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Marie schwebt auf Wolke 7, als sie einen Job im Laden Traumzeit ergattert. Traumhaft ist vor allem auch der Ire Dylan, den sie dort kennen lernt. Dann geschehen plötzlich viele magische Dinge, die Marie sich nicht erklären kann. Die mysteriöse Nives spinnt ihre Schicksalsfäden und im Leben von Marie und ihrer Stiefschwester Lykke ist bald nichts mehr, wie es einmal war.
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Seitenzahl: 309
Die Autorin
Gabriella EngelmannDie gebürtige Münchnerin entdeckte in Hamburg ihre Freudeam Schreiben. Nach Tätigkeiten als Buchhändlerin,Lektorin und Verlagsleiterin genießt sie die Freiheit des Daseins alsAutorin von Erwachsenenromanen sowie Kinder- und Jugendbüchern.Märchen stand sie bisher eher skeptisch gegenüber –was sich seit »Weiß wie Schnee – Rot wie Blut – Grün vor Neid«schlagartig geändert hat.»Goldmarie auf Wolke 7« ist ihr fünfter Jugendroman im Arena Verlag.
Titel
Gabriella Engelmann
Goldmarieauf Wolke 7
Eine himmlische Liebesgeschichte
Widmung
Für meine Schwester Elisabeth
Impressum
Quellenhinweis:Busch, Wilhelm »Im Herbst«, in: Hochhuth, Rolf (Hrsg.):Wilhelm Busch, Sämtliche Werke und eine Auswahlder Skizzen und Gemälde in zwei Bänden. Bd. 2: Was beliebt, istauch erlaubt. Bertelsmann Lesering Gütersloh, 1960. Wikipedia.de: »Andreasnacht«, in:Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Stand: 24.05.2012»Can’t Fight the Moonlight« von Diane Warren,Trevor Horn, LeAnn Rimes. (2000 Courtesy of Curb Records, Inc.).Alle Rechte vorbehaltenErste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenEinbandgestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80246-6www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de
Personenregister:
Marie Goldt: fast 17 Jahre, Tochter des früh verstorbenen Gitarristen Claas. Maries Mutter Roxy hat ihre Familie verlassen, als Marie drei war, um sich »selbst zu finden«, und ist seitdem spurlos verschwunden. Marie hat meistens eine kalte Nase und fällt häufiger mal in Ohnmacht.
Lykke Pechstein: fast18 Jahre, Tochter von Kathrin Pechstein. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Der Name Lykke bedeutet im Althochdeutschen »Die Glückliche«. Aber Lykke selbst sieht das ganz anders. Sie glaubt: »Pech wickelt Glück ein.«
Kathrin Pechstein: Mutter vonLykke. Musikpromoterin aus Leidenschaft, die es nicht leicht mit Marie und ihrer leiblichen Tochter hat. Die ungleichen Stiefschwestern streiten sich entweder oder tun so, als gäbe es die andere gar nicht.
Julia von Menkwitz: Maries beste Freundin. Lebt im noblen Stadtteil Blankenese, den sie aber für total spießig hält. Marie wiederum liebt die »heile Familie«, in der Julia lebt. Ihre Mutter Gesa arbeitet halbtags im Büro ihres Mannes Jan, der erfolgreich einen Catering-Service betreibt. Julia liebt rote Stiefel und Flamenco.
Finja von Menkwitz: 4 Jahre, genannt Finchen, hält sich selbst für eine Märchenprinzessin. Lieblingsfilm: »Rapunzel neu verföhnt«. Lieblingsspiel: Erbsen und Linsen sortieren.
Elric von Menkwitz: 12 Jahre, isst lieber »echte« Frikadellen als Veggie-Burger und lästert gern über die Absätze von Julias Stiefeln. (»Gab’s die nicht noch ein bisschenhöher?«)
Ludmilla Drach: Besitzerin einerKette vonBillig-Biobäckereien in Hamburg mit Hauptsitz auf der Reeperbahn. Die gebogenen Fingernägel und vom Rauchen gelb gefärbten Zähne jagen Marie Angst ein.
Nives Hulda: die Spezialistin für das Thema Schlafen. In ihrem Laden Traumzeit können sich Kunden in Sachen Matratzen, Decken, Lattenroste etc. beraten lassen. Außerdem bietet sie esoterische Dienste an: Auf Wunsch ermittelt sie mithilfe von Pendel & Co. die Ursachen für Schlafstörungen und therapiert sie. Nives bedeutet auf ItalienischWeißwie Schnee.
Honeypie: isst gern Früchtekuchen und liebt es, ab und zu auszubüxen. Mit Folgen, die das Schicksal vieler Menschen beeinflussen.
Niki: optisch der Typ Mimi Westernhagen. Seelisch: Abteilung nett, aber mit Sockenschuss. Neigt dazu, sich die falschen Männer zu angeln und ihren Gefühlen allzu freien Lauf zu lassen. Schöpferin des Begriffs »Biberwäsche-Muttis«.
Delia: eilt herbei, als Nives ihre Hilfe dringend benötigt. Träumt von einer Liebe, die unmöglich ist, und hat stets eine Prise Niespulver in ihrer Tasche.
Sören Dannemann: der Gesundheitsflüsterer. Kann prima hinter Fassaden blicken und Schlittschuh laufen. Tut – wenn Not am Mann ist – sogar illegale Dinge, immer mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Dylan O’Noonan: irischer Dreamboy – wild und gefährlich. Kann keinen losen Reis kochen, dafür aber viele andere Dinge. Nennt sich Schlaflos in Hamburg. Seine Augen haben die Farbe von goldenem Honig.
Dr. Willibald Hahn: Der Jugendtherapeut sieht aus wie Piet Klocke und trägt mit Vorliebe wild gemusterte Fliegen. Hat einen gigantischen Schatz an Zitaten parat und besitzt einen silbernen Samowar.
