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Wenn das Schicksal der Erde in den Händen einer Rachegöttin liegt …
Der prickelnde Dark Fantasy-Roman, der dich in eine dämonische Unterwelt entführt
Nach einem schrecklichen Vorfall ist die Furie Tess Hope in die Menschenwelt geflüchtet. Doch als ihre Heimat Empyrion von Dämonen bedroht wird, hat sie keine andere Wahl als zurückzukehren, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – und dem attraktiven Jack Pers, der allen Grund hat, sie zu hassen. In ihrem alten Posten als Agentin der Black Company versucht sie, die dämonische Gefahr aufzuhalten. Doch dabei kommt Tess auch Jack wieder gefährlich nah …
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Black Demons – Göttin der Rache von Caroline Lange
Erste Leser:innenstimmen
„Intrigen, Blut, Liebe, Leidenschaft – gepaart mit einer großen Portion Fantasy ... Was will man mehr?“
„Sehr spannend, sehr emotional und mitreißend!“
„Eine toller Schreibstil und eine bis zum Schluss fesselnde Geschichte, gerne mehr davon.“
„Packende Urban Fantasy mit einem Schuss Erotik und einer schönen Lovestory – super!“
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Seitenzahl: 650
Nach einem schrecklichen Vorfall ist die Furie Tess Hope in die Menschenwelt geflüchtet. Doch als ihre Heimat Empyrion von Dämonen bedroht wird, hat sie keine andere Wahl als zurückzukehren, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – und dem attraktiven Jack Pers, der allen Grund hat, sie zu hassen. In ihrem alten Posten als Agentin der Black Company versucht sie, die dämonische Gefahr aufzuhalten. Doch dabei kommt Tess auch Jack wieder gefährlich nah …
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen TitelsBlack Demons – Göttin der Rache von Caroline Lange.
Überarbeitete Neuausgabe März 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-550-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-552-2
Copyright © 2019, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Black Demons (ISBN: 978-3-96087-742-4).
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Martin Capek, © m.mphoto, © NANOM, © The Faces freepik.com: © Vectorium Lektorat: Janina Klinck
E-Book-Version 12.07.2024, 15:02:20.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Sirenengeheul, wütendes Hupen, quietschende Reifen und pöbelnde Menschen auf ihrem Weg in den heiß ersehnten Feierabend, das war die Hintergrundmusik der Stadt, die niemals schlief. New York.
Der Wind trug den Lärm bis zu mir herauf aufs Dach, während ich gebannt das Geschehen weit unter mir betrachtete.
Mit dem Lärm Hand in Hand stiegen die Düfte der Stadt zu mir herauf. Essen aus den verschiedensten Ländern. Würzig scharfe Gerüche von dem Inder um die Ecke und frittiertes Fett von dem Fast–Food–Restaurant auf der anderen Straßenseite vermischten sich mit den Abgasen der Autos und dem Geruch von Unzufriedenheit und Wut.
Kaum etwas roch stärker. Neid, Abscheu, Zorn, Hass, Feindseligkeit. Sie alle schürten den Wunsch nach Rache. Rache am Chef, weil er einem heute die Kündigung ausgesprochen hatte. Rache am Ehemann, weil er fremdgegangen war. Rache an der Partnerin, weil sie einen für den heißen Typen aus dem Fitnessstudio verlassen hatte.
Jeder Mensch war auf irgendjemanden wütend. Ein Glück für mich, denn damit verdiente ich seit jeher mein Geld.
Mein Name ist Tess Hope und ich bin eine Furie, eine Rachegöttin. Jemand ruft und bezahlt mich dafür, Rache an einer Person zu nehmen. Ob sie nun wirklich die Schuld trägt oder nicht, spielt für die meisten Menschen oder … nun ja, andere Wesen, keine Rolle – und für mich damals auch nicht.
Ich erfüllte jeden Auftrag gewissenhaft und holte mir danach meine Bezahlung ab. Doch mit der Zeit wurden die Wünsche immer grausamer und blutiger. Damals schwelgte ich darin, Rache zu nehmen, und je schrecklicher sie ausfiel, desto glücklicher war die Furie in mir. Doch dann passierte diese eine Sache und alles änderte sich. Ich veränderte mich. Ich war nicht mehr die Furie, die ich früher einmal war, und das machte es erstaunlich schwer, Rache zu nehmen. Viel schwerer, als es einer Furie fallen sollte.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit von den trüben Gedanken zurück auf die wundervolle Stadt New York. Mein Blick streifte über die Dächer, die vielen Lichter, das Leben. Hier oben hatte ich eine tolle Aussicht. Ich befand mich auf dem Dach eines Wolkenkratzers und hielt Ausschau nach … tja, wonach genau konnte ich gar nicht sagen, nach Vergebung, schätze ich.
In einem Alter von etwas über fünfhundert Jahren brauchte anscheinend auch eine Furie mal so etwas wie Vergebung. Also saß ich hier und wartete. Wartete darauf, dass ich mir selbst vergeben konnte für das, was ich getan hatte. Meine Schuld wog schwer, und mit jedem Tag, an dem ich sie mit mir herumtrug, wurde sie schwerer. So langsam wusste ich nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Ich brauchte dringend einen Plan.
Ich lebte jetzt seit etwa einhundert Jahren unter den Menschen, und auch wenn sie es immer wieder schafften, mich zu überraschen, konnte ich doch nicht behaupten, mich hier wirklich wohlzufühlen. New York war klasse, eine der tollsten menschlichen Städte, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte, aber dennoch … meine Heimat fehlte mir.
Leider konnte ich es mir nicht länger aussuchen, wo ich mein Leben verbringen wollte. Zumindest nicht in meiner Welt, aus diesem Grund war ich hier. Die Schuld hatte mich hierhergetrieben. Ich konnte nicht zurück. Mir blieb nur die Welt der Menschen. Dabei komme ich aus einer Stadt, die New York sehr ähnlich ist, geradezu zum Verwechseln ähnlich. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich mich für diesen Ort auf der Erde entschieden hatte. Der Big Apple kam meinem Zuhause am nächsten.
Eine kalte Windböe wurde zu mir heraufgetrieben und peitschte mir meine langen Haare aus dem Gesicht. Ich liebte die Nacht. Ich war schon immer lieber auf der Straße, wenn es dunkel wurde und die Sonne sich endlich zurückzog, um an einem anderen Ort zu scheinen. Der Mond und ich, die Finsternis und ich, wir waren enge und alte Freunde.
Einen Blick auf die Uhr werfend, entfuhr mir ein bedauerndes Seufzen. Ich hatte heute Abend noch eine Aufgabe zu erledigen und wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich mich langsam auf den Weg machen.
Mit einem resignierten Stöhnen stand ich auf und warf noch einmal einen wehmütigen Blick über die erwachende Stadt. Das war noch ein Grund, warum ich New York so liebte. Genau wie ich erwachte die Stadt erst so richtig zum Leben, wenn die Nacht hereinbrach. Vielleicht nannte man mich deswegen auch Tochter der Nacht. Wie ich schon sagte, die Dunkelheit und ich, wir waren alte Freunde.
Es wurde Zeit.
Mit einem Sprung stand ich auf der Balustrade des Gebäudes und konnte weit unter mir ganz klein die fahrenden Autos erkennen. Mit geschlossenen Augen breitete ich meine Arme aus und mit ihnen meine großen, schwarzen Flügel. Auf den ersten Blick hätte man sie als Engelsflügel bezeichnen können, wären da nicht die schwarzen Federn gewesen, die wie dunkler Satin schimmerten. Sie hatten nichts vor der Reinheit und der Unschuld der Engel und das war auch gut so. Ich war nicht unschuldig und das Wort Reinheit hätte man noch eher mit der abgasgeschwängerten Luft in Verbindung bringen können als mit mir. Meine Flügel waren schwarz. Schwarz wie die Nacht, schwarz wie mein Haar, schwarz wie ein Teil meiner Seele.
Den Kopf gen Himmel streckend und dem Mond ins Antlitz lächelnd, ließ ich mich fallen.
Der Wind rauschte an mir vorüber und all die Sorgen blieben oben auf dem Dach zurück. Von der Geschwindigkeit stiegen mir Tränen in die Augen und ich stieß ein freudiges Lachen aus. Dieser Moment des Fallens, des Fliegens, befreite mich. Mit der Schwerelosigkeit kam die Leichtigkeit, und dieses Gefühl der Freiheit war alles, wonach ich strebte.
Kurz bevor ich auf dem Boden aufkam, schlug ich einmal kräftig mit meinen schwarzen Schwingen und befand mich sofort wieder in der Luft. Die vielen Federn fingen den Wind unter mir auf und trieben mich wieder in die Höhe. Ich konnte jeden Luftzug bis in die kleinste Feder spüren. Es kitzelte leicht und zauberte mir wieder ein Lächeln ins Gesicht.
