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Sie: Sunshine mit großem Herzen. Er: Bad Boy mit harter Schale. Beide zusammen: Explosiv. Die Kunststudentin Carly hat in Golden Heights eine neue Heimat gefunden. Wären da nicht die Geheimnisse, die sie sowohl vor ihrer Familie als auch ihren Freunden hat, und die Tatsache, dass sie hoffnungslos in Ty, den Bruder ihrer besten Freundin, verliebt ist. Es wird Zeit, endlich über ihn hinwegzukommen! Leider sagt sie ihm genau das und auf einmal ist alles anders. Hat Ty vielleicht doch Gefühle für sie? Aber was, wenn er herausfindet, dass ihre Freundschaft auf einer Lüge basiert? Band 2 der humorvollen New-Adult-Dilogie Die Bücher der Golden-Heights-Reihe: Band 1: Unlock My Heart Band 2: Unlock My Truth (Frühjahr 2025)
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2025 Ravensburger Verlag Text © 2025, Saskia Louis Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur. Lektorat: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de) Covergestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Motiven von © kjpargeter, © studio2013, © Abbie, alle von Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51253-9
ravensburger.com/service
Für Oma und Opa, die seit siebzig Jahren verheiratet sind und mich jeden Tag aufs Neue an die Liebe fürs Leben glauben lassen. Ihr könntet selbst Ty zum hoffnungslosen Romantiker machen!
Ty
Geld bedeutet Freiheit …
So begann der letzte Satz, den mein Vater mir mit auf den Weg gab.
Geld bedeutet Freiheit, also nimm dir, was du brauchst, um frei zu sein.
Doch mein Dad ist ein Lügner und Betrüger und seine Suche nach Freiheit endete im Gefängnis. Was Lebensweisheiten anbelangt, ist er also keine wirklich vertrauenswürdige Quelle.
Der Satz steckt trotzdem in meinem Kopf fest, denn wenn ich ehrlich bin – was in den letzten dreiundzwanzig Jahren nicht oft vorkam –, habe ich mit jedem einzelnen Wort ein Problem. Na ja, fast. Also, dir, was, du, um und zu sind wohl schon in Ordnung.
Doch ich hasse Geld und seine Wirkung. Ich hasse, dass alles eine Bedeutung hat, denn der Umstand verleiht jedem Wort und jeder Entscheidung und somit der Last auf meinen Schultern zu viel Gewicht. Ich bin nicht gut darin, zu nehmen, ich habe keine Ahnung, was ich brauche, denn je mehr man hat, je mehr man will, desto mehr kann man verlieren.
Und über Freiheit weiß ich nur: Egal, ob reich oder arm, sie ist ein lächerlicher Trugschluss. Nichts weiter als ein flüchtiges Gefühl, das mir vorgaukelt, die Welt bestünde aus unendlich vielen Möglichkeiten, nicht etwa aus Tausenden unüberwindbaren Grenzen.
So wie ich das sehe, sind wir gefangen in einem Meer aus Konsequenzen und Zellen, erbaut aus Entscheidungen. Aus den Fehlern, die ich mache; den Versprechen, die du brichst; den guten Vorhaben, die sie aus den Augen verliert; der Angst, die er mit sich herumschleppt, und den Lügen, die wir niemals erzählen wollten.
Mein Vater hat behauptet: Geld bedeutet Freiheit.
Doch kein Kredit der Welt kann die Schuldgefühle abbezahlen, keine Summe alle Sorgen subtrahieren, kein Gold schreckliche Erinnerungen zum Glänzen bringen.
Und ich werde nie frei von allem sein.
Aber das ist okay. Wenn ich meiner Schwester die Last erleichtern kann, trage ich all das gern weiter mit mir herum.
Nehme mir nichts, brauche nichts – und werde im Gegenzug nicht enttäuscht.
Vielleicht ist das zynisch, vielleicht auch ein Fehler … doch jedes Mal, wenn ich zweifle, denke ich an den letzten Satz meiner Mutter, der so gänzlich anders war als der meines Vaters.
Uns definieren nicht die Fehler, die wir machen, Schatz, sondern die Fehler, die wir wiedergutmachen.
Ich versuche es, Mom.
Auch wenn die Fehler nicht meine eigenen sind.
Carly
Ich wusste, was Freiheit war.
Ehrlich gesagt verstand ich nicht, warum etliche Philosophen so viel Zeit damit verbrachten, den Begriff zu definieren. Die Sache war für mich glasklar. Freiheit war, allein über den Campus der Golden U, der renommiertesten Privatuni ganz Kaliforniens, zu laufen. Nur bewaffnet mit dem Wissen, dass ich meine Eltern belog und nächsten Monat ein völlig neues Leben beginnen würde. Freiheit war, seine eigenen Fehler zu machen. Wie zum Beispiel so begeistert von den Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, den gigantischen Palmen und der Masse an jungen Menschen um mich herum zu sein, dass ich erst merkte, wie mir das prall gefüllte Portemonnaie aus der Jeanstasche gezogen wurde, als es schon fast zu spät war. Und dass ich gerade bestohlen wurde, bekam ich zugegebenermaßen nur mit, weil ich so frei war, ruckartig stehen zu bleiben, um eine seltsame Wolkenformation am Himmel zu betrachten, die mich an einen Pinsel erinnerte. Sonst wäre dem Dieb mein Portemonnaie mit Sicherheit nicht mit einem dumpfen Ton aus den Händen gefallen, der mich innehalten ließ.
Um fair zu sein: Jeder wäre abgelenkt gewesen. Man sah nicht alle Tage eine Wolke, die einem Feinhaarpinsel wie aus dem bärtigen Gesicht geschnitten war – und es war ein bisschen gemein von dem Dieb, es darauf anzulegen, dass ich nichts von seinen flinken Fingern mitbekam!
»Was zum …«, murmelte ich und wandte mich ruckartig um. »Oh.«
Ich musste mich korrigieren. Es war eine Diebin. Verwundert blickte ich zu der Frau zu meinen Füßen, die mein Portemonnaie in der Hand hielt und mit unleserlicher Miene zu mir aufschaute. Der Schatten einer Palme fiel auf ihr Gesicht, und sie wirkte weder erschrocken noch schuldbewusst. Nein, ihr Ausdruck war seltsam … kontrolliert. Nur ein Zucken in ihrem Fuß verriet, dass sie vermutlich gerade fieberhaft darüber nachdachte, wie sie die Situation retten konnte.
Stirnrunzelnd betrachtete ich sie. Ich hatte mir Diebinnen immer anders vorgestellt. Weniger blond und jung. Definitiv schmieriger. Mit fettigen Haaren, dreckigem Gesicht, verfaulten Zähnen und dunklen Umhängen. Ja, okay, ich sah zu viel Netflix und las zu viele historische Liebesromane. Aber wenn man in den letzten achtzehn Jahren so selten das Haus verlassen hatte wie ich, sollte einem das wirklich nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Die junge Frau, die noch immer auf dem Boden hockte, war keine zwanzig. Sie kam mir furchtbar dünn vor. Ihre Schuhe waren durchgelaufen. Ihre Haare seltsam matt. Sie sah … nicht gut aus. Müde und erschöpft.
Mein Herz zog sich automatisch zusammen und dehnte sich dann auf die doppelte Größe aus. Mein Dad behauptete immer, dass ich zu viel Mitgefühl hatte. Dass ich zu nett war und mit der Biene, die mit dem Leben dafür bezahlte, wenn sie mir wehtat, jederzeit den Platz tauschen würde. Was stimmte – denn Bienensterben war ein ernsthaftes Problem! Aber ich fand nicht, dass das eine Schwäche war. Ich behandelte Leute so, wie ich gern behandelt werden würde. Und Shit, was für ein schweres Leben musste man haben, dass man dazu gezwungen war, andere Leute zu bestehlen? Sie war ungefähr so alt wie ich. Es war nicht fair, dass mich heute eine Limousine zum Einschreiben an die Uni gefahren hatte, während dieses Mädchen mit Schuhen herumlaufen musste, die ein rechtschaffener Mülleimer verschmäht hätte.
Mir war klar, dass ich mich ärgern, sie festhalten und anzeigen sollte, aber … ich konnte nicht. Heute war der erste Tag seit Ewigkeiten, an dem ich mich wie ein normaler Mensch fühlte. Den wollte ich nicht auf der Polizeiwache verbringen. Ganz abgesehen davon, dass meine Eltern sich die Sache mit dem Studium noch mal überlegen würden, wenn ich direkt an meinem ersten Tag bei den Cops landete. Dann hatte dieses Mädchen mich eben bestehlen wollen. Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Ich hatte meine heute bekommen – und ich hoffte, dass die Fremde ihre nun gut nutzte.
»O mein Gott, danke!«, sagte ich und stieß erleichtert die Luft aus. »Ich hab gar nicht gemerkt, dass mir das Portemonnaie aus der Tasche gefallen ist! Danke, danke. Wenn du es nicht aufgehoben hättest, wäre ich vermutlich einfach weitergelaufen.« Ich sank ebenfalls auf die Knie, um der Diebin die Brieftasche aus der Hand zu ziehen, und lächelte sie breit an. »Heute wäre ein beschissener Tag gewesen, um auf der Polizeiwache rumzuhängen, oder?«
Die Augen meines Gegenübers weiteten sich, dann brachte sie hervor: »Ich schätze, ja.«
Zumindest in dem Punkt waren wir also schon mal auf einer Wellenlänge.