Jorinde Machandel: nennt Marie ihren Goldschatz und nascht für ihr Leben gern. Dass ihre Röcke um die Hüfte spannen, stört sie wenig. Hält immer eine Packung Taschentücher bereit und drückt jeden an ihre mütterliche Brust, der gerade Liebe und Fürsorge benötigt.
Prolog
Die Feenkönigin bürstete das schlohweiße Haar, welches ihr bis zu den Hüften reichte, sodass der Kamm begann, Funken zu sprühen. Nachdem sie ihre Lippen mit einem korallroten Stift nachgezogen hatte, ging sie zum Brunnen und blinzelte einen Moment in die untergehende Sonne, deren Strahlen wie Blitze auf dem ansonsten dunklen Wasser tanzten. Ihre schmalen Füße steckten in roten Schnürstiefeln, die sie auf einem goldenen Fußbänkchen abgestellt hatte, um bequemer auf dem schon bröckeligen Mauerwerk sitzen zu können.
Dann formten ihre Lippen die Worte
Goldene Stühle, Rosenstöcke,Frauenkäfer und woll’ne Röcke.Tragt mich in den Brunnen, tief.Bestäubt den Schleier, nehmt mich mit.
Wie immer dauerte es eine Weile, bis der Zauberspruch wirkte …
Kurze Zeit später putzte sie sich in Gestalt einer weißen Taube das Gefieder, gurrte eine kleine Melodie - und verschwand schließlich aufgeregt flatternd in der Tiefe des Brunnens, auf dem Weg zur Anderswelt.
Am Ende dieser magischen Reise ging erneut eine seltsame Verwandlung vor sich: Das glänzende Gefieder wich einem silbern schimmernden Kleid, seine Vogelkrallen wurden von purpurfarbenen Schnürstiefeln umhüllt, der feste Schnabel verwandelte sich in samtig rote Lippen.
Die Feenkönigin legte den über alles geliebten schwarz-weiß gemusterten Schal um die Schultern und schaute sich um. Vor ihr lag eine Blumenwiese, wie sie schöner nicht hätte sein können. Vögel zwitscherten, Insekten surrten und Marienkäfer krabbelten über sattgrünes Blattwerk.
Die Fee ließ ihren königlichen Blick über Bergkämme, Talmulden, sanft plätschernde Bächlein, Waldlichtungen und stolze Baumkronen schweifen, bis hin zu dem Berg im Tessin, von wo sie stammte.
»Ich grüße euch, meine Lieblinge«, murmelte sie, raffte die Röcke und begann ihren täglichen Spaziergang. In der Hand hielt sie das goldene Bänkchen, das ihr wertvolle Hilfe leistete, wenn sie müde wurde. Wo auch immer ihre Füße den Boden berührten, wurde das Gras grüner, entfalteten die Blumen größere und schönere Blüten. An den Bäumen reiften Früchte, die nur darauf warteten, sie mit ihrer saftigen Süße zu verwöhnen. Schneefelder schmolzen, wenn der Schnürstiefel auf Eiskristalle traf, scharfer Nordwind wich im Handumdrehen einer milden Brise, die das Bukett von wilden Rosen mit sich trug. Die Königin pflückte einen rot glänzenden Apfel, und biss voller Genuss hinein. Angelockt vom Duft frisch gebackenen Brotes ging sie schließlich weiter und grüßte die Holden, bezaubernde Priesterinnen, die dafür sorgten, dass es den Menschen auf der Erde an nichts fehlte. Wenn zum Beispiel irgendwo auf der Welt Regen benötigt wurde, dann wuschen sie Wäsche – und die Menschen sagten: »Seht nur, heute hat Frau Holle Waschtag!«
Wenn die Kinder voller Sehnsucht auf Weihnachten warteten und darauf, endlich einen Schneemann bauen zu können, befahl die Königin den Holden, die Betten kräftig aufzuschütteln, damit es auf der Erde schneie.
Nur eines tat sie ausschließlich selbst – denn das war der größte Schatz, den sie zu geben hatte: Wenn die Menschen sich nach einem langen, harten Winter nach Wärme und Licht sehnten, öffnete die Feenkönigin mithilfe ihres schmiedeeisernen Schlüssels höchstpersönlich das Wolkentor und ließ die Sonne hinaus in die Welt. Dann sangen die Menschen wunderbare Lieder, lachten und tanzten und riefen trunken von Glückseligkeit: »Die Sonne scheint! Frau Holle trocknet heute ihre Wäsche …«
1. Marie Goldt
(Montag, 7. November 2011)
»Kommst du nach der Schule noch mit zu mir?«, fragte Julia, während ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe auseinanderfriemelte und mich ärgerte.
Sport gehörte ebenso wenig zu meinen Talenten wie Tontaubenschießen oder Bungeejumping – und war mindestens genauso widerlich! Gerade hatte ich wie ein schlaffer Mehlsack am unteren Drittel des Taus gehangen, unfähig, mich auch nur einen Millimeter weiter nach oben zu hangeln. »Geht heute leider nicht, muss doch arbeiten«, antwortete ich und stopfte die Schuhe in meinen Rucksack. »Ach stimmt, heute ist ja Montag!« Julia tippte sich mit einem ihrer langen, zartgliedrigen Finger gegen die Stirn. Wie immer bewunderte ich ihre perfekt manikürten Nägel, die sie in einem hellen Rosé-Ton lackiert hatte. »Ich bin nach diesem super Wochenende noch so auf Autopilot, dass ich heute irgendwie gar nichts auf die Reihe kriege.«
»Am Seil sah das aber gerade ganz anders aus. Meine Bewunderung für deine sportlichen Fähigkeiten kennt keine Grenzen«, grinste ich und stand auf. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich zu spät zu meiner Schicht kommen. »Sollte es mit meiner Karriere als Anwältin nicht klappen, kann ich es immer noch mit Pole Dance versuchen«, lachte Julia und schnappte sich ebenfalls ihre Sachen. Im Gegensatz zu mir verstaute sie die in einem rosa-lila karierten Teil der Marke Billabong, weil bei Familie von Menkwitz das Surfen als Freizeitbeschäftigung gerade ganz hoch im Kurs war. Seite an Seite trabten wir über den Schulhof zu unseren Rädern, die nebeneinanderstanden. »Hast du Lust, heute Abend vorbeizukommen? Ma kocht ihre berühmte Kürbis-Ingwer-Suppe und danach gibt’s Dampfnudeln mit Vanillesoße.« Ich überlegte. Die Bäckerei schloss um sieben. Doch selbst wenn ich mich beeilte, würde ich nicht vor halb acht bei Julia sein können.