Es brauchte nur fünf weitere Schwünge mit meinen Flügeln und schon war ich an meinem Ziel angekommen. Der Vorteil, wenn man eine Furie ist: Taxi fahren in einer überfüllten Stadt wie New York war dank meiner Flügel überflüssig.
Etwas unsanft kam ich auf dem weichen Gras des Central Parks auf und zog meine Schwingen wieder ein. Es war inzwischen so spät und dunkel, dass ich sicher sein konnte, von niemandem gesehen worden zu sein, außer vielleicht von ein paar betrunkenen Jugendlichen, die glauben würden, ihre Augen spielten ihnen einen Streich. Meine Flügel waren für Menschen – Normalsterbliche – zwar nicht zu sehen, dennoch warf eine fliegende Frau, die um Mitternacht im Central Park landete, Fragen auf.
Ich atmete einmal tief ein und sah dann nach oben. Das Gebäude direkt vor mir war mein Ziel. Mit schnellen Schritten ging ich darauf zu und versuchte den Vollmond zu ignorieren, der inzwischen fast seinen Zenit erreicht hatte. Ich kam genau rechtzeitig. Wäre ich später losgeflogen, wäre diese Nacht sicher unschön verlaufen.
Im 13. Stock des Wolkenkratzers angekommen, zog ich den Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die Tür zu meinem Apartment auf. Hier lebte ich nun schon seit einhundert Jahren – und es gefiel mir. Ich konnte mich wirklich nicht beschweren.
Ich hatte eine fantastische Aussicht, eine wunderschöne, riesige Wohnung, tolles Mobiliar und eine unorthodoxe Mitbewohnerin – um es vorsichtig auszudrücken.
Apropos, ich war noch nicht einmal ganz in der Wohnung, da kam auch schon eine wutentbrannte Blondine auf mich zugestapft und funkelte mich wütend an.
„Jetzt bist du da?! Weißt du, wie spät es ist?“
„Ich bin auf die Minute pünktlich, würde ich sagen.“ Augenrollend schloss ich die Tür hinter mir zu und entledigte mich meiner geliebten Lederjacke. „Ich weiß nicht, warum du so einen Aufstand machst, bisher bin ich immer rechtzeitig da gewesen.“
Anni, meine Freundin und Mitbewohnerin, stemmte aufgebracht die Hände in ihre schmalen Hüften und versuchte mich mit ihren Blicken zu erdolchen. „Du weißt doch, was passiert, wenn Vollmond ist. Ich war kurz davor, auszugehen. Weißt du eigentlich, wie knapp es heute war? Wärst du nicht in diesem Moment zur Tür reingekommen, wäre ich losgegangen.“
Ein Blick auf ihr Äußeres sagte mir, dass sie nicht übertrieb. Ihre langen, blonden Haare waren leicht gelockt, sie hatte ihre Augen dunkel geschminkt und roten Lippenstift aufgelegt. Ihre schmale Figur wurde durch das enganliegende Glitzertop und die Lederröhre noch betont. Mörderisch hohe High Heels ließen sie mit ihren ein Meter achtzig größer erscheinen, als sie sowieso schon war.
Mit ihrer dünnen Figur und ihrem hübschen Gesicht war es kein Wunder, dass sie hauptberuflich als Model arbeitete. Wir hätten gegensätzlicher nicht sein können. Ich war kleiner und hatte auch keine Streichholzbeine. Ich war sportlich schlank und hatte durch das viele Laufen und Krafttraining einen sehnigen, eher muskulösen Körper. Meine Haut war bronzefarben und meine Augen so dunkelbraun, dass sie als schwarz hätten durchgehen können. Die einzige Gemeinsamkeit, die wir hatten, war die Länge unserer Haare, aber damit hatte es sich auch schon.
„Ich bin ja noch rechtzeitig gekommen, oder?!“, versuchte ich Ann zu beruhigen und ging erst einmal in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen.
„Willst du mich verarschen? Ich kann deinen zerzausten Haaren ansehen, dass du dich ganz schön beeilen musstest. Hast du etwa die Zeit vergessen? An einem so wichtigen Tag wie heute?“
Ach ja, eine Kleinigkeit hatte ich vergessen. Meinesgleichen kann – im Gegensatz zu den Menschen – meine Flügel sehen, und wenn ich meinesgleichen sage, meine ich nicht Furie. Anni, oder auch Ann, wie sie eigentlich hieß, war eine Sirene – und das nicht nur äußerlich. Sie stammte von den ersten Sirenen ab. Um genau zu sein von einer der Sirenen, die damals versucht hatte, Odysseus mit ihrem Gesang auf ihre Insel zu locken.
Drei Nächte im Monat, immer um den Vollmond herum, verspürte dieses hübsche Geschöpf den unwiderstehlichen Drang, eine Karaoke–Bar aufzusuchen und ihrer Stimme freien Lauf zu lassen. Das an sich wäre ja auch gar nicht so schlimm, heutzutage gab es keine Männer auf See mehr, die, einmal von ihrem Kurs abgekommen, nicht mehr nach Hause fanden. Allerdings lockte Annis Gesang buchstäblich jeden Mann im Umkreis von hundert Kilometern an. Bei so vielen Männern auf einem Haufen war der Ärger natürlich vorprogrammiert. Meistens endete das Ganze damit, dass sich die Männer gegenseitig k. o. – oder im schlechtesten Fall tot – schlugen, bis nur noch einer übrig war, der dann für jene Nacht seinen Anspruch auf Ann erhob.
Bei solch einer Gelegenheit hatten wir uns damals kennengelernt. Ich war gerade erst seit zehn Jahren in New York, für jemanden wie mich eine kurze Zeitspanne, als ich diese hübsche Blondine singend in einer Bar fand, in der eine Riesenschlägerei ausgebrochen war. Ich rannte in die Bar, um die Frau vor den ganzen Trunkenbolden zu retten, die sich dort gegenseitig Glasflaschen auf die Köpfe schlugen. Bis ich verstand, dass sie der Grund für die steigende Aggression war. Ich musste ihr eines der versifften Geschirrtücher in den Mund stopfen, weil sie einfach nicht aufhören wollte, zu singen. Später hatte ich ihr dann eine saftige Ohrfeige verpasst, die sie zumindest ohnmächtig hatte werden lassen, erst da hörten die Männer auf, sich gegenseitig zu Brei zu schlagen.
Ich nahm Ann mit zu mir und nahm mir vor, sie zu befragen, sobald sie wieder zu sich gekommen war.
Der blonde Engel nahm mir sämtlichen Wind aus den Segeln, als sie sich mit einem herzzerreißenden Schluchzen bei mir für die Hilfe bedankte. Sie habe sich selbst nicht unter Kontrolle und verspüre an drei Tagen im Monat immer diesen Drang, zu singen. Sie brauche jemanden, der ihr dabei helfe, sich unter Kontrolle zu bekommen. Es sollten keine Männer mehr ihretwegen sterben.
Offensichtlich wusste die kleine Sirene nicht, wer oder was sie war, und ihre Kräfte schien sie ebenfalls nicht unter Kontrolle zu haben.
Vielleicht hätte ich ihr damals erzählen müssen, was sie war und woher sie eigentlich kam, wo Wesen wie sie normalerweise lebten, aber um ehrlich zu sein … ich wollte nicht über meine Welt sprechen. Und Ann war, obwohl man es kaum glauben konnte, eine sehr genügsame Sirene, die, was meine Herkunft betraf, keinerlei Neugier hegte.
Als Ann, nachdem ich sie in der Bar k. o. geschlagen hatte, wieder zu sich kam und meine Flügel zum ersten Mal sah, erschreckte sie zwar, hatte sich aber relativ schnell wieder im Griff. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mich für eine dunkle Fee hielt, die man zu ihr gesandt hatte, um ihr mit ihrem Problem zu helfen, oder einfach für einen Engel, der sich die Flügel schmutzig gemacht hatte. Sie fragte nie danach – und was sollte ich sagen, seit jener Nacht waren wir Freundinnen und sie zog bei mir ein.
„Es tut mir leid, in Ordnung?! Nächstes Mal bin ich rechtzeitiger hier“, versuchte ich Ann zu beruhigen.
„Wo bist du gewesen, Tess?“ Anni hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an.
„Vielleicht sollten wir das morgen klären. Du gehörst in dein Zimmer, komm schon.“ Ich versuchte die schöne Sirene am Arm zu packen und auf ihr Zimmer zu geleiten.
