9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Band 3 der New-York-Times- und Spiegel-Bestseller-Serie DIE FARBEN DES BLUTES Mare, die Rote mit den besonderen Silber-Fähigkeiten, ist zurück am königlichen Hof – doch dieses Mal nicht als falsche Prinzessin, sondern als Gefangene des Königs: Um ihre Gefährten vor dem Tod zu retten, hat sie sich ihrem schlimmsten Feind – und einstigen Freund – ergeben. Und erwartet nun ein schreckliches Schicksal an seiner Seite. Aber natürlich setzen Prinz Cal und die Rebellen der Scharlachroten Garde alles daran, um die Blitzwerferin zu befreien. Denn nur mit ihr gibt es im Kampf um die Freiheit eine Chance. Gefährlich überraschend und überraschend gefährlich – nach DIE ROTE KÖNIGIN und GLÄSERNES SCHWERT geht Mares Geschichte in die dritte Runde. Band 1: Die rote Königin Band 2: Gläsernes Schwert Band 3: Goldener Käfig Band 4: Wütender Sturm Begleitband: Zerschlagene Krone
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Bisher von Victoria Aveyard im Carlsen Verlag:Die rote Königin – Band 1Gläsernes Schwert – Band 2Goldener Käfig – Band 3Wütender Sturm – Band 4Der Gesang der KöniginRotes Netz
bittersweet-NewsletterBittersüße Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.bittersweet.de
Unsere Bücher gibt es überall im Buchhandel und auf carlsen.de.
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017Originalcopyright © 2017 by Victoria AveyardPublished by arrangement with Victoria AveyardOriginalverlag: HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New YorkOriginaltitel: King’s CageDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Umschlaggestaltung: formlaborUmschlagbilder: Trevillion Images © Susan Fox; shutterstock © Smiltenak / © Sanit FuangnakhonKarte © 2017 by Victoria Aveyard. Illustriert von Amanda Persky.Used with permission. All rights reserved.Aus dem Englischen von Birgit SchmitzLektorat: Brigitte KälbleHerstellung: Gunta LauckLithografie: Margit Dittes, HamburgSatz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN: 978-3-646-92726-9
Zweifle nie daran, dass Du wertvoll bist und stark und jede erdenkliche Chance und Gelegenheit verdienst, deine Träume zu verwirklichen.
HRC
MARE
Ich versuche aufzustehen, als er mich lässt.
Er reißt die Kette ruckartig hoch und zieht an meinem Stachelhalsband. Die Spitzen bohren sich in meine Haut; nicht so fest, dass Blut kommt – noch nicht. Aber meine Handgelenke sind bereits blutig. Während langer Tage in bewusstloser Gefangenschaft haben die rauen, scheuernden Fesseln die Haut darunter langsam aufgeschürft. Meine weißen Ärmel sind voller dunkler und hellroter Blutflecken; zu den alten, verblassenden gesellen sich immer wieder frische hinzu und legen Zeugnis ab von meinem Martyrium. Zeigen Mavens Hof, wie sehr ich bereits gelitten habe.
Er steht mit undurchdringlicher Miene über mir. Mit der väterlichen Krone auf dem Kopf wirkt er größer; es sieht aus, als würden ihm die eisernen Zacken direkt aus dem Schädel wachsen. Die Krone funkelt, jede Spitze ist eine gewundene Flamme aus schwarzem Metall, in das sich Bronze und Silber mischen. Ich konzentriere mich ganz auf dieses mir so schmerzlich vertraute Ding, damit ich Maven nicht in die Augen schauen muss. Aber er kriegt mich trotzdem, indem er an einer anderen Kette zieht, die ich nicht sehen kann. Nur spüren.
Weiße Finger legen sich seltsam sanft um mein verletztes Handgelenk. Mein Blick schnellt unwillkürlich zu seinem Gesicht; ich kann es nicht verhindern. Sein Lächeln ist alles andere als freundlich. Dünn und scharf wie eine Rasierklinge ist es; jeder Zahn bohrt sich förmlich in mich hinein. Aber das Schlimmste sind seine Augen. Ihre Augen. Elaras Augen. Früher dachte ich, sie wären kalt, lebendiges Eis. Jetzt weiß ich es besser. Blaue Flammen sind die heißesten; seine Augen bilden da keine Ausnahme.
Der Schatten der Flamme. In ihm brennt das Feuer lichterloh, doch an seinen Rändern nagt Dunkelheit. Wie Blutergüsse umgeben schwarzblaue Flecken seine Augen, die von silbernen Adern durchzogen sind. Er hat nicht geschlafen. Er ist dünner, als ich ihn in Erinnerung habe, hagerer, grausamer. Seine Haare, die so schwarz sind wie das Nichts, reichen ihm nun bis zu den Ohren und kräuseln sich an den Spitzen; seine Wangen sind noch immer glatt. Manchmal vergesse ich, wie jung er ist. Wie jung wir beide sind. Das Brandmal auf meinem Schlüsselbein – ein »M«, das vom Kleid verdeckt wird – schmerzt.
Maven dreht sich rasch um und die Kette in seiner Faust zwingt mich, ihm zu folgen. Ein Mond, der um einen Planeten kreist.
»Seht euch diese Gefangene an, diesen Sieg!«, ruft er mit gestrafften Schultern der Menschenmenge vor uns zu. Mindestens dreihundert Silberne, Adelige und Zivilisten, Wachen und Offiziere stehen dort. Ich bin mir der Königswächter am Rand meines Blickfeldes schmerzlich bewusst, ihre feuerroten Roben erinnern mich permanent an meinen schnell schrumpfenden Käfig. Auch meine Arven-Wächter sind nie außer Sichtweite, ihre weißen Uniformen blenden, ihre Stiller-Fähigkeiten lähmen mich. Der Druck ihrer Anwesenheit raubt mir den Atem.
Die Stimme des Königs hallt über den imposanten Cäsarplatz und wird von der Menschenmenge mit Zustimmung und Jubel aufgenommen. Irgendwo muss es Mikrofone und Lautsprecher geben, die die bitteren Worte des Königs in die Stadt tragen und zweifellos auch in den Rest des Königreichs.
»Das hier ist Mare Barrow, die Anführerin der Scharlachroten Garde.« Trotz meiner misslichen Lage schnaube ich beinahe. Anführerin. Dass seine Mutter nicht mehr lebt, tut seinen Lügen keinen Abbruch. »Eine Mörderin, eine Terroristin, eine Feindin unseres Königreichs. Und jetzt kniet sie vor uns, entblößt bis aufs Blut.«
Er reißt wieder an der Kette und ich stolpere nach vorn, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Meine Reaktionen sind träge, meine Augen niedergeschlagen. Was für ein Schauspiel. Wut und Scham durchströmen mich, als mir bewusst wird, was dieser simple Akt für die Scharlachrote Garde bedeutet, wie sehr er ihr schaden wird. Rote in ganz Norta werden sehen, wie ich an Mavens Fäden zappele. Sie werden glauben, dass wir schwach sind und besiegt, weder ihrer Aufmerksamkeit noch ihrer Mühe oder Hoffnung wert. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Aber ich kann nichts tun, nicht jetzt, nicht hier, während mein Leben auf Messers Schneide steht und ich voll und ganz von Mavens Gnade abhänge. Ich frage mich, was mit Corvium ist, der Militärstadt, die wir auf unserem Weg zum Todesstreifen brennen sahen. Nach der Ausstrahlung meiner Videobotschaft ist es zu Aufständen gekommen. War es das erste Aufflammen der Revolution – oder ein letztes Aufbäumen? Ich habe keine Ahnung. Und ich bezweifle, dass sich jemand die Mühe machen wird, mir eine Zeitung zu bringen.
Cal hat mich vor der Gefahr eines Bürgerkriegs gewarnt, schon vor langer Zeit, bevor sein Vater starb und er plötzlich mit nichts als der hitzigen Blitzwerferin dastand. Rebellion auf beiden Seiten, hatte er gesagt. Doch während ich hier stehe, angeleint vor Mavens Hof und seinem Silber-Königreich, sehe ich keinerlei Anzeichen für irgendwelche Abspaltungsbewegungen. Obwohl ich den Silbernen von Mavens Gefängnis erzählt habe, obwohl ich ihnen gesagt habe, dass er ihre Liebsten geraubt hat, dass der König und seine Mutter sie alle verraten haben, betrachten sie weiterhin mich als ihren Feind. Ich möchte schreien, besinne mich aber eines Besseren. Mavens Stimme wird immer lauter sein als meine.
Sehen Ma und Pa gerade zu? Der Gedanke erfüllt mich mit neuem Kummer und ich beiße mir fest auf die Lippe, damit nicht noch mehr Tränen fließen. Ich weiß, dass Videokameras in der Nähe und auf mein Gesicht gerichtet sind. Auch wenn ich sie nicht mehr spüren kann, ist mir das sonnenklar. Maven würde sich niemals die Gelegenheit entgehen lassen, meinen Sturz zu verewigen.
Werden sie mich gleich sterben sehen?
Das Halsband sagt mir, dass dem nicht so ist. Warum sollte er dieses Spektakel inszenieren, wenn er mich einfach nur töten wollte? Andere fänden diesen Gedanken erleichternd, aber mir wird kalt vor Angst. Er wird mich nicht töten. Maven nicht. Das sagt mir seine Berührung. Seine langen, bleichen Finger liegen noch immer um mein Handgelenk, während die andere Hand die Leine hält. Selbst jetzt, wo ich auf schmerzhafte Weise ihm gehöre, lässt er mich nicht los. Ich würde den Tod diesem Käfig, dieser perversen Obsession eines verrückten jungen Königs vorziehen.