»Danke, wirklich.« Ich winkte mit dem Portemonnaie und steckte es diesmal in meine Handtasche, die einen Reißverschluss besaß.
»Ähm …« Sie wandte das Gesicht ab und rieb sich den Nacken. Vermutlich hatte sich noch nie eines ihrer Opfer bei ihr bedankt. Na, es gab immer ein erstes Mal. Manche kamen nur sehr verspätet. Ich wusste das besser als die meisten. »Kein Problem«, schloss sie schließlich. »Nicht der Rede wert.«
Ich musste mich aktiv davon abhalten, zu lachen. Denn mein Gegenüber wirkte so absolut hilflos – und es hatte noch nie jemand versucht, mich zu bestehlen. Das war … aufregend. Eine Erfahrung, die man gemacht haben sollte, oder? Und da ich in dem Bereich Erfahrungeneiniges aufzuholen hatte, erschien mir, eine Diebin besser kennenzulernen, wie der nächste logische Schritt. Ich kannte niemanden in Golden Heights, dem Ort, an dem ich in den nächsten Jahren hoffentlich eine Menge Zeit verbringen würde, und all die Menschen, mit denen ich sonst zu tun hatte, waren furchtbar arrogant, reich und insgesamt untragbar. Langweilig, nicht abenteuerlich.
Also streckte ich noch immer lächelnd die Hand aus und sagte: »Hey, ich bin Carly, und du?«
»Ich … Lexie, ähm, nein, ich …«
»Lexie oder nicht Lexie?«, fragte ich lachend. Sie hatte gerade einen Fehler gemacht. Sie hatte mir gar nicht verraten wollen, wie sie hieß, oder? Ich war mir nicht hundertpro sicher, weil ihr Gesicht keinerlei Emotion zeigte und sie nicht einmal rot geworden war.
»Lexie«, sagte sie zögerlich. Sie kam wohl zu dem Schluss, dass sie es schlimmer machen würde, wenn sie ihren Namen zurücknahm.
»Sehr nett, dich kennenzulernen, Lexie. Ich bin neu in der Stadt und habe unfassbar großen Hunger. Hast du zufällig Lust, Pizza essen zu gehen? Ich lade dich gern ein.« Einen Versuch war es wert. Lexie war interessant, und ich hatte mir fest vorgenommen, mich mit interessanten Menschen zu umgeben. Ich würde neu anfangen. Vollkommen neu.
Sie blinzelte hektisch. »Du … willst mich einladen?«
»Klar. Warum nicht? Als Dankeschön dafür, dass du mir das Portemonnaie zurückgegeben hast.« Ich klopfte auf meine Handtasche.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist echt nicht nötig!«
»Oh, doch. Ich bestehe darauf.« Denn sie sah aus, als könnte sie eine gute Mahlzeit gebrauchen.
»Okay«, meinte sie langsam und verengte kaum merklich die Augen. »Klar. Zu einer kostenlosen Pizza sage ich nie Nein.«
Immer noch sichtlich irritiert davon, dass das Mädchen, das sie gerade hatte bestehlen wollen, sie zum Essen einlud, lief Lexie neben mir her. Vielleicht konnte sie wirklich nicht Nein zu einer kostenlosen Pizza sagen. Der Gedanke versetzte meinem Herzen einen gehörigen Stich, doch ich ließ mir nichts anmerken.
Es gab Absurderes, als mit der Frau essen zu gehen, die versucht hatte, mir das Geld aus der Tasche zu ziehen, oder? Die Tatsache, dass ich überhaupt hier war, zum Beispiel. Allein! Ohne meine Eltern, die mir in den Nacken atmeten. Ohne Arzt, der mir sagte, ich solle es langsam angehen lassen.
Ich hatte so was von genug von langsam. Ich war gesund, ich konnte endlich machen, was ich wollte – und ich wollte Pizza essen mit Lexie, die mir bestimmt ein paar aufregende Geschichten erzählen konnte.
»Cool«, meinte ich und atmete tief durch. »Wo kriegt man hier Pizza?«
Wie sich herausstellte, war Lexie auch noch nicht lange in der Stadt und hatte ebenso wenig Ahnung wie ich. Die nächstgelegene Pizzeria, die mir Google ausspuckte, sah zwar schäbig aus, aber Lexie störte sich scheinbar nicht daran. Meine Eltern hätten gesagt, dass es eine schreckliche Idee sei, einen Italiener zu besuchen, der gleichzeitig ein Frühstückslokal war. Restaurants, in denen nicht nur Olivenöl und Balsamico, sondern auch Ahornsirup und Marmelade auf den Tischen standen, hatten mit Sicherheit auch Rattenfallen unter den Sitzen. Aber meine Eltern waren nicht hier, und die rot gepolsterten Sitzecken sahen sehr gemütlich aus – und zufälligerweise liebte ich Ahornsirup und Marmelade.
»Sieht doch gut aus«, sagte ich zufrieden und ließ mich gegenüber von Lexie auf einen der Sitze fallen.
»Du bist eher so die optimistische Das-Glas-ist-halbvoll-Sorte Mensch, oder?«, fragte Lexie skeptisch.
Ich musste lachen. »Kommt drauf an, womit das Glas gefüllt ist. Aber tendenziell, ja.« Manchmal, wenn das Leben einem Felsbrocken in den Weg rollte, blieben einem nur Humor und gute Laune. Mir war über die Jahre eine Menge genommen worden – das meiste davon Zeit und neue Erfahrungen –, doch an diesem Mantra hielt ich noch immer eisern fest. Wenn ich aufhörte, Hoffnung zu haben, gab ich auf. Und dafür war ich zu verdammt weit gekommen.
Lexie schnaubte, doch ich könnte schwören, dass ihre Mundwinkel leicht zuckten, auch wenn ihr Blick noch immer wachsam an mir hinabglitt. Über mein rot-blaues Batikshirt, das ich selbst gefärbt hatte, zu meiner schwarzen Leggins. Gemütlichkeit ging bei mir immer vor. Ich konnte nicht beeinflussen, was die Leute um mich herum dachten und taten – ich konnte nur dafür sorgen, dass es mir gut ging und ich mich wohlfühlte. Darauf hatte ich mich die letzten Jahre konzentriert.
Ich stützte mich mit den Händen auf den Tisch. »Warum siehst du mich an, als wäre ich das letzte Einhorn?«
»Nicht das letzte Einhorn«, meinte Lexie trocken. »Aber definitiv ein Pferd mit goldener Mähne.«
Grinsend strich ich mir über meine schwarzen Braids, während ein Kellner uns Speisekarten brachte. »Ich glaube, goldene Haare würden mir nicht stehen. Aber eine Überlegung ist es wert.« Damit könnte ich meine Mutter schockieren.
Als hätte ich sie allein mit meinen Gedanken heraufbeschworen, vibrierte mein Handy. Ich zog es aus der Tasche und linste auf das Display. Mom hatte mir ungefähr hundert Textnachrichten geschrieben.
Hast du deinen Inhalator dabei? Nur für alle Fälle.
Bist du schon eingeschrieben?
Wann kommst du nach Hause? Dann können wir feiern, dass du Medizinstudentin bist!
Nimm bitte nicht den Bus. Du weißt, wie viele Keime und Bakterien dort herumfliegen.
Schreib einfach Lester, er holt dich ab.
Ich schaltete mein Telefon aus. Es erinnerte mich an zu viele der Lügen, die ich in den letzten Wochen erzählt hatte.
Lexie hatte nicht mitbekommen, dass ich abgelenkt gewesen war. Sie schaute immer wieder von der Speisekarte zur Eingangstür, die keine Sekunde später mit einem hellen Glockenton aufschwang.
Ihr Schultern sackten hinunter – waren sie die ganze Zeit angespannt gewesen? –, bevor sie zurück zu mir sah. »Sorry, ich hoffe, es ist okay, dass ich meinem Bruder gesagt habe, wo wir sind. Wir wollten uns eigentlich treffen.«
Verdutzt blinzelte ich. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie eine Nachricht verschickt hatte. »Gar kein Problem«, sagte ich dennoch leichthin und drehte mich im Sitz herum. »Er …« Der restliche Satz verfing sich in meinem Rachen und stellte sich quer. Mein Herz wurde seltsam leicht. Als würde es versuchen, sich zu der Feinhaarpinselwolke in den Himmel zu gesellen. Es war nur …
Lexies Bruder sah anders aus als alle Brüder von Mädchen in unserem Alter, die ich kannte. Er konnte nur ein paar Jahre älter sein als ich, aber er wirkte nicht im Geringsten wie einer der Jungs von der Highschool, auf die ich letztes Jahr ein paar selige Stunden lang gehofft hatte, gehen zu können. Er hatte die Jungsphase hinter sich. Weit hinter sich. Weiter, als es mit Anfang zwanzig der Fall sein sollte. Das bemerkte ich sofort.
