Gott, Atheismus und die Quantenphysik - Manfred Bauer - E-Book

Gott, Atheismus und die Quantenphysik E-Book

Manfred Bauer

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Beschreibung

Einzigartige und faszinierende spirituelle Reise dreier Pilger auf dem Jakobsweg! Seit rund 100 Jahren revolutioniert die Quantenphysik unser Verständnis von Materie und Universum, was tiefgreifende philosophische und spirituelle Implikationen hat. Diese Erkenntnisse stellen den allseits verbreiteten materialistischen Atheismus der Neuzeit in Frage und harmonieren überraschend gut mit alten Weisheiten aus westlicher und östlicher Religion und Philosophie. Doch trotz zahlreicher Entdeckungen bleibt dieses Wissen weitgehend unbekannt. Auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela treffen sich drei Pilger: Martin, ein Physikprofessor, Claudia, eine pensionierte Pastorin mit philosophischem Hintergrund, und der US-Amerikaner Mike, ein Yoga- und Meditationsexperte. Gemeinsam beschließen sie, ihre Erkenntnisse zu teilen und den großen Fragen des Lebens auf den Grund zu gehen: Warum existiert etwas und nicht nichts? Was hat es mit Gott auf sich? Wie steht der Mensch zu Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Durch ihre Diskussionen und Erlebnisse entlang des Camino entwickeln sie ein neues, kohärentes Weltbild, das ihrem weiteren Leben Orientierung gibt. Das gemeinsame Pilgern wird dabei nicht nur zur körperlichen, sondern auch zur spirituellen Reise zu sich selbst.

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Buch

Seit etwa 100 Jahren ist die Wissenschaft, vor allem die Quantenphysik, auf der Spur eines völlig neuen Weltbildes, das unsere herkömmlichen Vorstellungen über das Wesen der Materie und unseres Universums völlig auf den Kopf stellt. Das Erstaunliche daran ist, dass diese Erkenntnisse den materialistischen Atheismus ad absurdum führen, und zudem weitgehend mit philosophischen und spirituellen Einsichten übereinstimmen.

Doch trotz der langen Forschungsgeschichte und der vielen Entdeckungen, die in diesem Bereich gemacht wurden, ist das Wissen darüber immer noch sehr begrenzt – genauer gesagt, kaum jemand weiß etwas darüber.

Zufällig treffen sich auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela drei Pilger – Martin, ein Physikprofessor, Claudia, eine pensionierte Pastorin mit Kenntnissen in christlicher Religion und Philosophie sowie der US-Amerikaner Mike, der Yoga und Meditation praktiziert und mit fernöstlichen Religionen vertraut ist.

Sie beschließen, ihr Wissen zu teilen. Jeder trägt, während sie wandern, aus seinem Wissensgebiet vor, mit dem Ziel, die großen Rätsel der Welt gemeinsam zu lösen, die da sind:

Wieso gibt es alles und nicht nichts?

Was ist an der Sache mit Gott?

Wie ist die Stellung des Menschen im Verhältnis zu Gott?

Was ist der Sinn unseres Lebens?

Im Laufe des Buches ergibt sich ein stimmiges Weltbild, das jedem der drei Pilger eine Leitlinie für sein weiteres Leben eröffnet. Begleitend dazu werden viele Erlebnisse der Drei auf der Wanderung geschildert und die wichtigsten Stationen des Camino vorgestellt.

Der Jakobsweg ist mehr als nur eine Wanderung – er ist eine Reise zu dir selbst.

Autor

Manfred Bauer erblickte 1944 im heutigen Tschechien das Licht der Welt und wuchs im bayerischen Schwaben auf, nachdem er infolge der Vertreibung nach Kriegsende seine Heimat verlassen musste.

Schon seit seiner Jugend beschäftigt ihn die Suche nach einem tieferen Verständnis von Gott und dem Sinn des Lebens. Durch autodidaktisches Studium erwarb der Autor ein profundes Wissen in den Bereichen Religion, Wissenschaft - insbesondere der Quantenphysik - sowie Philosophie und Esoterik. Auf diesem umfangreichen Fundament baut das vorliegende Buch auf, indem es all diese Erkenntnisse zu einer einheitlichen und umfassenden Weltsicht vereint.

Yoga und Meditation erweitert sein Weltbild nicht nur theoretisch, sondern auch auf praktischer Ebene.

Der Autor ist pensionierter Finanzbeamter und gewann durch seine berufliche Tätigkeit tiefe Einblicke in die inneren Mechanismen unserer Gesellschaft. In seinem Buch möchte er die Leser*innen auf die Realität hinter unserer vermeintlichen Wirklichkeit und die daraus resultierenden Konsequenzen für unser Leben aufmerksam machen.

Zusammen mit seiner Ehefrau befuhr er den Jakobswegs mit dem Fahrrad. Er ist seit über 50 Jahren verheiratet, hat drei Kinder und fünf Enkelkinder und lebt im Saarland.

Der Weg ist das Ziel

Kung Fu Tse (Konfuzius)

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel

Begegnung in den Pyrenäen

2. Kapitel

Drei Pilger finden zusammen

3. Kapitel

Claudia blickt zurück

4. Kapitel

Verstörende Quantenwelt

5. Kapitel

Das sonderbare Doppelspaltexperiment

6. Kapitel

Mandel-Experiment oder die verdammte Quantenspringerei

7. Kapitel

Schrödingers Katze und Kopenhagener Deutung

8. Kapitel

Unzählige Universen

9. Kapitel

Warum gibt es alles und nicht nichts?

10. Kapitel

Strings Grundbausteine unserer Welt

11. Kapitel

Das faszinierende Räderwerk der Quantenmechanik

12. Kapitel

Corrida de Toros

13. Kapitel

Begräbnis am Cruz de Ferro

14. Kapitel

Hicks oder Higgs?

15. Kapitel

Moderne Tempelritter

16. Kapitel

Von Platon bis Jesus

17. Kapitel

Transsubstantiation in O´Cebreiro

18. Kapitel

Von Plotin bis Schopenhauer

19. Kapitel

Herrscher über das All

20. Kapitel

Fernöstliche Weisheit

21. Kapitel

Des Lebens Sinn

22. Kapitel

Yoga und Meditation

23. Kapitel

Überraschender Abschluss

Literaturverzeichnis

VORWORT

Es wäre langsam an der Zeit, aufzuwachen!

Ich bin mir nicht sicher, liebe Leserin, lieber Leser, ob ich bei Ihnen mit dieser Aufforderung an der richtigen Stelle bin. Aber für einen Großteil der Menschen ist dieser Appell angebracht.

Woraus aufwachen?

Aufwachen aus der täuschenden Vorstellung, dass unsere Welt so ist wie wir sie wahrnehmen!

Wenn Sie fragen: „Wie soll sie denn sonst sein?”, sind Sie genau die richtige Person, für die dieses Buch geschrieben ist.

Sollten Sie materialistisch eingestellt sein und dieses Buch gelesen haben, wird kein Stein ihrer Überzeugungen auf dem anderen bleiben! (Vorausgesetzt, Sie haben die Ausführungen begriffen).

Seit etwa 100 Jahren ist die Wissenschaft, vor allem die Quantenphysik, auf der Spur eines völlig neuen Weltbildes, das unsere herkömmlichen Vorstellungen über das Wesen der Materie und unseres Universums völlig auf den Kopf stellt. Das Erstaunliche daran ist, dass diese Einsichten den materialistischen Atheismus ad absurdum führen und viele Übereinstimmungen mit philosophischen und spirituellen bzw. religiösen Erkenntnissen aufweisen.

Doch trotz der langen Forschungsgeschichte und der vielen Entdeckungen, die in diesem Bereich gemacht wurden, ist das Wissen darüber immer noch sehr begrenzt – genauer gesagt, kaum jemand weiß etwas darüber.

Sind Sie interessiert, etwas über den Urgrund unseres Universums zu erfahren, wie unsere Welt wirklich beschaffen ist und was der Sinn Ihres Lebens ist?

Wenn ja, bleiben Sie dran! Dieses Buch wird ihnen einige dieser Fragen beantworten. Es ist nicht ganz einfach, aber ich denke Sie werden es nicht bereuen.

Unser aktuelles Weltbild ist nur eines von mehreren, die sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben. Gehen wir einige Jahrtausende in die Vergangenheit zurück, um zu sehen, wie es zu der heutigen Vorstellung über unsere Welt gekommen ist.

Die Erde ist eine flache Scheibe und die Kontinente darin werden vom Ozean umspült. Darüber spannt sich eine gläserne Kuppel, an der Sonne Mond und Sterne Ihre Bahn ziehen. Jeder Mensch kann dies durch eigene Beobachtung nachvollziehen. Daran gibt es keinen Zweifel!

„Wie kann er nur einen solchen Unsinn behaupten,” höre ich Sie, lieber Leser, sagen, „wir wissen doch schon lange, dass die Erde ein großer Ball ist, und im Weltraum schwebt.”