Ich erinnere mich an seine Briefe, die alle mit demselben seltsamen Lamento endeten.
Bis zum nächsten Wiedersehen.
Er redet weiter, aber seine Stimme dringt nur gedämpft zu mir durch, wird zum Sirren einer Hornisse, die mich umschwirrt und alle meine Nerven vibrieren lässt. Ich schaue über die Schulter. Mein Blick schweift über die Menge der Höflinge hinter uns. Stolz und voller Niedertracht stehen sie da in ihrer schwarzen Trauerkleidung. Lord Volo aus dem Haus Samos und sein Sohn Ptolemus sind prächtig herausgeputzt in ihrer tiefschwarz glänzenden Rüstung mit den silbernen Schärpen von der Hüfte bis zur Schulter. Beim Anblick von Ptolemus sehe ich Rot, scharlachrotes, zorniges Rot. Ich unterdrücke den Impuls, nach vorn zu stürzen und Ptolemus die Haut vom Gesicht abzuziehen, ihm das Herz zu durchbohren, so wie er es bei meinem Bruder Shade gemacht hat. Mein Wunsch steht mir offenbar deutlich im Gesicht geschrieben, denn Ptolemus besitzt die Frechheit, mich selbstgefällig anzugrinsen. Würden das Halsband und die Stiller-Wachen mich nicht all dessen berauben, was ich bin, würde ich seine Knochen in rauchendes Glas verwandeln.
Seltsamerweise schaut mich seine Schwester, die so viele Monate meine Feindin war, gar nicht an. In ihrem mit schwarzen Kristallen gespickten Kleid ist Evangelina der glitzernde Stern dieser grausamen Konstellation. Da sie die Verlobung mit Maven schon so lange ausgehalten hat, wird sie vermutlich bald Königin. Ihr Blick ruht auf dem Rücken des Königs, ihre dunklen Augen fixieren seinen Nacken. Eine aufkommende Brise bringt den glänzenden Vorhang ihrer silbernen Haare in Bewegung, hebt ihn von ihren Schultern, doch sie zuckt mit keiner Wimper. Erst nach einem langen Moment scheint sie zu bemerken, dass ich sie anstarre. Doch selbst dann schwenkt ihr Blick nur kurz zu mir hin. Bar jeden Gefühls. Ich bin ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig.
»Mare Barrow ist eine Gefangene der Krone. Auf sie wartet das Urteil der Krone und der Ratsversammlung. Ihre zahlreichen Verbrechen müssen geahndet werden.«
Aber wie?, frage ich mich.
Die Menge grölt und bejubelt seine Ankündigung. Das sind Silberne, aber »gewöhnliche« Silberne, ohne adelige Herkunft. Während sie Mavens Worte feiern, zeigt sein Hof keinerlei Reaktion. Tatsächlich werden einige der Hofangehörigen grau im Gesicht, ihre Mienen versteinern, wirken wütend. Besonders die Mitglieder des Hauses Merandus, deren Trauerkleidung von Dunkelblau, der vermaledeiten Farbe der toten Königin, durchzogen ist. Während Evangelina mich nicht wahrgenommen hat, starren sie mir mit beunruhigender Intensität ins Gesicht. Flammend blaue Blicke treffen mich aus allen Richtungen. Ich warte darauf, ihr Flüstern in meinem Kopf zu hören, rechne damit, dass sich ein Dutzend Stimmen durch ihn hindurchwühlen wie Würmer durch einen faulen Apfel. Aber stattdessen – Stille. Vielleicht sind die Arven-Offiziere rechts und links von mir ja nicht nur meine Gefängniswärter, sondern auch Beschützer, vielleicht unterdrücken sie nicht nur meine Fähigkeiten, sondern auch die jedes anderen, der seine Fähigkeiten gegen mich einsetzen will. Auf Mavens Befehl hin, vermute ich. Hier wird mir niemand anders wehtun.
Niemand anders als er.
Doch es tut schon alles weh. Es tut mir weh, zu stehen und mich zu bewegen, selbst das Denken schmerzt. Von dem Flugzeugabsturz, dem Echolot, dem erdrückenden Gewicht der Stiller-Wachen. Und das sind nur körperliche Wunden. Blutergüsse. Knochenfrakturen. Schmerzen, die mit der Zeit irgendwann aufhören werden. Was man von dem Rest nicht sagen kann. Mein Bruder ist tot. Ich bin eine Gefangene. Und ich weiß nicht, was wirklich mit meinen Freunden passiert ist, als ich – vor wie vielen Tagen auch immer – diesen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Was aus Cal, Kilorn, Cameron, meinen Brüdern Bree und Tramy geworden ist. Wir haben sie auf dieser Lichtung zurückgelassen, doch sie waren verletzt, außer Gefecht gesetzt, verwundbar. Maven kann jede Menge Mörder zu ihnen zurückgeschickt haben, um doch noch zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte. Ich habe mich im Austausch für sie ausgeliefert, aber ich weiß nicht einmal, ob der Plan wirklich aufgegangen ist.
Maven würde es mir sagen, wenn ich ihn fragen würde. Ich sehe es ihm an. Zwischen jedem seiner abscheulichen Sätze, jeder Lüge, die er seinen untertänigen Anhängern auftischt, fliegt sein Blick zu mir hin. Um sicherzugehen, dass ich dabei bin, dass ich aufmerksam zuhöre, dass ich ihn anschaue. Er ist wie ein Kind.
Ich werde ihn nicht anbetteln. Nicht hier. Nicht so. Dafür habe ich noch zu viel Stolz.
»Meine Mutter und mein Vater sind im Kampf gegen diese Tiere gestorben. Sie haben ihr Leben hingegeben, um dieses Königreich zu erhalten, damit ihr in Sicherheit leben könnt.«
Auch wenn ich geschlagen bin, werfe ich Maven unwillkürlich einen wütenden Blick zu, begegne seinem Feuer mit einem Zischen meines eigenen. Wir erinnern uns beide an den Tod seines Vaters. Seine Ermordung. Die Flüsterer-Königin Elara hat sich damals einen Weg in Cals Kopf gebahnt und den geliebten Erben des Königs in eine tödliche Waffe verwandelt. Maven und ich waren dabei, als sie Cal gezwungen hat, zum Mörder seines Vaters zu werden; er musste dem König den Kopf abschlagen und verlor damit jede Chance, einmal selbst den Thron zu besteigen. Ich habe seitdem viele schreckliche Dinge gesehen, aber diese Bilder verfolgen mich noch immer.
Ich weiß nicht mehr viel von dem, was der Königin außerhalb der Gefängnismauern von Corros zugestoßen ist. Aber der Zustand ihrer Leiche war ein Zeugnis dafür, was ungezügelte Blitze mit einem menschlichen Körper anrichten können. Ich weiß, dass ich sie ohne den geringsten Zweifel, ohne Gewissensbisse und ohne Bedauern getötet habe. Mein verheerendes Blitzfeuerwerk wurde von Shades plötzlichem Tod genährt. Das letzte klare Bild, das mir von der Schlacht in Corros im Gedächtnis geblieben ist, zeigt ihn, wie er umfällt, weil Ptolemus’ Nadel aus kaltem, unnachgiebigem Stahl sein Herz durchbohrt hat. Ptolemus ist meiner Rache irgendwie entgangen, die Königin aber nicht. Wenigstens haben der Oberst und ich sichergestellt, dass alle Welt weiß, was mit ihr passiert ist, indem wir ihren Leichnam in unserer Videobotschaft zur Schau gestellt haben.
Ich wünschte, Maven besäße etwas von ihren Fähigkeiten, dann könnte er in meinen Kopf eindringen und genau sehen, welches Ende ich seiner Mutter bereitet habe. Ich will, dass er ihren Verlust ebenso schmerzlich empfindet wie ich den meines Bruders.
Sein Blick ruht auf mir, während er seine einstudierte Ansprache beendet, sein Arm ist ausgestreckt, damit die Kette, die mich an ihn fesselt, besser zur Geltung kommt. Alles, was er tut, hat Methode, wird um der Bilder willen ausgeführt.
»Ich schwöre, dass ich dasselbe tun werde. Dass ich der Scharlachroten Garde und Monstern wie Mare Barrow das Handwerk legen oder bei dem Versuch sterben werde.«
Dann stirb, möchte ich schreien.
Das Brüllen der Menge übertönt meine Gedanken. Hunderte bejubeln ihren König und seine Tyrannei. Ich habe bei meinem Gang über die Brücke geweint, weil ich an so vielen vorbeikam, die mir die Schuld am Tod ihrer Lieben gaben. Ich spüre die Tränen noch, die auf meinen Wangen trocknen. Jetzt möchte ich erneut weinen, nicht aus Traurigkeit, sondern vor Wut. Wie können sie das nur glauben? Wie halten sie diese Lügen nur aus?
Ich werde von dem Anblick weggezogen wie eine Puppe. Mit letzter Kraft verrenke ich mir den Hals und blicke über die Schulter zurück, in die Kameras, in die Augen der Welt. Schaut mich an, bettele ich. Schaut, wie er lügt. Ich presse die Kiefer aufeinander, ziehe die Augen zusammen und hoffe inständig, dadurch ein Bild des Widerstands, der Rebellion und der Wut zu bieten. Ich bin die Blitzwerferin. Ich bin ein Gewitter, eine Naturgewalt. Es fühlt sich an wie eine Lüge. Die Blitzwerferin ist tot.