Ich konnte nicht festmachen, woran das genau lag. Vielleicht war es seine Haltung. Das leicht angespannte, breite Kreuz und der scharf geschnittene Kiefer, der Don’t fuck with mesagte und im direkten Kontrast zu seinen Händen stand, die lässig in seinen Jeanstaschen steckten und Ich bin harmlos versprachen. Vielleicht war es auch seine schiere Größe. Er kratzte an der Eins-neunzig, und seine Schultern, die die Nähte seines offenen dunkelblau-weißen Holzfällerhemdes testeten, waren so breit, dass ein ganzer Vogelschwarm gemütlich darauf Platz gefunden hätte. Er war muskulöser als die meisten der Kerle, hinter denen ich gerade bei der Einschreibung angestanden hatte, aber es waren keine Fitnessstudiomuskeln, die sich aus zu vielen Arm- und Brust- und zu wenig Beintagen zusammensetzen. Nein, er war überallmuskulös, als hätte er jahrelange harte, körperliche Arbeit hinter sich. Seine helle, sonnengebräunte Haut spannte sich genauso über seine sehnigen Unterarme, die unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln hervorlugten, wie über seinen starken Nacken. Seine sandfarbenen Haare waren unordentlich, als würden sie sich täglich die Frage stellen, was ein Kamm war, und seine Augen … ja. Es waren seine Augen, die ihn älter wirken ließen und ihn von den Teenagerjungs unterschieden, mit denen ich bald Vorlesungen besuchen würde. Sie waren hellbraun, nichts Besonderes. Doch sein Blick war so wachsam wie die Überwachungskameras, die an der Tür meines Elternhauses hingen. Merkwürdig hart und berechnend … bis er uns entdeckte. Dann wurde er schlagartig weich und warm, als hätte er einen Schalter umgelegt. Er lächelte, wobei er einen Mundwinkel höher als den anderen zog, was ihn irgendwie … verwegen aussehen ließ.
Mein Mund wurde trocken und meine Handflächen feucht. Ich hatte in meinem Leben schon eine Menge Menschen beobachtet, denn beobachten konnte man auch aus der Ferne, doch so schnell war noch nie jemand von kalt zu heiß gewechselt.
Auch wenn der Typ schon irgendwie heiß gewesen war, als er noch kalt gewesen war.
»Hey. Ist es okay, wenn ich die Party crashe? Sonst bin ich beleidigt, weil meine eigene Schwester mich versetzt.« Gespielt entrüstet betrachtete er Lexie, die nur die Augen verdrehte, bevor er mir wieder seine volle Aufmerksamkeit schenkte.
Oh, boy. Ich bekam das Gefühl, dass es eine Menge Frauen da draußen gab, die freiwillig auf Geld, Luft zum Atmen und Schokolade verzichten würden, solange sie im Gegenzug seine Aufmerksamkeit kriegten.
Sein Lächeln war breit und warm und stellte flatternde Dinge mit meinem Magen an, während sein Blick, mit dem er mich musterte, noch aufmerksamer und intensiver als der seiner Schwester war. Er sah mich nicht an, er durchleuchtete mich. Seine ganze Haltung, wie er auf seinen Hacken zurückwippte, die charmante Art und Weise, wie er den Kopf neigte, die Hände in den Taschen vergraben: Es wirkte, als wollte er mich damit entwaffnen … um mir unbemerkt jedes meiner Geheimnisse zu stehlen. Ich wettete, dass es bei den meisten auch noch funktionierte. Weil er so lächerlich attraktiv war und offen wirkte. Weil man nicht anders konnte, als ihn anzustarren. Er erinnerte mich an einen der Piraten aus den historischen Liebes- und Abenteuerromanen, die ich so gern las. Nur eben der heiße, nicht der schmierige, der mich … äh, die Protagonistin gefangen hielt. Obwohl, nein. Er war eher ein Cowboy, oder? Wegen des Holzfällerhemds …
O Gott. Ich verbrachte wirklich zu wenig Zeit in der Realität!
Ruckartig wandte ich mich Lexie zu, während mein Puls beschleunigte und meine Lunge hektischer arbeitete. »Klar. Setz dich. Je mehr, desto besser«, sagte ich fröhlich und konzentrierte mich gleichzeitig auf meine Atmung. Mit aufeinandergepressten Lippen sog ich Sauerstoff durch die Nase ein und stieß die Luft so langsam und lang wie möglich durch den Mund wieder aus. Bis sich meine Lunge wieder beruhigte.
Sehr gut. Denn … nicht heute, nicht hier.
Ich hatte schon heiße Typen gesehen. Ich hatte wenig Erfahrung, dafür aber das Internet. Es war alles in Ordnung. Ich war normal. Mir ging es gut. Ich hatte neue Leute kennengelernt, die interessanter als Goethes Farbenlehre waren – und das sollte schon was heißen! –, und mein Leben nahm endlich eine Wendung in die richtige Richtung.
Lexie rutschte zur Seite, um ihrem Bruder Platz zu machen. »Ty, das ist Carly. Ich hab sie heute Vormittag kennengelernt. Sie …« Lexie räusperte sich. »Sie hat ihr Portemonnaie verloren, und ich habe es für sie aufgehoben.«
Eine Braue des Typen – Ty? – schoss in die Höhe. »Wie … nett von dir«, sagte er schließlich amüsiert. »Dann warst du ja genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Ich unterdrückte den Drang zu schnauben. Okay, er wusste Bescheid. Er wusste, dass Lexie mich hatte bestehlen wollen. Wer zur Hölle waren die beiden? Ich wurde den Eindruck nicht los, dass Lexie mit ihm … klammheimlich Verstärkung gerufen hatte. Aber warum brauchte sie Verstärkung? Hatte sie Angst vor mir? Davor, dass ich ihr etwas vorspielte und doch noch die Polizei rief?
Dieser Gedanke war so befremdlich, dass ich beinahe gelacht hätte. Doch gleichzeitig fühlte es sich … wunderbar an, ernst genommen zu werden, und zur Abwechslung mal eine Gefahr, nicht etwa bemitleidenswert zu sein.
Die Leute, die ich kannte, behandelten mich entweder wie ein kostbares Teeservice, das zu teuer war, um es jemals aus dem staubigen Schrank zu nehmen – oder aber, als wäre ich die dreckige Socke unterm Bett, von der niemand so genau wusste, wie sie dort hingekommen war.
Nicht, dass in meinem Zimmer irgendwo eine dreckige Socke herumgelegen hätte. Sie hätte ja Staub fangen und somit zu meinem sicheren Tod führen können – wie mir immer wieder aufs Neue eingebläut worden war.
Aber nicht mehr! Das war vorbei.
Denn ich saß mit zwei Personen am Tisch, die mich als Gefahr einstuften, obwohl Ty aussah, als hätte er mehr Muskeln im kleinen Finger als ich im gesamten Körper. Vermutlich sollte ich Angst haben, aber das Gegenteil war der Fall. Ein aufgeregtes Flattern füllte meine Brust. Ich war mein Leben lang so lächerlich behütet gewesen, dass diese ganze Situation sich wie ein ferner Traum anfühlte. Aber kein Albtraum. Ein guter. Einer mit Aufregung und neuen Menschen und völlig neuen Erfahrungen. Und war das nicht der einzige Grund, aus dem ich hier war? Wieso ich meine Eltern monatelang bekniet hatte, herkommen zu dürfen? Warum ich sie belogen hatte?
»Oh, Lexie hat mich echt gerettet«, sagte ich und lächelte. Ich würde alles dafür geben, dass sie keine Angst mehr vor mir hatten und erkannten, dass ich Lexie nicht verpfeifen würde. Menschen taten, was sie tun mussten, um zu überleben. Das wusste ich besser als die meisten anderen. Ich machte ihr nicht einmal mehr einen Vorwurf dafür, dass sie mich hatte bestehlen wollen. Stattdessen ließ es mein Herz mit dem Wissen schwer werden, dass die Welt unfair war. »Sie auf eine Pizza einzuladen, war das Mindeste, was ich tun konnte.«
»Sicher.« Ty lächelte noch immer, doch sein Blick huschte kaum merklich an meiner Erscheinung hinab – bevor er vom Kellner unterbrochen wurde, der an unseren Tisch trat.
Lexie und ich gaben unsere Bestellungen auf, doch Ty meinte, er brauche nichts. Auch wenn ich mir einbildete, seinen Magen knurren zu hören.
»Also: Wo genau habt ihr euch kennengelernt?«, wollte er wissen.
»Oben, bei der Golden University«, meinte Lexie.
»Ah …« Der harte Zug um seinen Mund war wieder zurück. »Gehst du auf die Golden U, Carly?«
»Noch nicht. Aber ich fange nächstes Semester an.«
Seine braunen Iriden wurden eine Spur dunkler, und ich sah, wie sich seine Hände auf dem Tisch eine Sekunde lang zur Faust ballten, bevor sie sich sofort wieder entspannten.
Mist, ich hatte was Falsches gesagt. Dass ich auf die Golden U gehen würde, war offenbar Anlass dazu, nervös zu werden. »Es ist ein Wunder, dass ich aufgenommen wurde. Ich hab ein Stipendium hier bekommen. Sonst könnte ich mir das alles gar nicht leisten.« Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich sie aufhalten konnte. Ich wollte nicht, dass sie Angst vor mir hatten, sondern dass sie mich mochten. Und irgendetwas störte sie offenbar an einem Mädchen, dessen Eltern so reich waren, dass sie es auf die teuerste Privatuni des Landes schicken konnten, also … »Ich muss vermutlich sogar bei meinen Eltern wohnen bleiben.« Ich zog eine Grimasse. »Weil sie mir keinen Platz im Wohnheim bezahlen können.« Das war nicht der Grund, warum ich zu Hause wohnen blieb, aber es kam der Wahrheit nahe. Denn ich hasste es wirklich, dass das der Kompromiss war, auf den Mom, Dad und ich uns geeinigt hatten. Aber ich hatte die Hoffnung, dass meine Eltern in einem Jahr, wenn sie merkten, dass alles problemlos verlief, ihre Meinung änderten.
