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Als Thomas Mann beim Schreiben über die beiden literarischen Denkmäler Goethe und Tolstoi klagte: »Das Bedürfnis und die Gewohnheit, mich ganz zu geben, ... lassen mich viel zu sehr ausladen.«, hatte er unwissentlich schon in Worte gefasst, worum es ihm bei dieser Arbeit eigentlich ging: um eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Koordinaten des eigenen Schaffens. Was für ihn selbst galt, attestierte er auch den beiden von ihm verehrten Schriftstellerkollegen: Ihr gesamtes Werk habe Bekenntnischarakter, der Antrieb ihrer literarischen Produktion sei die Liebe zu sich selbst – genauer noch die »Ehrfurcht vor sich selbst«, vor der eigenen Erwähltheit. Den Vortrag hielt Thomas Mann am 4. September 1921 im Lübecker Johanneum, im März 1922 wurde der Text in der Deutschen Rundschau abgedruckt. 1925 wird Thomas Mann den Text noch einmal aufgreifen und zu einer neuen Essayfassung erweitern und in zahlreichen Facetten vertiefen.
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Seitenzahl: 66
Thomas Mann
Goethe und Tolstoi
Vortrag, zum ersten Mal gehalten September 1921 anläßlich der Nordischen Woche zu Lübeck
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Vortrag, zum ersten Mal gehalten September 1921 anläßlich der Nordischen Woche zu Lübeck
In Weimar lebte noch zu Anfang unseres Jahrhunderts ein Mann, Julius Stöterer mit Namen und Lehrer seines Zeichens, der, als er noch ein Schüler, ein Gymnasiast von 16 Jahren war, mit Dr. Eckermann unter demselben Dache wohnte, nur wenige Schritte von Goethes Hause. An der Seite eines Schulkameraden, der mit ihm logierte, erhaschte Stöterer manchmal mit Herzklopfen einen Schimmer und Schatten von der Gestalt des Greises, wenn dieser an seinem Fenster saß. Aber beseelt von dem Wunsche, ihn einmal recht aus der Nähe und ganz genau zu sehen, wandten sich die Jungen an ihren Hausgenossen, den Famulus, und baten ihn sehr, ihnen eine solche Gunst doch irgendwie zu verschaffen. Eckermann war freundlich von Natur; er ließ die Knaben an einem Sommertage durch eine Hintertür in den Garten des berühmten Hauses ein, und da standen sie nun in ihrer Beklommenheit und warteten auf Goethe, der denn auch zu ihrem Schrecken wirklich daherkam: in einem hellen Hausrock – es wird wohl der Flanell-Schlafrock gewesen sein, von dem wir wissen – erging er sich hier um diese Stunde, und da er der Jünglinge ansichtig wurde, schritt er auf sie zu, blieb, nach Eau de Cologne duftend, natürlich die Hände auf dem Rücken, mit vorgeschobenem Unterleib und jener Miene eines Reichsstadt-Syndikus, hinter der er, wie glaubwürdig bezeugt ist, Verlegenheit verbarg, vor ihnen stehen und fragte sie nach Namen und Begehr – wahrscheinlich nach beidem zugleich, was, wenn es so geschah, wiederum sehr streng wirkte und kaum zu beantworten war. Da sie denn {377}etwas gestammelt hatten, empfahl ihnen der Alte, fleißig in ihren Studien zu sein, was sie sich dahin übersetzen mochten: rätlicher, als hier Maulaffen feilzuhalten, sei es für sie, sich hinter ihre Schulaufgaben zu setzen – und ging weiter.
So lief das ab – es war im Jahre 1828. – Dreiunddreißig Jahre später, eines Mittags um 1 Uhr, wollte Stöterer, der unterdessen ein tüchtiger, seinem Beruf in Liebe ergebener Mittelschullehrer geworden war, eben den Unterricht in der zweiten Klasse beginnen, als ein Schüler des Seminars den Kopf durch die Tür steckte und meldete, ein Fremder wünsche Herrn Stöterer zu sehen. Dieser Fremde trat denn auch ohne weiteres ein, bedeutend jünger als der Lehrer, mit nicht sehr starkem Vollbart, vortretenden Backenknochen, kleinen, grauen Augen und einem Paar Falten zwischen den dunklen Brauen. Er unterließ es, sich auszuweisen oder vorzustellen, sondern fragte sofort, worin heute nachmittag unterrichtet werde; und als er erfuhr, daß erst Geschichte, dann deutsche Sprache daran sei, fand er das ausgezeichnet und sagte, er habe die Schulen von Süddeutschland, Frankreich und England besucht und möchte nun auch die von Norddeutschland kennen lernen. Er sprach wie ein Deutscher. Man mußte ihn für einen Lehrer halten, auf Grund der sachkundigen und interessierten Fragen und Äußerungen, die er tat, indem er beständig Aufzeichnungen in sein Notizbuch machte. Er wohnte der Schulstunde bei. Als die Kinder einen Aufsatz, einen Brief über irgend ein Thema in ihre Hefte geschrieben hatten, verlangte der Fremde, die »Kompositionen« mitnehmen und behalten zu dürfen; sie seien für ihn von größtem Interesse. Das fand nun Stöterer denn doch naiv. Und wer entschädigte die Kinder für ihre Schreibhefte? Weimar war eine arme Stadt. Er äußerte sich höflich in diesem Sinn. Aber der Fremde erwiderte, da könne Rat geschaffen werden, und ging hinaus. Stöterer ließ den Direktor in {378}die Klasse bitten. Etwas Ungewöhnliches, ließ er sagen, ereigne sich. Und da hatte er recht, wenn er es auch erst später so ganz begriff, wie recht er damals mit dieser Botschaft gehabt. Denn damals und auf der Stelle mochte es ihm nicht viel bedeuten, als der Fremde, der, ein Paket Schreibpapier unter dem Arm, zurückgekehrt war, dem Direktor und ihm seinen Namen nannte: »Graf Tolstoi aus Rußland.« – Der Lehrer Stöterer aber brachte es hoch in Jahren und hatte folglich Zeit, gewahr zu werden, wessen Bekanntschaft er damals gemacht.