Obwohl sich meine tägliche Wahrnehmung dagegen sträubt, muss ich Ihnen Recht geben. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. erkannte dies Aristoteles anhand von Beobachtungen bei einer Mondfinsternis. Um 240 v. Chr. berechnete der ägyptische Gelehrte Eratosthenes sogar den Umfang der Erde anhand des unterschiedlichen Winkels des Lichteinfalls der Sonne an zwei 800 km entfernten Orten (Assuan und Alexandria) mit erstaunlicher Genauigkeit. Er kam auf einen Erdumfang von etwa 40.000 km, was dem tatsächlichen Umfang von 40.077 km sehr nahe kommt.

Aber was ist dann mit Sonne Mond und Sternen, die die Erde umkreisen? Jeder kann das tagtäglich beobachten. Das kann mir doch niemand ausreden!

„Schon wieder liegt der Dummkopf falsch,” kommt der Einwand von Ihrer Seite, „die Erde dreht sich und dadurch entsteht der Eindruck, die Himmelskörper würden sich um die Erde drehen. Nur der Mond umkreist die Erde.“

Auch hier narrt mich meine Wahrnehmung, so dass ich dieses geozentrische Weltbild, wohl aufgeben muss. Das geozentrische Weltbild wurde noch im Mittelalter und auch in der beginnenden Renaissance nicht hinterfragt. Nachhaltige Zweifel daran kamen erst mit Nikolaus Kopernikus auf. Giordano Bruno und Galileo Galilei wurden sogar wegen Befürwortung des heliozentrischen Systems des Kopernikus von der Inquisition wegen Häresie angeklagt. Giordano Bruno wurde u.a. deswegen im Jahre 1600 zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

Galilei widerrief seine Erkenntnisse wider besseres Wissen und rettete damit sein Leben.

Kopernikus kam in Deutschland ungeschoren davon. Sein heliozentrisches Weltbild wurde einfach als Hirngespinst abgetan.

Abbildung 1: Flammarions Holzstich

Um das Jahr 1700, im Zeitalter der Aufklärung, hatten immer mehr Wissenschaftler die Nase voll von der Deutungshoheit der kirchlichen Obrigkeit über Gott und die Welt. Diese hatte, in Ermangelung eigenen Verstandes, ein antikes Buch, die Bibel, das eigentlich gedacht war, dem Menschen Gott näher zu bringen, zum Wort Gottes erklärt und es damit zur unfehlbaren Welterklärung gemacht. Ihre Machtstellung stand und fiel mit der Unfehlbarkeit dieses Buches.

Die Wissenschaft konnte sich in den folgenden Jahrhunderten mehr und mehr aus der dogmatischen Umklammerung der religiösen Oberhäupter befreien. Sie wollte nur noch das akzeptieren, was Logik und Vernunft entspricht und was bewiesen werden kann.

Mit diesen Prämissen traten vor allem die Naturwissenschaften ihren Siegeszug an, der bis heute anhält.

In ihrem Siegestaumel wurden sie allerdings, wie das bei Menschen so üblich ist, übermütig, und verfielen ins andere Extrem.

Gott störte, da es für ihn keine Beweise gab und wurde daher kurzerhand abgeschafft. Der atheistische Materialismus trat an die Stelle des Glaubens.

Die Evolutionstheorie über die Entwicklung der Arten von Charles Darwin (1809–1882) begründete die Entstehung und Evolution der Lebewesen besser als die biblische Schöpfungsgeschichte und entthronte damit die Bibel als Allerklärungsbuch.

Geist oder Bewusstsein wurden zu einem Produkt der Schaltvorgänge im Gehirn.

Der deutsche Naturwissenschaftler Carl Vogt (1817–1895) fand dafür einen einprägsamen Vergleich, nachdem die Gehirnsubstanz die Gedanken ähnlich produziere wie die Niere den Urin.

Gott wurde zur unbeweisbaren Wunschvorstellung.

Als Napoleon Pierre-Simon Laplace, einen führenden Astronomen seiner Zeit, fragte, warum er in seinem Werke 'Mécanique céleste' (Himmelsmechanik) Gott nicht erwähnt habe, antwortete dieser: „Ich hatte diese Hypothese nicht nötig, Sire.” Womit er aus seiner Sicht recht hatte, da viele Wissenschaftler bis zu dieser Zeit, wenn sie etwas nicht erklären konnten, Gott als Lückenbüßer einsetzten.

Bertrand Russell (1872–1970), britischer Philosoph und Mathematiker, verglich den Glauben an Gott mit dem Glauben an eine Teekanne, die im Weltraum zwischen Erde und Mars die Sonne umrundet. Man könne von niemandem erwarten, dass er ohne weitere Beweise glaube, dass eine solche Teekanne existiere. Genauso wenig beweisbar sei die Existenz Gottes und der Glaube an ihn widerspräche daher jeder Logik.

Ende des 19. Jahrhunderts war die wissenschaftliche Arbeit an der Physik, die maßgeblich von dem englischen Physiker, Astronom und Mathematiker Isaac Newton (1642–1726) geprägt worden war, nahezu vollendet. Wesentliche neue Erkenntnisse, dachte man, wären nicht mehr zu erwarten. Doch diese Auffassung hätte nicht irriger sein können.

Anfang des 20. Jahrhunderts drangen Forscher wie Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger und viele andere in die Welt der kleinsten Teilchen, der Atome und ihrer Bestandteile, vor. Was sie hier vorfanden, sprengte ihre Vorstellungskraft bei weitem und stellte sie vor Rätsel, die bis heute noch nicht alle gelöst sind.

Aufgrund dieser Forschungen öffnen sich für uns völlig neue Dimensionen unseres Daseins. Ein neues Weltbild hat sich angekündigt, das weit jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Und damit sind wir beim Thema dieses Buches.

Die Paradigmenwechsel in der Weltsicht waren für die Menschen oft schwer zu akzeptieren und es dauerte oft lange, bis sie sich endgültig durchsetzten. Sie ergaben sich aus logischen Folgerungen und abstrakten Berechnungen, die, wie wir gesehen haben, dem persönlichen Erleben total widersprachen. Weder die Verbrennung von Forschern auf dem Scheiterhaufen noch die Herabsetzung ihrer Entdeckungen als Hirngespinste, konnten sie aus der Welt schaffen. Dies lehrt uns, dass unsere Sinne uns nicht die wahre Natur der Welt offenbaren. Durch die Wissenschaft mit ihren komplizierten Berechnungen und Experimenten können wir jedoch die Wirklichkeit entschlüsseln.

Erstaunlicherweise werden deren Erkenntnisse durch spirituelle Erfahrungen in allen Religionen und Kulturen bestätigt, wie wir im Verlauf des Buches sehen werden.

Die Erkenntnisse aus der Quantenphysik bringen einen Paradigmenwechsel in unserer Weltanschauung mit sich, der noch tiefgreifender und schwieriger zu verdauen ist, als die zuvor geschilderten. Oder was halten Sie von der Aussage in der Zeitschrift Bild der Wissenschaft, die durchaus ernst gemeint ist:

„Die Vorstellung einer unabhängigen, an und für sich bestehenden physikalischen Realität ist eine Illusion. (Wir) … erschaffen gewissermaßen erst, was sich uns zeigt …“.1

Tatsächlich bedeutet dies, dass Geist oder Bewusstsein nicht aus dem Gehirn hervorgeht, sondern unabhängig von der Materie existiert. Vielmehr wird Materie hiervon erzeugt und gesteuert!

Stimmt dies tatsächlich oder ist es ein Hirngespinst überdrehter Esoteriker?

Sind Sie interessiert, dann folgen Sie unseren drei Pilgern auf dem Jakobsweg quer durch Spanien, von St-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela.

Diese Drei begegnen sich zufällig auf dem Camino – zwei Männer und eine Frau, die aus unterschiedlichen Beweggründen unterwegs sind. Im Laufe ihrer Wanderung ergibt sich eine tiefschürfende Diskussion über eine neue Sichtweise auf unsere Welt, den Sinn des Lebens und dieses ewige Rätsel, das wir Gott nennen.

Dabei bringen diese drei Pilger ihre jeweiligen Erkenntnisse aus verschiedenen Wissensgebieten zusammen – von Quantenphysik über Philosophie bis hin zu christlichen und fernöstlichen Religionen.

Zusammen ergründen sie eine bahnbrechende neue Sicht auf unsere Welt und entschlüsseln den wahren Sinns unseres Lebens.

Ganz nebenbei lernen Sie, lieber Leser, noch die einzelnen Etappen des Jakobsweges kennen und was sich dabei so alles ereignen kann.

1 Bild der Wissenschaft 7/2021, Rüdiger Vaas: Kontroverse Quantenrealität, S.22

KAPITEL 1

BEGEGNUNG IN DEN PYRENÄEN

Wenn Du gehst, komme mit jedem Schritt an. Das ist Gehmeditation. Da ist nichts anderes zu machen. Thich Nhat Hanh

Auf die Minute pünktlich um 18:18 Uhr läuft der Zug in St-Jean-Pied-dePort ein. Diese kleine, idyllisch in einem Tal der Pyrenäen gelegene französische Stadt, nahe der spanischen Grenze ist Ausgangspunkt des klassischen Jakobsweges, des Camino Francés.