»Tut mir leid, ich würde euch wirklich gern besuchen. Aber ich muss nachher unbedingt noch was für Latein machen. Ein anderes Mal, okay?« Julia zog einen Flunsch. »Finchen wird enttäuscht sein, sie hat dich schon so lange nicht mehr gesehen. Und Mama hat auch schon gefragt, ob wir uns gestritten haben.«
Ein feiner Stich fuhr mir ins Herz. Im Gegensatz zu meiner Mutter interessierte sich Gesa von Menkwitz für ihre Tochter und somit auch für deren Freundinnen. Aber sie war ja auch Julias leibliche Mama, was bei Kathrin nicht der Fall war.
Sie war nur meine Stiefmutter. Von meiner »echten« fehlte, seit ich drei war, jede Spur. »Gib Finchen einen Kuss und sag ihr, dass wir bald was zusammen unternehmen. Sorry, Jule, ich muss jetzt wirklich los, sonst flippt die Drachenlady aus.« Die Drachenlady hieß eigentlich Ludmilla Drach, sah aber so aus, als würde sie ihren Jahresurlaub vorzugsweise in Transsilvanien verbringen. Ihre spitzen, langen Eckzähne waren nicht nur unästhetisch, sondern konnten einem echt Angst machen. Dass ausgerechnet so jemand Bio-Backwaren produzierte, würde mir auf immer ein Rätsel bleiben.
Eine halbe Stunde später parkte ich mein Rad im Hinterhof der Bäckerei, in der ich jobbte, seit Kathrin mich gebeten hatte, ein bisschen was zum gemeinsamen Haushalt beizutragen. Grundsätzlich hatte ich kein Problem damit – bis zu dem Zeitpunkt, als ich herausfand, dass diese Bitte sich nicht an Lykke gerichtet hatte. Lykke war meine Stiefschwester, die leiblicheTochter von Kathrin. Und für Lykke (von Jule nur die faule Socke genannt) galten grundsätzlich andere Regeln.
Oder genauer gesagt: GAR KEINE.
»Du bist zu spät«, stieß Ludmilla zwischen ihren vom vielen Rauchen vergilbten Zähnen hervor und kräuselte die überschminkten blutroten Lippen. Anstelle einer Antwort ging ich zum Backautomaten und befüllte ihn mit Bio-Franzbrötchen, Roggenbrot, Schrippen und was sonst noch gerade fehlte.
Wie immer war ich zehn Minuten vor meiner Schicht da, wo also war das Problem?
Ludmilla streifte die Einweghandschuhe ab und nahm ihren schwarzen, verfilzten Woll-Poncho vom Garderobenhaken. Mit den Worten »Dass du mir ja keine Sekunde früher als sieben Uhr abschließt« verließ sie den Laden. Eine Wolke von schwerem Billigparfüm hing in der Luft und drohte einen kurzen Moment lang, mich zu ersticken.
»Moinsen«, schallte es da fröhlich durch den Raum und ich blickte erfreut in die blitzblauen Augen von Knud, der direkt nebenan seinen Kiosk hatte. »Na Knud, alles klar?«, fragte ich und nahm gewohnheitsmäßig seinen Becher mit dem Logo Hamburg, meine Perle entgegen. Dann stellte ich ihn unter unsere Kaffeemaschine. »Ja, alles klar. Es gibt allerdings eine kleine Planänderung: Heute nehme ich eine Zimtwecke anstelle der üblichen sechs Quarkbällchen.«
»Huch? Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich, weil Knud, seit ich hier jobbte, jeden Tag dasselbe bestellte. »Man muss sich ab und an auch mal ’n büschn Abwechslung gönnen«, antwortete er und grinste. Zumindest nahm ich das an. Der silbergraue Vollbart verdeckte seine Lippen fast komplett, sodass ich mir nicht wirklich sicher sein konnte. »Ich dachte, es sei schon Aufregung genug für dich, dass St. Pauli abgestiegen ist und jetzt in der Zweiten Liga spielt«, rutschte es mir spontan heraus. Upps! Knud war der größte Fan des Hamburger Fußballvereins, den ich kannte.
»Nu werd mal nich’ frech, du kleiner Keks«, antwortete er und drohte mit dem Zeigefinger. »Bloß weil du fast siebzehn bist, heißt das noch lange nicht, dass du mit einem alten Herrn wie mir Scherze treiben darfst. Du weißt doch, dass ich ein schwaches Herz habe.«
»Dafür aber ein sehr, sehr großes«, schmunzelte ich und reichte ihm den gefüllten Becher sowie einen Porzellanteller mit der Zimtwecke über den Tresen. Dann notierte ich routinemäßig den Betrag auf einer Liste, die an der Wand hing, denn Knud Johannson zahlte immer erst am Monatsende.