Aber es ist das Letzte, was ich für unsere Sache tun kann und für die Menschen, die ich liebe und die noch da draußen sind. Sie sollen mich in diesem letzten Augenblick nicht straucheln sehen. Nein, ich werde aufrecht stehen. Und auch wenn ich keine Ahnung habe wie, muss ich weiterkämpfen, selbst hier, im Bauch des Ungeheuers.
Ein erneutes Zerren an der Kette zwingt mich, mich abzuwenden, dem Hof zu. Ich sehe Silberne, deren Haut von blauen, schwarzen, violetten und grauen Tönen durchzogen ist, die kalt und leblos wirken, mit Adern aus Stahl und Diamanten anstelle von Blut. Ihre Augen sind nicht auf mich gerichtet, sondern auf Maven. Und in ihnen finde ich meine Antwort. Denn es steht Gier darin.
Für den Bruchteil einer Sekunde bekomme ich Mitleid mit dem Jungen, der allein auf seinem Thron sitzt. Doch dann spüre ich tief in mir das Aufkeimen von Hoffnung.
Oh, Maven. In welchem Schlamassel du steckst.
Die Frage ist nur, wer als Erster zuschlagen wird.
Die Scharlachrote Garde – oder diese Lords und Ladys, die darauf lauern, Maven die Kehle aufzuschlitzen und alles an sich zu raffen, wofür seine Mutter gestorben ist.
Sobald wir die Stufen des Whitefire-Palastes hinter uns gelassen haben und in der riesigen Eingangshalle stehen, reicht er meine Leine an einen der Arvens weiter. Seltsam. Er war so darauf fixiert, mich zurückzubekommen, mich in seinen Käfig zu sperren, aber jetzt wirft er meine Ketten weg, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Feigling, sage ich mir. Wenn es nicht um die Außenwirkung geht, kann er sich nicht überwinden, mich anzuschauen.
»Hast du Wort gehalten?«, frage ich atemlos. Meine Stimme krächzt, weil ich sie tagelang nicht benutzt habe. »Stehst du zu deinem Wort?«
Er antwortet nicht.
Der Rest des Hofs folgt uns in einer genau festgelegten Ordnung und Reihenfolge, die auf den komplizierten Feinheiten von Status und sozialem Rang basiert. Nur ich bin nicht an der richtigen Stelle, sondern die Erste nach dem König, nur wenige Schritte hinter ihm, wo eigentlich eine Königin gehen sollte. Von diesem Titel könnte ich jedoch nicht weiter entfernt sein.
Ich werfe einen Blick auf den größeren meiner beiden Gefängniswärter in der Hoffnung, an ihm Anzeichen für etwas jenseits blinder Loyalität zu finden. Er trägt eine kugelsichere weiße Uniform, deren Reißverschluss bis zum Kinn hochgezogen ist. Und glänzende Handschuhe. Nicht aus Seide, sondern aus Plastik – Gummi. Ich zucke zusammen bei diesem Anblick. Trotz ihrer Stiller-Fähigkeiten gehen die Arvens kein Risiko mit mir ein. Selbst wenn ich es irgendwie schaffen könnte, an ihrer Gabe vorbei einen Funken zu produzieren, werden die Handschuhe ihre Finger schützen und es ihnen erlauben, mich weiter gefangen, angekettet und eingesperrt zu halten. Der große Arven schaut nicht zu mir hin, sondern blickt mit geschürzten Lippen konzentriert geradeaus. Der andere macht genau dasselbe, während er in perfektem Gleichschritt mit seinem Bruder oder Cousin neben mir herschreitet. Ihre glänzenden kahlen Schädel erinnern mich an Lucas Samos. Meinen freundlichen Wächter, meinen Freund, der hingerichtet wurde, weil ich existiere und weil ich ihn für unsere Zwecke eingespannt habe. Ich hatte Glück, dass Cal damals einen so anständigen Silbernen zu meiner Bewachung abgestellt hat. Und mir wird klar, dass ich auch jetzt Glück habe. Wärter, mit denen mich nichts verbindet, kann ich leichter töten.
Denn sterben müssen sie. Irgendwie. Irgendwann. Wenn ich fliehen will, wenn ich meinen Blitz zurückgewinnen will, sind sie die Ersten, die mir im Weg stehen. Wer die anderen Hindernisse sind, ist leicht zu erraten: Mavens Königswächter, die anderen überall im Palast postierten Wachen und Offiziere, und natürlich Maven selbst. Ich werde diesen Ort nicht verlassen, ohne ihn umgebracht zu haben – es sei denn, er tötet mich zuerst.
Ich stelle mir vor, wie ich ihn töte. Wie ich meine Kette um seinen Hals lege und das Leben aus seinem Körper quetsche. Das hilft mir, den Umstand zu ignorieren, dass mich jeder Schritt tiefer ins Innere des Palastes führt, über weißen Marmor und an hohen, vergoldeten Mauern vorbei, unter einem Dutzend Kronleuchtern mit kristallenen Flammen hindurch. Der Palast strahlt dieselbe kalte Pracht aus, die ich in Erinnerung habe. Er ist ein Gefängnis mit goldenen Schlössern und diamantenen Gitterstäben. Wenigstens muss ich seine grausamste und gefährlichste Wärterin nicht mehr fürchten. Denn die alte Königin ist tot. Und doch überläuft mich bei dem Gedanken an sie, an Elara Merandus, noch immer ein Schauder. Ihr Schatten geistert durch meinen Kopf. Sie hat einst meine Erinnerungen durchwühlt. Jetzt ist sie eine von ihnen.
Eine Gestalt in Rüstung schiebt sich in mein Blickfeld. Sie gleitet an meinen Wärtern vorbei und pflanzt sich zwischen den König und mich. Sie hält Schritt mit uns, ist aufmerksam und vorsichtig wie ein Königswächter, auch wenn sie nicht deren Robe und Maske trägt. Vermutlich weiß der Mann, dass ich mit dem Gedanken spiele, Maven zu erdrosseln. Ich beiße mir auf die Lippen und wappne mich für die schmerzhafte Attacke eines Flüsterers.
Aber nein, er ist nicht aus dem Haus Merandus. Seine Rüstung ist schwarz wie Obsidian, seine Haut bleich wie der Mond, seine Haare sind silbern. Und seine Augen, als er über die Schulter zu mir hinblickt, sind leer und schwarz.
Ptolemus.
Blindlings stürze ich mich auf ihn, versuche meine Zähne in ihn zu schlagen. Mir ist alles egal, solange ich nur eine Spur hinterlasse. Ich frage mich, ob Silberblut anders schmeckt als das von Roten.
Aber eine Antwort bekomme ich nicht.
Mein Halsband reißt mich nach hinten und zerrt so heftig an mir, dass mein Rücken sich verbiegt und es mir fast das Genick bricht. Ich falle und mein Schädel knallt so hart auf den Marmor, dass sich mir alles dreht. Aber das hält mich nicht am Boden. Ich rapple mich hoch, sehe nur noch die gepanzerten Beine von Ptolemus, der sich zu mir umdreht. Wieder stürze ich mich auf ihn, und wieder werde ich an meinem Halsband zurückgezogen.
»Genug jetzt«, zischt Maven.
Er ist stehen geblieben und verfolgt meine erbärmlichen Versuche, es Ptolemus heimzuzahlen. Der Rest der Prozession hat ebenfalls angehalten, und viele drängen nach vorn, um den aussichtslosen Kampf der irren Roten zu verfolgen.
Mein Halsband scheint enger zu werden, und ich greife mir würgend an die Kehle.
Maven hält den Blick auf das zusammenschrumpfende Metall gerichtet. »Ich sagte, genug jetzt, Evangelina.«
Trotz meiner Schmerzen drehe ich mich um und sehe sie hinter mir stehen. Mit geballter Faust starrt sie, wie er, auf mein Halsband. Es pulsiert, während es sich bewegt. Das muss der Rhythmus ihres Herzschlags sein.
»Erlaubt mir, sie loszumachen«, sagt sie und ich glaube, mich verhört zu haben. »Erlaubt mir, sie loszumachen, gleich jetzt und hier. Und schickt ihre Wärter weg, damit ich sie mitsamt ihrem Blitz auslöschen kann.«
Ich fauche sie an, wie das Tier, für das sie mich alle halten. »Versuchs doch mal«, sage ich zu ihr und wünsche mir von ganzem Herzen, dass Maven sie gewähren lässt. Trotz meiner Verletzungen, der Tage in der Gewalt der Stiller und der vielen Jahre des Trainings, die mir die Magnetor-Prinzessin voraus hat, will ich diesen Kampf. Ich habe sie schon mal geschlagen. Ich kann es wieder schaffen. Das ist wenigstens eine Chance. Eine bessere wird es kaum geben.
Mavens Blick fliegt von meinem Halsband zu seiner Verlobten, seine Miene versteinert und verfinstert sich. Er hat so viel von seiner Mutter in sich. »Möchten Sie die Befehle Ihres Königs infrage stellen, Lady Evangelina?«
Ihre Zähne blitzen zwischen ihren violett angemalten Lippen hervor. Der Schleier ihres vornehmen Getues droht zu fallen, aber bevor sie irgendetwas wahrhaft Vernichtendes sagen kann, bewegt ihr Vater sich ganz leicht, sodass sein Arm ihren streift. Seine Botschaft ist klar: Füge dich.