„Ein Hoch auf die französische Bahn,“ geht es Martin durch den Kopf. Er war schon am frühen Morgen in Deutschland losgefahren und nach all den dortigen Verspätungen hatte er nicht gehofft, noch vor Dunkelheit anzukommen.

Martin Strobel, der vor kurzem seinen 50. Geburtstag feierte, hatte sich von seiner Frau als Geburtstagsgeschenk die Zustimmung für eine fünfwöchige Auszeit erbeten, in der er den mittlerweile sehr populären Jakobsweg gehen wollte.

Aufgrund seiner regelmäßigen Waldläufe und Wanderungen, auch Bergwanderungen in den Alpen, fühlte er sich fit genug für die Anforderungen, die dieser Weg stellt.

Seine Angetraute war zwar nicht begeistert, legte ihm aber keinen Stein in den Weg, da sie fühlte, dass ihn eine unbestimmte Sehnsucht umtrieb. War es die Midlife-Crisis, oder das Bedürfnis, einmal aus dem Hamsterrad des Berufes und Alltags für ein paar Wochen auszusteigen und etwas Außergewöhnliches zu unternehmen?

Sie hatte schon länger bemerkt, dass er immer wieder mal in sich hineingrübelte und über Dinge nachsann. Wenn sie ihn fragte, wiegelte er aber ab, ohne darauf einzugehen. Er hatte den Eindruck, dass sie die Rätsel, mit denen er sich beschäftigte, nicht verstehen würde.

Obwohl in einer religiösen Umgebung aufgewachsen, hatte er während seines Studiums die vorherrschende Lehre des wissenschaftlichen Atheismus angenommen. Möglicherweise spielte dabei ein allen Menschen innewohnender Hang zur Anpassung und die Furcht, als Außenseiter oder religiöser Spinner angesehen zu werden, eine Rolle.

Tatsächlich war sein Beruf der Anlass für seine Probleme. Als Dozent für angewandte Quantenmechanik an einer Universität war er normalerweise nur mit der technischen Anwendung der Quantenmechanik befasst. Da ließ sich alles aufgrund bestimmter Formeln berechnen und man konnte erwarten, dass es dann wie vorgesehen funktioniert.

Es dauerte fast ein halbes Leben, bis er realisierte, dass die Quanten nicht nur eine Rechengröße in seinem Kopf darstellen, sondern dass sein Körper die ihn umgebende Welt, bis hin zu den Sternen und Galaxien unseres Universums, aus diesen gebildet sind und deren Gesetzen unterliegen.

Der Anstoß hierzu kam von einem Buch, das das sonderbare Verhalten der atomaren Welt aus der Sicht der Philosophie und Religion betrachtete. Die Indizien, dass das Universum nicht durch Zufall, sondern nach einem intelligenten Plan entstanden sein muss und erhalten wird, waren zu groß, um sie zu ignorieren. Weitere Bücher anderer Autoren verstärkten in ihm den Eindruck, dass Materie nicht alles sein kann. Geist oder Bewusstsein konnte nicht Produkt des Gehirns sein, sondern musste unabhängig von der Materie existieren und diese steuern.

Wie hängt alles zusammen? Gibt es eine einheitliche und logische Erklärung für all die Fragen über das Universum und unser Dasein? Wer, oder welche Kraft steht hinter diesen rätselhaften Erscheinungen? Ist es wirklich Gott, den er seit seiner Studienzeit hinter sich gelassen hatte? Wenn ja, wie ist dieser Gott tatsächlich? So wie er es im Religionsunterricht erklärt bekam?

Um diese Rätsel zu lösen, die ihm keine Ruhe ließen, brauchte er Zeit für eine umfassende Betrachtung des Lebens. Diese Zeit hoffte er während seiner Wanderung zu finden.

Entschlossen schultert er nun seinen Rucksack und strebt mit all den anderen Rucksackträgern, die an den obligatorischen Jakobsmuscheln unschwer als Pilger zu erkennen sind, dem Ausgang zu.

Auf dem Weg zu seinem Quartier, das er vorab gebucht hatte, leistet er sich noch eine Besichtigung der malerischen Altstadt. Nachdem er sich mit seinem lückenhaften Französisch durchgefragt hat, steht er schließlich vor einem einladenden alten Steinhaus, der Herberge Gite de la Porte Saint Jacques.

Der Herbergsvater Andrew, ein freundlicher Australier, der hier, nachdem er den Camino gegangen war, sich in diesen Ort verliebt und seine Bleibe gefunden hatte, führt ihn zu seinem Zimmer. Als Martin die Gemeinschaftsunterkunft mit Stockbetten für acht Personen betritt, sind diese schon großenteils belegt. Frauen und Männer aus allen Teilen der Erde werden mit ihm diese Bleibe für die kommende Nacht teilen.

Einige liegen auf den Betten um sich von der langen Anreise auszuruhen, andere kramen in ihren Rucksäcken oder verdrücken die Reste ihrer Tagesration.

Martin sucht sich den oberen Teil eines noch freien Hochbettes aus. Im unteren Bett liegt ein junger Mann, Anfang dreißig, der ihn freundlich und neugierig taxiert. Da er nicht erwarten kann, dass sein Bettnachbar Deutscher ist, begrüßt Martin ihn mit einem: „Hello, Good Evening!“2, was mit einem freundlichen „Hello, nice to meet you”3, erwidert wird. Am breiten US-amerikanischen Akzent ist die Herkunft des jungen Mannes leicht zu erkennen.

Anscheinend möchte dieser ein Gespräch anstoßen. Aber, müde von der langen Fahrt und um für die morgige anstrengende Tour über die Pyrenäen ausgeruht zu sein, entzieht sich Martin mit ein paar allgemeinen Floskeln dem Gespräch, macht sich schnell bettfertig, klettert nach oben in seine Koje und versucht zu schlafen.

Aber zunächst bleibt es bei dem Versuch. Der Geräuschpegel, den die Pilger verursachen, ebbd erst nach und nach ab, bis sich alle niedergelegt haben. Aufatmend dreht sich Martin zur Seite und dämmert langsam ein.

Aber kaum eingeschlafen ist er wieder hellwach. Zwei Zimmergenossen schnarchen um die Wette. Jeder versucht lauter zu sägen. Jetzt fällt ihm ein, was er vergessen hat: Ohrstöpsel! Das wichtigste Requisit in Schlafsälen. Gleich morgen muss er sich welche besorgen. Aber jetzt quält er sich noch lange Zeit, bis er endlich den ersehnten Schlaf findet.

Leise Schritte, Gemurmel und das Rascheln von Plastiktüten lassen ihn widerwillig erwachen. Er schaut auf seinen Wecker, den er auf 7:00 Uhr gestellt hatte: „Wie kann das sein, es ist doch erst kurz nach 5:00 Uhr? Was ist denn mit denen los?“, denkt er sich, dreht sich um und versucht weiter zu schlafen. Aber er sieht bald ein, dass dies aufgrund der anschwellenden Geräuschkulisse zwecklos ist und schließt sich widerwillig und vor allem noch schrecklich müde dem allgemeinen Aufbruch an.

Langsam kommt er zu der Einsicht, dass es vielleicht gar nicht so falsch ist, frühzeitig loszugehen. Schließlich steht heute die härteste Etappe des Camino Frances an: 25 km bis in das spanische Roncesvalles. Wobei es 1300 Höhenmeter bergauf geht.

Im Frühstücksraum setzt er sich zu seinem amerikanischen Bettnachbarn. Aber übernächtigt wie sie sind, hält sich die Unterhaltung zwischen ihnen in Grenzen. Beide denken, dass es ohnehin nicht lohnend ist, sich miteinander bekannt zu machen, da man sich auf diesem langen Weg ohnehin aus den Augen verlieren wird.

Der Amerikaner ist zuerst marschbereit und verabschiedet sich knapp aber freundlich mit den üblichen Pilgergruß „Buen Camino“, den Martin noch viele Male hören wird.

Dunkelheit und Kälte erwarten Martin, als er vor die Türe der Herberge tritt. Zudem nieselt es leicht. Dies entspricht so gar nicht seiner Vorstellung einer Wanderung in warmem, südlichen Klima, wo man frohgemut in kurzen Hosen und T-Shirt von Herberge zu Herberge zieht.

Stattdessen kramt er die Regenhose aus dem Rucksack, will sie über die Wanderstiefel anziehen, was ihm aber nicht gelingt, da diese sich in der Hose verhaken. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Boden zu setzen, die Hose gegen den Widerstand seiner Schuhe wieder auszuziehen, die Schuhe auszuziehen und zuerst die Hose und dann die Schuhe wieder anzuziehen.

