Hebbel, sondern Dante, Racine und Calderón seine glänzenden Arbeiten gewidmet habe. Er antwortete mir: »Es war das Bedürfnis nach dem ganz anderen.« Das machte mir großen Eindruck; denn so ehrenhaft und richtig mir dieses Bedürfnis erschien – ich mußte mir gestehen, daß meine eigene Bildung wesentlich nicht davon bestimmt gewesen war; daß sie ganz vornehmlich aus deutschem Erdreich ihre Nahrung gezogen, und daß ich auch als kritischer Schriftsteller und huldigender Interpret fast nie dem Fremden, sondern fast ausschließlich dem Heimischen gedient hatte. Ich schämte mich dessen, schämte mich meines Germanistentums – denn im Grunde sagte mir mein Gefühl und wird nie aufhören, es mir zu sagen, daß eigentlich die Bildung erst mit der Kenntnis, der Eroberung und Durchdringung des »ganz anderen«, der fremden Sprache, Kultur und Geistesform und dem Heimischwerden in ihr beginnt, und ich wäre zufriedener mit mir, wenn ich über Pascal, Diderot, Vauvenargues oder Wordsworth und Keats gearbeitet hätte, statt über Kleist, Wagner und selbst Goethe. Als kürzlich in Amerika meine gesammelten Aufsätze, »Essays of Three Decades« zum erstenmal in englischer Sprache erschienen, stellte die Kritik nicht geradezu tadelnd, aber doch mit einer gewissen Geringschätzung fest, daß mit Ausnahme von Tolstoj und dem Verfasser des »Don Quixote«, lauter deutsche Gestalten unterschiedlichen Ranges den Gegenstand dieser Eulogien und Studien bildeten, und ich konnte gar nicht umhin, aus dieser Feststellung den Vorwurf des Provinzialismus herauszuhören. Denn, woran es nun immer liegen möge, {608}diesem Vorwurf ist die Beschränkung eines deutschen Geistes auf das Deutsche am stärksten ausgesetzt. Dem Deutschen am allerwenigsten steht es an, in seiner Frau Muttersprache und dem, was darin geschrieben ist, sein Genüge zu finden; ihm besonders gebührt Expansivität, Weltsinn, die Kenntnis und Bewunderung, das Aufnehmen und Verarbeiten des Fremden, und gerade das mag er von seinem Goethe lernen, der als 78jähriger zu Eckermann sagte: »Wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so verfallen wir leicht pedantischem Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«
Die Nachfolge Goethes, das Bekenntnis zu ihm, bedeutet also denn doch wohl nicht deutsches Provinzlertum – und überhaupt darf ich sagen, daß, wenn ich viel über Deutsches und wenig über Fremdes geschrieben habe, ich doch im Deutschen immer die Welt, immer Europa gesucht habe und unbefriedigt war, wenn ich es nicht fand. Es ist nichts weniger als ein Zufall, daß die deutschen Gestalten, die ich mir zu Lehrern und Führern ersah, diese Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und in späteren Jahren an erster Stelle Goethe, alle ein stark über-deutsches, europäisches Gepräge tragen. Es war das Europäische auf deutsch, was ich in ihnen fand, ein europäisches Deutschland, welches immer das Ziel meiner Wünsche und Bedürfnisse bildete, – sehr im Gegensatz zu dem »deutschen Europa«, dieser Schreckensaspiration des deutschen Nationalismus, die mir von je ein Grauen war und die mich aus Deutschland vertrieb. Es muß ja kaum gesagt werden, daß in diesen beiden Konzeptionen die Unterscheidung begründet liegt, die die Welt zwischen einem »guten« und einem »bösen« {609}Deutschland macht: das europäische Deutschland, das ist zugleich das im weitesten Sinne des Wortes »demokratische« Deutschland, dasjenige, mit dem sich leben läßt, das der Welt nicht Furcht, sondern Sympathie erregt, weil es teil hat an der demokratischen Menschheitsreligion, von der das moralische Leben des Abendlandes letztlich bestimmt ist und die gemeint ist, wenn wir das Wort »Zivilisation« sprechen.