»Nein«, knurrt sie, meint aber Ja. Sie neigt ihr Haupt. »Eure Majestät.«
Mein Halsband lockert sich und nimmt seine alte Form an. Vielleicht ist es sogar ein bisschen weiter als zuvor. Glücklicherweise ist Evangelina nicht so perfektionistisch, wie sie sich gern den Anschein gibt.
»Mare Barrow ist eine Gefangene der Krone, und die Krone wird mit ihr verfahren, wie es ihr beliebt«, sagt Maven so laut, dass auch die es hören, die hinter seiner unberechenbaren Braut stehen. Mit einem Blick über seinen Hof stellt er klar: »Der Tod ist zu gut für sie.«
Durch die Menge der Adligen geht ein Raunen. Ich höre leisen Widerspruch, aber noch mehr Zustimmung. Seltsam. Ich hätte gedacht, dass sie alle mich gern auf die grausamste Art hingerichtet sähen – aufgehängt, um als Nahrung für die Geier zu dienen, um mit meinem Blut alles auszulöschen, was die Scharlachrote Garde bislang geschafft hat. Aber vermutlich wünschen sie mir noch Schlimmeres an den Hals.
Noch Schlimmeres.
Diese Formulierung hat Jon vor einigen Wochen gebraucht, als er in meine Zukunft geblickt hat. Er wusste, wohin mein Weg führte. Er wusste, dass das hier passieren würde, und hat es dem König erzählt. Hat sich mit dem Leben meines Bruders und mit meiner Freiheit einen Platz an Mavens Seite erkauft.
Ich suche und finde Jon in der Menschenmenge; die anderen halten einen deutlichen Abstand zu ihm. Seine Augen sind rot, sein Blick zornig, seine vor der Zeit ergrauten Haare hat er zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein weiteres Neublüter-Spielzeug für Maven Calore, nur trägt dieses keine sichtbaren Fesseln. Weil Jon Maven geholfen hat, unsere Mission zu stoppen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Wir wollten eine Legion von Kindern retten. Doch Jon hat Maven von unseren Plänen und von unserer Zukunft erzählt. Er hat mich dem jungen König als Geschenk dargebracht. Und uns alle verraten.
Jon starrt natürlich schon zu mir hin. Ich erwarte keine Entschuldigung für das, was er getan hat, und ich bekomme auch keine.
»Wie wäre es mit einem Verhör?«
Diesen Vorschlag macht jemand links von mir, dessen Stimme ich nicht kenne. Sein Gesicht dagegen schon.
Samson Merandus. Ein Arenakämpfer, ein brutaler Flüsterer, ein Cousin der toten Königin. Ich zucke unwillkürlich zusammen, als er sich einen Weg zu mir bahnt. In einem anderen Leben habe ich mit angesehen, wie er seinen Gegner in der Arena dazu zwang, sich selbst zu erstechen. Kilorn saß damals jubelnd und grölend neben mir, die letzten Stunden seiner Freiheit genießend. Dann starb sein Meister und unsere Welt wurde komplett auf den Kopf gestellt. Unsere Wege änderten sich. Und jetzt liege ich frierend und blutend zu Füßen eines Königs auf makellosem Marmorfußboden, weniger wert als ein Hund.
»Ist sie zu gut für ein Verhör, Eure Majestät?«, fährt Samson fort und zeigt mit seiner weißen Hand auf mich. Dann packt er mein Kinn und zwingt mich aufzublicken. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihn zu beißen, um Evangelina nicht erneut einen Grund zu geben, mich zu würgen. »Bedenkt, was sie alles gesehen hat. Was sie weiß. Sie ist ihre Anführerin – und der Schlüssel, um hinter das Geheimnis ihrer unseligen Meute zu kommen.«
Er hat unrecht, aber dennoch bekomme ich Herzrasen. Ich weiß genug, um großen Schaden anrichten zu können. Sofort blitzt Tuck vor meinen Augen auf, der Oberst und auch die Zwillinge aus Montfort. Die Infiltration der Legionen. Die Städte. Die Pfeifer überall im Land, die jetzt Flüchtlinge in Sicherheit bringen. Wertvolle, gut gehütete Geheimnisse, die schon bald enthüllt werden könnten. Wie viele werden durch mein Wissen in Gefahr gebracht? Wie viele werden sterben, wenn er mich zwingt, all diese Informationen preiszugeben?
Und das sind nur die militärischen Informationen. Noch schlimmer sind die dunklen Regionen meines eigenen Kopfes. Die Ecken, in denen ich meine schlimmsten Dämonen aufbewahre. Maven ist einer von ihnen. Der Prinz, wie ich ihn kannte und liebte und von dem ich wünschte, er wäre real. Und dann ist da noch Cal. Das, was ich getan habe, um ihn zu halten; das, was ich ignoriert habe, und die Lügen, die ich mir, seine Loyalität betreffend, selbst erzähle. Meine Schande und meine Fehler. Ich darf nicht zulassen, dass Samson – oder Maven – all das in mir findet.
Bitte nicht, möchte ich betteln. Meine Lippen bewegen sich nicht. Sosehr ich Maven auch hasse, sosehr ich ihn leiden sehen möchte – ich weiß, dass er die beste Chance ist, die ich habe. Doch wenn ich ihn vor seinen stärksten Verbündeten und seinen schlimmsten Feinden um Gnade anflehe, wird das den ohnehin schon schwachen König nur noch weiter schwächen. Also bleibe ich stumm, versuche Samsons Hand an meinem Kinn zu ignorieren und konzentriere mich ganz auf Mavens Gesicht.
Unsere Blicke begegnen sich für den längsten und den kürzesten Moment.
»Sie kennen Ihre Befehle«, sagt er knapp und nickt meinen Wärtern zu.
Sie packen mich entschlossen, aber nicht brutal, ziehen mich vom Boden hoch und führen mich mithilfe ihrer Hände und der Ketten aus der Menge heraus. Ich lasse sie alle hinter mir. Evangelina, Ptolemus, Samson und Maven.
Er dreht sich auf dem Absatz um und geht in die entgegengesetzte Richtung, auf das Einzige zu, was ihm geblieben ist, um sich zu wärmen.
Einen Thron aus erstarrten Flammen.
MARE
Ich bin nie allein.
Die Wärter gehen nicht weg. Sie sind immer zu zweit, behalten mich immer im Blick und unterdrücken das, was mich ausmacht, ununterbrochen. Eine verschlossene Tür, mehr brauchen sie nicht, um mich zu einer Gefangenen zu machen. Nicht, dass ich mich dieser Tür je auch nur ansatzweise nähern könnte, ohne grob in die Mitte meines Schlafgemachs zurückgestoßen zu werden. Sie sind stärker als ich und unendlich wachsam. Nur in dem kleinen Bad bin ich vor ihren Blicken geschützt, einer Kammer mit weißen Fliesen und goldenen Armaturen, in deren Fußboden eine unheilvolle Reihe von Stiller-Steinen eingelassen ist. Mein Schädel dröhnt und meine Kehle schnürt sich zu, so viele von den perlgrauen Platten befinden sich dort. Wenn ich im Bad bin, muss ich mich beeilen und jede erstickende Sekunde gut nutzen. Das Gefühl erinnert mich an Cameron und ihre Fähigkeit. Ihre Stiller-Kraft ist so groß, dass sie andere töten kann. Sosehr mir die permanente Bewachung auch zuwider ist, werde ich es nicht riskieren, auf einem Badezimmerfußboden zu ersticken, nur um ein paar Minuten meinen Frieden zu haben.
Komisch, früher dachte ich, es gäbe nichts Schlimmeres für mich, als allein gelassen zu werden. Jetzt bin ich alles andere als allein, und ich hatte noch nie so schreckliche Angst.
Seit vier Tagen habe ich meinen Blitz nicht gespürt.
Fünf.
Sechs.
Siebzehn.
Einunddreißig.
Um das Vergehen der Zeit festzuhalten, ritze ich mit einer Gabel jeden Tag eine Kerbe in die Fußleiste neben meinem Bett. Es fühlt sich gut an, ein Zeichen zu hinterlassen, meinem Gefängnis im Whitefire-Palast eine kleine Verletzung zuzufügen. Den Arvens ist es egal. Sie ignorieren mich die meiste Zeit, während sie auf totale und absolute Stille konzentriert sind. Sie bleiben auf ihren Plätzen neben der Tür und sitzen dort wie Statuen mit lebendigen Augen.
Das hier ist nicht der Raum, in dem ich geschlafen habe, als ich das letzte Mal im Palast war. Es wäre natürlich auch nicht angemessen, eine königliche Gefangene am selben Ort unterzubringen wie eine königliche Braut. Aber ich sitze auch nicht in einer Zelle. Mein Käfig ist bequem und gut ausgestattet. Hier gibt es ein flauschiges Bett, ein mit langweiligen Wälzern bestücktes Bücherregal, einige Stühle, einen Esstisch, sogar feine Vorhänge, und alles ist in neutralen Farben gehalten: Grau, Braun und Weiß. So wie die Arvens meine Fähigkeit aus diesem Zimmer verbannen, ist auch alles Bunte von hier verbannt.