Nicht dass dies alles wäre: Während dieser Prozedur treten nach und nach Pilger aus der Herberge und können, ob dieser unfreiwilligen Showeinlage ein Grinsen nicht unterdrücken. Aber ihr bereitwilliges „Can I help you“4, lehnt er dankend ab, worauf sie mit einem „Buen Camino“ in der Dunkelheit verschwinden.

Jetzt reicht es. Er ist jetzt in der Stimmung des HB-Männchens aus der Fernsehwerbung. Jetzt darf nichts mehr schief gehen, sonst sitzt ein Pilger, der nicht zum Pilger wurde, im nächsten Zug und fährt wieder nachhause.

Aber bevor es soweit ist, zieht er seinen Anorak zu, wirft seinen Rucksack über und stapft wild entschlossen los. Aufgeben ist nicht!

Sein Weg geht zuerst zum Pilgerbüro, wo ihm eine freundlich lächelnde junge Dame seinen Pilgerausweis mit dem ersten Stempel als Nachweis, dass er diese Station absolviert hat, aushändigt. Nur mit diesem vollgestempelten Ausweis kann er in Santiago die Pilgerurkunde bekommen.

Von nun an geleiten ihn gelbe Pfeile, die die Richtung anzeigen, bis nach nach Santiago.

Sobald er die Stadt hinter sich gelassen hat, wird es steiler. Es geht nur noch bergauf, was ihm aber aufgrund seiner Bergwanderungen vertraut ist. Der gleichmäßige Gehrhythmus beruhigt ihn. Und manchmal tauchen sogar kleine Fünkchen vom Glücksgefühl in ihm auf, wenn er hin und wieder stehen bleibt und die Aussicht auf sich wirken lässt. Mit einem fast schon fröhlichem „Buen Camino“ gibt er dies an die anderen Wanderer weiter, die er überholt oder die ihn überholen.

Mittlerweile haben sich die Wolken aufgelöst und die Sonne erwärmt die Pilgerkarawane. Es ist für Martin Zeit, sich seiner Regenhose zu entledigen. Als er nach einem geeigneten Platz Ausschau hält, sieht er am Wegesrand seinen amerikanischen Bettnachbarn auf einem Baumstamm sitzend im Rucksack kramen. Die plötzliche Lust auf ein Gespräch lässt ihn auf ihn zugehen und angesichts des großen Platzangebotes, das der Baumstamm bietet, etwas unbeholfen fragen: „Is there still a seat free?“5.

Nachdem Mike Roberts, der „Amerikaner“, vom Frühstückstisch aufgestanden und sich auf den Weg gemacht hatte, sann er über diesen schweigsamen Mann nach, der schon, im Gegensatz zu ihm, einen Großteil seines Lebens hinter sich hatte.

Er fragte sich, aus welchem Land der Mann stammen könne, da er aufgrund seines begrenzten Kontakts mit Europäern dessen Akzent nicht zuordnen konnte. Auch hätte ihn interessiert, warum der Mann auf diesem Weg unterwegs war, erkannte aber, dass es viele Gründe dafür geben könnte, die er wahrscheinlich nie erfahren würde

Mike kommt aus den Südstaaten der USA; genauer gesagt aus Nashville (Tennessee), das im sogenannten Bible Belt liegt. Dies ist die Bezeichnung für einen Teil der USA, der vorwiegend von bibeltreuen Christen bewohnt ist. Christen, die die Bibel wörtlich nehmen und glauben, dass Gott die Welt vor ca. 6000 Jahren an sieben Tagen erschaffen hat. Diese tiefe aber unreflektierte Religiosität hatte seine Kindheit und Jugend geprägt.

Dies änderte sich recht schnell, als er sich an der Yale University für ein Biologie- und Chemiestudium eingeschrieben hatte. Seine kreationistische Weltanschauung konnte der dort gelehrten Evolutionslehre nicht standhalten. Daher begann er, auch aufgrund der unterschiedlichen religiösen und atheistischen Weltanschauungen, die er dort kennen lernte, seine anerzogenen Glaubenswahrheiten zu hinterfragen.

Schnell wurde ihm bewusst, dass seine religiöse Sichtweise auf wackligem Grund steht, was zu einer tiefen Lebenskrise und hin zum Atheismus führte. Von der Religion enttäuscht glaubte er nun an garnichts mehr.

Aber diese Negation alles Religiösen ließ eine tiefe innere Leere zurück. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das Leben einen tiefen und erfüllenden Sinn haben muss. Er sehnte sich nach dieser Geborgenheit zurück, die er, vor allem als Kind, in dem Glauben an Gott als seinen himmlischen Vater, gefunden hatte.

Diese Unruhe begleitete ihn auch, nachdem er seinen Traumberuf als Lehrer an einem College gefunden hatte,

Ein Kollege, mit dem er sich angefreundet hatte, und der seine missliche Lage erkannte, riet ihm, Meditation auszuprobieren, um seine Psyche zu stabilisieren. Obwohl es für ihn anfangs schwierig war, sich zu konzentrieren, merkte Mike bald, dass er innerlich ruhiger und zuversichtlicher wurde. Doch diese Meditationspraxis, die er aus einem Buch über positives Denken entnommen hatte, stieß an ihre Grenzen, da sie ihm nicht half, dem eigentlichen Sinn des Lebens, den er suchte, näherzukommen. Sein Inneres blieb unerfüllt.

Viele Umwege waren zu gehen bis ihn seine Suche zu einer religiösen Gemeinschaft führte, die von einem indischen Yoga-Meister gegründet worden war und ihren Sitz in Los Angeles hat. Überzeugt hatte ihn, dass hierbei kein Glaube an Bücher verlangt wurde, die das geschriebene und unumstößliche Wort Gottes enthalten sollen, wie es bei den Schriftreligionen – Judentum, Christentum und dem Islam – der Fall ist. Davon war er zu sehr enttäuscht worden. Vielmehr wurde hier gelehrt, dass Gott in tiefer Meditation im eigenen Inneren erfahrbar ist.

Mehrere Jahre Übungspraxis ließen in Mike den Wunsch aufkommen, sein weltliches Leben aufzugeben und sich beim Ashram dieser Gemeinschaft als Mönch zu bewerben.

Wenn es da nicht noch etwas anderes gäbe!

Ein Jahr zuvor hatte er eine junge Frau kennen gelernt und sich in sie verliebt. Sie erwiderte seine Gefühle und ließ ihre Bereitschaft erkennen, mit ihm das weitere Leben zu teilen.

Heiraten oder Mönch werden, wie soll er sich entscheiden!

Als er seinen inneren Zwiespalt seiner Freundin offenbarte, war diese zunächst schockiert. Hatten sie doch schon einen Hochzeitstermin ins Auge gefasst. Und nun war alles wieder fraglich.

In langen Gesprächen kam dann von ihr der Vorschlag, der gleichzeitig ein Ultimatum war:

„Wie wäre es, wenn du den Jakobsweg in Spanien gehen würdest. Da hast du viel Zeit nachzudenken und anschließend teilst du mir dann mit, wie du dich entschieden hast. Wenn du dann immer noch Mönch werden willst, werde ich das akzeptieren und wir trennen uns, auch wenn mir das schwer fallen wird. Aber ich werde mich auch von dir trennen, wenn du dann immer noch unentschieden bist. Ich könnte nicht ständig mit dieser Ungewissheit leben!“

Sie selbst war den Jakobsweg einige Jahre zuvor gegangen und hatte dabei erfahren, wie hilfreich er sein kann, um innere Klarheit zu erlangen.

Und nun rastet er, in Gedanken versunken, auf einem Baumstamm am Wegesrand, sich erinnernd an eine Ermahnung seiner Freundin:

„Vergiss das Trinken nicht! Du musst viel trinken!“

Während er nach seiner Trinkflasche im Rucksack kramt, hört er vor sich jemand fragen: „Is there still a seat free?“

Überrascht, seinen schweigsamen Bekannten der letzten Nacht vor sich stehen zu sehen, weiß er nicht, ob er darüber erfreut sein soll, lädt ihn aber mit einer freundlichen Handbewegung ein, sich zu setzen.

„It´s now a better weather than this morning,“6 beginnt Martin etwas unbeholfen mit der Unterhaltung, nachdem er sich seiner Regenhose entledigt und sich gesetzt hat.

„Yes, it´s just very nice,”7 bestätigt Mike und schickt dann die Frage nach: „Where do you come from?“8

„From Germany, and you?“, entgegnet Martin, und nimmt einen Schluck aus seiner Trinkflasche.

Mit seiner Antwort: „Oh, I like Germany. My Mother kommt aus Deutschland“, wechselt Mike mühelos ins Deutsche und fügt in seinem breiten amerikanischen Akzent hinzu: „Da können wir auch in deiner Sprache miteinander reden. Meine Mutter hat mich deutsch gelehrt. I like diese Sprache sehr und its very nice for me, wenn ich sie sprechen kann.“

Dann schiebt er nach: „Excuse me, wenn ich habe immer noch englische Wörter. Ich muss noch ein bisschen üben!“

Martin hätte zwar seine Englischkenntnisse gerne vorgeführt, tröstet sich aber damit, dass er hierfür noch viel Gelegenheit haben würde.