Im Gegenzug ließ auch Ludmilla ihre Zeitschriften bei ihm anschreiben. Na ja, was sie so als Zeitschrift bezeichnete. Alles, was das Wort Golden im Titel enthielt und sich mit Klatsch und Tratsch der untersten Schublade beschäftigte, war wie für sie gemacht.
Drachenfutter für die Drachenlady!
Nachdem Knud gegangen war, schaute ich eine Weile aus dem Fenster. Vor meinen Augen schlurften die üblichen Kiez-Gestalten über den Bürgersteig. Julia fand den Anblick der wilden Mischung aus Türstehern, Obdachlosen, Junkies, Punks und Touristen immer hoch spannend, weshalb sie lieber mich auf der Reeperbahn besuchte, als dass sie mich zu sich einlud. Besonders fasziniert war sie von den Mädels, die im Winter in grellbunten Skioveralls und im Sommer in tief dekolletierten Schlauchkleidern darauf warteten, liebeshungrigen Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Für mich war diese Atmosphäre genauso normal wie für Julia das alte Kapitänshaus im Blankeneser Treppenviertel, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Ebenso wie der große Mercedes-Van, das Cabriolet und, nicht zu vergessen, die regelmäßigen Ferien in Sils Maria, auf Sylt und Sardinien.
»Dass eure Freundschaft funktioniert, wo ihr doch in so unterschiedlichen Welten lebt. Also ich würde platzen vor Neid«, hatte Lykke gesagt, als Julia zum ersten Mal bei uns daheim aufgekreuzt war. Das war eines der wenigen Male gewesen, dass meine Stiefschwester mich direkt angesprochen hatte.
Aber ehrlich gesagt war es auch besser, wenn sie nicht mit mir redete! Keine Ahnung, warum, aber wir hatten von Anfang an keinen guten Draht zueinander, sehr zum Leid von Kathrin.
2. Lykke Pechstein
(Montag, 7. November 2011)
Dear Diary,
ich könnte ausrasten! Detlev Schrott, der Idiot hat behauptet, dass er es nicht glauben kann, wie schlecht ich in Deutsch bin. Er sagt, demnächst würde er mir eine Fünf ins Zeugnis setzen. Und dann erzählt er auch noch vor der ganzen Klasse, dass ich Goethe nicht von Schiller unterscheiden kann. Alle glotzen, alle kichern. Zickenhaufen! Halten sich für was Besseres, nur weil sie die ersten Strophen von der Glocke auswendig können. Als ob das in irgendeiner Form was bringen würde. Schiller, Goethe – who cares! Das hilft ihnen in ihrem Leben garantiert nicht weiter. Mist, Mum ruft. Zeit zum Abendessen. Hoffe, Marie ist bei ihrer Schicki-Freundin Julia und verschont mich heute mit ihrer Anwesenheit. Momentan bekomme ich schon einen Anfall, wenn ich nur ihre Stimme höre. Gut, dass sie sich vor langer Zeit endlich dieses dämliche Geträller als Begleitung für ihr Bratschenspiel abgewöhnt hat. Dieses blöde Gefiedel und Herzschmerzgejaule war kaum auszuhalten gewesen. Mag ja sein, dass ihr Dad ein super Typ war, aber es ist jetzt schließlich schon über vier Jahre her, dass er sich vom Acker gemacht hat. Wahrscheinlich hat er längst mit dem lieben Gott und seiner Engelsschar im Himmel eine Band gegründet. Mum benimmt sich ebenfalls so, als sei sein Tod das Ende der Welt. Ist auch ewig her, dass ich sie habe lachen sehen. Und jetzt, da sie zu allem Überfluss noch bei ihrer Firma rausgeflogen ist, ist endgültig Ende im Gelände. Oh Mann, ich wünschte ich wäre weit, weit weg … Schlaf schön, Tagebuch.
Deine unglückliche Lykke
PS: Moms Idee, mithilfe meines Vornamens meinem Nachnamen einen Strich durch die Rechnung zu machen, betrachte ich hiermit als gescheitert. Pech wickelt Glück ein.
3. Marie Goldt
(Dienstag, 8. November 2011)
Dr. Willibald HahnKinder- und JugendpsychologeAlle Kassen
Mit pochendem Herzen starrte ich auf das Praxisschild.
Meine Hände waren eiskalt, und das nicht nur wegen des beißenden Novemberwindes, der grimmig durch die Straßen der Stadt fegte. Die wenigen Passanten, die sich wie ich in diese kleine Seitenstraße in Winterhude verirrt hatten, beschleunigten mit hochgeschlagenem Mantelkragen und eingezogenen Köpfen ihre Schritte. Sie wollten so schnell wie möglich in ihr warmes Zuhause und ich konnte sie sehr gut verstehen.
Es nützt nichts, ich muss da jetzt durch!, dachte ich, straffte die Schultern und drückte mit klammen Fingern den Klingelknopf. Durch die Gegensprechanlage ertönte die metallisch scheppernde Stimme einer Frau: »Komm rauf, Kindchen, wir sind im fünften Stock. Die schlechte Nachricht ist: Wir haben keinen Fahrstuhl!« Dann ertönte der Summer.
»Na, Aufstieg gut überstanden?«, fragte eine kleine, rundliche Dame und nahm mir den Mantel ab, als ich endlich oben angekommen war. Ich kämpfte gegen das nervige Schwindelgefühl, das mich seit einiger Zeit in regelmäßigen Abständen überfiel, und schaute mich um. Auf den ersten Blick erinnerte nichts an eine Psychologen-Praxis, ganz im Gegenteil: Der Wartebereich war mit gemütlichen Korbstühlen und bunt bestickten Sitzkissen ausgestattet, wie ich sie neulich in einem Indien-Shop bewundert hatte. Über dem dunklen Dielenboden lagen flauschige Teppiche mit orientalischen Mustern, an den Wänden hingen Bilder, die Szenen aus den Märchen aus 1001 Nacht zeigten.