Ich gewöhne mich langsam daran, alleine zu schlafen, aber ohne Cals schützende Anwesenheit, ohne jemanden in meiner Nähe, der sich etwas aus mir macht, plagen mich Albträume. Beim Aufwachen taste ich als Erstes nach meinen Ohrringen und denke an die, für die die einzelnen Steinchen stehen: Bree, Tramy, Shade, Kilorn. Brüder und Wahlverwandte. Drei Lebende und ein Toter. Ich wünschte, ich hätte auch das Gegenstück zu dem Ohrring, den ich Gisa geschenkt habe. Dann hätte ich auch etwas von ihr. Ich träume manchmal von Gisa. Nichts Bestimmtes, es sind nur Bilder – ihr Gesicht, ihr Haar, das ihr wie rotes Blut über die Schultern fällt. Ihre Worte verfolgen mich am meisten: Eines Tages kommen Leute und nehmen alles, was du hast. Sie hatte recht.
Es gibt hier keine Spiegel, nicht einmal im Bad. Aber ich weiß auch so, was dieser Ort mit mir macht. Mein Gesicht fühlt sich dünner an, trotz der deftigen Mahlzeiten und des Bewegungsmangels. Die Knochen drücken sich immer deutlicher durch meine Haut, während ich dahinsieche. Ich tue nicht viel mehr, als zu schlafen oder in einem der Bände über die nortanische Steuergesetzgebung zu lesen, und trotzdem hat schon vor einigen Tagen eine große Erschöpfung eingesetzt. Jede Berührung hinterlässt blaue Flecken auf meiner Haut und das Halsband fühlt sich heiß an, obwohl mir dauernd kalt ist und ich zittere. Vielleicht habe ich Fieber. Vielleicht sterbe ich.
Nicht, dass ich das irgendwem mitteilen könnte. Ich spreche ohnehin so gut wie gar nicht mehr. Die Tür öffnet sich nur, wenn jemand Essen oder Wasser hereinbringt oder wenn die Wärter wechseln, sonst nicht. Ich sehe auch nie rote Diener, obwohl ich weiß, dass es sie geben muss. Stattdessen holen die Arvens das Essen, die Wäsche und die Kleider, die draußen abgestellt werden, zu mir ins Zimmer. Sie machen hier auch sauber, mit angewiderter Miene, weil sie so niedere Tätigkeiten verrichten müssen. Vermutlich ist es zu gefährlich, einen Roten hereinzulassen. Ich muss lächeln bei dem Gedanken. Die Scharlachrote Garde ist also noch immer eine Bedrohung, jedenfalls gefährlich genug, um so strenge Vorschriften zu rechtfertigen und nicht einmal Dienstpersonal in meine Nähe zu lassen.
Andererseits wird auch sonst niemand zu mir gelassen. Niemand kommt vorbei, um die Blitzwerferin anzugaffen oder sich an meinem Anblick zu weiden. Nicht einmal Maven.
Die Arvens sprechen nicht mit mir. Sie sagen mir auch nicht, wie sie heißen. Also denke ich mir Namen für sie aus. Die ältere Frau mit dem schmalen Gesicht und den wachen, stechenden Augen, die kleiner ist als ich, nenne ich Kätzchen. Der mit dem runden weißen Kopf, der ebenso kahl ist wie die anderen aus seinem Haus, ist für mich das Ei. Trio hat am Hals drei tätowierte Linien, die aussehen wie Klauenspuren. Und das grünäugige, äußerst pflichtbewusste Mädchen ungefähr in meinem Alter heißt bei mir Kleeblatt. Sie ist die Einzige, die sich traut, mir in die Augen zu sehen.
Als mir klar wurde, das Maven mich zurückhaben wollte, habe ich eigentlich Schmerzen oder Dunkelheit oder beides erwartet. Vor allem aber ging ich davon aus, dass ich ihn sehen und meine Folter unter seinen flammenden Blicken würde ertragen müssen. Doch nichts davon ist eingetreten seit dem Tag, als ich hier ankam und gezwungen wurde, vor ihm niederzuknien. Er hat angekündigt, meine Leiche zur Schau zu stellen. Bislang habe ich jedoch keine Henker gesehen. Dasselbe gilt für die Flüsterer, Menschen wie Samson Merandus und die tote Königin. Niemand ist gekommen, um in meinem Kopf herumzuschnüffeln und meine Gedanken abzuspulen. Wenn das meine Strafe ist, dann ist sie langweilig. Maven hat keine Fantasie.
In meinem Kopf sind noch immer die Stimmen, und so viele, zu viele Erinnerungen. Scharf wie Messerschneiden. Ich versuche den Schmerz zu betäuben, indem ich die langweiligen Bücher durchblättere, aber die Wörter verschwimmen mir vor den Augen und die Buchstaben ordnen sich neu an, bis ich die Namen all derer vor mir sehe, die ich zurückgelassen habe. Die Lebenden und die Toten. Und immer und überall sehe ich Shade.
Ptolemus mag meinen Bruder ja getötet haben, aber ich war diejenige, die dafür gesorgt hat, dass ihre Wege sich kreuzen. Weil ich selbstsüchtig war und geglaubt habe, ich könnte eine Art Retterin werden. Weil ich erneut jemandem vertraut habe, dem ich nicht hätte trauen dürfen, und Leben aufs Spiel gesetzt habe wie eine Kartenspielerin ihren Einsatz. Aber du hast die Insassen eines Gefängnisses befreit. Du hast so vielen Menschen die Freiheit geschenkt – und du hast Julian gerettet.
Ein schwacher Gedanke, ein noch schwächerer Trost. Denn jetzt weiß ich, was der Preis für das Gefängnis von Corros war. Und ich komme täglich zu dem Schluss, dass ich ihn, wenn ich die Wahl hätte, nicht noch einmal zahlen würde. Weder für Julian noch für hundert Neublüter. Keinen Einzigen von ihnen würde ich retten, wenn es um den Preis von Shades Leben geschähe.
Und am Ende machte es noch nicht einmal einen Unterschied. Maven hatte mich monatelang gebeten, zu ihm zurückzukehren, in jedem seiner blutbefleckten Briefe. Er hat gehofft, mich mit Leichen kaufen zu können, mit den Körpern der Toten. Aber ich wollte keinen Handel eingehen, nicht mal für tausend unschuldige Leben. Jetzt wünschte ich, ich hätte getan, worum er mich damals gebeten hat. Bevor er auf die Idee kam, mir die zu nehmen, die mir besonders wichtig sind, weil er wusste, dass ich alles tun würde, um sie zu retten. Weil er wusste, dass Cal, Kilorn und meine Familie der einzige Handel waren, auf den ich mich einlassen würde. Für ihre Leben habe ich alles gegeben.
Vermutlich weiß er, dass er nichts davon hat, wenn er mich foltert. Nicht mal mit dem Echolot, einer Maschine, mit der er meinen Blitz gegen mich selbst richten, mich Nervenstrang für Nervenstrang zerlegen kann.
Mein Schmerz bringt ihm nichts. Er war ein gelehriger Schüler seiner Mutter. Dass der junge König nun ohne seine grausame Puppenspielerin auskommen muss, dieses Wissen ist das Einzige, was mich tröstet. Während ich hier festgehalten und Tag und Nacht beobachtet werde, steht er allein an der Spitze eines Königreichs, ohne Elara Merandus, die ihm die Hand führt und den Rücken freihält.
Es ist einen Monat her, dass ich frische Luft geatmet habe, und fast genauso lang, dass ich etwas anderes sehen konnte als das Innere meines Zimmers und das bisschen von draußen, das mein schmales Fenster zulässt.
Das Fenster geht auf einen Hofgarten hinaus, in dem zum Ende des Herbsts alles vollkommen abgestorben ist. Die Bäume darin werden von Grünfingern in Form gebracht. Wenn sie Blätter tragen, sehen sie bestimmt prächtig aus, mit üppigen Kronen voller Blüten und hübsch gewundenen Ästen. Aber so kahl krümmen die knorrigen Eichen, Ulmen und Buchen sich wie Krallen; ihre trockenen, toten Finger reiben wie Knochen aneinander. Der Hofgarten ist verlassen, vergessen. Wie ich.
Nein, knurre ich leise.
Die anderen werden kommen, um mich zu holen.
Ich wage es zu hoffen. Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, schlägt mein Herz höher, weil ich eine Sekunde lang erwarte, Cal oder Kilorn oder Farley zu sehen, vielleicht auch Nanny in der Maske eines anderen Menschen. Oder gar den Oberst. Jetzt würde der Anblick seines blutunterlaufenen Auges mich zum Weinen bringen. Aber es kommt niemand. Niemand kommt, um mich zu holen.
Es ist grausam, der Hoffnung Raum zu geben, wo keine Hoffnung sein sollte.
Und Maven weiß das.
Als am einunddreißigsten Tag die Sonne untergeht, begreife ich, was er vorhat.
Er will, dass ich hier verrotte. Verkümmere. Vergessen werde.
Draußen in dem Knochenhof treiben frühe Schneeflocken umher, die aus einem stahlgrauen Himmel fallen. Die Scheibe fühlt sich kalt an unter meiner Berührung, aber sie friert nicht zu, weigert sich, den Erwartungen zu entsprechen.
Genau das werde ich auch tun.