Während sie dasitzen und hin und wieder einen Schluck aus der Trinkflasche nehmen, machen sie sich miteinander bekannt und erörtern die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in ihren beiden Ländern. Martin ist überrascht, wieviel Mike über Deutschland weiß, was er bei einem Amerikaner nicht erwartet hätte. Die er bisher kennen gelernt hatte, waren da eher uninteressiert.

Aber da sie nun beide auf einer Wanderung und nicht auf einer Small Talk Party sind, verstauen sie ihre Trinkflaschen wieder im Rucksack, strecken ihre steif gewordenen Glieder und setzen im Gehen ihre Unterhaltung fort.

Immer wieder geht es steil aufwärts, so dass das schwere Atmen die Unterhaltung erschwert. Martin bedeutet dem Jüngeren, er könne ruhig weitergehen, wenn er ihm zu langsam wäre. Was dieser aber ablehnt. Er hätte ohnehin Probleme mitzukommen und wundere sich über Martins Kondition. Dieser erzählt ihm daraufhin von seiner Leidenschaft für das Bergwandern, was dies erklärt.

Mit zunehmender Höhe wird es wieder kühler. Die Wolken verdecken mehr und mehr die Sonne und bald sind sie von dichtem Nebel eingehüllt. Sahen sie sich bisher als Teil einer Jakobsmuschel-Karawane, die sich den Weg entlangschlängelt, fühlt es sich nun an, als wenn sie alleine unterwegs wären und nur hin und wieder Schattengestalten vor ihnen auftauchten, sich zu Pilgern materialisierten und sich nach einem beiderseitigen „Buen Camino“ hinter ihnen wieder aufzulösten. Sie sind recht zügig unterwegs und werden nur selten überholt.

Auf diesem Weg, der schon seit über 1000 Jahren begangen wird, erreichen sie die Marienstatue d´Orisson, die sie für eine Trinkpause nutzen. Martin erinnert sich nun an ein Versprechen, seiner Frau regelmäßig Fotos und Nachrichten zu schicken. Die Sonne hat sich mittlerweile wieder durchgesetzt, und die Statue ist ein schönes Motiv. Er übergibt Mike sein Handy und lässt sich vor der Statue ablichten, woraufhin dieser sich für seine Freundin von Martin ebenfalls fotografieren lässt.

Im weiteren Verlauf des Weges gehen sie an frei laufenden Pferden vorbei, wobei diese erstaunlicherweise, wie Kühe, Glocken am Hals tragen, staunen über einen Adler, der über ihren Köpfen kreist, passieren auf einem kleinen Trampelpfad in 1100 m Höhe das markante Steinkreuz Croix Thibault, wo sie wieder einen Zwischenstopp einlegen. Pilger legten dort mitgebrachte Sachen aller Art ab: Steine, Fotos, Wunschzettel und sogar Kleidungsstücke. In Serpentinen geht es anschließend hoch zu einem kleinen Pass, nach dem sie kurze Zeit später die französisch-spanische Grenze überschreiten. Auf einer Steintafel ist dort eingemeißelt: St Jaques des Compostela 765 Kilometer.

Martin meint, als sie davor stehen: „Meinst du nicht, wir haben uns da ein bisschen viel vorgenommen?“ Mittlerweile waren sie beim Du angekommen, was ohnehin zwischen den Pilgern üblich ist.

Beiden ist etwas bang zu Mute, wenn sie an diese Strecke und die vielen Tage denken, die noch vor ihnen liegen – zumal ihnen jetzt schon die Füße langsam schwer werden. Und immer noch geht es bergauf.

Mittlerweile hat sich ihnen eine Pilgerin angeschlossen, mit der sie am Steinkreuz ins Gespräch kamen. Eine Deutsche, untersetzte Figur, aber gut in Form, für ihr Alter. Vor kurzem wäre sie in Rente gegangen, erzählt sie. Sie hält das Gehtempo hinauf zum höchsten Punkt des Tages, dem Col de Leopoder mit seinen 1420 Metern Höhe zwar mit, sie spüren aber, dass sie diese Dame hier im Gebirge nicht alleine lassen können und nehmen sie daher in die Mitte, um sie zu motivieren und ihr Sicherheit zu geben. Was sie auch dankbar annimmt.

Endlich ist auch der letzte Gipfel geschafft. Großes Aufatmen! Das Schlimmste liegt hinter ihnen.

Von nun an geht es körperlich wieder bergauf, denn es geht bis Roncesvalles, dem heutigen Tagesziel, nur noch bergab! Allerdings ist es nicht ganz so einfach, wie sie es sich vorgestellt haben. Der Trampelpfad ist stellenweise sehr steil, mit Geröll bedeckt und rutschig. Mit ihren Wandererstöcken, die sie mittlerweile ausgepackt haben, kommen Martin und Mike ganz gut damit zurecht. Leider hat ihre Mitwanderin an so etwas nicht gedacht, so dass sie ihr immer wieder zu Hilfe kommen müssen.

Eine Stunde später marschieren alle drei mit brennenden Füßen zusammen in Roncesvalles ein.

Eigentlich ist der Ort mehr oder weniger ein Kloster mit einigen Hotels. Martin und Mike finden in der großen Klosterherberge Platz, während Claudia, wie ihre Mitwandererin heißt, zu einem Hotel weitergeht, in dem sie einen Platz reserviert hat.

2 Hallo, Guten Abend!

3 Hallo, schön dich zu treffen

4 Kann ich dir helfen?

5 Ist hier noch ein Platz frei?

6 Das Wetter ist jetzt besser als heute morgen.

7 Ja, es ist wirklich sehr schön.

8 Woher kommst du?

KAPITEL 2

DREI PILGER FINDEN ZUSAMMEN

Die Menschen denken, dass die Wissenschaft das Mysterium Gott zurückdrängt. Ich betrachte die Wissenschaft als eine langsame Annäherung an das Mysterium Gott. Dr. Allan Hamilton9

Frisch geduscht sitzen Martin und Mike in der warmen Nachmittagssonne auf der Terrasse der Bar La Posada und lassen sich nach dieser anstrengenden Tour ein großes Bier schmecken. Von den anderen Tischen dringt Stimmengewirr zu ihnen, wobei sich Pilger verschiedener Nationalitäten meist in etwas gebrochenen Englisch verständigen.

In dieser entspannten Atmosphäre, während sie auf das Essen warten, stellt Mike die Frage an Martin, die bei den Pilgern an oberer Stelle steht: „Why do you go this way?“, 10 wobei er unwillkürlich in seine Muttersprache verfällt.

Martin kratzt sich am Kopf: „Wenn das so einfach wäre. Wie soll ich das am besten erklären? Ich muss da etwas ausholen.

Eigentlich bin ich in einer religiösen Umgebung aufgewachsen. Aber durch die vorherrschende atheistische Grundstimmung während meines Physikstudiums und danach in meinem Beruf, verlor ich nach und nach den Glauben an einen Schöpfer, der unser Universum erschaffen hat und es erhält. Ich übernahm die Vorstellung, unsere Welt bildete sich selbst durch die ihr zu Grunde liegenden Naturgesetze, die ihrerseits durch Zufall entstanden sind. Das sah ich als bewiesen an, während Gott weder bewiesen noch berechnet werden kann. Beweise sind nun mal das Entscheidende in der Wissenschaft. Solange etwas nicht bewiesen ist, hat es allenfalls eine theoretische Existenzberechtigung.”

Nach einer kleinen Pause, in der er einen Schluck aus dem Bierglas nimmt, fährt er fort:

„Auch in meinem Beruf, als Dozent für Experimentalphysik, habe ich mich all die Jahre in erster Linie auf das mit vorgegebenen Formeln berechenbare Verhalten der Schwingungen und Teilchen in der Quantenphysik beschränkt. Bis ich ein Buch über das unerklärliche Verhalten der Quanten bei bestimmten Experimenten gelesen habe, das sehr weitreichende philosophische und spirituelle Fragen aufwirft. Seitdem grüble ich darüber nach, wie gewisse Erkenntnisse aus der Quantenphysik mit einem spirituellen Weltbild in Verbindung gebracht werden können. Kurz gesagt: Es scheint so, dass anhand des Verhaltens der Quanten bewiesen werden kann, dass Bewusstsein oder Geist nicht aus dem Gehirn, also der Materie, entsteht, sondern unabhängig von der Materie existiert und diese steuert. Das wäre mit dem materialistischen Atheismus nicht zu vereinbaren.“

Nach einer kleinen Pause der Überlegung fährt er fort: „Ich weiß nicht, inwiefern du das nachvollziehen kannst, aber je mehr die Wissenschaft in diese geheimnisvolle Quantenwelt eindringt, desto mehr rüttelt das an unserem Selbstverständnis.“

Dann beugt sich Martin fast verschwörerisch zu Mike und sagt mit gedämpfter Stimme, als ob es niemand anders hören dürfte: „Ich komme schon fast in Versuchung, anzunehmen, dass alles ganz anders ist als wir es wahrnehmen – als wäre unsere Umwelt und wir nur eine Art Holografie.“

Mike hatte aufmerksam zugehört. Aufgrund seiner eigenen Entwicklung kann er Martins Aussagen gut nachvollziehen.