»Oh, das ist cool und scheiße zugleich«, stellte Ty fest, doch die Verspannung seines Kiefers löste sich wieder.
Lexie lächelte jetzt sogar. »Die Wohnungen hier sind wirklich unfassbar teuer. Nicht so schlimm wie in L. A., aber trotzdem frage ich mich, ob die Böden mit Gold und die Wände mit Marmor ausgekleidet sind. Wie die in der Uni.«
Ich grinste. »Ja, welcher alte weiße Mann hat sich wohl überlegt: Oh, lasst uns eine komplette Universität mit dem hässlichsten Gestein der Welt füllen!«
»Einer mit Schnauzer und einem Schild über seinem Bett, das sagt: FrauensindzumKinderkriegenundKochenda?«, schlug Lexie unschuldig vor.
Ich musste lachen. »Du hast Putzen vergessen.«
»Oh, ja, mein Fehler.«
»Marmor ist nicht das hässlichste Gestein«, grätschte Ty dazwischen und lehnte sich entspannt in seinem Sitz zurück.
Anscheinend hatte meine klitzekleine Lüge tatsächlich die Stimmung gelockert.
»Weißt du, dein Superheldenname wäre Ty der Besserwissende«, sagte Lexie theatralisch und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Also erstens: Das ist ein beschissener Superheldenname, denn er beinhaltet nicht einmal eine Alliteration. Zweitens: Ich bin Ty der Tollkühne, das weißt du genau. Drittens: Ich bin der Steinexperte, und es ist Schotter. Schotter ist am hässlichsten.«
Lexie prustete. »Du bist Experte im BHs-Öffnen und Bullshit-Reden, Ty. In nichts anderem«, stellte sie ernst fest.
Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden. Experte im BHs-Öffnen. Soso. Ja, das war bei einem Typen mit seinem Gesicht und Körper sowie dem Charakter eines Liebesromanpiraten wohl zu erwarten gewesen.
Ty lachte leise und blickte amüsiert zu seiner Schwester. »Ist es nicht traurig, dass ich besser im BHs-Öffnen bin als du, obwohl du einen trägst?«
»Ja, für dich und alle Frauen in Golden Heights«, gab ich zu bedenken.
Lexies Lachen war so laut, dass mein Kopf gleich noch ein wenig heißer wurde, und es half nicht, dass Ty mich ebenfalls breit angrinste.
Die Wärme breitete sich nun auch in meiner Brust aus, und in diesem Moment hatte ich das seltsame Gefühl … dazuzugehören. Ich kannte es nicht allzu gut, deswegen war ich mir unsicher, aber ja, das musste es sein. Der Gedanke ließ mein Herz und meinen Kopf leicht werden. Es war so offensichtlich, dass die Geschwister sich nah standen, und Teil von ihnen zu sein, sei es auch nur ein paar Sekunden, war … wundervoll.
Ich hatte so was nie gehabt. Eine Vertrauensperson, der ich schreiben konnte, wenn ich Verstärkung brauchte. Mit der ich mich so wohlfühlte, dass ich sie ärgern, Witze über sie reißen konnte und keine Angst davor haben musste, dass sie mich nicht mehr mochte.
»Schotter ist übrigens keine Gesteinsart«, gab ich zu bedenken. »Aber mich würde schon interessieren, mit welcher Autorität du dich selbst als Experte deklarierst …«
»Mit der eines äußerst intelligenten Typen, der sehr lang auf dem Bau gearbeitet hat«, sagte er leichthin und deutete mit beiden Daumen auf sich selbst. »Und Schotter war immer scheiße.«
Er hatte sehr lang auf dem Bau gearbeitet? Er konnte doch kaum zwei oder drei Jahre aus der Highschool raus sein.
»Na gut, das lass ich mal so stehen, Ty der Tollkühne«, sagte ich und hob unschuldig die Hände. »Aber nur, weil ich Carly die Coole bin.«
Lexie schnaubte und blickte zum Kellner, der unsere Pizzen und Colas brachte, doch Ty starrte noch immer mich an. Er lächelte nicht, aber da war ein hitziges Glitzern in seinen Augen, das mir eine Gänsehaut bereitete und mir automatisch die Frage aufdrängte, was er sah, wenn er mir ins Gesicht blickte. Ob er noch immer nach Anzeichen suchte, dass ich seiner Schwester gefährlich werden könnte, oder ob er … nur mich sah.
Es fühlte sich an, als wäre es Letzteres.
»Komm, wir teilen«, sagte Lexie und schob die Pizza zu ihm hin.
»Alles gut.« Ty wandte sich ab. »Ich hab keinen Hunger.« Er schluckte und vermied es, die Pizza allzu genau zu betrachten.
Log er? Aber warum sollte er?
Ich hielt mich davon ab, die Stirn zu runzeln, und konzentrierte mich auf meine Margherita. Wundervoll. Eine leere Leinwand, die darauf wartete, von mir bemalt zu werden. Ich zückte ein Messer und zog eines der Gläser auf dem Tisch zu mir heran.
»Ähm, du weißt schon, dass das Marmelade und keine Tomatensoße ist, oder?«, wollte Lexie wissen.
Ich lachte. »Mein Arzt meint, meine Sehstärke sei ausgezeichnet, also ja. So weit war ich.«
»Aber …« Lexie verzog angeekelt das Gesicht. »Marmelade solltest du wirklich nicht auf Pizza tun.«
»Hmm …« Nachdenklich neigte ich den Kopf, bevor ich das Glas wieder zurückstellte. »Du hast recht. Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Ahornsirup passt viel besser!«
Ty lachte leise – ein tiefer, rauer Ton, den ich bis in meinen Bauch spürte –, doch Lexies Augen waren so rund wie die Öffnung des Ahornsirupglases.
»Carly, ich möchte dir nicht zu nahe treten«, meinte Lexie langsam. »Aber was zur Hölle tust du da?«
»Ich erschaffe ein Kunstwerk für meine Geschmacksknospen«, sagte ich leichthin und skizzierte auf meine bereits geschnittene Pizza mit dem Sirup ein Muster aus Vierecken, auf das Mondrian stolz gewesen wäre.
Lexie lachte auf und schüttelte den Kopf. Sie wirkte so viel freier als noch vor zehn Minuten. Vielleicht war eine Person, die Ahornsirup auf ihre Pizza machte, einfach keine Bedrohung mehr.
»Ich weiß nicht, wo ich hier reingeraten bin«, meinte sie betont besorgt. »Aber ich habe das Gefühl, wenn man mich jemals aus der Matrix aufwecken sollte, dann jetzt.«
»Es ist köstlich!«, sagte ich gespielt echauffiert, faltete ein Stück meiner Käse-Ahornsirup-Kreation und biss ab. Der süße Sirup vermischte sich mit dem fettigen, salzigen Käse und der herzhaften Tomatensoße … »Gott, ist das lecker!«, sagte ich mit vollem Mund. »Hier, ihr müsst auch probieren. Glaubt mir: Wenn Ty Experte in Gestein ist, bin ich Expertin in Geschmacksverbindungen.«
»Okay. Warte«, sagte Ty im Plauderton und hob abwehrend die Hände. »Es ist nur fair, wenn ich dein sogenanntes Expertentum auch anzweifle: Was hat dich zum Geschmacksguru werden lassen?«
Oh, eine Menge Zeit in meinem Zimmer, zu viel Langeweile und eine Hausangestellte, die mir alle experimentellen Essenskombinationen ans Bett gebracht hatte. Aber das sagte ich nicht. Neuanfang. Das hier war ein Neuanfang. »Meine immense Neugierde, und was meintest du gerade noch? Äußerste Intelligenz. Aber ihr könnt erst sagen, dass ich falschliege, wenn ihr es probiert.« Ich wedelte mit meinem Stück vor Lexies Gesicht herum, sodass Ahornsirup auf den Tisch tropfte – den ich hastig mit einer Serviette wegwischte. Ich war schließlich kein Tier, und Sauberkeit war überaus wichtig.
Lexie lächelte breit. »Okay. Du hast gewonnen. Gib her.« Sie nahm das Stück entgegen, biss ab … und spuckte es sofort wieder hustend vor sich auf den Tisch. »Uäh!« Das Entsetzen auf ihrem Gesicht hätte auch gut in einen Horrorfilm gepasst. »Es schmeckt wie Füße, die in Zucker gewälzt wurden. Ich nehme nie wieder Essen von dir an, Carly.«
Ich konnte nicht anders als zu lachen, während sie sich mit der Serviette über die Zunge fuhr, bevor sie ihren Bruder aus der Tischnische boxte und zu den Toiletten lief.