Der Schnee liegt unberührt im Morgenlicht, ein weißer Glanz über noch kahleren Bäumen. Bis zum Nachmittag wird er geschmolzen sein. Nach meiner Zählung ist heute der 11. Dezember. Eine kalte, graue, tote Zeit zwischen Herbst und Winter. Die richtigen Schneestürme werden erst nächsten Monat einsetzen.
Zu Hause sind wir immer von der Terrasse in die Schneeverwehungen gehüpft, selbst nachdem Bree sich ein Bein gebrochen hatte, weil er auf einem unter dem Schnee verborgenen Stapel Brennholz gelandet war. Die Behandlung hat ein ganzes Monatsgehalt von Gisa gekostet und die meisten Dinge, die der angebliche Arzt brauchte, musste ich stehlen. Das war in dem Winter, bevor Bree eingezogen wurde, das letzte Mal, dass unsere Familie vollständig beisammen war. Das letzte Mal. Für alle Zeiten. Wir werden nie wieder komplett sein.
Ma und Pa sind bei der Garde. Gisa und meine lebenden Brüder ebenfalls. Sie sind in Sicherheit. Sie sind in Sicherheit. Sie sind in Sicherheit. Ich wiederhole die Worte, wie ich es jeden Morgen tue. Sie beruhigen mich, auch wenn sie vielleicht nicht der Wahrheit entsprechen.
Langsam schiebe ich meinen Frühstücksteller von mir weg. Die inzwischen vertraute Zusammenstellung von süßem Haferbrei, Obst und Toast kann mich nicht trösten.
»Fertig«, sage ich aus Gewohnheit, obwohl ich weiß, dass niemand antworten wird.
Kätzchen ist schon neben mir und schaut verächtlich auf den noch halb vollen Teller. Dann nimmt sie ihn, wie man ein Insekt anfassen würde, und hält ihn auf Armeslänge von sich weg, während sie ihn zur Tür trägt. Ich hebe schnell den Kopf in der Hoffnung, einen kurzen Blick in den Vorraum meines Zimmers zu erhaschen. Er ist, wie immer, menschenleer, und mein Mut sinkt. Kätzchen lässt den Teller laut krachend auf den Boden knallen. Dass er dabei zu Bruch gehen könnte, kümmert sie nicht. Es wird schon irgendein Diener kommen und alles sauber machen. Die Tür schließt sich hinter ihr, und Kätzchen kehrt auf ihren Platz zurück. Trio sitzt mit verschränkten Armen auf dem anderen Stuhl und starrt auf meinen Torso. Ich kann sowohl ihre als auch seine Fähigkeit spüren. Es fühlt sich an wie eine zu fest um mich gewickelte Decke, die mich von meinem Blitz trennt und ihn an einem Ort verborgen hält, an den ich nicht mal ansatzweise heranreiche. Ich möchte mir am liebsten die Haut abziehen.
Ich hasse es. Ich hasse es.
Ich. Hasse. Es.
Klirr!
Ich werfe mein Glas an die Wand gegenüber, wo es an der schrecklichen grauen Tapete zerschellt. Wasser verspritzt. Meine Wärter verziehen keine Miene. Ich mache das häufig.
Aber es hilft. Eine Minute lang. Vielleicht.
Ich absolviere das übliche Programm, das ich während des vergangenen Monats in Gefangenschaft entwickelt habe. Aufwachen. Und es sofort bereuen. Frühstück bekommen. Und den Appetit verlieren. Das Essen wegbringen lassen. Und es sofort bereuen. Das Wasserglas durch die Gegend werfen. Und es sofort bereuen. Die Bettwäsche abziehen. Vielleicht die Laken zerreißen, manchmal laut schreiend. Und es sofort bereuen. Versuchsweise ein Buch lesen. Aus dem Fenster starren. Aus dem Fenster starren. Aus dem Fenster starren. Das Mittagessen kommen lassen. Und das Gleiche von vorn.
Ich bin ein sehr beschäftigtes junges Mädchen.
Junge Frau sollte ich wohl sagen.
Achtzehn ist die willkürliche Trennung zwischen Kindheit und Erwachsensein. Und ich bin vor einigen Wochen achtzehn geworden. Am 17. November. Nicht, dass es irgendwer gewusst oder bemerkt hätte. Ich bezweifle, dass es die Arvens interessiert, dass ihr Schützling jetzt ein Jahr älter ist. Nur einen einzigen Menschen in diesem Palast könnte es interessieren. Aber auch er hat mich, zu meiner Erleichterung, nicht besucht. Das ist das einzig Gute an meiner Gefangenschaft: Solange ich hier festgehalten werde, umgeben von den schlimmsten Menschen, die ich je kennenlernen werde, bleibt mir seine Gesellschaft erspart.
Bis heute.
Die absolute Stille um mich herum zerreißt schlagartig, aber nicht durch eine Explosion, sondern durch ein Klicken. Das vertraute Klicken, mit dem sich das Schloss an meiner Tür öffnet. Außerplanmäßig, unbefugt. Mein Kopf schnellt herum, so wie die Gesichter der Stiller, die vor Schreck unkonzentriert werden. Durch meine Adern strömt, befeuert durch mein plötzlich rasendes Herz, Adrenalin. Im Bruchteil einer Sekunde keimt wieder Hoffnung in mir auf. Ich träume davon, wer da auf der anderen Seite der Tür sein könnte.
Meine Brüder. Farley. Kilorn.
Cal.
Ich möchte, dass es Cal ist. Ich möchte, dass sein Feuer diese Räume und alle diese Leute vernichtet.
Aber ich kenne den Mann nicht, der nun mein Gefängnis betritt. Seine Kleidung ist mir vertraut – schwarze Uniform, silberne Verzierungen. Ein Wachmann, namenlos und unwichtig. Er tritt über die Schwelle und hält die Tür mit dem Rücken auf. Weitere, die aussehen wie er, haben sich davor versammelt, verdunkeln das Vorzimmer mit ihrer Anwesenheit.
Die Arvens springen auf. Sie sind genauso überrascht wie ich.
»Was soll das?«, zischt Trio. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich seine Stimme höre.
Kätzchen tut das, worauf sie trainiert ist: Sie stellt sich zwischen mich und den Offizier. Eine geballte, von Angst und Verwirrung genährte Welle ihrer Stiller-Fähigkeit bricht über mich herein, legt sich über den kleinen Rest, der mir von meiner Kraft geblieben ist. Ich bleibe wie angewurzelt auf meinem Stuhl sitzen, da ich nicht vor anderen umfallen will.
Der Wachmann sagt nichts, starrt einfach nur zu Boden. Wartet.
Dann betritt sie das Zimmer, in einem Kleid aus Nadeln, die silbernen Haare sorgfältig frisiert. Edelsteine sind hineingeflochten, passend zu der Krone, die zu tragen sie kaum erwarten kann. Ich erschaudere bei ihrem Anblick; sie ist perfekt, kalt und elegant – in ihrer ganzen Haltung bereits die Königin, die sie einmal werden wird. Denn sie ist es noch nicht. Das kann ich sehen.
»Evangelina«, murmele ich und versuche, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, das sowohl von Angst als auch von mangelnder Benutzung herrührt. Ihre schwarzen Augen brennen sich sanft wie eine knallende Peitsche in meinen Körper, tasten ihn ab von Kopf bis Fuß und wieder zurück, und registrieren jeden kleinen Makel, jede Schwäche. Ich weiß, dass es davon viele gibt. Schließlich landet ihr Blick auf meinem Halsband mit den Metallspitzen. Ihre Lippen kräuseln sich angewidert, aber auch gierig. Wie leicht wäre es jetzt für sie, mir die Stacheln in die Kehle zu treiben und mich ausbluten zu lassen, bis ich knochentrocken bin.
»Sie dürfen dieses Zimmer nicht betreten, Lady Samos«, sagt Kätzchen, die immer noch zwischen uns steht. Ihr Mut verblüfft mich.
Evangelinas Blick schnellt zu meiner Wärterin hin, auf ihrem Gesicht breitet sich ein höhnisches Grinsen aus. »Glauben Sie etwa, ich würde die Anordnungen des Königs, meines Verlobten, nicht befolgen?« Sie lacht kalt. »Ich bin hier, weil er es mir befohlen hat. Er hat verfügt, dass die Gefangene vorgeführt werden soll. Jetzt sofort.«
Jedes einzelne ihrer Worte trifft wie ein Stich. Plötzlich kommt mir ein Monat Gefangenschaft zu kurz vor. Ein Teil von mir möchte sich an den Tisch krallen und Evangelina zwingen, Gewalt anzuwenden, um mich aus meinem Käfig zu zerren. Aber selbst die Isolation hat meinen Stolz nicht gebrochen. Noch nicht.
Sie wird es auch niemals, ermahne ich mich. Also erhebe ich mich mit wackligen Beinen, schmerzenden Gelenken und zitternden Händen. Vor einem Monat habe ich Evangelinas Bruder mit bloßen Zähnen attackiert. Jetzt versuche ich, so viel von diesem Feuer in mir wachzurufen, wie ich nur kann, um mich aufrecht zu halten.