»So, Marie, dann gib mir mal bitte die Versicherungskarte und die Überweisung deines Hausarztes«, sagte die nette Dame, die sich als Jorinde Machandel vorstellte – ein ziemlich ungewöhnlicher Name, wie ich fand. Nachdem sie meine Daten auf einer leicht vergilbten Karteikarte notiert hatte, sah sie mich prüfend an. »Was dagegen, wenn ich dich Goldschatz nenne? Wir haben ja von nun an einmal die Woche das Vergnügen, also sollten wir es uns doch so nett wie möglich machen, oder was meinst du?«
»Wenn es Sie …« glücklich macht, wollte ich gerade sagen, besann mich dann aber doch eines Besseren, ». . . ich meine, wenn Sie das für eine gute Idee halten, gern«, erwiderte ich und musste mir ein Lächeln verkneifen. Jorinde war zwar ein wenig skurril, aber offenbar eine Seele von Mensch. Ob sie Kinder hatte?
In diesem Moment flog die Tür auf und ein hagerer, baumlanger Herr tauchte auf: »Marie Goldt, wenn ich bitten darf!« Ich schlängelte mich an Dr. Willibald Hahn vorbei und setzte mich mit klopfendem Herzen auf einen gemütlich wirkenden Sessel, der mit dunkelrotem Samt bepolstert war. Neben mir stand ein orientalischer Opiumtisch. Darauf thronten ein silberner Samowar, ein Becher – und eine Schachtel Kleenex. Die gegenüberliegende Wand war erstaunlicherweise leer, bis auf eine große Uhr. Dr. Hahn ließ sich auf den gegenüberstehenden Sessel fallen, seine Augen folgten meinem Blick. »Wie du weißt, haben wir genau eine Stunde Zeit für unsere Gespräche. Es ist gut, wenn du die Uhr im Blick behältst, damit du weißt, wann unsere gemeinsame Zeit um ist. Die Sonne kann ja schließlich nicht ewig im Mittag stehen, wie die Chinesen sagen«, erklärte er, griff nach einem Notizblock und sah mich über den Rand seiner kreisrunden Brillengläser an. »Also, liebe Marie, was führt dich zu uns?« Angesichts dieser Frage bildete sich spontan ein dicker Kloß in meinem Hals, der es mir beinahe unmöglich machte zu antworten. Das Blut sauste in meinen Ohren, vor meinen Augen blitzten grelle Sterne.
»Mein Hausarzt schickt mich zu Ihnen, weil er keine medizinische Ursache für meine gelegentlichen Ohnmachtsanfälle findet und sich nun offenbar etwas davon erhofft, wenn ich mit Ihnen spreche.« Dr. Willibald Hahn nickte, kritzelte etwas auf seinen Block und sagte zunächst einmal gar nichts. Mit dem dichten karottenroten Haarschopf, der seine großen Geheimratsecken besonders betonte, und den abstehenden Ohren erinnerte er mich an den Comedian Piet Klocke. »Wie oft fällst du denn so aus der Realität?«, fragte er.
Ich musste ziemlich entsetzt ausgesehen haben, denn Dr. Hahn schob seine Brille weiter den Nasenrücken hinauf und fügte erklärend hinzu: »Wir sagen, dass jemand, der in Ohnmacht fällt, einen Weg für sich gefunden hat, die Wirklichkeit zu verlassen, wenn sie ihm zu viel wird.« Während ich noch überlegte, wen er wohl mit wir meinte, fuhr der Therapeut auch schon fort: »Also, liebe Marie! Was bedrückt dich so sehr, dass du es vorziehst, immer mal wieder zu verschwinden, anstatt das Leben zu genießen und so fröhlich zu sein, wie wir es uns von einem jungen Mädchen wünschen?« Bevor ich antworten konnte, schossen salzige Tränen wie Sturzbäche aus meinen Augen. Stammelnd reihte ich ein paar Worte aneinander: Vater tot, Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden, Stiefmutter, Stiefschwester, zu wenig Geld und Einsamkeit. Ich verbrauchte mindestens zehn Kleenex, bis ich mich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte. Dr. Hahn betrachtete meinen Ausbruch mit einer Emotionslosigkeit, zu der ich persönlich niemals in der Lage gewesen wäre. Wenn in meiner Nähe jemand anfing zu weinen, verspürte ich – egal, ob ich denjenigen kannte oder nicht – das Bedürfnis, ihn zu trösten.
Lykke bezeichnete das immer ziemlich gehässig als Helfersyndrom oder nannte mich gleich Engel der Barmherzigkeit. Sie selbst blieb meistens ziemlich unberührt, wenn jemand traurig war. Es machte ihr auch nie etwas aus, sich zu streiten oder offen ihre Meinung zu sagen und sich über die Gefühle anderer hinwegzusetzen. Nachdem ich mich halbwegs wieder beruhigt hatte, war die Zeit tatsächlich auch schon um: »So, meine Liebe, das war für heute eine ganze Menge und ich finde, du hast das ganz toll gemacht! Ich denke, ich weiß jetzt ein bisschen was über dich. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns ab jetzt regelmäßig jeden Dienstag um sechzehn Uhr sehen. Ich weiß zwar, dass ihr in der Schule genug zu tun habt, aber ich möchte dir trotzdem eine kleine Aufgabe für den nächsten Termin geben. Ich möchte, dass du einen Brief an deinen Vater schreibst und ihm erzählst, wie es dir nach seinem Tod ergangen ist.« Fragend sah ich ihn an. Wozu das?