»Ach, die Kunst!«, sagte Ty theatralisch. »Spaltet wie immer die Menschheit.«
Mein Lachen wurde lauter. »Und?« Ich wackelte mit den Brauen. »Traust du dich? Oder ist Tollkühn nur ein leerer Titel?«
Sein Lächeln war wölfisch. »Oh, Carly. Du solltest mich echt nicht herausfordern.«
»Warum nicht?«, fragte ich aufmüpfig und beugte mich vor. Irgendetwas an diesem Kerl reizte mich, nicht nachzugeben. »Weil es sonst nie jemand tut?«
»Nein«, sagte er dunkel. »Weil die Menschen, denen egal ist, ob sie gewinnen – weil sie nichts zu verlieren haben –, die gefährlichsten und unvorhersehbarsten Gegner sind.« Im nächsten Augenblick verschwand der gesamte Rest des Pizzastücks in seinem Mund.
»Mhmm«, machte er, während er nachdenklich den Kopf neigte und kaute, bevor er hinunterschluckte und sich die Finger ableckte.
Er hatte schmale Lippen, fiel mir auf. Ein raues Kinn, das mit hellen Bartstoppeln übersät war und ihn noch sorgloser und unbeschwerter wirken ließ.
»Okay, nicht schlecht.«
Ich blinzelte perplex und zwang mich dazu, ihm wieder in die Augen zu sehen.
»Nutella mit Salami ist besser, aber … schon okay.« Er zuckte die Achseln.
Ich lachte, auch wenn Hitze meinen Hals hinaufströmte. Gott, ich hoffte wirklich, dass er nicht bemerkt hatte, wie ich seine Lippen anstarrte. »Ah, ein weiterer Gourmet.«
»Definitiv«, meinte er ernst, bevor er wieder lächelte und fragte: »Also, Golden-U-Stipendiatin, Gourmet … wer bist du sonst, Carly?« Er sagte das so daher, als würde er bloß Smalltalk halten. Doch mit dem Blick tastete er mein Gesicht ab, als würde er nach etwas suchen, das mich verraten oder enttarnen könnte. Aber … als was?
»Wer ich bin …«, überlegte ich laut und stieß einen Schwall Luft aus. »Du stellst die leichten Fragen, was?«
Ganz abgesehen davon, dass ich selbstverständlich keine Antwort auf diese existenzielle Frage hatte, an denen sich Philosophen seit Jahrhunderten den Kopf zerbrachen … bezweifelte ich, dass es klug wäre, einem praktisch Fremden persönliche Informationen über mich preiszugeben. Egal, wie charmant er lächeln mochte. Seine Schwester hatte nun einmal versucht, mich zu bestehlen. Ich würde es ihr nicht vorhalten, aber es machte mich vorsichtiger. Deshalb sagte ich entschuldigend: »Sorry, meine Eltern haben mir verboten, Fremden direkt meine Lebensgeschichte zu erzählen.« So wie sie mir verboten hatten, auf eine öffentliche Schule zu gehen, einem Sportverein beizutreten, in meinem Zimmer Ölfarben offen rumliegen zu lassen, auf Partys zu gehen … Die Liste war lang. Ungefähr so lang wie die Liste der Lügen, die ich ihnen in den letzten zwei Monaten aufgetischt hatte. Mir war klar, dass sie das Beste für mich wollten, aber sicher zu sein, im Gegenzug dafür jedoch nichts zu erleben, konnte nicht das Beste sein! Das weigerte ich mich zu glauben.
»Wer ist hier ein Fremder?«, wollte Ty irritiert wissen und schaute sich um.
Ich lachte, schwieg aber.
Sein Lächeln wurde breiter. »Okay, ich verstehe schon.« Mit den Fingern trommelte er auf den Tisch. »Wie wäre es dann hiermit: Du erzählst mir zwei Wahrheiten und eine Lüge über dich, aber verrätst mir nicht, was was ist. Dann kenne ich dich – und kenne dich gleichzeitig nicht.«
Oh, er war gewieft. »Ich weiß, was du tust«, sagte ich amüsiert. »Du sammelst Informationen über mich.«
»Ist das ein Verbrechen?«, fragte er verblüfft, doch jede Silbe triefte vor Drama. »Mehr über ein faszinierendes Geschöpf erfahren zu wollen, das sich heute spontan in mein Leben gestohlen hat?«
Ich prustete, auch wenn mir warm wurde. Er machte Scherze, das war mir klar, aber … es machte Spaß, mit ihm herumzublödeln. Es war so normal. Leicht. Sorglos. Alles, was mein Leben nicht war.
»Okay, okay.« Ich zählte an den Fingern ab. »Erstens: Ich bin leidenschaftliche Künstlerin. Zweitens: Ich finde du solltest aufhören, so schamlos mit mir zu flirten, es hat nämlich keinen Effekt. Drittens: Ich bin eine Prinzessin, die seit Jahren von ihren Eltern in ihrem Elfenbeinturm gefangen gehalten wird und jetzt endlich ihre Freiheit genießen und ein paar Drachen bekämpfen will.«
Ty lachte leise und fuhr sich durch die Haare. »Ich glaube, du hast das Spiel nicht verstanden.«
Mein Lächeln wurde breiter. Doch, das hatte ich. Er ging nur von der offensichtlichen Lüge aus. »Ich stand unter Druck«, beschwerte ich mich. »Es ist schwer, sich spontan zwei Wahrheiten und eine Lüge aus den Fingern zu saugen.«
»Na, komm schon …«
»Wenn es so leicht ist, mach du!«
»Okay.« Er verschränkte die Hände im Nacken, sodass sich der Stoff des Flanellhemds über seinen Bizeps spannte. Wie gesagt: Meine Sehstärke war sehr gut. Deswegen fiel es mir auf. »Erstens: Ich lebe gefährlich und habe schon eine Menge böse Buben hinter Gitter gebracht. Zweitens: Ich flirte mit jedem, du bist also leider nichts Besonderes. Drittens: Ich bin nur ein einfacher Stallbursche mit der Lizenz, Bier auszuschütten.«
Ich lachte. »Du bist also Barkeeper.« Und mir war klar gewesen, dass er mit jedem flirtete und ich nichts Besonderes war. Ich hatte die BH-Geschichte noch frisch im Kopf. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass er der böse Bube war.
»Unter anderem«, sagte er unverbindlich. »Und du bist Künstlerin?«
»Ja.« Es war die Wahrheit. Auch wenn mich noch niemand außer mir selbst so bezeichnet hatte. Künstlerin war in meinem Elternhaushalt ein Synonym für Schwachsinn, zu viel Stress und Farbdämpfe sowiekeinrealistischesZiel.Weshalb meine Eltern auch dachten, dass ich Medizin studierte. Aber hey, bei beidem würde ich einen Kittel tragen, also …
»Und was für Kunstwerke erschaffst du noch? Außer Pizza Margha-Sirup?«
Wieder lachte ich. »Größtenteils Bilder. Ich liebe Farben und finde Schwarz-Weiß-Zeichnungen trauriger als uninspirierte Geschmackskombinationen. Ich arbeite gern mit Öl, der Geruch erinnert mich an Freiheit, und wenn ich Farbschicht um Farbschicht auf eine Leinwand auftrage, dann fühlt es sich an, als würde ich jede meiner Sorgen einfach übermalen und …« Ich brach ab, und Hitze strömte in meine Wangen. O Gott, ich gab viel zu viele Informationen! Er hatte vermutlich nur nachgefragt, um höflich zu sein. Also endete ich rasch mit: »Na ja, zusammengefasst arbeite ich gern mit Öl und Fäden und Deckeln von Joghurtbechern.«
»Fäden und Joghurtbecher?«, fragte er perplex und ließ die Arme sinken.
Ich biss mir peinlich berührt auf die Unterlippe. Ich hätte einfach die Klappe halten sollen. »Ja, nicht so wichtig.« Ich winkte ab.
»O nein. Jetzt bin ich interessiert«, sagte er kopfschüttelnd und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Inwiefern benutzt du Fäden und Joghurtbecher?«
»Nur die Deckel, nicht die Becher«, korrigierte ich ihn automatisch, und neue Hitze strömte in mein Gesicht. »Ich benutze beides, einerseits, um Farbe aufzutragen oder zu verwischen, andererseits, um Silberfolienakzente zu setzen und …« Ich brach ab und seufzte. »Es ist ein wenig Gustav Klimt, ein Menge Symbolismus. Du weißt schon: Was ist der rote Faden? Im Kunstwerk selbst. Im Leben. Obwohl man meistens nicht den Faden sieht, sondern nur die Linien des Fadens. Aber man erkennt ihn, wenn man richtig hinschaut und …« Stöhnend rieb ich mir übers Gesicht. Wieso versuchte ich immer wieder aufs Neue, meine Kunst zu erklären, wenn mich alle danach ansahen, als würde ich den ganzen Tag in den Himmel starren und nach Feinhaarpinselwolken Ausschau halten, während ich auf meinem goldmähnigen Einhorn ritt? »Es ist egal.« Ich lachte und zog die Hände vom Tisch. »Es ist ein wenig durchgeknallt. Ich bin ein wenig durchgeknallt.« Zu nett, ein wenig durchgeknallt, fragil. Eine weitere lange Liste.