Wir hatten es in einen schalldichten Raum verwandelt, in dem sie so laut singen konnte, wie sie wollte. Niemand würde sie hören. Das Fenster hatte eine Zeitschaltuhr, über die ich an drei Tagen im Monat die Macht hatte. Es würde sich erst wieder öffnen, wenn der Morgen anbrach und Anni nicht mehr das Bedürfnis verspürte, singen zu wollen.
„Nein, wir reden jetzt darüber“, fauchte sie und zeigte drohend mit dem Finger in meine Richtung.
„Ich habe einen weiteren Auftrag in den Wind geschossen, okay?!“
Anns wutverzerrtes Gesicht schlug augenblicklich in Mitleid um. „Das tut mir leid“, flüsterte sie.
„Ja, mir auch“, seufzte ich und griff mir in die Haare. Sich nicht mehr an Unschuldigen zu vergreifen war vielleicht das Richtige, aber auch nicht wirklich gewinnbringend. Dabei war ich nicht stolz auf meine Vergangenheit. Jeder hatte vielleicht schon mal etwas getan, was er bereute, aber ich hatte fast ein Jahrhundert lang gewütet und war die schlimmste aller Kreaturen gewesen. Ich wollte nie wieder so sein.
„Willst du reden?“, fragte mich Ann und berührte sanft meinen Arm. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie auf mich zugekommen war. „Wir könnten uns in irgendeine Bar setzen und es mit viel Alkohol vergessen, wenn du willst“, schlug sie unschuldig vor.
„Netter Versuch, Ann. Aber nicht heute.“ Damit fasste ich sie am Arm und bugsierte sie geradewegs in ihr Zimmer.
Der Vollmond hatte inzwischen seinen Zenit erreicht. Alles, was Ann nun sagen würde, würde allein zu ihrem Vorteil sein, um doch noch die Möglichkeit zu bekommen, vor einem männlichen Publikum zu singen.
Nachdem ich sie in ihr Zimmer gesperrt hatte, verschwand ich in unserem Badezimmer und versuchte, mir die schwere Stimmung abzuwaschen. Doch es half nicht. Egal, wie viel kaltes Wasser ich mir auch ins Gesicht klatschte, meine Gefühle waren immer noch so schwermütig wie zuvor.
Ja, okay, heute Abend gab es kein Geld, aber ansonsten lief mein Geschäft gut. Es gab jede Menge Menschen, die es verdient hatten, dass man sich an ihnen rächte, und das bedeutete für mich jede Menge Arbeit und jede Menge Geld.
Natürlich konnte nicht jeder Wunsch erfüllt werden. Ich würde beispielsweise einen untreuen Ehemann nicht acht Stunden lang in einem Feuer brutzeln und anschließend sterben lassen, auch wenn die Ehefrau sich dies von Herzen wünschte.
Nein, meine Rache sah anders aus. Ich tauchte mit einem einzigen Blick in ihre Köpfe ein und ließ sie unter Qualen und Schmerzen erkennen, was sie getan hatten. Ich marterte sie so lange, bis sie einsahen, dass sie einen Fehler begangen hatten, und diesen bereuten. Reue war das Einzige, was sie von dieser Folter befreien konnte.
Schmerz entsteht im Kopf, hatte meine Schwester Megaera immer gesagt, lass sie glauben, dass du ihnen gerade ein Messer in die Brust gestochen, sie mit heißen Schürhaken traktiert oder ihnen die Finger abgeschnitten hast.
Meine Schwester Megaera war schon immer die Kreativere von uns dreien gewesen, dennoch hatte sie recht. Der Schmerz entstand im Kopf, und so ließ ich meine Geächteten wissen, was Schmerz eigentlich bedeutete. Erst wenn sie bereuten, hörte ich auf, sie zu peinigen – erst dann waren sie erlöst.
Ich schaute in den Spiegel und blickte in meine dunklen mandelförmigen Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt wurden. Wie oft hatten diese Augen schon gepeinigt, Leid zugefügt, gehasst und vernichtet? Wenn ich einen Schuldigen ansah, färbten sich diese Augen komplett schwarz und ein dunkler Schatten legte sich über mein Gesicht. Meine schwarzen Flügel breiteten sich aus und die silbernen Peitschen, die sich um meine Unterarme wanden, wurden lebendig und schlängelten sich wie Schlangen in meiner Hand.
Ich sah wirklich furchteinflößend aus, wenn ich auf einem Rachetrip war, und so sehr ich meine Opfer mit meinem Anblick und all den Schmerzen auch in die Knie zwang, bei mir selbst funktionierte das Ganze nicht.
Ich hatte es tatsächlich schon versucht. Ich hatte versucht, an mir selbst Rache zunehmen. Meine Sünden bestrafen, das, was ich getan hatte, sühnen. Doch ich konnte es nicht. Meine beiden Schwestern hätten mich ausgelacht, mich dafür verachtet.
Eine Furie fühlt sich niemals schuldig!
Das war das oberste Gebot meiner Art. Denn wie sollte man Rache nehmen, wenn man für eine begangene Tat Schuld empfand?
Dennoch konnte ich nichts dagegen tun. Ich fühlte mich schuldig. Und mit jedem weiteren Auftrag wurde es schwerer, die Kontrolle zu behalten. Da ich an mir selbst keine Rache verüben konnte, übertrug ich meine Schuldgefühle auf die Personen, an denen ich Rache übte. Je größer die Schuld, desto schlimmer die Strafe.
Meine Schuld war so groß, dass sie kaum Platz in dieser Welt fand. Furien töteten nur selten ihre Opfer. Meistens sahen diese ihre Schuld rechtzeitig ein und zeigten Reue, doch wenn sich meine Schuld auf meine Opfer übertrug, konnte ich meine Kraft nicht länger kontrollieren.
In den letzten Monaten waren zehn meiner Opfer unter den Qualen, die ich ihnen zugefügt hatte, gestorben, und es wurden mit jedem Auftrag mehr. Bisher waren es nur Vergewaltiger und Mörder gewesen, deswegen hielt sich meine Reue noch in Grenzen. Aber es blieb die Frage, wie weit ich noch gehen wollte.
Bisher hatte ich diese Angst immer verdrängt und sie so gut es ging mit Alkohol heruntergespült oder versucht zu vergessen, indem ich nachts über die Stadt flog. Doch an Abenden wie diesem … da kamen sie an die Oberfläche und ich konnte nichts dagegen tun.
Meinen Anblick im Spiegel nicht länger ertragend, ging ich zurück ins Wohnzimmer, um einen Tee aufzusetzen, als mir ein weißer Zettel ins Auge fiel, der vor unserer Wohnungstür lag.
Ich bückte mich danach und öffnete sofort die Tür, um vielleicht noch einen Blick auf die Person zu erhaschen, die diesen Zettel unter der Tür in unsere Wohnung geschoben haben musste. Doch da war niemand.
„Hm“, machte ich, schloss die Tür und setzte mich auf einen der Barhocker unseres Küchentresens.
Ich faltete den Zettel auseinander und las den einen Satz, der in schwarzer, geschwungener Schrift auf dem weißen Papier prangte. Unheilvoll brannten sich die Worte in meinen Kopf und eine dunkle Vorahnung überkam mich.
Komm aufs Dach!
Ich warf mir schnell eine Lederjacke über, versicherte mich, dass Anns Tür fest verschlossen war, und sprintete ins Treppenhaus. Als ich die Treppe erreichte, die hinauf aufs Dach führte, atmete ich noch einmal tief durch. Ich brachte die letzten Stufen hinter mich, stieß die Tür zum Dach schwungvoll auf und trat hinaus in die kühle, leuchtende Nacht.
„Hi, Schätzchen.“
Nur wenige Meter von mir entfernt stand kein Geringerer als Ian Somerhalder und grinste mich verschmitzt an.
Etwas irritiert, aber zugleich angenehm überrascht sah ich dem berühmten Schauspieler entgegen.
„Hallooo“, sagte ich langsam und konnte mir ein breiter werdendes Grinsen nicht verkneifen. „Haben Sie den Zettel unter meiner Tür durchgeschoben?“
„Könnte man so sagen“, erwiderte Ian und schenkte mir dieses unglaubliche Damon–Salvator–Lächeln aus seiner Serie The Vampire Diaries.
Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich geschmeichelt fühlte und mein Herz einen kleinen Satz machte.
„Kann ich … etwas für Sie tun? Warum sind Sie hier?“, fragte ich, räusperte mich verlegen und überlegte gleichzeitig, ob es unangebracht wäre, ihn um ein Autogramm zu bitten. Anni fuhr auf seine Serie ab, sie würde mir mit Sicherheit den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass ich Ian Somerhalder getroffen und ihn nicht um ein Autogramm gebeten hätte.