Kätzchen bleibt unbeirrt stehen. Sie wendet ihren Kopf Trio zu, der sie ebenfalls anschaut. »Davon wissen wir nichts. Es ist gegen die Vorschrift.«
Evangelina lacht erneut auf und zeigt dabei ihre blendend weißen Zähne. Ihr Lächeln ist schön und brutal wie eine Klinge. »Wollen Sie sich mir widersetzen, Wärterin Arven?«, fragt sie. Dabei wandern ihre Finger zu ihrem Kleid, streichen elegant durch den darauf angebrachten Wald aus Nadeln. Teile davon bleiben an ihren Händen hängen wie an einem Magneten, bis Evangelina schließlich ein Häufchen eiserner Spitzen hält. Sie legt die Finger darum und wartet geduldig, mit hochgezogener Augenbraue. Die Arvens sind nicht so dumm, ihre erdrückende Stille auf eine Samos-Tochter auszudehnen, geschweige denn auf eine zukünftige Königin.
Die beiden tauschen wortlos Blicke aus, während sie sich einig zu werden versuchen, wie sie Evangelinas Frage beantworten sollen. Trio runzelt die Stirn und macht ein wütendes Gesicht. Schließlich stößt Kätzchen einen lauten Seufzer aus und tritt zur Seite. Sie gibt nach.
»Eine Entscheidung, die ich nicht vergessen werde«, murmelt Evangelina.
Ich fühle mich schutzlos und allein, bin ihrem durchdringenden Blick vollkommen ausgeliefert, trotz der anderen Wärter und Offiziere, die zuschauen. Evangelina kennt mich, sie weiß, was ich bin und was ich kann. Ich habe sie in der Knochenarena beinahe getötet, aber sie ist weggerannt, aus Angst vor mir und meinem Blitz. Jetzt fürchtet sie sich ganz sicher nicht.
Bewusst forsch trete ich einen Schritt vor. Auf sie zu. Auf die glückliche Leere, die sie umgibt und es ihr erlaubt, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Noch ein Schritt. Der Luft der Freiheit entgegen und zu meiner Elektrizität. Werde ich sie sofort spüren? Wird sie schlagartig zu mir zurückkehren? Sie muss. Sie muss einfach.
Doch Evangelinas höhnische Miene verwandelt sich in ein Lächeln. Sie bewegt sich ebenso schnell nach hinten wie ich mich nach vorn, und ich knurre beinahe. »Nicht so schnell, Barrow.«
Das ist das erste Mal, dass sie meinen echten Namen ausgesprochen hat.
Sie zeigt auf Kätzchen und schnippt mit den Fingern. »Folgen Sie mir mit ihr.«
Wie am Tag meiner Ankunft ziehen sie mich an der Kette hinter sich her, die an meinem Halsband befestigt ist. Das andere Ende hält Kätzchen fest umklammert. Sie und Trio üben weiterhin ihre Stiller-Fähigkeit auf mich aus, was mir dröhnende Kopfschmerzen bereitet. Obwohl wir uns in einem gemächlichen Tempo bewegen, fühlt sich der lange Marsch durch den Whitefire-Palast an, als müsste ich meilenweit sprinten. Wieder sind meine Augen nicht verbunden. Sie machen sich nicht die Mühe, mir die Orientierung zu erschweren.
Je näher wir unserem Ziel kommen, je mehr Flure und Galerien wir passieren, die ich in meinem vorigen Leben frei erkundet habe, desto mehr erkenne ich wieder. Damals hatte ich nicht das Bedürfnis, sie auseinanderzuhalten. Jetzt gebe ich mir alle Mühe, den Palast in meinem Kopf zu kartografieren. Wenn ich hier je lebend rauskommen will, muss ich mich ganz sicher allein zurechtfinden. Mein Zimmer geht nach Osten und es liegt im vierten Stock; das weiß ich, weil ich die Fenster gezählt habe. Ich erinnere mich, dass Whitefire in ineinandergreifende Trakte gegliedert ist, die jeweils einen Hof umschließen wie den, den ich von meinem Zimmer aus sehe. Der Ausblick aus den hohen Bogenfenstern ändert sich mit jedem neuen Durchgang: ein begrünter Innenhof, der Cäsarplatz, das lang gezogene Trainingsgelände, auf dem Cal seine Soldaten gedrillt hat, die fernen Mauern und dahinter die wiedererrichtete Brücke von Archeon. Glücklicherweise kommen wir weder an den Gemächern vorbei, in denen ich Julians Aufzeichnungen gefunden habe, noch dort, wo ich miterleben musste, wie Cal tobte und Maven still seine Intrigen spann. Ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen der Palast in mir wachruft, obwohl ich nur wenig Zeit hier verbracht habe.
Wir passieren eine offene Fensterfront, von der aus man in westliche Richtung über die Baracken hinwegblickt, zum Capital River und zur anderen Stadthälfte jenseits davon. Die Knochenarena schmiegt sich zwischen die umgebenden Gebäude; ihre klobige Form ist mir nur allzu vertraut. Ich kenne diese Aussicht. Vor diesen Fenstern habe ich mit Cal gestanden. Ich habe ihn angelogen, denn ich wusste, dass in dieser Nacht ein Anschlag verübt werden würde. Aber ich hatte keine Ahnung, was all dies für uns beide bedeuten würde. Cal hat mir damals zugeflüstert, dass er sich wünschte, die Verhältnisse wären andere. Das wünsche ich mir auch.
Sicherlich verfolgen Kameras unseren Weg durch den Palast, auch wenn ich sie nicht mehr spüren kann. Evangelina schweigt, während wir ins Hauptgeschoss hinuntergehen. Die Sicherheitsleute begleiten uns wie ein Amselschwarm, der sich um einen Schwan aus Metall schart. Von irgendwoher dringt Musik; sie pulsiert wie ein großes, schweres Herz. Solche Musik habe ich noch nie gehört, auch nicht auf dem Ball, den ich besucht habe, oder während Cals Tanzstunden. Sie besitzt ein Eigenleben, etwas Dunkles, Verdrehtes und seltsam Einladendes. Evangelinas Schultern verspannen sich bei diesen Klängen.
Das Erdgeschoss ist merkwürdig leer. Nur einige Wachen stehen an den Durchgängen. Wachen, keine Königswächter; sie werden dort sein, wo Maven sich aufhält. Evangelina wendet sich nicht nach rechts, wie ich erwartet habe, um den Thronsaal durch die hohen bogenförmigen Türen zu betreten. Stattdessen prescht sie mit uns allen im Schlepptau weiter vor, in einen anderen Raum, den ich nur zu gut kenne.
Der Ratssaal. Ein perfekt kreisrunder Versammlungsraum aus poliertem Marmor und dunklem Holz. Sitzgelegenheiten säumen die Wände, und das Siegel von Norta, die Flammenkrone, dominiert den kunstvollen Mosaikboden. Rot, schwarz und königlich silbern, mit Zacken aus züngelnden Flammen. Ich gerate fast ins Stolpern, als ich das alles wahrnehme, und muss die Augen schließen. Kätzchen wird mich schon weiterzerren, da habe ich keinen Zweifel. Und ich lasse mich gern ziehen, wenn das bedeutet, dass ich von diesem Raum nichts weiter sehen muss. Walsh ist hier gestorben. Ihr Gesicht blitzt hinter meinen Augenlidern auf. Sie wurde gejagt wie ein Kaninchen. Und die Wölfe haben sie geschnappt – Evangelina, Ptolemus, Cal. Sie haben sie in den Tunneln unterhalb von Archeon geschnappt, wo sie Befehle der Scharlachroten Garde ausführte. Sie haben sie gefunden, hierhergeschleift und vor Königin Elara gezerrt, die sie verhören wollte. Aber dazu kam es nie. Weil Walsh sich selbst das Leben genommen hat. Sie hat vor unser aller Augen eine tödliche Pille geschluckt, um die Geheimnisse der Scharlachroten Garde zu schützen. Um mich zu schützen.
Als die Musik auf das Dreifache anschwillt, schlage ich die Augen wieder auf.
Der Ratssaal ist verschwunden, aber was ich jetzt vor mir sehe, ist auf eine Art noch schlimmer.
MARE
Musik tanzt durch die Luft, aber auch der unangenehm süßliche Geruch von Alkohol durchdringt jeden Zentimeter des prächtigen Thronsaals. Wir treten hinaus auf einen erhöhten Absatz, der eine umfassende Aussicht auf die laute Feier gewährt – und uns einige ruhige, unbemerkte Augenblicke erlaubt.
Mein Blick schnellt hin und her, nervös und vorsichtig sucht er jedes Gesicht und jeden Schatten ab, nach einer Gelegenheit, nach Gefahr. Unter dem Licht von einem Dutzend Kronleuchtern schillern Seide, Edelsteine und schöne Rüstungen und bilden eine diffuse Menge, die auf dem Marmorboden hin und her wogt und sich dreht. Nach einem Monat in Gefangenschaft überfordert dieser Anblick meine Sinne, aber ausgehungert wie ich bin, sauge ich ihn gierig in mich auf. So viele Farben, so viele Stimmen, so vertraute Adlige. Bislang nehmen sie keinerlei Notiz von mir. Sie schauen sich nicht um. Sie sind ganz aufeinander konzentriert, auf ihre Weinkelche und die bunten Getränke, auf den schnellen Rhythmus der Musik, den wohlriechenden Rauch in der Luft. Hier wird etwas gefeiert, wild gefeiert, nur was, erschließt sich mir nicht.
Aber natürlich rasen meine Gedanken. Haben sie einen erneuten Sieg errungen? Gegen Cal, gegen die Scharlachrote Garde? Oder feiern sie immer noch meine Gefangennahme?