Ty lachte nicht. Er blickte mich nur unverwandt an, beugte sich langsam vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Ich glaube, dass wir alle tun und lassen sollten, was uns glücklich macht. Egal, ob es ein wenig durchgeknallt ist oder nicht. Und ich ziehe besonders jederzeit langweilig vor.«
Ich befeuchtete meine plötzlich trockenen Lippen, und es war unmöglich, mich von dem Blick aus seinen braunen Augen loszureißen, die mit jeder Sekunde dunkler zu werden schienen, während mein Herz einen Schlag aussetzte. Sein Blick war nicht länger hart und durchleuchtend, er war … eine flackernde Kerze, an der ich mich verbrennen würde, wenn ich nicht aufpasste.
Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Atem und meine bockige Lunge, die zu viel Macht über mich hatte, von der ich aber nicht länger mein Leben dirigieren lassen würde. Ja, das, was ich hier tat, war etwas absurd, aber ich hatte mich seit Jahren nicht mehr so frei gefühlt. So … erwartungsvoll. Unter Strom. Lebendig.
»Was ist mit dir?«, wollte ich leise wissen und rieb mir über meine prickelnden Fingerspitzen. »Machst du, was dich glücklich macht?«
Sein Rücken versteifte sich, und eine Sekunde zögerte er und sah mich verwirrt und ein wenig desorientiert an. Als hätte unser Gespräch eine Richtung eingeschlagen, in der er sich nicht auskannte. Als hätte er sich diese Frage noch nie gestellt, keinen einzigen Tag in seinem Leben.
Doch dann lächelte er. Ein Lächeln, das Prinzessinnen zum Singen animiert hätte – und dafür sorgte, dass mein Zwerchfell sich zusammenzog, ein Kribbeln in meinem Magen einsetzte und etwas sich in mein Herz stahl, das sich furchtbar nach … Sehnsucht anfühlte.
»Nun, heute habe ich dich kennengelernt. So viel kann ich also nicht falsch machen, oder?«
Vielleicht war das der exakte Augenblick, in dem ich mich in den Bruder meiner neuen besten Freundin verliebte und die größte Lüge meines Lebens ihren Anfang nahm. Für ein wenig Freiheit.
Ty
»Fuck.«
Das war so viel Geld!
»Fuck, fuck, fuck.«
Hektisch rutschte ich auf dem Küchenboden herum und griff nach jeder Hundertdollarnote, die ich zu fassen bekam.
Das konnte nicht wahr sein! Das konnte verdammt noch mal nicht wahr sein. Wie hatte ich nicht wissen können, dass ich seit sieben Jahren so viel Kohle in meinem Gitarrenkoffer mit mir herumschleppte? Vermutlich eine halbe fucking Million!
»Fuuuuck.«
Mein Vokabular gab nicht mehr als das eine Wort her. Alles in meinem Kopf drehte sich, Adrenalin mischte sich mit Panik, Wut mit Fassungslosigkeit. Das Gefühl war mir vertraut, an mir festgewachsen wie Efeu an einer Steinmauer. Doch die Ruhe, die mich sonst in Stresssituationen überkam und die ich mir die letzten dreiundzwanzig Jahre auf dieser Erde hart antrainiert hatte, ließ mich im Stich. Sie verflüchtigte sich in dem Rauschen, das in meinen Ohren eingesetzt hatte.
Gott, ich hasste Geld!
Ich mochte der einzige Mensch sein, der das dachte, aber das machte mich meiner Meinung nach nur zum einzig klugen. Ein Stück Papier sollte nicht so verdammt viel Macht haben! Macht über seinen Charakter, seine Bildung, seine Freundschaften, seine Gesundheit, Beziehungen, Respekt …
Geld änderte alles, und ich musste nichts darüber wissen, außer dass ich es scheiße noch mal nicht besaß und dass es gut so war! Denn ich würde nicht zulassen, dass es mein Leben kaputtmachte. Ich würde nicht zu meinem Vater werden, dessen Beweis seiner Gier ich gerade wortwörtlich mit den Füßen trat.
Das Geld konnte nur von ihm sein. Es musste von seinem letzten, beschissenen Coup stammen, der ihm seine Freiheit und Lexie und mich unsere Kindheit gekostet hatte. Es war der Grund, aus dem Lexie gerade erst entführt worden war, es gab keine andere Möglichkeit. Mein Dad war ein kriminelles Arschloch, das lieber sein Geld gerettet, als seine Kinder vor Waffenhändler-Gangstern beschützt hatte – und sie hätten ihn nicht aus dem Gefängnis freilassen dürfen.
Die Wut auf den Mann, der dafür verantwortlich war, dass ich in meinem Leben mehr Lügen als Wahrheiten erzählt hatte, pulsierte durch meine Adern, sodass meine Bewegungen ruckartiger wurden.
Ich stieß mit dem Knie heftig gegen meinen Gitarrenkoffer, in den ich das Geld schmiss, und der scharfe Schmerz, der durch mein Bein zuckte, klärte meine Gedanken und ließ mich eine Sekunde lang aufatmen. Er erinnerte mich daran, dass Panik der Feind war … bis jemand von oben rief: »Ty? Alles in Ordnung? Was zur Hölle war das für ein Krach?«
Sagte ich bereits … Fuck?
»Alles gut, Mace!«, rief ich, meine Stimme überraschend ruhig, auch wenn es mein Herz nicht war.
Mace war seit Jahren mein bester Freund, technisch gesehen auch mein Boss und Mitbewohner – und definitiv kein Kerl, der sich darüber freuen würde, die halbe Million Dollar eines Waffenhändlers auf dem Küchenboden seiner Bar vorzufinden. Er war da etwas exzentrisch.
»Sicher?«
»Ja.« Ich biss die Zähne zusammen und zwang meinen Puls mit schierem Willen, sich zu senken und mir die Kontrolle über meinen Verstand und Körper wiederzugeben. Ich musste wieder ich sein, sodass mein bester Freund keinen Verdacht schöpfte. »Mir ist nur ein Topf runtergefallen.« Meine Finger verkrampften sich um die Dollarscheine in meinen Händen. »Geh schlafen, alter Mann. Sonst bist du morgen früh wieder grumpy.«
»Ich bin nur drei Jahre älter als du.«
»Aber deine Seele ist sechzig.«
»Vierzig«, verhandelte Mace schroff, dann war es wieder still.
Mace war kein Mann großer Worte, er verlieh seinen Gedanken meistens nur mit seinen Tattoos und einem Stirnrunzeln Ausdruck. Der Kerl war so lächerlich verantwortungsbewusst, dass er eine Bar besaß, aber weder trank noch rauchte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er nur so wenig redete, weil es zu anstrengend war, Verantwortung für jedes Wort, das jemals seinen Mund verließ, zu übernehmen – und er sich den Stress sparte. Ich hatte keine Ahnung, warum er so viel erwachsener und ernster war, als er sein sollte, aber es war das, was uns miteinander verband.
Ich atmete tief durch und zog einen weiteren Schein unter dem Ofen hervor.
Mace würde nicht herunterkommen. Gut so. Ich würde ihm zwar ohne zu zögern mein Leben anvertrauen – aber nicht meine Vergangenheit. Und ich wusste, dass es ihm genauso ging.
Wir hatten vor Ewigkeiten eine Abmachung getroffen: Wir ließen unser altes Leben alt sein und fragten nicht danach, warum wir zu jenen geworden waren, die wir waren, sondern akzeptierten einfach das Endprodukt. Es war die unkomplizierteste Freundschaft, die ich je geführt hatte – und das, obwohl er mit Carly konkurrieren musste, mit der man so leicht Zeit verbringen konnte wie als Barkeeper Frauen kennenlernen. Aber Carly war … ich rieb mir den Nacken, straffte die Schultern und fuhr damit fort, Geld in den Gitarrenkoffer zu werfen. Nein, Mace war unkomplizierter als sie. Mace stellte keine Fragen, Carly erwartete nur keine Antworten.
Doch je weniger sie wussten, desto besser. Das war es, was mein Vater mir mit acht, am Tag von Moms Beerdigung, gepredigt hatte und was ich meiner kleinen Schwester Lexie erklärt hatte, jedes Mal, wenn wir in einer fremden Stadt einen Neuanfang gewagt hatten. Schon wieder.
Es war möglicherweise das einzig Wahre, das jemals aus dem Mund meines Vaters gekommen war – und der Grund dafür, dass Lexie und ich weder Mace noch Carly, unseren engsten Freunden, alles erzählt hatten. Sie wussten nur, dass unser Vater ein Betrüger, sein letzter Coup schiefgelaufen war und wir beide deswegen vor sieben Jahren hatten abhauen müssen.
Ich war mir nicht sicher, ob Lexie die Regel bei ihrem neuen Freund, dem Milliardenerben Logan Maxx, der mir noch immer Kopfschmerzen bereitete, aufrechterhielt.
Ich fragte sie auch nicht, denn ihre Antwort könnte mich nervös machen.
Shit, Lexie. Ich würde ihr von dem Geld erzählen müssen. Es war schließlich der Grund dafür, dass sie sich vor ein paar Tagen an einen Stuhl gefesselt anhören musste, wie viel ihre Organe wert waren.
Ich warf den letzten Schein in den Koffer, schloss ihn und richtete mich auf, während ich mir mit beiden Händen übers Gesicht rieb, froh darum, wieder ruhig und gefasst zu sein. Denken zu können, hatte immer Priorität – Emotionen nicht.