„Ich glaube, du weißt, warum ich hier bin …“
Oookay, wir waren also schon beim Du. Etwas ungewöhnlich, aber wenn er es lieber etwas vertrauter haben wollte … schön. „Ich kann leider nicht hellsehen. Du musst mir schon sagen, was du willst“, sagte ich und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, während ich einen Schritt auf ihn zuging.
„Komm schon, Tess, das kannst du besser!“
Wie erstarrt hielt ich mitten in der Bewegung inne und wagte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte ich, und eine dunkle Vorahnung überkam mich.
„Du weißt, woher!“
Diese selbstgefällige Art … etwas an diesem Typen kam mir seltsam vertraut vor, doch meine Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ich keinen davon richtig greifen konnte. Eine Angst machte sich in meiner Brust breit und verhinderte, dass ich klar denken konnte. Ich machte ein paar unsichere und vorsichtige Schritte auf den Schauspieler zu und stutzte. „Wer sind Sie?“
Ian lachte. „Verdammt, Tess, du bist echt aus der Übung!“
Kalter Angstschweiß überzog meine Haut, und während ich noch vorsichtig auf den Schauspieler zuging, verwandelte sich der Mann vor meinen Augen in etwas anderes … in jemand anderes.
Ich konnte sehen, wie seine Konturen verwischten und er irgendwie unscharf wurde. Im Bruchteil einer Sekunde stand plötzlich eine vertraute Gestalt vor mir.
Das ging alles so rasend schnell, dass mein Gehirn eine Weile brauchte, um zu realisieren, was ich dort gerade gesehen hatte. Dieser Mann, der eben noch wie der berühmte Schauspieler ausgesehen hatte, hatte seine Gestalt gewechselt. Doch das war nicht das, was mir Angst machte, schließlich war ich eine Furie und stammte aus einer anderen Welt, ich kannte Gestaltwandler. Nein, es war die Person, die plötzlich scharf und deutlich erkennbar vor mir stand, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das Herz sprang mir fast aus der Brust, so heftig hämmerte es gegen meine Rippen, und während mein Gehirn langsam die Information verarbeitete, die bereits auf meinen Lippen lag, hatten auch meine Augen endlich erkannt, wem ich ins Antlitz sah.
„Skip“, flüsterte ich entgeistert. „Was zur Hölle machst du hier?“
Das konnte nicht wahr sein. Wie hatte er mich gefunden? Erschrocken und überrascht zugleich sah ich den Mann vor mir an. Ich wusste, dass mir die Schrift auf dem Zettel bekannt vorgekommen war, doch hätte ich sie niemals ihm zugeordnet. Zu lange war es her, dass ich neben ihm gesessen und seine Notizen abgeschrieben hatte.
Ich hatte damals alles und jeden in meiner Welt zurückgelassen, auch ihn. Ich hatte Skip ausdrücklich erklärt, dass er es niemals wagen sollte, mir zu folgen. Niemals! Und nun war er hier und bestimmt nicht nur zum Kaffeeklatsch.
„Hallo, Tess. Schön, dich wiederzusehen“, sagte er mit einem süffisanten Lächeln, das mich sofort auf die Palme brachte.
„Sch–schön, dich wiederzusehen?“
Verwirrt schüttelte Skip den Kopf. „Nein?!“
„Schön, dich wiederzusehen?“, wiederholte ich ungläubig und sah ihn immer noch vollkommen perplex an. „Ist das dein Ernst, Skip?“
„Also, normalerweise begrüßt man so jemanden, den man lange nicht mehr gesehen und den man vermisst hat. Ich weiß ja nicht, wie das hier in der Menschenwelt so funktioniert, aber da, wo ich herkomme, und auch du, wenn ich dich daran erinnern darf, sagt man ‚schön dich wiederzusehen‘, Tess.“
Wild schüttelte ich mit dem Kopf.
„Ist es nicht schön oder sagt man hier so etwas nicht?“, fragte Skip, offenbar irritiert darüber, wie er mein Kopfschütteln deuten sollte.
„Was machst du hier? Und warum siehst du aus wie der Schauspieler aus The Vampire Diaries?“, fragte ich ihn und wedelte mit meiner Hand in seine Richtung. Inzwischen sah er nämlich wieder aus wie Ian und nicht wie der Skip, den ich kannte, oder besser gesagt wie eine der vielen Versionen von ihm, die ich damals kennengelernt hatte.
Skip war ein Gestaltwandler, auch Skinwalker genannt. Er konnte jede beliebige Gestalt eines jeden Wesens annehmen, ob nun menschlich oder … nun ja, nicht menschlich. Heute Abend war ihm anscheinend nach sexy Serienstar. Dieser Typ wurde auch nie erwachsen.
Wir waren damals enge Freunde. Ich hatte viel Zeit mit ihm verbracht, bis ich … bis diese eine Sache passiert war. Seitdem hatten wir uns nur noch einmal gesehen und das nur, damit ich ihm klarmachen konnte, dass ich von ihm und allen anderen in Ruhe gelassen und niemals aufgesucht werden wollte. Und nun war er hier.
„Was?“, fragte er mich vorwurfsvoll. „Gefällt er dir nicht? Ich dachte, ich mach dir eine Freude. So wie früher.“ Er grinste, wie nur Ian es konnte, und kam langsam auf mich zu.
„Skip, was machst du hier?“, ich verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mein Gegenüber. Es war wirklich verwirrend, mit Ian Somerhalder zu sprechen, obwohl sich eine ganz andere Person dahinter verbarg, aber das war ja nichts Neues, wenn man mit Skip redete.
Niemand wusste, wie er wirklich aussah. In den über fünfhundert Jahren, die er nun schon existierte, hatte nie jemand seine wahre Gestalt zu Gesicht bekommen. Nicht einmal ich – und ich war einst seine beste Freundin gewesen.
Skip zeigte seinem Gegenüber immer nur das, was er wollte. Niemals ließ er sich hinter die Maske blicken. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob es eine Art Schutzmechanismus war. Ob er sich für seine wahre Gestalt schämte. Oder hatte er inzwischen vergessen, wie er wirklich aussah? Bei all den wechselnden Körpern wäre das nicht ganz unwahrscheinlich.
„Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen, Tessi?“
„Nenn mich nicht Tessi!“
„Wieso? Früher hast du das gemocht.“
„Was willst du hier?“
Skip kam noch ein Stück auf mich zu und musterte mich mit schiefgelegtem Kopf. „Du siehst nicht gut aus, Tess. Die Schuld frisst dich auf. Hast du immer noch keinen Weg gefunden, um deinen Selbsthass zu kompensieren?“
„Hey“, schrie ich nun meinen alten Freund an. „Das geht dich nichts mehr an, verstanden? Was zum Teufel machst du hier? Ich habe dir ausdrücklich gesagt, dass mir niemand folgen soll, auch du nicht!“
Skip hob beschwichtigend die Hände und trat einige Schritte zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. Mir war klar, wie ich gerade aussah. Wehendes Haar, ausgebreitete Flügel, schwarze Augen. Hallo, Furie!
„Wie wäre es, wenn du dich beruhigst Tess, hm? Ich will nur reden.“
„Wie wäre es, wenn du endlich mit der Sprache rausrückst?“, zischte ich zurück und versuchte den Sturm in mir zum Erliegen zu bringen.
„Redest immer noch nicht lange um den heißen Brei herum, was? Also schön, wenn du es so willst, unverschleiert und geradewegs heraus …“ Skip machte eine dramaturgische Pause und sah mir dann mit einem ernsten Blick in die Augen. „Wir brauchen dich. Die Black Company braucht dich. Du musst zurückkommen!“
Erschrocken sah ich Skip an und war plötzlich wie gelähmt.
Sie brauchten mich? Mich? Nach all dem, was ich getan hatte?
Die Black Company war eine Verteidigungsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Welt der Menschen zu beschützen. Ja, richtig, die Welt der Menschen. Ann, Skip und ich waren anders … nicht menschlich eben, und kamen aus einer Parallelwelt, die wir Empyrion nannten. Es war eine Welt, die wie eine Art Schutzfilm um die Welt der Menschen lag und dieser fast eins zu eins glich. Mit einem kleinen, aber feinen Unterschied. Empyrion existierte nur aus einem einzigen Grund: um die Welt der Menschen zu beschützen. Sie bildete die Barriere, den Wall, die Grenze, die verhindern sollte, dass die Dämonen, die Wesen der Finsternis und der Hölle, in die Menschenwelt gelangten. Denn das Einzige, nach dem sich diese Kreaturen verzehrten, waren menschliche Seelen. Die Reinheit dieser Seelen war für sie so etwas wie eine Delikatesse.