Bevor er seine Meinung dazu sagen kann, tritt ein Kellner an ihren Tisch und serviert schwungvoll mit einem „Buen Provecho!“ eine vegetarische Tortilla für Mike und eine Paella mit Meeresfrüchten für Martin.

Sie hatten den ganzen Tag nur wenig von den Vorräten im Rucksack gegessen und sind entsprechend hungrig. So kommt das Gespräch, während sie essen, zum Erliegen, bis Mike seinen leeren Teller beiseite stellt und es wieder aufnimmt:

„Weißt du, ich beschäftige mich viel mit spirituellen Dingen, vor allem mit der fernöstlichen Religionsphilosophie wie etwa Hinduismus oder Buddhismus. Du wirst dich vielleicht wundern, aber dort besteht schon seit Jahrtausenden die Auffassung, dass wir nur in einer Scheinwelt leben. Dafür gibt es den Begriff Maya. Das bedeutet soviel wie Vorstellung oder Täuschung. Unser Leben wird in diesen Religionen, übrigens auch im Taoismus, mit einem Traum verglichen, aus dem man aufwacht, wenn man das erlebt, was man allgemein als Erleuchtung bezeichnet.“

Martin ist von Mikes Ausführung überrascht. Hatte er doch immer auf den Hinduismus mit seinen unzähligen Göttern nachsichtig herabgeblickt.

„Wie kommen die da drauf? Wie begründen die das?, fragt er zurück.

Aber anstatt zu antworten springt Mike plötzlich auf, fuchtelt mit den Händen in Richtung der Straße und ruft: „Hello Claudia, we are here. Come on!“11

Claudia winkt zurück und steuert, erfreut, nicht allein essen zu müssen, auf den Tisch der beiden zu.

Nachdem die aus Ostdeutschland stammende Claudia Richter, ihr Zimmer in dem kleinen Hotel betreten hatte, duschte sie sich, warf sich auf das Bett und schlief erschöpft ein.

Mit ihrer etwas untersetzten Figur ist sie zwar kleiner als ihre beiden Begleiter, aber drahtig und energisch wie sie ist, kann sie mit ihren 65 Jahren mit diesen recht gut mithalten. Dazu haben viele Wanderungen in der sächsischen Schweiz und auch in der Hohen Tatra in der Slowakei, die auch zur DDR-Zeit für sie erreichbar war, beigetragen.

Ihr selbstsicheres Auftreten strahlt eine gewisse Autorität aus, was den Schluss zulässt, dass sie gewohnt ist, ihr Leben alleine zu meistern. Die Scheidung ihrer Ehe, die kinderlos blieb, liegt schon lange zurück. Auch in ihren Beruf stand sie oft alleine und musste einiges Durchsetzungsvermögen entwickeln.

Ihr leerer Magen meldet sich nach einer knappen Stunde Schlaf, so dass sie sich nun aufmacht, um nach etwas Essbarem zu suchen.

Die Straße entlang gehend, macht sie sich Gedanken, ob sie die anderen zwei wohl nochmal treffen würde. Eigentlich hatte sie sich mit ihnen ganz gut verstanden und im Grunde wäre sie ganz froh, wenn sie den Weg nicht alleine gehen müsste. Aber haben diese beiden Interesse an ihrer Begleitung? Sie würde sich jedenfalls nicht aufdrängen.

„Ich komme auch alleine zurecht,“ sagt sie sich trotzig.

Umso mehr ist sie über die ungestüme Einladung Mikes freudig überrascht und steuert den Tisch der beiden an.

„Was hast du denn so lange gemacht, wir warten die ganze Zeit auf dich?“, begrüßt sie Mike, nicht ganz wahrheitsgetreu.

„Weißt du, wenn du verheiratet wärst, würdest du keine solche Frage stellen, da ist man gewöhnt, dass Frauen etwas mehr Zeit benötigen um sich zurecht zu machen, als wir Männer,“ mischt sich Martin provozierend mit einem Grinsen im Gesicht ein.

„Wenn ich hier veräppelt werde, kann ich auch wieder gehen,“ spielt Claudia die Beleidigte.

Martin entgegnet reuevoll: „Das kannst du uns doch nicht antun. Wir werden dich von jetzt an behandeln wie eine Prinzessin oder besser gesagt, wie eine Königin,“ und ruft dem Kellner über die Tische weg zu: „Un menú para la señora por favor!“12

Der Satz ist ihm noch vom letzten Spanienurlaub in Erinnerung.

„Naja, da will ich nochmal drüber hinwegsehen,“ entgegnet Claudia hoheitsvoll und nimmt die Speisekarte vom Kellner entgegen.

Nachdem sie die Bestellung abgegeben hat, wendet sich Mike an sie: „Martin hat mir gerade von sich erzählt und auch wieso er den Jakobsweg geht. Erzähl doch mal von dir!“

Claudia nach kurzer Überlegung: „Nein, ich glaube nicht, dass euch das etwas angeht. Ich habe ja von euch auch noch nichts erfahren. Erzählt zuerst mal von euch, dann sehen wir weiter.“

Die beiden Männer sind damit einverstanden. Morgen ist den ganzen Tag Zeit dafür.

Aber woher du kommst, kannst du uns doch sagen,“ hakt Mike nochmal nach.

„Aus Drääsdn,” kommt es widerwillig in original Sächsisch zurück.

Mike ist konsterniert: „Woher kommst du?“

Martin mischt sich ein: „Sie meint Dresden. Das liegt im Tal der Ahnungslosen, wie das seinerzeit in der DDR genannt wurde, weil sie kein Westfernsehen hatten. Seitdem sind sie noch ein bisschen zurückgeblieben.“

Claudia will gerade gespielt beleidigt von ihrem Platz aufstehen, überlegte es sich aber wieder, weil der Kellner ihr das Essen serviert. Der Blick auf die appetitliche Tortilla lässt sie die Antwort vergessen.

Während sie isst, nimmt Mike das unterbrochene Gespräch wieder auf: „Ich hatte dir noch nicht geantwortet, als du fragtest, wie man in der fernöstlichen Religionsphilosophie dazu kommt, unsere Welt und unser Dasein als Maya, also als bloße Vorstellung oder einen Traum anzusehen. Das hat eine jahrtausendealte Tradition und kommt von großen geistigen Meistern oder Yogis, die durch tiefe Meditation und spirituelle Übungen gelernt haben, ihren Geist so weit zu beherrschen, dass dieser sogar den Körper verlassen kann. So, vom Körper losgelöst, können sie nicht nur unsere materielle Welt bereisen, sondern auch das Jenseits. Durch diesen Blick von Außen auf unsere Welt erfahren sie tief innerlich, was die Wissenschaftler nur durch Berechnungen und Experimente theoretisch prognostizieren können.“

Während er kurz inne hält um einen Schluck aus dem Bierglas zu nehmen, bemerkt er ein irritiertes Stirnrunzeln auf Claudias Gesicht.

Er beeilt sich daher hinzuzufügen: „Ich weiß, dass dies für viele Menschen, vor allem im Westen, eine sehr ungewohnte Sichtweise ist.“ Und zu Claudia gewandt fährt er fort: „Martin, er ist Quantenphysiker, hat vorher erzählt, dass die Wissenschaft aufgrund des Verhaltens der kleinsten Teilchen und aufgrund von Experimenten mit ihnen, zu überraschenden Parallelen zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und religiösen Aussagen kommt. Nicht wenige Wissenschaftler beschäftigen sich daher mit den fernöstlichen Religionen um mehr Klarheit zu bekommen.“

„Es wäre wirklich faszinierend, wenn zwei so unterschiedliche Fachrichtungen aus ihrer jeweiligen Sichtweise zu ähnlichen Ergebnissen über die Beschaffenheit unserer Welt kämen,” unterstützt ihn Martin, zu Claudia gewandt. „Es gibt Kollegen, die in diese Richtung denken. Ich bin da aber noch unentschieden.”

Claudia, an ihrer Tortilla kauend, entgegnet überlegen: „Solche Illusionen habe ich hinter mir gelassen. Geist kommt aus dem Gehirn. Das haben wir schon in der Schule gelernt und später habe ich noch ein paar Semester Philosophie studiert, wo auch nichts anderes gelehrt wurde. Geist kann nicht in jenseitigen Welten herumreisen, weil es die ohnehin nicht gibt. Aber es würde mich trotzdem interessieren, wie die Physik zu solchen Ansichten kommt. Da gibt es sicher einige spinnerte Esoteriker unter den Wissenschaftlern! Ich glaube das kann man schnell widerlegen.“

„Ich nehme dich beim Wort,“ hakt sich Mike schnell ein. „Wie wäre es, wenn wir uns während der Wanderung intensiv mit dieser Problematik befassen würden? Wir haben hier zufällig drei Experten für verschiedene Fachrichtungen: Martin für Quantenphysik, dich für Atheismus und Philosophie und mich für Religion und das was man so gemeinhin Esoterik nennt. Was haltet ihr davon?“

„Also, ich bin dabei. Ich möchte ohnehin zu mehr Klarheit über unser Dasein kommen und bin interessiert daran, was die Religion und auch die Philosophie und der Atheismus dazu sagen können,“ stimmt Martin zu.