»Der Brief muss nicht besonders lang sein. Schreib einfach auf, was du tief in deinem Inneren fühlst. Und dann schauen wir uns das Ergebnis nächste Woche gemeinsam an, in Ordnung?« Dr. Hahn rückte seine Fliege zurecht (Ja! Er trug Anzug und Fliege!), begleitete mich nach draußen, rief »Jorinde, wir sind fertig«, drehte sich dann um und schloss hinter mir die Tür. Ein wenig benommen stand ich am Empfangstresen und musste mir schon wieder die Nase putzen. »Aber Goldschatz, du bist ja ganz blass«, rief Jorinde besorgt. »Möchtest du vielleicht einen Tee? Ich hab auch Kekse, wenn du magst.« Dr. Hahns Sprechstundenhilfe strahlte so viel Herzlichkeit und Wärme aus, dass ich nicht anders konnte, als Ja zu sagen. Und so saß ich wenige Minuten später zusammen mit ihr vor dampfend-heißem Vanille-Sahne-Tee und knabberte dazu Zimtsterne. »Ist noch ein bisschen früh für Weihnachtsgebäck, ich weiß.« Jorinde lächelte und strich sich spielerisch über den Rock, der um ihre Hüften ziemlich spannte. »Aber ich bin heute beim Bäcker darüber gestolpert und konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Wie sieht’s aus, Herzchen? Welche Plätzchen backst du denn zusammen mit deiner Mutter?« Obwohl ich gedacht hatte, es sei kein einziger Tropfen Flüssigkeit mehr in mir, begann ich, wie auf Kommando erneut zu schluchzen. Im Gegensatz zu Dr. Willibald Hahn war Jorinde Machandel feinfühlig genug, das zu tun, was das einzig Richtige in diesem Moment war: Sie drückte mich an ihre große, mütterliche Brust und wiegte mich in ihren weichen Armen wie ein kleines Kind.
4.
Die Feenkönigin sah hinunter auf die Erde und schüttelte den Kopf über all das, was sie dort erblickte: Über den großen Städten lagen die Autoabgase wie eine graue Nebelglocke. Geldgierige Banker setzten das Vermögen anderer ohne jeden Skrupel aufs Spiel. Und Politiker sorgten mit ihren Handlungen immer wieder für Krieg anstatt für Frieden. Doch dann entdeckte die Königin mitten in einer großen Stadt ein junges Mädchen, das an einer Bushaltestelle stand und den kleinen Rauhaardackel einer alten Dame streichelte. Die Feenkönigin staunte. Zwar war auf den ersten Blick an dieser Szene nichts ungewöhnliches, doch das Mädchen war von einer gold schimmernden Aura umgeben. Neugierig betrachtete sie die Gestalt genauer und blickte in die traurigsten Augen, die sie seit Langem gesehen hatte. Mit wachsamem Blick folgte die Königin der Erdenbewohnerin auf ihrem Heimweg in den Stadtteil St. Pauli, der aus ihrer Sicht nur bedingt als Wohnort für ein so junges, zartes Wesen geeignet war. Das Mädchen betrat eine Wohnung, in der offenbar noch ein anderes lebte, nur ein Jahr älter als die Goldene. Dieses andere Mädchen schien das komplette Gegenteil zu sein. Ihre Aura war dunkel gefärbt von Zorn und schlechten Gedanken. An der Stelle, an der das Sonnenmädchen ihr Herz trug, konnte die Feenkönigin bei der Tochter des Mondes nur einen schwarzen Klumpen, stinkend wie Teer entdecken. Diese beiden waren wie Feuer und Wasser, Tag und Nacht, Sonne und Mond – kein Geschwisterpaar hätte gegensätzlicher sein können.
Als die Mutter der beiden nach Hause kam und die Stimmung in der winzigen Wohnung so frostig wurde, dass die Feenkönigin zu frieren begann, beschloss sie, dass es an der Zeit war, die Erde wieder zu verlassen. Sie würde dorthin zurückkehren, wo sie in der Lage war, goldene Schicksalsfäden zu spinnen und damit die Wege mancher Menschen zu beeinflussen.
5. Marie Goldt
(Mittwoch, 9. November 2011)
»Findest du, dass uns das steht?«
Ich musste lachen, als Finchen und Julia in schwesterlichem Partnerlook vor mir standen, beide eine Wollmütze mit Tiergesicht auf dem Kopf. Julia trug die Version »Panda«, ihre vierjährige Schwester Finja dasselbe Modell, Motiv Teddybär. Ich selbst liebäugelte mit Chunky Red Heart Slippern, einer Art Hüttenschuh-Stiefel mit Kunstfellbesatz, Bommeln und roten Herzchen darauf, sowie dazu passenden Pulswärmern. »Sieht nach einem totalen Kauf-Muss aus«, grinste ich und beäugte das Preisschild der Slipper. Neunundzwanzig Euro, das war definitiv zu teuer für mich. Finja stolzierte wie ein Topmodel durch den Laden und zeigte allen Kunden, wie niedlich sie mit der Bärenmütze aussah. Dann war sie von einer Sekunde auf die andere durch die Ladentür verschwunden, um ihre Beute dem weitaus größeren Publikum auf der belebten Mönckebergstraße vorzuführen.
»Halt, hiergeblieben, junge Dame«, rief ich, packte Finchen an der knallroten Kapuze und beförderte sie wieder zurück. Mittlerweile war auch eine Verkäuferin auf uns aufmerksam geworden, weil die Alarmanlage losgegangen war, was Finja jedoch völlig unbeeindruckt ließ.
»Sie ist eine kleine Ausreißerin«, entschuldigte Julia sich und gab ihrer Schwester eine leichte Kopfnuss, was diese mit einem genervten »Menno« kommentierte. Ich versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, auch wenn ich mich innerlich über Finchen kringelig lachen musste. Sie war die geborene Schauspielerin.