Vor langer Zeit, noch lange vor meiner Geburt, waren die Dämonen in ihre eigene Welt verbannt worden, in die Unterwelt, den Hades. Und seither war es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie dort auch blieben und nie wieder die Chance hatten, in der Welt der Menschen zu wüten, wie sie es in all den Jahrtausenden zuvor getan hatten. Und nun wollte ausgerechnet die Institution mich zurückhaben, vor der ich damals aus Empyrion geflohen war, um mich hier bei den Menschen niederzulassen.
Ich war noch immer fassungslos. Ich konnte nicht wieder zurück, ich wollte nicht wieder zurück. Nie wieder!
„Du willst mich verarschen, oder?!“ Es war eine rein rhetorische Frage, denn er konnte es unmöglich ernst meinen. Skip kannte mich gut. Besser als irgendjemand sonst in Empyrion. Wie konnte er auch nur ansatzweise glauben, dass ich wieder dorthin zurückkehren würde?
„Nein, das ist mein Ernst, und das weißt du auch. Ich wäre dir niemals gefolgt, wenn es einen anderen Weg gäbe.“
„Was ist passiert?“, fragte ich, denn nun machte er mir wirklich Angst. Skip wusste, wie stur ich war und dass ich zu meinem Wort stand. Wenn er also wusste, dass ich niemals mitkommen würde, warum hatte er es trotzdem versucht? Riskiert, diesen ganzen Weg umsonst auf sich zu nehmen und sich meinen Zorn zuzuziehen, der, wie er wusste, unerbittlich sein konnte.
„Du kennst doch die Gesetze. Ich darf hier mit dir nicht darüber reden. Komm mit und ich kläre dich über alles auf, okay? Nur … komm wieder zurück. Wir brauchen dich.“
„Nein“, ich schüttelte den Kopf und machte eine abweisende Bewegung mit den Händen, um das Wort zu unterstreichen. „Ich kann nicht. Tut mir leid.“
„Warum nicht?“
„Weil“, ich drehte mich um und blickte hinaus auf die Stadt, hilflos, was ich ihm sagen sollte. „Ich kann … es geht einfach nicht, in Ordnung? Such dir jemand anderen, für was auch immer. Die Black Company hat noch genügend andere Agenten, sie sind nicht auf mich angewiesen.“
„Doch, das sind wir. Und wenn du wirklich etwas anderes glaubst, bist du dümmer, als du aussiehst.“
Ich atmete einmal tief ein, drehte Skip den Rücken zu und stieß den angehaltenen Atem langsam wieder aus.
„Sie sind durchgebrochen, Tess.“
Eine Kälte ergriff langsam von meinem Körper Besitz und fraß sich durch meine Haut und Muskeln, meine Glieder hinauf bis zu meinem Herzen. Von entsetzlicher Angst erfüllt wirbelte ich zu meinem alten Freund herum.
„Was hast du gerade gesagt?“
„Sie sind durchgebrochen … Wir haben sie zurückgedrängt, aber …“
„Sie sind durchgebrochen“, wiederholte ich seinen Satz. „So ein verdammter …“
„Verstehst du jetzt, warum ich hier bin?“
Unfähig, etwas zu sagen, nickte ich nur als Antwort. Wie war das möglich? Wann waren die Verteidigungslinien von Empyrion so schwach geworden?
„Wann war das, und eine viel bessere Frage: Wie konnte das passieren?“ Ich war wütend. Stinkwütend, um genau zu sein. Ich hatte die neue Verteidigungsstrategie damals mit ausgearbeitet. Sie war wasserdicht, nichts und niemand hätte eine Chance gehabt, sie zu durchbrechen. Was war da schiefgelaufen?
„Wir wissen es nicht genau, aber einige Agenten der Company haben die Vermutung angestellt, dass es ein Leck gibt.“
„Das muss ein verdammt großes Leck sein, Skip. Wie sollten die Dämonen es sonst schaffen, hinüber zu gelangen? Erklär mir das! Es wäre ihnen nur möglich, wenn sie Hilfe …“
„… aus unseren Reihen bekommen? Da hast du dein Leck“, kam Skip mir zuvor.
„Verdammte Scheiße!“ Hysterisch griff ich mir in meine Haare und krallte so fest hinein, wie ich konnte. Wie hatte das nur geschehen können, wer half ihnen?
Seit Jahrhunderten waren die Empyrianer dazu berufen, die Welt der Menschen vor den Dämonen zu beschützen. Es war unsere Aufgabe, die der Furien, Gestaltwandler, Halbgötter, Werkatzen, Werwölfe und Vampire, die Aufgabe von allen Mischwesen Empyrion und die Welt der Menschen gegen die Dämonen zu verteidigen. Wir, die Empyrianer, Wesen zum einen Teil menschlicher, zum anderen Teil dämonischer Natur, wir waren die Krieger, Beschützer, die Armee von Empyrion. An uns mussten die Dämonen vorbei, wenn sie an die Menschen heranwollten, und um dies zu verhindern, waren wir erschaffen worden. Aus diesem Grund existierten wir. Das Einzige, was uns von den Dämonen unterschied, war unsere menschliche Hülle. Von Wesen zu Wesen veränderte sich diese zwar, sobald wir unsere wahre Gestalt annahmen, aber dennoch sahen wir nach außen hin aus wie die Menschen. Doch was noch viel wichtiger und damit entscheidend war, wir besaßen wie die Menschen eine Seele. Der dämonische Teil verlieh uns unsere Kräfte und Fähigkeiten, aber die Seele bewahrte unsere Menschlichkeit. Wie hatte einer der Unsrigen seine Bestimmung verraten können? Seine Seele, die Menschlichkeit, seine Existenz und das nur, um diesen abscheulichen Kreaturen zu helfen?
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich vorsichtig, unsicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte.
„Na, was denkst du denn?“, erwiderte Skip.
Resigniert schloss ich die Augen und sah mich noch einmal auf dem Dach um. Als ich mich wieder zu Skip umwandte, war er verschwunden.
„Ach, und jetzt verschwindest du einfach? Vielen Dank auch!“, rief ich in die Nacht hinaus und spürte, wie der Wind meine Worte in das schwarze Nichts davontrug.
Verdammt, natürlich wusste ich, wie es nun weiterging. Die Black Company würde jeden einzelnen Agenten, der fähig war, zu kämpfen, einberufen. Es würden neue Pläne geschmiedet, Empyrianer und deren Leben auf der Suche nach dem Maulwurf durchleuchtet werden. Jeder, wirklich jeder Agent würde dieser Aufforderung Folge leisten. Niemand wagte es, einen Befehl solcher Dringlichkeit der Black Company zu ignorieren. Um ehrlich zu sein, war ich erstaunt, dass sie mich nicht schon früher aufgesucht hatten. Ganz abgesehen davon, dass ich mich noch für ein ganz anderes Verbrechen würde stellen müssen, sollte ich wirklich wieder zurückgehen, war ich auch noch die ideale Verdächtige. Niemand sonst hatte es bisher gewagt, der Black Company den Rücken zuzukehren und in die Menschenwelt zu fliehen.
Resigniert und erschöpft blies ich die angehaltene Luft aus und ließ meinen Blick wieder über die Dächer New Yorks schweifen.
Wer hätte heute Morgen gedacht, dass der Tag, der eigentlich damit hatte enden sollen, dass ich Ann in ihren schalldichten Raum sperrte und mir dann einen Drink auf der Couch genehmigte, hier enden würde? Ich konnte immer noch nicht glauben, welche Wende die Geschehnisse genommen hatten. Als ich vor nicht einmal zwei Stunden wieder nach Hause geflogen war, war alles ganz normal gewesen, so wie immer.
Ich führte sicher kein perfektes Leben, und es war auch nicht das, was man erfüllt und glücklich nannte, aber es war okay. Für mich war es okay. Ein Leben weit entfernt von meinen Taten und den Wesen, denen ich nie wieder unter die Augen hatte treten können oder wollen.
Es war eine innere Zerrissenheit, der ich mich viel, viel später in meinem Leben hatte stellen wollen. Doch dank Skip und seiner Hiobsbotschaft musste ich mich schon sehr viel früher damit auseinandersetzen.
Vielen Dank dafür!
So sehr ich mich auch gegen den Gedanken wehrte, ich hatte keine Wahl. Ich kannte die Verteidigungsanlagen am besten, ich hatte sie mitentwickelt, und wenn Empyrion nach Hilfe rief, dann ignorierte man das nicht, auch nicht, wenn man getan hatte, was ich getan hatte. Ich würde zurückkehren.
So ein verdammter Mist.
Nach einigen Stunden Trübsal blasen und dem Ausmalen der eintausend schrecklichsten Szenarien, die bei meiner Rückkehr passieren könnten, machte ich mich auf, um in meine Wohnung zurückzukehren.