Claudia übergibt ihren leeren Teller dem Kellner und meint gelassen: „Es gibt langweiligere Themen. Aber wenn ich euch eine Freude machen kann, mache ich auch mit. Aber beschwert euch nicht, wenn ich euch eure Illusionen nehmen werde!“

„Das Risiko gehe ich ein,“ meint Mike. „Wie ist es mit dir, Martin?“

„Wenn sich Atheismus als die Wahrheit herausstellen würde, dann wäre es eben so. Ich würde das dann akzeptieren,“ stellt dieser klar.

Es wird langsam dunkel. Die Jakobswanderer haben sich bereits zu ihren Schlafplätzen begeben. Nur noch ein paar Einheimische sitzen auf der Terrasse des Restaurants. Unsere drei Pilger erheben sich daher ebenfalls und machen sich auf den Weg zu ihren Unterkünften. Martin und Mike begleiten gentlemanlike ihre Weggefährtin bis zu deren Hotel, wo sie sich verabschieden mit einem: „Dann bis morgen früh um 7 Uhr am Ortsausgang!“

Die Nacht ist hereingebrochen. Auf dem spärlich beleuchteten Weg zur Klosterherberge rätseln beide noch über die Vergangenheit Claudias.

„Sie muss wohl schwere Enttäuschungen in ihrem Leben erfahren haben, um so verschlossen zu sein“, meint Mike nachdenklich.

Martin erklärt, dass das Leben in der DDR für kritisch eingestellte Menschen nicht einfach gewesen sei.

„Sie hat ihren eigenen Kopf und macht nicht den Eindruck, als ob sie sich von kommunistischen Apparatschiks etwas vorschreiben ließe. Sie wird wohl einige Schwierigkeiten durchgemacht haben. Ich denke, sie hat in ihrem Leben einen radikalen Kurswechsel vollzogen und befindet sich jetzt in einer Phase der Unsicherheit. Irgendwann wird sie uns ihre Geschichte erzählen“, fügt er hinzu.

Schließlich erreichen sie die Herberge und schleichen sich dort leise mit ihren Taschenlampen, um niemanden aufzuwecken, zu ihrem Lager.

Erschöpft und dennoch erfüllt von den Erlebnissen des Tages schlafen sie bald so tief und fest, dass sie von dem langsam einsetzenden Schnarchkonzert nichts mitbekommen.

9 US- amerik. Neurochirurg, Gefunden auf: https://www.myzitate.de/wissenschaft/

10 Wieso gehst du diesen Weg?

11 Hallo Claudia, wir sind hier. Komm her!

12 Bitte eine Speisekarte für die Dame.

KAPITEL 3

CLAUDIA BLICKT ZURÜCK

Ein verbreiteter Irrtum ist, zu denken, dass eine Wirklichkeit die Wirklichkeit sei. Man muss immer vorbereitet sein, eine Wirklichkeit für eine größere aufzugeben. Mutter Meera

Claudia hatte die Fürsorglichkeit der beiden Männer genossen, als diese sie am Abend zuvor zu ihrem Hotel begleitet hatten. Nach all den Jahren des Alleinseins hatte sie das Gefühl von Geborgenheit fast vergessen, das wohlmeinende Menschen ihr geben können.

Allerdings wollte sie sich nicht erneut den Sticheleien der beiden aussetzen und so steht sie schon zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt. Es ist noch dunkel und nebelig; die morgendliche Kälte dringt langsam durch ihre Kleidung. Hin und wieder tauchen Pilger aus dem Nebel auf und huschen mit einem „Buen Camino“ an ihr vorbei.

Endlich, mit ein paar Minuten Verspätung, steuern zwei schemenhafte Gestalten auf sie zu. Erleichtert spielt Claudia nun die Überlegene und ruft ihnen entgegen: „Was ist los mit euch? Termin ist Termin! Ich stehe mir die Füße in den Bauch und bin schon ganz durchgefroren.“

So in die Enge getrieben entschuldigt sich Martin und meint dann: „Da hilft nur, sich warm zu laufen. Los gehen wir!“

Und schon geht es ab Richtung Zubiri.

Mit etwa 21 km, die meistenteils bergab führen, ist heute, nach der gestrigen Anstrengung, Erholung angesagt. Sie gehen schweigsam schnellen Schrittes nebeneinander auf der Landstraße. Kein Auto weit und breit. Jeder ist noch mit seinen Gedanken und auch mit den Muskelkater, den er sich gestern eingehandelt hat, beschäftigt.

Endlich erhebt sich die Sonne über den Horizont und mit ihr verzieht sich der Nebel, wodurch sich die Stimmung der drei Pilger aufzuhellen beginnt.

„Wenn ich mich recht erinnere, haben wir gestern vereinbart, diese Wanderung mit einem Kurs in Quantenphysik, Religion und Philosophie zu bereichern,“ unterbricht Martin das ruhige Dahinschreiten.

„Seid ihr bereit, für eine Einführung in die Quantenphysik?“

Mike murmelt Zustimmung, während Claudia meint: „Ihr Männer seid immer so ungemütlich. Ich habe die Ruhe gerade so genossen. Aber wenn es nicht anders geht, dann mach mal!“

Martin versetzt sich nun in Gedanken in seinen Lehrsaal, und deklamiert vor imaginären hundert Studenten:

„Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie zu unserer ersten Vorlesung über die Quantenphysik begrüßen zu dürfen. Was Sie hier hören, wird Ihr Begriffsvermögens übersteigen und Sie werden nach dem Kurs nicht mehr der- oder dieselbe sein! Ihr Weltbild wird in völlig neue Dimensionen katapultiert. Was Sie jetzt als Wirklichkeit ansehen, wird sich als bloße Erscheinung herausstellen und was Sie für Illusion halten, wird sich als wahr erweisen. Schon Niels Bohr, der dänische Physiker, sagte vor nahezu 100 Jahren:

,Wer von der Quantenwelt nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden.‘

Schnallen Sie sich also sicherheitshalber an! Wir starten!“

„Übertreibst du da nicht ein bisschen?“, unterbricht ihn Claudia trocken.

Martin hält dagegen: „So beginne ich immer mit meinen Vorlesungen im ersten Semester und es ist noch keiner enttäuscht worden, außer vielleicht Einigen, die nichts kapiert haben. Wir fangen am besten gleich mit einem einfachen Beispiel an.“

Er überlegt kurz und sieht sich suchend um. Dann geht er auf einen Busch am Straßenrand zu und legt seinen Zeigefinger auf ein grünes Blatt: „Kann mir einer von euch sagen, welche Farbe hier an dieser Stelle ist?“

„Was soll diese Frage, ich sehe da grün,“ kommt es vorsichtig von Claudia zurück. Sie hat das Gefühl, dass es hier nicht auf das ankommt, was offensichtlich ist. Martin will sie und Mike anscheinend aufs Glatteis führen.

Mike hält sich ganz zurück. Er merkt an der Fragestellung, dass hier nicht die vordergründige Antwort gefragt ist.

„Achtet auf meine Wortwahl: Hier an dieser Stelle,“ wiederholt Martin indem er mit seinem Finger nochmal das Blatt berührt.

Ratlosigkeit bei den beiden, bis Mike meint: „Ich denke du erklärst am besten, wie du das meinst!“

Martin erläutert: „Wie entsteht Farbe? Von der Sonne da oben,” er deutet in deren Richtung, „fallen Lichtschwingungen verschiedenster Frequenzen auf dieses Blatt. Nur Strahlen mit einer bestimmten Frequenz, werden von der Oberfläche des Blattes reflektiert, andere werden absorbiert. Gelangen die reflektierten Lichtstrahlen in unser Auge werden sie von den Farbrezeptoren erfasst, die deren Schwingungsfrequenz entsprechen und als Information über die Nervenbahnen ins Gehirn weitergeleitet. Erst dort werden sie anschließend in Farbe umgesetzt. So sieht beispielsweise eine Biene, deren Farbrezeptoren auch die ultravioletten Strahlen wahrnehmen, die Welt in ganz anderen Farben. Was wir als Rot sehen, wäre für sie vielleicht ein Violett. Ein Hund hat keine Rezeptoren für Rot, so dass es für ihn vielleicht grünlich aussieht.