Alles war okay. Ich war gut in Krisensituationen und darin, Gefühle zu ignorieren. Wenn ich etwas in den letzten sieben Jahren bewiesen hatte, dann das.
Also kniff ich die Lider zusammen, konzentrierte mich auf meinen Atem und ließ alles um mich herum in den Hintergrund treten. So wie damals, als ich sechzehn gewesen war und Verzweiflung und Panik meine besten Freunde waren. Ich hatte nichts gehabt, außer das Wissen, dass es nicht so weitergehen konnte. Jetzt befand ich mich in einer viel besseren Situation. Ich mochte Golden Heights, das Örtchen in der Nähe von L. A., in dem meine Schwester und ich nach Tausenden Zwischenstationen gelandet waren. Ich hatte eine Wohnung. Ich hatte einen Job. Ich hatte Lexie. Ich hatte Freunde.
Und eine halbe Million Dollar von Waffenhändlern.
Doch die saßen hinter Gittern und würden nicht wiederkommen. Es war also keine große Sache, so was passierte andauernd.
Auf Netflix.
Fuck. Okay. Ich brauchte einen Plan.
Ich öffnete die Augen, versicherte mich, dass der Gitarrenkoffer geschlossen war, und trug ihn langsam die Treppe zu Mace’ und meinem Apartment hoch. Diesmal übersprang ich die kaputte Stufe, über die ich vorhin gestolpert war und die für den Geldregen gesorgt hatte.
Also erstens: Geld verstecken.
Zweitens: Mit Lexie reden.
Drittens: Zusammen überlegen, was wir mit dem Geld anfingen.
Hey, mit einer lächerlichen halben Million Dollar konnte ich Carly vielleicht endlich ein würdiges Geschenk zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag am Wochenende kaufen. Jap. Ich war ein richtiger Glas-halbvoll-Kerl. Vielleicht färbte sie langsam auf mich ab.
Ich legte den Gitarrenkoffer auf mein Bett, zog das Handy aus der Tasche und suchte nach Lexies Nummer … entschied mich jedoch nach ein paar tiefen Atemzügen dagegen, ihr am Telefon von meinem Fund zu erzählen, denn es gab eine halbe Million Gründe, es nicht zu tun. Ich würde einfach bei ihr vorbeifahren. Es war egal, ob jemand zu Hause war, ich hatte immer noch einen Schlüssel von vor fast sechs Monaten, als ich aus- und Carly eingezogen war. Außerdem machte Stress hungrig … und ich konnte mich immer darauf verlassen, dass Carly für einen vollen Kühlschrank sorgte.
Carly
Man gewöhnte sich daran, arm zu sein.
Gut, technisch gesehen hatte ich zwei Millionen Dollar in einem Treuhandfonds, auf den ich mit fünfundzwanzig – wenn ich wirklich und wahrhaftig kein Kind mehr war! – Zugriff erhalten würde, und meine Eltern besaßen ein Haus in Beverly Hills, das laut ihrem Testament irgendwann mir gehörte. Aber das war eben nur technisch gesehen. Nicht technisch gesehen lebte ich nur von Luft und Liebe.
Na ja, ehrlich gesagt zurzeit eher von Luft und unerfüllten Erwartungen, doch selbst die Luft war schon ein Gewinn für mich. Was die Liebe anging – wer brauchte die schon?
Okay, ich. Ich liebte Liebe. Happy Ends. Romantik. Erste Küsse. All die anderen ersten Male. Lange, tiefe Blicke, die mehr als tausend Worte sagten … Vielleicht hatte ich mich deswegen in meinen besten Freund verliebt. Weil es so schön tragisch kacke war – also romantisch, meinte ich jetzt.
Ich gab allen Liebesromanen, K-Dramen und meiner sehr rosarot-regen Fantasie die Schuld, die mir seit Jahren das Gehirn vernebelten. Wenigstens konnte ich meinen Hang zur Gefühlsduselei in meiner Kunst verwerten – auch wenn das nicht alle zu schätzen wussten.
»Der Kerl hat doch keine Ahnung!«, beschwerte ich mich laut und wechselte das Ohr, an dem ich das Handy hielt, während ich aus dem einzigen Bus stieg, der in Golden Low, dem schäbigsten Part der Stadt, hielt. Mein Zuhause. Der Ort, der mich bisher glücklicher gemacht hatte als jedes stuckverzierte Zimmer, das ich davor bewohnt hatte. »Ich hab noch nie ein C bekommen! Und was soll das überhaupt heißen: Meine Arbeit ist zu kitschig? Die Figur ist nicht kitschig. Sie ist romantisch.«
»Was genau ist der Unterschied zwischen kitschig und romantisch?«, wollte Lexie wissen, die bereits seit fünf Minuten meine Hasstirade auf meinen Professor ertrug.
»Kitschig ist zu viel. Romantisch genau richtig.«
»Ähm … zu viel von was?«
»Na, Kitsch eben!«, erwiderte ich verärgert.
»Man merkt, dass du Kunst und kein Englisch studierst. Klar und deutlich ausdrücken kannst du dich zumindest nicht.«
Ich musste unverhofft lachen. »Ich drücke mich mit meiner Kunst aus, Lexie, ich muss keine vernünftigen Sätze bilden können. Und ich hab dir ein Foto meiner Figur gezeigt! Es ist ein eng umschlungenes Liebespaar, keine kitschige Pornografie.« Ach, der Keramikkurs war ohnehin Schwachsinn. Man benutzte viel zu wenig Farben, und ich durfte weder Fäden noch Joghurtbecherdeckel integrieren. Wo blieb da also der Spaß?
»Ich mochte die Figur«, meinte Lexie und bewies ein für alle Mal, warum sie meine beste Freundin war.
»Danke! Evan war auch begeistert, weißt du? Und er versteht was von Kunst.«
»Evan?«, sagte Lexie langsam, während im Hintergrund zwei Männer fluchten. »Ist das nicht dieser Kommilitone von dir, der voll auf dich steht? Und Logan, Aiden, spielt Mario Kart leiser! Ich telefoniere!«
Ich seufzte schwer. »Evan ist einfach nur nett.« Auch wenn Ty ebenfalls behauptete, er würde mich nur ins Bett kriegen wollen. Aber die beiden waren auch die Zynikergeschwister von Skeptikhausen. Sie hatten keine Ahnung, wie eine platonische Kunstfreundschaft aussah.
»Warum zur Hölle telefonierst du?«, kam Logans gedämpfte Stimme aus dem Hintergrund.
»Ja, ernsthaft«, stimmte Aiden zu. »Schreib eine DM oder schick Sprachnachrichten wie jeder normale Mensch.«
»Ich tret dich gleich dahin, wo es jedem normalen Mensch wehtut«, meinte Lexie sachlich.
Ich prustete und bog in unsere Straße ein, die mit Schlaglöchern in der Größe von Tys Bindungsproblemen, gedämpfter Hip-Hop-Musik und einer Menge flackernder Laternen aufwartete. Wenn meine Eltern sehen könnten, wo ich nachts allein herumlief, würden sie erst in Ohnmacht fallen und mich dann mit Handschellen an mein altes Kinderbett ketten. Aber mir war noch nie etwas passiert. Die Nachbarn kannten mich, ich war eine von ihnen. Untechnisch gesehen jetzt. Deswegen ließen sie mich in Ruhe.
»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, fuhr ich unbeirrt fort. »Reeves hat dem grausigen Greg ein A gegeben. Er hat groß damit in seiner Story angegeben. Ein verdammtes A … für seine traurige Entschuldigung von Rattenfänger.« Ich bevorzugte es, Liebe und gute Laune zu verbreiten, aber Greg machte sich seit zwei Jahren über meine Kunst lustig – dabei war er ein untalentierter, unhöflicher Farbblob, den man schleunigst von seiner Palette wischen sollte.
Lexie lachte. »Du nimmst heute aber untypisch negative Vokabeln in den Mund. Schlimm. Traurig.«
»Ja, und du weißt, wie furchtbar ich es finde, so was sagen zu müssen«, jammerte ich.
»Ach, mach dir nichts draus. Reeves ist bestimmt nur sexuell frustriert, deswegen weiß er das Liebespaar nicht zu schätzen.«
Oh, bitte. Ich war auch sexuell frustriert! Trotzdem konnte ich Kunst noch von Müll unterscheiden. Das war nun wirklich kein Argument. Insgesamt hätte ich schon allein dafür die Bestnote bekommen sollen, dass ich es geschafft hatte, einen nackten Mann zu formen, obwohl ich in meinem Leben noch keinen echten gesehen hatte. Denn der einzige Kerl, mit dem ich je geschlafen hatte, hatte darauf bestanden, Shirt und Socken anzubehalten. Damit er keine Erkältung bekam.
Es war gut, dass ich Optimistin war, denn diese Erinnerung allein hätte schwächere Frauen als mich womöglich deprimiert. Gott sei Dank war ich ein Badass! Nicht Lexie-»Ich kann dich mit nur einem Schlag in den Nacken ausknocken«-Badass, aber »Ich hätte eigentlich tot sein sollen, aber der Tod kann mich mal!«-Badass. Da war schwer zu entscheiden, was cooler war.
Okay, Lexie war cooler. Aber ich war trotzdem stolz auf mich.