Ein Blick auf Evangelina ist Antwort genug. Ich habe sie noch nie so zornig gesehen, nicht mal, wenn sie mich im Visier hatte. Ihr katzenartiges höhnisches Grinsen wird hässlich; ihr Gesicht ist von unvorstellbarer Wut gezeichnet. Ihr Blick verfinstert sich, während er über die Menge gleitet. Ihre Augen sind wie eine schwarze Leere, sie verschlingen diese Menschen, die zu ihresgleichen gehören und in einem Zustand der Verzückung schwelgen.
Oder Ignoranz, wird mir klar.
Auf einen unsichtbaren Befehl hin löst sich ein Schwarm von roten Dienern von der gegenüberliegenden Wand und bewegt sich in geübter Formation durch den Raum. Alle tragen Tabletts voller kristallener Kelchgläser mit Flüssigkeiten wie rubinrotes, goldenes und diamantenes Sternenlicht. Als sie das andere Ende des Saals erreicht haben, sind ihre Tabletts leer und werden rasch neu bestückt. Ein weiterer Gang durch den Raum, und die Tabletts sind wieder leer. Wie diese Silbernen es noch schaffen, sich aufrecht zu halten, ist mir schleierhaft. Aber während sie ihre Gläser umklammern, feiern, reden und tanzen sie einfach weiter. Einige von ihnen ziehen an seltsamen Pfeifen und blasen merkwürdig bunten Rauch in die Luft. Er riecht nicht nach dem Tabak, den viele von den Älteren in Stilts so eifersüchtig gehütet haben. Ich beobachte neidisch die Funken in ihren Pfeifen; jeder einzelne ist ein heller, schmerzhafter Nadelstich.
Schlimmer noch ist der Anblick der Diener, der Roten. Es tut weh, sie zu sehen. Was würde ich dafür geben, mit ihnen tauschen zu können. Einfach nur eine Dienerin zu sein und keine Gefangene. Dummkopf, schelte ich mich selbst. Sie sind ebenso angekettet wie du. Wie deine ganze Rasse. Gefangen unter der Knute der Silbernen, auch wenn einige von ihnen mehr Raum zum Atmen haben.
Seinetwegen.
Evangelina schreitet hinunter, und die Arvens zwingen mich, ihr zu folgen. Die Treppe führt direkt zu dem Podium, einer Plattform, die hoch genug aufragt, um ihre große Wichtigkeit zu unterstreichen. Natürlich stehen ein Dutzend Königswächter darauf, maskiert und bewaffnet und absolut furchterregend.
Ich erwarte, die beiden Throne zu erblicken, die ich in Erinnerung habe. Flammen aus Diamantglas für den des Königs, Saphire und poliertes Weißgold für den der Königin. Stattdessen sitzt Maven auf derselben Art von Thron, von dem er sich vor einem Monat erhoben hat, als er mich vor aller Welt angekettet zur Schau gestellt hat.
Keine Juwelen, keine kostbaren Edelmetalle. Nur kantige Platten aus grauem, mit etwas Glänzendem vermischtem Stein, bar aller Insignien. Er sieht kalt aus und unbequem und schrecklich schwer. Und er lässt Maven wie ein Kind erscheinen, jünger und schmaler denn je. Mächtig zu wirken, heißt Macht zu besitzen. Das ist eine Lektion, die ich von Elara gelernt habe; Maven jedoch offenbar nicht. Er wirkt wie der Junge, der er ist, und blass in seiner schwarzen Uniform. Die einzigen Farben an ihm sind das blutrote Futter seines Umhangs, das Silber der zahlreichen Orden und das kalte Blau seiner Augen.
König Maven aus dem Haus Calore sucht in der Sekunde meinen Blick, in der er weiß, dass ich hier bin.
Der Moment vergeht nicht, hängt an einem Faden in der Zeit. Zwischen uns gähnt eine Schlucht von Ablenkungen, die gefüllt ist mit Unmengen von Lärm und elegantem Chaos, aber der Raum könnte genauso gut leer sein.
Ich frage mich, ob er meine Veränderung bemerkt. Mein Unwohlsein, den Schmerz, die Qual, die ich in meinem stillen Gefängnis erleide. Es muss ihm auffallen. Sein Blick gleitet über meine deutlich hervortretenden Wangenknochen, mein Halsband und das weiße Kleid, in das sie mich immer zwängen. Diesmal habe ich keine blutigen Stellen, aber ich wünschte, ich hätte sie. Um allen zu zeigen, was ich bin, was ich schon immer war. Rot. Verwundet. Aber lebendig. Wie ich es schon einmal vor dem versammelten Hof getan habe, und erst wenige Minuten zuvor auch bei Evangelina, richte ich mich kerzengerade auf und lege so viel Kraft und Anklage in meinen Blick, wie ich kann. Ich betrachte ihn, suche nach den verräterischen Anzeichen, die nur ich sehen kann. Schatten um die Augen, zuckende Hände, eine so starre Haltung, dass seine Wirbelsäule jeden Moment durchbrechen könnte.
Du bist ein Mörder, Maven Calore, ein Feigling und ein Schwächling.
Es funktioniert. Er reißt seine Augen von mir los und springt auf, klammert sich aber mit beiden Händen an die Armlehnen seines Throns. Sein Zorn entlädt sich wie ein Hammerschlag.
»Erklären Sie mir das, Wärter Arven!«, schreit er den mir am nächsten stehenden Gefängnisaufseher an.
Trio zuckt zusammen.
Mavens Ausbruch beendet die Musik, den Tanz und das Trinkgelage in der Spanne eines Herzschlags.
»S-Sir –«, stottert Trio und greift mit seiner behandschuhten Hand nach meinem Arm. Aus ihr sickert so viel Stille in mich hinein, dass mein Puls sich verlangsamt. Er sucht nach einer Erklärung, die ihn und die zukünftige Königin aus der Schusslinie nimmt, doch ihm fällt nichts ein.
Meine Kette zittert in der Hand von Kätzchen, doch ihr Griff lockert sich nicht.
Nur Evangelina zeigt sich völlig unbeeindruckt vom Zorn des Königs. Sie hat diese Reaktion erwartet.
Er hat ihr gar nicht befohlen, mich hierherzubringen. Es gab überhaupt keine Anordnung.
Maven ist kein Dummkopf. Er beendet Trios Gestammel, indem er abwinkt. »Ihr schwacher Versuch ist Antwort genug«, sagt er. »Und was haben Sie zu sagen, Evangelina?«
Ihr Vater steht hoch aufragend in der Menge und beobachtet sie mit großen Augen und strengem Blick. Ein anderer könnte meinen, er hätte Angst, doch ich glaube nicht, dass Volo Samos zu Gefühlsregungen fähig ist. Er streicht sich einfach über den spitzen Silberbart, sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Ptolemus ist weniger talentiert darin, seine Gedanken zu verbergen. Er steht mit den Königswächtern auf dem Podest, der Einzige ohne feuerroten Umhang und Maske. Obwohl er vollkommen still steht, fliegt sein Blick zwischen dem König und seiner Schwester hin und her, während er langsam eine Hand zur Faust ballt. Gut. Er hat Angst um sie, wie ich Angst um meinen Bruder hatte. Er soll sie leiden sehen, so wie ich Shade beim Sterben zusehen musste.
Denn was kann Maven jetzt anderes tun? Evangelina hat sich mit voller Absicht über seine Befehle hinweggesetzt und damit auch den größeren Spielraum überschritten, den sie als seine Verlobte hat. Wenn ich etwas weiß, dann dies: Wer den König verärgert, wird bestraft. Und dass der Affront auch noch hier geschieht, vor versammeltem Hof? Nicht auszuschließen, dass er sie gleich an Ort und Stelle hinrichtet.
Falls Evangelina auch glaubt, dass ihr Leben auf dem Spiel steht, lässt sie sich nichts anmerken. Ihre Stimme schwankt an keiner Stelle, als sie erwidert: »Ihr habt angeordnet, die Terroristin zu inhaftieren, sie wegzuschließen wie eine unbrauchbare Weinflasche. Auch nach einem Monat hat die Ratsversammlung keine Einigung darüber erzielt, was mit ihr geschehen soll. Sie hat viele Verbrechen begangen, für die sie ein Dutzend Mal den Tod verdient hätte oder tausendmal lebenslänglich in unseren schlimmsten Gefängnissen. Seit ihrer Entdeckung hat sie Hunderte von Euren Untergebenen umgebracht oder zu Krüppeln gemacht, Eure eigenen Eltern eingeschlossen. Und trotzdem verbringt sie ihre Zeit in einem gemütlichen Schlafgemach, wo sie isst und atmet – und einfach so weiterlebt, ohne die Strafe, die sie verdient.«
Maven ist seiner Mutter Sohn; er hält die Fassade seinem Hof gegenüber beinahe perfekt aufrecht. Evangelinas Worte scheinen ihn nicht im Geringsten zu beirren.
»Die Strafe, die sie verdient«, wiederholt er. Dann blickt er mit erhobenem Kinn durch den Saal. »Und darum bringen Sie sie hierher? Sind meine Partys denn wirklich so schlecht?«
Eine Woge des Gelächters, sowohl ehrliches als auch gezwungenes, rollt durch die gespannt lauschende Menge. Die meisten der Anwesenden sind betrunken, aber es gibt noch genug, die klar genug denken können, um zu begreifen, was hier gerade passiert. Was Evangelina getan hat.