Dieser Mann also, der von 1812 bis 1905 in Weimar lebte, und dessen Leben sonst schlicht genug verlaufen sein mag, konnte sich des merkwürdigen Vorzugs rühmen, Goethe und Tolstoi persönlich gekannt zu haben – die beiden großen Männer, von denen ich heute abend zu Ihnen sprechen will. Ja, Tolstoi war in Weimar. Dreiunddreißigjährig, geboren in dem Jahre, das dem jungen Stöterer seine Unterredung mit Goethe brachte, kam Graf Leo Nikolajewitsch von Brüssel, wo er erstens Proudhon gesehen und sich von diesem hatte überzeugen lassen, daß la propriété – le vol sei, wo er aber zweitens die Erzählung »Polikuschka« geschrieben hatte, und die erste Stadt, die er in Deutschland besuchte, war die Stadt Goethes. Als Fremder von Distinktion und Gast des russischen Gesandten hatte er Eintritt in das Wohnhaus am Frauenplan, das damals dem Publikum noch nicht offen stand. Es wird aber berichtet, daß er sich weit mehr für die Fröbelschen Kindergärten interessierte, die von einer Schülerin Fröbels selbst geführt wurden, und deren pädagogisches System er mit großer Wißbegierde studierte.
Berührt es nicht sonderbar, zu hören, daß ein Mann sie beide gekannt hat, den Dichter des »Faust« und den »großen Schriftsteller des Russenlandes«, wie Turgenjew Tolstoi in seinem berühmten Abschiedsbriefe nannte? Denn sie gehörten ja ver{379}schiedenen Jahrhunderten an. Das Leben Tolstois erfüllt den größten Teil des neunzehnten. Er ist dessen Sohn, unbedingt, zumal als Künstler weist er alle Merkmale dieser Epoche auf und zwar ihrer zweiten Hälfte. Was Goethe betrifft, so hat das 18. Jahrhundert ihn hervorgebracht, und wichtige, ja entscheidende Bestandteile seines Wesens und seiner Bildung gehören diesem an – das wäre leicht zu belegen. Nun ließe sich freilich sagen, daß in Tolstoi ebensoviel vom 18., von Goethes Jahrhundert, lebendig war, wie in Goethe vom 19., von demjenigen Tolstois. Tolstois rationales Christentum hat mit dem Deismus des 18. Jahrhunderts mehr zu schaffen, als mit der mystisch-gewaltigen Religiosität Dostojewskijs, die ganz 19. Jahrhundert war. Sein Moralismus, der wesentlich in einer zersetzenden, alle menschlichen und göttlichen Einrichtungen unterminierenden Verstandeskraft bestand, war der Gesellschaftskritik des 18. Jahrhunderts verwandter, als dem viel, viel tieferen und wiederum religiöseren Moralistentum Dostojewskijs. Und sein Hang zur Utopie, sein Haß auf die Zivilisation, seine Passion für die Ländlichkeit, den bukolischen Frieden der Seele – eine noble Passion, die Passion eines adligen Herrn – kann ebenfalls als 18., und zwar als französisches 18. Jahrhundert angesprochen werden. Goethe andererseits: Sein Alterswerk, der soziale Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, gibt namentlich dadurch Anlaß zum Erstaunen, daß darin mit einer Intuition, einem Scharf- und Weitblick, die okkult, seherisch anmuten, aber nur der Ausdruck feinerer Organisation, Ergebnis der Sensitivität, des Spürsinnes sind, die ganze gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung des 19. Jahrhunderts: die Industrialisierung der alten Kultur- und Agrarländer, die Herrschaft der Maschine, der Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft, die Klassenkonflikte, die Demokratie, der Sozialismus, der Amerikanismus selbst, nebst sämtlichen aus die{380}sen Veränderungen erwachsenden geistigen und erzieherischen Konsequenzen vorweggenommen ist.
Immerhin, und wie es nun mit der säkularen Zugehörigkeit der beiden großen Männer stehe – man kann sie nicht Zeitgenossen nennen. Nur vier Jahre lang haben sie die Zeitlichkeit geteilt: von 1828, dem Geburtsjahr des Russen, bis 1832, da Goethe starb. Und doch hindert dies nicht, daß mindestens ein Bildungsfaktor – und zwar ein moderner, aktueller (von den uralt-allmenschlichen, von Homer und der Bibel hier ganz zu schweigen) – daß also wenigstens ein Element ihres seelisch-geistigen Aufbaues ihnen beiden gemeinsam ist. Es ist das Element Rousseau.