»Und? Bist du jetzt gerüstet für dein Date mit André?«, wollte ich wissen, nachdem Julia die beiden Mützen bezahlt hatte und dachte, dass der neue Hottie an der Schule bescheuert sein musste, wenn er ihre Gefühle nicht endlich erwiderte. »Ich denke schon. Vorausgesetzt, dass es am Freitag nicht so warm wird wie heute«, grinste Julia siegessicher. »Sonst muss ich umdisponieren.«
Als wir unseren Lieblingsladen Accessorize verlassen hatten, schlug uns ein Schwall schwüler, abgasschwerer Luft entgegen. Der Eiswind war einem Hochdruckgebiet gewichen – ein spontaner Wetterwechsel, wie so häufig in diesem Jahr.
Ich hielt Finja an der Hand, damit sie uns nicht entwischen und vor einen der Busse laufen konnte, welche die beliebte Hamburger Einkaufsstraße mit ziemlichem Tempo rauf- und runterfuhren. Unser nächstes Ziel war das Café Vivet in der Spitalerstraße, in dem es den besten Rüblikuchen jenseits der Schweiz gab. Finja hatte eine Schwäche für die kleine Karotte aus Marzipan, die auf dem locker-luftigen Traum aus geraspelten Karotten, Haselnüssen und Aprikosenmarmelade thronte. Sie war immer erst zufrieden, wenn wir unseren Stadtbummel abschließend mit dieser Köstlichkeit krönten.
Nachdem wir bestellt hatten, ging ich zur Toilette.
Dort musste ich ein paarmal tief durchatmen, denn es nagte ein wenig an mir, dass ich im Gegensatz zu Julia so sparsam sein musste. Ludmilla zahlte mir nur fünf Euro neunzig die Stunde. Um gegen mein negatives Gefühl anzukämpfen, wusch ich mir erst mal das Gesicht mit kaltem Wasser und schaute dann in den Spiegel: Ich sah ein hübsches Gesicht mit grünen Augen, das lange, rotblond gelockte Haar zu einem dicken Zopf gebunden. Meine Nase konnte man durchaus als markant bezeichnen, eindeutig Papas Erbe. Die hohen Wangenknochen – um die Julia mich glühend beneidete -, waren allerdings ein Geschenk meiner Mutter. Als ich an die beiden dachte, wurde mir sofort schwindelig und ich klammerte mich am Rand des Waschbeckens fest. Nein, Marie, du wirst jetzt nicht ohnmächtig!, sprach ich mir Mut zu und dachte an die Aufgabe, die Dr. Hahn mir gestellt hatte: der Brief an meinen Vater.
Als ich zurück an den Tisch kam, standen nicht nur drei Stück Kuchen und drei Becher heiße Schokolade darauf, sondern auch ein Päckchen. »Was ist das denn?«, fragte ich verwirrt und setzte mich. Julia lächelte vielsagend. »Pack’s aus, pack’s aus«, rief Finja aufgeregt und pikste mit der Gabel kleine Löcher in das hübsche Papier. »Hey, lass das«, schimpfte Julia. Grinsend steckte ihre Schwester den Kopf tief in den Becher. Gespannt löste ich das goldene Kringelband und öffnete vorsichtig das Geschenk.
»Es ist zwar noch nicht Weihnachten, aber ich hoffe, du freust dich trotzdem«, sagte Julia und sah aus, als würde es sie selbst vor Aufregung gleich in tausend Stücke reißen. »Nun mach schon Marie, das Ding beißt nicht! Ist ja nicht mit anzusehen, wie lange du brauchst, um es auszuwickeln.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich die wollenen Slipper mit den roten Herzchen in der Hand hielt. »Www. . . wann hast du …?«, stotterte ich aufgeregt.
»Während du erst die Pulswärmer ausprobiert und dann mein Schwesterherz eingefangen hast«, grinste Julia und Finchen gluckste zufrieden.
»Dann war das also ein abgekartetes Spiel?«, fragte ich, während meine Finger mit den puscheligen Bommeln spielten. Finja lächelte frech und legte dabei zwei Zahnlücken frei, was so entzückend aussah, dass ich sie spontan an mich drückte und abknutschte. »Und was ist mit mir?«, empörte sich Julia, woraufhin ich sie ebenfalls umarmte. »Du bist und bleibst einfach meine beste Freundin, vollkommen unabhängig von irgendwelchen Päckchen«, raunte ich ihr ins Ohr und dachte nicht zum ersten Mal, was für ein großes Geschenk Julia war. In all den Jahren waren wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen und kannten einander in- und auswendig. Egal wie tief wir in irgendwelchem Mist steckten, Julia war immer für mich da und ich für sie.
Nachdem wir den Kuchen gegessen und unsere Shopping-Beute ausgiebig bewundert hatten, machten wir uns auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof, um nach Hause zu fahren. Wie immer stieg ich einige Stationen vor den beiden aus. »Bis bald, meine Süßen«, rief ich zum Abschied und warf Finchen einen Luftkuss durch die Scheibe zu, als die Bahn weiterfuhr. Ich freute mich jetzt schon wie verrückt auf das Plätzchenbacken mit anschließendem DVD-Marathon, mit dem wir auch dieses Jahr wieder traditionell die Weihnachtszeit einläuten würden.
Gut gelaunt schlenderte ich die Reeperbahn hinunter und kam auf dem Weg an Ludmillas Bäckerei vorbei. »Hey, Marie, da bist du ja endlich«, rief jemand und ich drehte mich um.
»Hallo Morten«, grüßte ich fröhlich. Ich mochte den Typen aus der Nachbarschaft, der irgendwas mit Web-Design zu tun hatte und in Hamburgs Kult-Kneipe, dem Lehmitz jobbte.