Da ein Großteil der Nacht bereits vorüber war, öffnete ich die Tür zu Anns Zimmer und ließ sie heraus. Der Drang zu singen verging im Laufe der Nacht immer, und jetzt, da die gefährlichste Zeit vorüber war, brauchte ich jemanden, mit dem ich reden konnte.
Ann und ich hatten damals einen unausgesprochenen Pakt geschlossen, wir redeten nicht über unsere Vergangenheit! Doch leider konnte ich nicht länger schweigen. Meine Vergangenheit klingelte bei mir gerade Sturm. Ich musste mich dem stellen, was in Empyrion passiert war, und das bedeutete, dass nicht nur mein Leben sich ändern würde, wenn ich wegging, sondern auch Anns.
Ich versuchte gar nicht erst, zu verstecken, dass ich aufgewühlt und mehr als beunruhigt war. Da Anni in mir lesen konnte wie in einem Buch, wäre jeder Versuch, ihr etwas zu verheimlichen, sowieso zwecklos gewesen.
Sie kannte mich einfach zu gut.
„Was ist passiert?“, waren ihre Begrüßungsworte, nachdem sie ihr „Gesangszimmer“ verlassen und sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank geholt hatte. Meistens war sie heiser, wenn eine Nacht wie diese vorbei war. Schließlich sang sie nonstop.
„Es ist …“
„Wenn du jetzt ‚gut‘ sagst, schwöre ich dir, gebe ich Britney Spears zum Besten, das ist mein Ernst“, kam sie mir sofort zuvor.
Ich schwöre, diese Frau konnte in meinen Kopf gucken.
„Schön! Es ist nicht alles gut, okay? Ich muss zurück.“ Frustriert raufte ich meine Haare.
„Wohin zurück? Wovon zum Teufel redest du?“ Mit gerunzelter Stirn und einem verwirrten Ausdruck im Gesicht sah mich meine beste Freundin an und wartete auf eine Erklärung.
Ich hatte Ann niemals erzählt, wovor ich geflohen war und wohin ich eigentlich gehörte. Wo ich zu Hause war. Wo auch Ann zu Hause hätte sein müssen. Ich wollte nicht darüber reden und Ann bemerkte schnell, dass sie mich weder drängen noch nötigen konnte, um über das Vergangene zu sprechen. Also ließen wir das Tabuthema links liegen und konzentrierten uns auf die Gegenwart und Zukunft.
„Vielleicht ist es an der Zeit, dir von meiner Vergangenheit zu erzählen“, seufzte ich und setzte mich auf unsere große braune Couch.
„Schon vergessen, Tess, wir reden nicht über unsere Vergangenheit!“ Empört verschränkte Ann die Arme vor der Brust und sah auf mich herab.
„Ich weiß. Aber um dir zu erklären, wo ich hinmuss, muss ich wohl oder übel mit der Vergangenheit anfangen. Würdest du dich also bitte freundlicherweise setzen?“
„Du machst mir langsam Angst, Tess.“ Ann musterte mich misstrauisch, als würde ich jeden Moment in die Luft gehen und das halbe Stadtviertel mit mir in den Abgrund reißen.
„Ich mach mir selbst Angst“, seufzte ich und klopfte auf das Sofapolster neben mir. „Du bist hier in der Welt der Menschen geboren und aufgewachsen, was bedeutet, dass du deine Herkunft nicht kennst, richtig?“, fragte ich und sah Ann, die mich zornig anfunkelte, prüfend an.
„Nur weil du plötzlich über deine Vergangenheit sprechen willst, heißt das noch lange nicht, dass ich über meine reden möchte“, erwiderte sie prompt, verschränkte eingeschnappt die Arme vor der Brust und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Mein Gefasel von ‚der Welt der Menschen‘ schien sie überhört zu haben. Denn auch wenn Ann wusste, dass sie anders war als andere Menschen, wusste sie doch nicht, wohin sie eigentlich gehörte und dass es noch mehr von ihrer Art gab. Da wir nicht über unsere Vergangenheit redeten, war dies ein Thema, welches nie zur Sprache gekommen war. Zumindest bis zu diesem Tag.
„Meine Gegenwart und meine Vergangenheit hängen irgendwie auch mit deiner Vergangenheit zusammen – oder besser gesagt mit der Vergangenheit, die du eigentlich hättest erleben sollen. Würdest du mir also bitte zuhören und deinen Jähzorn für eine Weile runterschlucken?“
Ann wollte gerade wieder den Mund öffnen, um einen Kommentar zum Besten zu geben, doch ich gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt.
„Bitte! Das Ganze ist sowieso schon schwer genug …“, ich schaute meine beste Freundin verzweifelt an, und etwas in meinem Gesicht oder die bedeutungsvolle Schwere meiner Worte mussten sie überzeugt haben, denn zum ersten Mal hielt Ann einfach ihren Mund und hörte zu.
„Du kommst nicht von hier, ebenso wenig wie ich. Im Gegensatz zu mir bist du zwar hier geboren, aber wir … du und ich … wir sind anders. Nicht normal … keine Menschen. Man nennt uns Empyrianer, und so heißt auch die Welt, aus der wir stammen, Empyrion.“
Ich hielt inne und musterte Ann argwöhnisch, die immer noch erstaunlich still war. Allerdings sah sie aus, als würde sie die Luft anhalten und jeden Moment platzen, denn ihr Kopf war mittlerweile so rot wie der Lippenstift, den sie aufgetragen hatte.
„Anni?“
Ann antwortete immer noch nicht.
„Bitte sag etwas!“
„Willst du mich verarschen?“, platzte es aus ihr heraus, während sie gleichzeitig nach Luft japste. Sie hatte tatsächlich die Luft angehalten, um mich nicht zu unterbrechen. Süß, aber auch beängstigend.
„Wir sind nicht menschlich?! Okay, dass du nicht ganz dicht bist, wusste ich schon lange. Ich hingegen habe einfach eine tolle Stimme und wirke wahnsinnig anziehend auf Männer. Damit bin ich vielleicht überdurchschnittlich sexy, aber gewiss kein …“, Ann fuchtelte suchend mit den Händen in der Luft herum und sah mich fragend an.
„Empyrianer?“, half ich aus.
„Empyrianer“, bestätigte sie. „Ich bin kein Empyrianer. Gott, Tess, du solltest dir selbst mal zuhören. Rede bloß nicht in der Öffentlichkeit darüber, sonst lässt man dich noch einweisen. Willst du auch einen Drink? Ich könnte jetzt etwas Starkes vertragen.“
Der rasante Themenwechsel in Anns Wortschwall verwirrte mich und warf mich vollkommen aus der Bahn. Anscheinend war Anns Sicht doch verschleierter, als ich angenommen hatte. Dabei konnte man doch all die merkwürdigen Dinge, die nur uns passierten, gar nicht ignorieren. Sie hatte mich schon in Aktion gesehen und ich sie, wie konnte sie da nicht an eine andere Welt glauben? Oder daran, dass wir eben keine Menschen waren.
„Du glaubst mir nicht“, stellte ich ernüchtert fest.
„Du willst mich zum Narren halten, das ist ein großer Unterschied, Süße.“ Flötend spazierte Ann in die Küche und mixte sich einen Drink.
Ich kam ihr hinterher und setzte mich auf einen der Barhocker. „Ann, ich halte dich nicht zum Narren. Ich sage die Wahrheit. Ich meine, hallo? Ich bin die Frau mit den schwarzen Flügeln, die dich gerettet und bei sich aufgenommen hat. Ich weiß, wir reden nicht über unsere Vergangenheit, aber hast du dich nie gefragt, warum ich Flügel habe? Wo ich herkomme? Ich lebe seit einhundert Jahren hier … und wie lange lebst du schon? Hm? Du alterst nicht, ebenso wenig wie ich, und da zweifelst du ernsthaft an der Existenz einer anderen Welt?“
„Gute Gene“, sagte Ann nur und zuckte mit den Achseln. „Menschen werden heutzutage immer älter. Und unter ihnen gibt es, wie man an dir sehen kann, auch Mutanten. Frag Dr. Xavier, bei den X‑Men war doch auch einer, der Flügel hatte …“
Frustriert ließ ich meinen Kopf auf die Küchentheke sinken. Wie konnte jemand nur so naiv sein? „Ann“, knurrte ich.
„Keine Angst, ich glaube nicht an die X‑Men und auch nicht an Mutanten, aber irgendetwas Komisches bist du schon. Gibt nur noch keinen Namen dafür“, unterbrach Ann mich, während sie mir zuprostete und einen gewaltigen Schluck aus ihrem Glas nahm. „Hui … der ist stark“, sagte sie, verzog das Gesicht und schien kein Stück empfänglich für meine Erklärungsversuche.