Alle Farbe und natürlich auch das Bild unserer Umwelt existiert daher nur in unserem Gehirn. Schon vor eintausend Jahren bewies Alhazen 13, der auch Vater der Optik genannt wird, als Erster, dass die visuelle Wahrnehmung mit dem Licht zusammenhängt, das ins Auge fällt. Er erkannte, dass die Sehwahrnehmung im Gehirn und nicht im Auge stattfindet.“

Dann fällt ihm etwas ein: „Hin und wieder mache ich Vorträge für die Volkshochschule und habe dafür eine Menge Anschauungsmaterial, das ich mittels PowerPoint an die Wand projiziere. Ich habe es auf meinem Smartphone gespeichert. Am besten setzen wir uns auf die Bank dort, dann kann ich euch daraus einige Bilder auf eure Handys schicken.“

Nachdem sie sich gesetzt haben, betrachten sie das erste Bild in ihrem Smartphone, das die Entstehung der Farbe im Gehirn grafisch illustriert.

Abbildung 2: Entstehung der Farbe

Nachdem sie sich erhoben und wieder in ihren gewohnten Marschtritt gefallen sind fährt Martin mit seinen Erklärungen fort:

„Jedes Lebewesen kann nur einen geringen Teil der Strahlung, die uns umgibt, durch das Auge erfassen. Insofern können wir nicht erkennen, wie unsere Welt objektiv aussieht.

Ich verstehe bis heute nicht, wieso dies alles nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist. Das müsste schon in der Grundschule gelehrt werden. Aber fast alle, denen ich diese Frage über die Entstehung der Farbe vorgelegt habe, sogar die meisten Kollegen anderer Fakultäten, von den Studenten ganz zu schweigen, haben keine Ahnung davon. Sie stellen sich das Sehen etwa so vor, wie wenn die Augen Scheinwerfer wären, die Strahlen aussenden, die dann von den Gegenständen reflektiert würden.”

Dann bleibt er kurz stehen und weist mit einer ausholenden Armbewegung auf die umgebende Natur:

„Schaut euch jetzt einmal um und überlegt, wie diese Welt außerhalb eures Gehirns oder Bewusstseins aussieht. Ich wette, ihr könnt es mir nicht sagen. Ich kann es leider auch nicht.“

Claudia und Mike wirken etwas ratlos. Aber Martin ist noch nicht zuEnde:

„Diese Sache können wir natürlich weiterspinnen. Nehmen wir den Schall. Das, was wir als Geräusch wahrnehmen, sind Luftschwingungen, die von einer bestimmten Quelle ausgehen, z. B. einem Knallkörper oder den Stimmbändern, gerade jetzt in meinem Kehlkopf. Was ich gerade rede, wird vom Trommelfell eurer Ohren aufgenommen und über die Gehörknöchelchen sowie das Innenohr als Information an euer Gehirn weitergeleitet. Erst dort werden die Luftschwingungen in Schall umgesetzt. Die uns umgebende Luft ist zwar voller Schwingungen, jedoch völlig lautlos.

So ähnlich ist es auch mit Geruch. Hier handelt es sich um Geruchsmoleküle, die in unsere Nase gelangen. Dort werden sie von den Riechzellen in der Schleimhaut absorbiert. Die Reize werden an das Gehirn weitergeleitet. Erst dort wird Geruchsempfinden hergestellt.

Dies sind nur drei Beispiele. Ebenso verhält es sich mit Geschmack und Gefühl.

Solange es keine Augen, Ohren und Nasen gibt und auch keine Geschmacks- und Tastempfindungen, die mit einem Gehirn verbunden sind, kann es keine Wahrnehmung unserer Welt geben. Sie wäre völlig farb- und geräuschlos und würde auch nach nichts riechen. Wir könnten nichts schmecken und würden nichts spüren, wenn wir irgendwo dranstoßen.“

Martin endet schließlich sehr betont: „Unsere ganze Wahrnehmung beruht nur auf Informationen, die uns unsere Umwelt zusendet. Wie diese in Wirklichkeit aussieht, ist für uns nicht erkennbar. Und wir selbst, unser Körper, sind Teil dieser Umwelt.“

Allgemeine Ratlosigkeit?!

Schließlich versucht Claudia einen Ausbruchsversuch aus diesem, sie beängstigenden Weltbild. Sie bleibt stehen und umfasst eine Eiche am Wegesrand:

„Aber das hier ist doch etwas Wirkliches, etwas Festes. Da kannst du doch nicht behaupten, das wäre nur Schein!“

„Auch diese Illusion muss ich dir nehmen,“ entgegnet Martin unbarmherzig, „du kannst diesen Baum nicht einmal anfassen.“

„Wie kommst du denn darauf? Ich habe doch meine Hände auf ihm und fühle ihn!“

„Die Elektronen deiner Hand werden von den Elektronen des Baumes elektromagnetisch zurückgestoßen, weil sie beide die gleiche – negative – Ladung haben. Wenn es diese gegenseitige Abstoßung der Elektronen nicht gäbe, könntest du mit deiner Hand ohne Probleme durch den Baum hindurchfahren. Die Atome sind in sich so leer und so weit voneinander entfernt, dass kaum ein Atomteilchen mit dem anderen kollidieren würde. Daher macht es dies für dich auch unmöglich, die Eiche überhaupt anzufassen.“

Martin bekräftigt dies nochmal, indem er seine Hand auf den Baum legt: „Meine Hand wird, natürlich in einer winzigen Entfernung, elektromagnetisch davon abgehalten, in den Baum einzudringen.“

In Weitergehen erläuterte er noch: „Du hast doch sicher schon mal versucht zwei Magnete mit dem jeweils gleichen Pol – Plus auf Plus oder Minus auf Minus – zusammenzudrücken. Wenn die Magnete stark sind, ist dies nur mit sehr viel Mühe möglich. So wie gleiche Magnetpole stoßen sich auch Elektronen gegenseitig ab.“

Martin fühlt, dass er den beiden viel zugemutet hat und lässt sie daher das Gehörte zunächst mal verdauen. So ziehen sie schweigend weiter, jeder seine Gedanken ordnend.

Dann führen sie die gelben Pfeile von der Straße ab auf einen anstrengenden Anstieg, der durch einen dichten Wald führt. Der Weg ist steinig. Baumwurzeln versuchen die Füße des Wanderers zu ergreifen und ihn ins Straucheln zu bringen. Stundenlang gehen sie, mal ist der Weg besser und dann wieder schwieriger, bis sie die Passhöhe von Erro erreichen. Dort steht eine kleine Getränkebude, die zu einer Rast einlädt.

Es ist erst früher Nachmittag, ihr Tagesziel Zubiri ist nur noch etwa fünf Kilometer entfernt. Der frisch gepressten Orangensaft, den sie sich gönnen, lässt die Lebensgeister wieder erwachen. Sie legen sich auf ihre ausgebreiteten Ponchos ins Gras und lassen sich von der Sonne bescheinen.

Während sie so entspannt daliegen, hallt in Claudia das von Martin Gehörte nach, so dass sie die Stille unterbricht, sich aufrichtet und Martin anspricht:

„Was du uns heute früh erklärt hast ist zwar schwer zu verdauen, aber es erinnert mich an mein Philosophiestudium, wo ein solches Weltbild als Idealismus klassifiziert wurde, im Gegensatz zu dem eher materialistisch geprägten Realismus. Ich kann mich erinnern, dass Platon14, Berkeley15, Schopenhauer16 und noch andere diese Lehre vertraten. Das passte natürlich nicht in das materialistische Weltbild des Kommunismus und so tat es unser Professor mehr oder weniger als Geistesverwirrung ab. Mir kommt das auch sehr unrealistisch vor. Gehst du da nicht zu weit mit deinen Schlussfolgerungen?“

Mike schaltete sich daraufhin ein: „Ich meine, einmal gehört zu haben, dass schon der griechische Philosoph Demokrit vor fast 2500 Jahren gesagt haben soll, dass alles nur scheinbar besteht und tatsächlich nur Atome im leeren Raum existieren. 17

Claudia meint: „Ja, den Spruch kenne ich auch und das Höhlengleichnis von Platon geht ebenso in diese Richtung. Aber es ist nur die idealistische Sicht der Dinge und die ist eben nicht realistisch.“

„Ich habe davon mal gehört, kann mich aber nicht mehr genau erinnern, was Platon damit gemeint hat. Kannst du es nochmal erklären?“, bittet sie Mike.

Claudia freut sich, nun auch etwas zur Wissenserweiterung beitragen zu können und erklärt:

„Platon vergleicht unsere sinnlich wahrnehmbare Welt mit einer unterirdischen Höhle, in der Menschen sitzen, die so gefesselt sind, dass sie ihren Blick nur auf die hintere Wand der Höhle werfen können. Hinter ihrem Rücken werden Schattenbilder erzeugt, die durch ein Feuer, das rückwärtig brennt, an die Höhlenwand projiziert werden. Diese Bilder sehen sie als die Wirklichkeit an. Erst wenn einer losgebunden und gegen seinen Willen aus der Höhle geschleppt wird, kann er das wahre Wesen der Dinge im Licht der Sonne erkennen. Allerdings, wenn er zurück in die Höhle geht und versucht, die anderen davon zu überzeugen, ebenfalls hinauszugehen, erklären sie ihn für verrückt und weigern sich beharrlich, ihm zu folgen.“