»Wo warst du denn? Ich dachte, du arbeitest montags, mittwochs und samstags bei Ludmilla?!«
»Nö, tu ich nicht. Mittwochs habe ich frei«, korrigierte ich ihn und schaute auf die Uhr. Gleich kam Kathrin nach Hause und ich musste noch einkaufen. »Entschuldige, ich muss los. Wir sehen uns dann morgen, oder?« Morten verzog die Mundwinkel. »Schade, dass du es immer so eilig hast. Man kann ja kaum mal in Ruhe zwei Worte mit dir wechseln.« Dann lächelte er. »Aber ich gebe nicht auf und werde wie immer mein nachmittägliches Stück Kuchen bei dir kaufen. Man sieht sich!« Und schwupps machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder zwischen den vielen Menschen, die um diese Uhrzeit den Kiez bevölkerten. Ich selbst ging in den Supermarkt und besorgte alles, was Kathrin mir heute Morgen auf die Einkaufsliste geschrieben hatte. Und das war diesmal eine Menge!
»Bin wieder zu Hause, jemand da?«, rief ich kurze Zeit später durch den Flur, nachdem ich die schweren Tüten die Treppen hochgewuchtet und stöhnend auf dem gefliesten Boden abgestellt hatte. Zu blöd, dass wir kein Auto hatten, um mal einen richtigen Großeinkauf zu machen.
Da niemand antwortete, öffnete ich die angelehnte Tür von Lykkes Zimmer. Ein Teil von mir glaubte immer noch daran, dass es irgendwann besser mit uns laufen würde, wenn ich nur weiterhin die Nerven behielt und nett zu ihr war.
Der Anblick, der sich mir bot, war derselbe wie jedes Mal: Lykke saß mit dem Rücken zu Tür an ihrem Rechner, die Füße auf dem Schreibtisch und schaute irgendwelche Videos auf YouTube. Ich schüttelte den Kopf und dachte mal wieder, dass ich depressiv werden würde, wenn ich in diesem Zimmer wohnen müsste. Nach Lykkes Ansicht war der Style vermutlich gothic. Für mich aber war es nur die beste Möglichkeit, um richtig schlechte Laune zu bekommen. Die Wände waren dunkellila gestrichen, die Vorhänge aus schwarzem Samt. Das alles passte allerdings wunderbar zu ihrem eigenen Style mit den schwarz gefärbten Haaren, Smokey Eyes und dunkelgrün lackierten künstlichen Fingernägeln.
Da sich in diesem Moment der Schlüssel im Schloss drehte, beschloss ich, besser schnell die Einkäufe in die Küche zu bringen, bevor Kathrin einen ihrer Anfälle bekam. Früher war meine Stiefmutter ganz okay gewesen, aber in den letzten Jahren war sie zu einem launischen Nervenbündel mutiert, was das Zusammenleben mit ihr nicht gerade leicht machte. Nachdem Papa gestorben war und sie nicht nur die Verantwortung für Lykke, sondern auch für mich übernehmen musste, hatte sie jetzt auch noch ihren festen Job als Musikpromoterin verloren. Das alles hatte ihr sichtlich zugesetzt. Aus der hübschen, lebenslustigen Person mit den kurzen dunklen Locken, blitzenden Augen und den vielen Sommersprossen war eine ziemlich verbitterte Frau geworden. Es gab Tage, an denen ich sie am liebsten erwürgt hätte, und Tage, an denen sie mir einfach nur leidtat.
»Hallo Kathrin«, begrüßte ich sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wie war dein Vorstellungsgespräch?«
Ein Blick in die müden, trüben Augen genügte und ich kannte die Antwort.
Also fragte ich, ohne weiter auf eine Antwort zu warten: »Möchtest du einen Tee?« Kathrin nickte, ließ sich wortlos auf einen Küchenstuhl fallen und ich stellte den Wasserkocher an. Während das Wasser heiß wurde, verstaute ich die Einkäufe und stellte dann alles für den griechischen Salat mit Knoblauch-Baguette bereit, den es heute zum Abendessen geben sollte.
»Hattest du denn wenigstens einen schönen Tag?«, fragte Kathrin und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Es war lange her, dass sie sich mal nach meinem Befinden erkundigt hatte. Auch den Besuch bei Dr. Willibald Hahn schien sie vergessen zu haben. Oder sie versuchte, einfach nur die Tatsache zu ignorieren, dass ich die Hilfe eines Therapeuten benötigte.
»Ich war mit Julia und Finchen bummeln und die beiden haben mir das da geschenkt«, erzählte ich und holte das Paket mit den Hüttenstiefeln aus der Tasche. »Die sind ja süß«, lobte Kathrin und streichelte verträumt den Kunstfellbesatz. »Die könnten mir auch gefallen. Jetzt, wo es bald wieder kälter wird und es in dieser Wohnung durch alle Ritzen zieht.«
Einem Impuls folgend drückte ich ihr die Slipper in die Hand. Wir hatten beide dieselbe Schuhgröße.
»Ach, spielt das Fräulein Schwester wieder mal Engel der Barmherzigkeit?«, kam es in diesem Moment spöttisch von der Tür – Auftritt Lykke. »Ich bin nur hier, um euch zu sagen, dass ich heute Abend in meinem Zimmer essen werde. Euer Familienidyll kotzt mich nämlich an.« Mit diesen Worten warf sie die Küchentür krachend ins Schloss. Kathrin gab mir die Stiefel zurück, sagte »Danke, aber das kann ich wirklich nicht annehmen« und ging Lykke hinterher.
Seufzend goss ich den Hagebuttentee auf und begann dann, Tomaten, Gurken und den Eisbergsalat zu waschen.
Das würde ja mal wieder ein toller Abend werden!
6. Marie Goldt
(Donnerstag, 10. November 2011)
Der Himmel brannte.