„Verdammt, Ann. Ich bin eine Furie, eine Rachegöttin. Ich habe Flügel, mit denen ich fliegen kann, und ich peinige und quäle meine Opfer so lange, bis sie sich ihre Schuld eingestehen. Davon finanziere ich unsere Wohnung. Und du, Ann, bist eine Sirene. Welche Kräfte du besitzt, hast du ja schon auf sehr schmerzhafte Weise herausgefunden.“ Wütend riss ich ihr den Drink aus der Hand, damit sie mir zuhörte. „Wir beide stammen aus einer anderen Welt. Empyrion ist unser Zuhause … und … und ich muss dorthin zurück …“.
Ann starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Jetzt, da sie ihren Drink nicht mehr in der Hand hielt, hatte ich offenbar ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Gut so. Sie musste mir endlich zuhören. Schließlich betraf das alles auch in gewisser Weise sie.
„Eine Furie also … dachte eher, du bist meine gut aussehende dunkle Fee oder so etwas.“
„Ann!“ Ich versuchte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche zu lenken, um sicherzugehen, dass sie meine letzten Worte verstanden hatte. „Hast du gehört, was ich gesagt habe?!“
„Du musst also zurück?“, fragte sie langsam, nahm ihre Unterlippe zwischen die Finger und knetete sie beim Nachdenken.
„Ja.“
„Nach Empyrion?“
„Ja!“
„Eine Welt, die neben dieser hier existiert?“
„Ann“, knurrte ich ungeduldig.
„Hey, ich versuche das alles zu verstehen. Man bekommt schließlich nicht alle Tage zu hören, dass man mit einer Furie zusammenlebt und aus einem Paralleluniversum stammt, klar? Ich versuche mir das Ganze vorzustellen, und das Einzige, was mich davon abhält, nicht laut loszulachen, ist die Tatsache, dass ich weiß, dass du mich noch nie angelogen hast und immer die Wahrheit sagst. Und außerdem sehe ich ja auch deine Flügel, die unterstützen deine Aussage irgendwie …“ Ann holte schnaufend Luft und stemmte ihre Hände auf den Küchentresen. „Ich möchte trotzdem einen Beweis“, stellte sie klar und sah mich herausfordernd an.
„Gerade hast du noch meine Ehrlichkeit in den Himmel gelobt und nun willst du einen Beweis?“ Ich lachte ungläubig auf.
„Na ja, Tess. Du musst zugeben, das alles klingt schon etwas verrückt!“
„Du meinst verrückter, als immer an Vollmond singen zu wollen und dabei zuzusehen, wie sich alle Männer im Umkreis von einhundert Kilometern abstechen, nur um dich als Trophäe zu erhalten?“ Ich sah meine Freundin mit hochgezogener Augenbraue an und wusste, dass ich damit einen Nerv getroffen hatte. Ich war nicht fair, die ganzen Todesfälle, die auf ihr Konto gingen, belasteten sie sehr, dennoch musste sie verstehen, dass sie ebenso wenig in diese Welt gehörte wie ich.
„Was zur Hölle willst du mir damit sagen, Tess? Oder willst du mir nur wehtun?!“
Mit einem Ruck stand ich auf und ging auf meine verunsicherte Freundin zu. „Ich würde dir niemals wehtun wollen, Ann, du musst es nur verstehen, okay? Das mit Empyrion ist wahr. Wir, Wesen wie du und ich, die anders sind, Fähigkeiten besitzen, nicht ganz menschlich sind, wir kommen aus dieser Welt. Sie ist unser Zuhause.“
Ich überlegte, ob ich ihr gleich alles erzählen sollte. Warum unsere Welt existierte, was der Zweck unseres Daseins war. Die Dämonen … aber würde sie das verstehen? Und eine viel wichtigere Frage: Würde sie das aushalten?
Eigentlich hätte ich sofort mit Skip mitgehen müssen. Aber das, was er mir auf dem Dach über die Dämonen gesagt hatte, hatte mir solch eine Angst eingejagt. Was war, wenn sie in der Zwischenzeit einen weiteren Weg gefunden hatten, um nach Empyrion zu gelangen? Mit jeder Minute, die verstrich, fühlte ich mich nutzloser. Ich musste etwas tun. Helfen! Das tun, wofür ich all die Jahre in der Black Company ausgebildet worden war. So verzweifelt ich auch versucht hatte, vor meiner Vergangenheit davonzulaufen, ich musste mich ihr stellen. Zum Wohle meiner Welt. Ich konnte meine Leute nicht einfach im Stich lassen, nur weil ich mit meiner Schuld nicht klarkam.
Und ich musste es Ann sagen. Sie musste alles wissen, denn nur so konnte sie ihre eigene Entscheidung treffen.
Ich erzählte Ann alles, wirklich alles, was sie über Empyrion wissen musste.
Nachdem ich geendet hatte, sah ich Ann vorsichtig an und hoffte, dass sie jetzt nicht durchdrehen würde. Immerhin war sie eine Sirene.
Eine erdrückende Stille tat sich zwischen uns auf, und ohne dass ich es gewollt hatte, war da plötzlich etwas zwischen uns, was vorher nie da gewesen war. Eine Distanz, Ablehnung, Furcht. Und das machte mir Angst. Alles, was ich wollte, war ehrlich zu Ann zu sein. Ich wollte sie nicht mit meiner Vergangenheit oder der Wahrheit über ihre Herkunft vertreiben oder von mir stoßen. Wir waren nun schon so lange befreundet, es hätte mich zerstört, sie zu verlieren.
„Ann?“, fragte ich daher vorsichtig und berührte sie sanft am Arm, als würde ich versuchen, ein scheues Reh zu beruhigen. Sie zuckte nicht vor mir zurück, was ich als ein gutes Zeichen deutete.
„Ich habe also nur diese tolle Stimme, damit ich irgendwann mein Leben für diese Menschenwelt, in der ich seit jeher lebe, opfern kann“, stellte sie nüchtern fest.
Ich musste hart schlucken. Wenn man es so formulierte, klang es nicht mehr so poetisch und bedeutungsvoll wie in den alten Sagen, sondern nur nach einem Martyrium. Und das hatte tatsächlich nichts mit Poesie zu tun.
„Wie soll ich dir all das glauben, Tess? Ich meine, du musst zugeben, das klingt alles ziemlich …“
Ich nickte nur traurig und nahm meine Hand von ihrem Arm. „Du wirst es vermutlich erst glauben, wenn du es siehst“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr.
„Und wie?“, fragte sie unsicher.
„Um ehrlich zu sein … habe ich dir all das nicht ohne Grund erzählt“, sagte ich langsam und ging gar nicht auf ihre Frage ein, „ich hatte … Besuch, während du in deinem Zimmer das gesamte Konzert von Christina Aguilera heruntergesungen hast.“
„Heute war Pink an der Reihe. Was für ein Besuch?“, fragte sie verdattert.
„Sein Name ist Skip und er war mein bester Freund in … in Empyrion“, sagte ich zögernd.
„Skip … aha. Und ist er, also … so wie wir?“, fragte sie zaudernd.
Ich nickte und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Was ist?“, fragte sie sofort alarmiert.
„Na ja, er ist ein Gestaltwandler, und als er mich heute aufgesucht hat, kam er als Ian Somerhalder.“ Ich lachte.
„Ist das dein Ernst?“, kreischte Ann, die wohl nicht verstanden hatte, dass es sich nur um ein Abbild und keinesfalls um den echten Serienstar gehandelt hatte.
„OH MEIN GOTT!“
„Ann … Anni! Es war nach wie vor Skip, okay? Er sah nur aus wie –“
„IAN SOMERHALDER“, schrie sie begeistert und reckte ihre kleinen Fäuste in die Luft. Offenbar war der ernste Teil unserer Unterhaltung vorläufig vergessen. Hätte ich das im Vorfeld gewusst, hätte ich Skip gebeten, ihr alles zu erklären.
Hektisch fächerte sich meine beste Freundin mit ihrer Hand Luft zu und ich kniff mir genervt mit den Fingern in die Nasenwurzel.
„Würdest du dich bitte wieder beruhigen?“, fragte ich mit bemüht geduldiger Stimme.
„Okay“, sagte sie und räusperte sich, um ihre Stimme wieder in den Griff zu bekommen.
Verdammt, ich wusste nicht, dass sie zu der Sorte hysterischer Groupie gehörte.
„Also Skip … Skip war hier? Und was wollte er?“
Na endlich. Wir waren wieder beim Thema.
„Er möchte, dass ich … wieder zurück nach Empyrion komme.“ Mit verkniffenem Gesicht sah ich in Anns Richtung und wartete auf den nächsten hysterischen Anfall, doch der kam nicht.