»Ach, ich hab den Kurs sowieso nur belegt, weil ich Credits fürs Töpfern brauche, um nächstes Jahr den Bachelor beenden zu können«, sagte ich seufzend und stieß die Haustür unseres graffitiverschmierten Backsteingebäudes auf, in dem mir sofort der Geruch nach feuchter Farbe und Marihuana entgegenschlug. Es besaß kein Schloss und lebte ganz getreu dem Motto: Die inneren Werte zählen, also los, schau dir alles an! Ich würde es nicht als sichere Methode bezeichnen, aber es lohnte sich auch nicht, in irgendeine der Wohnungen hier einzubrechen. »Aber wenn ich jetzt wegen der Note nicht für die Ausstellung im November in Betracht gezogen werde …« Unzufrieden biss ich mir auf die Innenseite der Wange, während ich die erste Treppenstufe hinaufstieg.
Nur die besten drei des Jahrgangs durften ihre Bilder in einem Monat im Atelier Prestige in Los Angeles ausstellen. Und Gott, ich wollte diesen Platz so sehr! Ich wollte meinen Eltern beweisen, dass Malen keine brotlose Kunst sein musste. Mir selbst beweisen, dass ich auch ohne Hilfe etwas erreichen konnte. Der Welt beweisen, dass wirklich alles gut werden konnte, wenn man nur nicht aufgab, und es sich lohnte zu kämpfen.
»Sie müssten schon sehr dumm sein, dich nicht auszuwählen, Carly«, sagte Lexie weich. »Du bist toll.«
Ich lächelte. »Ich hoffe auch. Danke fürs Zuhören.«
»Klar, kein Ding. Hey, hast du Lust, noch vorbeizuschauen? Logan und Aiden sind sehr schlecht im Mario Kart, und wir könnten ihnen eine Lektion erteilen.«
»Das hab ich gehört!«, rief Logan aus dem Hintergrund.
»Weil ich nicht leise gesprochen habe!«, erwiderte Lexie laut, bevor sie für mich hinzufügte: »Also, was sagst du? Wir könnten weiter über Reeves herziehen.«
Ich grinste. Ja. Diese Art von Frau war ich geworden. Die, die nachts um eins noch überlegte auszugehen. Wenn mir das jemand vor zwei Jahren erzählt hätte … ich hätte ihn vor unterdrücktem Ärger umgeschubst.
Dennoch schüttelte ich den Kopf. »Evan hat auch schon gefragt, ob ich noch was mit ihm machen will. Aber ich war jetzt doch länger im Atelier malen und bin schrecklich müde.« Und es war schön, die Wohnung mal für mich allein zu haben. Ich mochte Logan … aber Lexie und er waren so furchtbar verliebt, dass es teilweise anstrengend war.
»So, so«, flötete Lexie. »Hat Evan das?«
»Es war ein freundschaftliches Angebot!«, meinte ich verärgert. Ich mochte Evan, er war nett und ebenfalls Künstler. Er dachte nicht, dass Taupe ein fancyStraßenvogel war. Aber selbst wenn er mehr als nur Freundschaft von mir wollte – in meinem Herzen war ich seit zwei Jahren vergeben. Klar, der Kerl wusste nichts von seinem Glück und behandelte mich wie einen Golden Retriever, aber … ich hatte Hoffnung, dass er eines Tages aufwachte und dachte: Shit, Carly ist heiß! Warum habe ich sie noch nicht in mein Bett gezerrt … und sollten wir vielleicht heiraten?
War das kitschig? Nein. Es war romantisch.
Ich blieb auf der Treppe stehen, rieb mir über mein Gesicht und stöhnte laut.
Oje, es stand schlecht um mich. Leider war ich nicht nur romantisch, sondern auch reflektiert. Die schrecklichste aller Kombinationen.
»Alles okay?«
Ich blinzelte. Richtig, ich hatte laut gestöhnt. »Jaja. Alles super. Danke für die Einladung, grüß die Jungs und viel Spaß euch, ja. Ich nehme an, du schläfst heute bei Logan?«, fragte ich und massierte mir die Brust, die sich bei dem Gedanken an meine dumme Hoffnung, die ich endlich begraben sollte, eng zusammengezogen hatte.
»Jap, morgen vermutlich auch und … jaja, ist ja gut!«, sagte Lexie genervt. »Aiden will wissen, was er dir zum Geburtstag schenken soll. Er ist am Samstag bei deiner Feier im Blue Mate zwar nicht dabei, weil er ein Auswärtsspiel hat, will dir aber trotzdem was besorgen.«
»Das ist sehr lieb von ihm«, erwiderte ich breit grinsend und stieg die letzten Stufen zu unserer Wohnungstür hoch. »Ich liebe Geschenke.«
»Ich weiß. Also?«
»Kekse. Bei Aiden kann man mit Keksen nie falschliegen.« Ich kannte ihn zwar erst seit ein paar Tagen, wusste aber bereits jetzt, dass der Kerl nicht nur Footbälle wie ein Gott warf, sondern auch übermenschliche Fähigkeiten in der Küche hatte.
Scheiße, warum hatte ich mich nicht in Aiden verlieben können? Das wäre so viel einfacher gewesen!
Lexie lachte. »Das gebe ich so weiter. Bis dann, Carly. Schlaf schön.«
»Danke, ihr auch«, erwiderte ich und legte auf.
Meine Wut auf Professor Reeves war fast verpufft. Ich war nicht talentiert darin, lange wütend zu sein. Meine Noten waren gut! Zurzeit mochte ich nur auf Platz vier der besten Studierenden meines Jahrgangs stehen, aber ich hatte noch mein Selbstporträt, das Midterm-Projekt meines Steckenpferdkurses Malerei, und wenn ich dort ein A bekam, würde ich am grausigen Greg vorbei und in einen Ausstellungsslot ziehen.
Positiv. Ich musste positiv bleiben. Eine gute mentale Einstellung konnte bereits riesige Auswirkungen auf meinen Körper haben, und was ich von mir selbst dachte, zählte.
In meinem Kopf wiederholte ich das Mantra, das mir meine Therapeutin mit vierzehn, bei meinem dritten Krankenhausaufenthalt in einem Jahr, beigebracht hatte, bevor ich lächelte, weil der Körper dann nach neunzig Sekunden automatisch Endorphine ausschüttete, die das Stressgefühl in meiner Brust hoffentlich vertrieben.
Ich schloss die Wohnungstür auf, öffnete sie und …
»Hey.«
Ich schrie auf und hob meine Handtasche über den Kopf, bereit, zuzuschlagen.
»Carly, ich bin’s.«
Ein erleichterter Schwall Luft entwich meiner Lunge, und ich starrte wütend zu der großen Gestalt, die in meiner dunklen Küche saß, bevor ich mit der Faust auf den Lichtschalter zu meiner Rechten schlug. »Was zur Hölle, Ty?!« Ich presste eine Hand auf mein schnell klopfendes Herz. Zugegeben, in Tys Gegenwart pochte es immer etwas hastiger, als es sollte, aber nicht so wie jetzt, wie ein Kolibri auf Speed, der in eine Kaffeekanne gefallen war.
Ich hatte mich daran gewöhnt. An das sachte Ziehen von Sehnsucht in meiner Brust, wenn ich ihn sah. An die Wärme, die sich in mir ausbreitete. An die Schwere in meinem Bauch, wenn er lächelte oder sich den Nacken kratzte und seinen blöden Bizeps betonte. An das Wissen, dass ich ihn nicht allzu lang ansehen durfte, damit ich nicht anfing zu starren und meine Fantasie mit mir durchging. Ich stellte mir nämlich sonst allerhand dreckige Dinge vor, die Professor Reeves nur wieder als pornös bezeichnet und mit einem C versehen hätte.
»Großer Gott«, sagte ich, noch immer atemlos, und warf Ty einen ungläubigen Blick zu. Er fläzte in einem der Campingstühle an unserem Küchentisch, als würde ihm die verdammte Welt gehören.
»Ich hab dir doch gesagt: Du darfst mich Ty nennen«, meinte er gelassen, und ein Löffel Joghurt verschwand in seinem Mund.
Ich schnaubte laut und zog meine Schuhe aus, ich hatte heute Mittag erst gestaubsaugt. »Warum hockst du wie der letzte Creep im Dunkeln an unserem Tisch? Willst du mich umbringen?«
Mein ungebetener Gast hob einen Mundwinkel. »Nee. Wenn ich dich umbringen wollte, würde ich versuchen, einen Topf mit Glasreiniger sauber zu machen, und warten, bis dein Herzinfarkt vorbei ist.«
»Über so was macht man keine Witze, Ty!«, sagte ich böse, denn er wusste ganz genau, dass es nur zwei Dinge in meinem Leben gab, die ich sehr ernst nahm: Kunst und Putzen.
Das Erste, weil es mein Leben bereicherte. Das Zweite, weil es mein Leben möglicherweise rettete.
Mittlerweile war das vermutlich Unsinn, aber manche Angewohnheiten waren schwer abzulegen.
»Sorry, sorry.« Er hob entschuldigend die Hände beziehungsweise Joghurt und Löffel, auch wenn sich seine Lippen amüsiert kräuselten.
Ich seufzte schwer und stellte die Handtasche vor meine Zimmertür. »Was machst du hier? Und warum sitzt du im Dunkeln?«
»Lexie meinte letztes Mal, ich solle nicht euren kostbaren Strom verschwenden.«