„Hmm. Und wie lange wirst du weg sein?“, fragte sie unsicher und genehmigte sich einen weiteren großen Schluck ihres Drinks, während sie mich über den Rand des Glases hinweg ansah.
„Ich bin nicht sicher, ob ich Empyrion je wieder verlassen kann, wenn ich erst einmal wieder dort bin“, sagte ich zögerlich, und das war es auch, was mir so eine Angst einjagte. Als ich damals von dort geflohen war, hatte ich ein riesiges Chaos hinterlassen. Gefangen in meinem Racherausch wurde mir erst, als ich mit der Hilfe von Ann in der Menschenwelt wieder zu mir fand, klar, dass ich nie wieder in meine Welt zurückkehren konnte. Was ich dort getan hatte würde mich für den Rest meines Lebens verfolgen.
Da ich nie damit gerechnet hätte, je wieder dorthin zurückzukehren, musste ich mich nun wohl oder übel mit diesem Gedanken auseinandersetzen. Nicht nur, dass ich mich dem Gericht des Gremiums stellen musste, um mich für das zu verantworten, was ich getan hatte. Ich musste mich auch meiner Schuld stellen, die ich nun schon so lange Zeit auf meinen Schultern trug. Die innere Zerrissenheit, die mit meiner damaligen Tat einherging, zerfraß mich bis heute. Ich fühlte mich schuldig und es erschreckte mich, zu was ich damals fähig gewesen war. Aber andererseits: hatte ich jemals eine Wahl? Es hatte nur diese eine Möglichkeit gegeben, und wäre ich erneut in derselben Situation würde ich mich wieder so entscheiden.
Es laugte mich aus und machte mich fertig, dass ich mich nicht für ein Gefühl entscheiden konnte. Ich fühlte beides. Schuld und Genugtuung. Keine Reue und doch Scham. Es war, als würden Engel und Teufel mir zuflüstern und als könnte ich einfach nicht entscheiden, welchem von beiden ich lieber meine Aufmerksamkeit schenkte. Es wäre so viel einfacher, wenn man gut oder schlecht wäre. Schwarz oder weiß. Aber ich? Ich saß genau zwischen den Stühlen und gehörte irgendwie in beide, aber auch in keine Kategorie, ich war Mensch und Furie.
„Tess? Hallo, Erde an Tess!“, riss Ann mich mit ihrer ungeduldigen Stimme aus meinen abschweifenden Gedanken.
„Was?“, fragte ich erschrocken und fühlte mich irgendwie ertappt.
„Wow, wo warst du denn gerade?“ Mit gerunzelter Stirn musterte Ann mich kritisch.
„Ich? Ähm … nirgendwo“ Ich räusperte mich kurz und konzentrierte mich dann wieder voll auf Anni. „Also, was hast du gesagt?!“
„Ich fragte, ob ich mitkommen kann.“
„Ist das dein Ernst?“ Mit großen Augen starrte ich meine beste Freundin an und konnte kaum glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Ein egoistischer Teil in mir freute sich so sehr, dass es fast schon körperlich wehtat. Ich liebte Ann, und es würde mir bedeutend besser gehen, wenn ich nicht allein zurückmüsste. Aber wie schon gesagt, es war selbstsüchtig und alles andere als fair. Mich erwartete dort drüben die höchste Strafe, die es für Empyrianer gab. Auch wenn Skip der Auffassung war, er würde mich zurückholen, damit ich dabei helfen konnte, dieses Dämonenproblem zu beheben, hatte er wohl darüber hinaus vergessen, dass gegen mich immer noch ermittelt wurde. Ich ging zumindest davon aus, dass es so war.
Und was sollte ich tun, wenn ich wirklich sofort festgenommen wurde, sobald ich Empyrion betrat? Was wurde dann aus Ann?
Nein! Sie konnte nicht mitkommen. Es war viel zu gefährlich. Nicht dass man Ann ebenfalls inhaftierte, weil man ihr Beihilfe zur Flucht vorwarf.
Nein, Ann musste definitiv hierbleiben.
„Du kannst nicht mit“, stellte ich klar und füllte mir ein großzügiges Glas ein, um es gleich darauf in einem Zug zu leeren.
„Hey“, protestierend nahm Anni mir das Glas aus der Hand und sah mich mit einem verletzten Ausdruck auf ihrem Gesicht an. „Warum nicht?“
„Es könnte gefährlich sein. Ich kann dich dort nicht beschützen. Du wärst auf dich allein gestellt und … es wäre egoistisch. Du könntest belangt werden für etwas, das ich getan habe, und das wäre mehr als unfair. Bleib hier. Ich verspreche dir, ich finde jemanden, der dich bei Vollmond einsperrt. Das bekommen wir hin, nur bitte bleib. Die Welt der Menschen ist inzwischen dein Zuhause und du bist hier in Sicherheit.“
Wild schüttelte Ann den Kopf. „Ich bin hier nur zu Hause, weil du hier bist.“
Die geflüsterten Worte meiner Freundin rührten mich zu Tränen. Denn ich empfand ganz genauso. Erst mit Ann an meiner Seite hatte ich hier Fuß fassen und mich auf dieses neue Leben einlassen können. Erst, als ich sie traf, hatte ich langsam wieder zu mir selbst zurückgefunden. Zu meiner menschlichen Seite.
„Ann, Süße. Mir geht es ganz genauso. Ich hab dich so lieb. Du hast mein Leben in vielerlei Hinsicht bereichert. Aber wenn ich so egoistisch wäre und dich mitnähme, nur weil ich Angst habe, mich meiner Vergangenheit zu stellen, und dich obendrein auch noch damit in Gefahr bringe … das könnte ich mir nie verzeihen.“
„Warum denn in Gefahr bringen?“, fragte sie verwirrt.
„I‑ich … ich habe etwas getan … etwas Grausames. Und sobald ich wieder in Empyrion bin, wird man mich dafür zur Rechenschaft ziehen. Ich bin seit einhundert Jahren davor auf der Flucht, und wenn ich nun mit dir dort auftauche, dann könnte es sein, dass sie dich ebenfalls für schuldig halten. Sie könnten denken, du hättest einer gesuchten Verbrecherin geholfen.“
„Aber ich weiß ja noch nicht mal, wobei ich dir geholfen haben soll. Was hast du denn getan, Tess?“
Ich schluckte hart und sah in die andere Richtung. Überall hin. Nur nicht in Annis Augen.
„Tess“, sagte sie scharf und versuchte meinen Blick aufzufangen.
Doch ich schüttelte nur mit dem Kopf. „Du kannst nicht mitkommen. Es ist zu gefährlich. Bitte akzeptiere das.“
„Was hast du getan, Tess?“
Ich antwortete nicht.
„TESS!“
„Ich kann es dir nicht sagen, okay?!“
„Ich dachte, wir sind gerade bei der Wahrheit und reden offen über alles aus unserer Vergangenheit und jetzt machst du wieder dicht?“
„Ich kann und möchte dir nicht alles aus meiner Vergangenheit erzählen, Ann, das würde alles ändern und dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht.“
„Ich wünschte, du würdest es tun“, flüsterte Ann.
Traurig sah ich meine beste Freundin an. „Du würdest mich nie wieder so sehen wie zuvor. Du würdest mich hassen und mich verachten für das, was ich getan habe. Hier, bei dir, konnte ich Frieden finden. Zwing mich bitte nicht, das aufzugeben“, hauchte ich.
Unentschlossen blickte Ann mir entgegen. Ich konnte sehen, wie sie darauf brannte, zu erfahren, was damals in Empyrion vorgefallen war. Nicht aus Sensationslust, sondern weil sie besorgt darüber war, wie empfindlich ich auf dieses Thema reagierte. Dennoch wusste sie, dass sie mich nicht bedrängen durfte und es lieber auf sich beruhen lassen sollte, bis ich von mir aus auf sie zukam.
„Ich werde trotzdem mitkommen“, sagte sie mit verschränkten Armen und schob trotzig das Kinn vor.
„Ann“, widersprach ich gedehnt und wollte mit einer weiteren Erklärung ansetzen, als sie drohend den Finger hob.
„Es ist kein Zuhause mehr ohne dich, und ich fühle mich nur bei dir sicher. Du kennst meine Macken und weißt, wie ich bei Vollmond ausraste. Du kennst mich wie kein anderer. Und wo du hingehst, da gehe auch ich hin. Und bevor du jetzt wieder damit anfängst, dass es zu gefährlich sei“, erhob sie sofort die Stimme, als sie erkannte, dass ich ihr widersprechen wollte, „dann möchte ich mal wissen, warum du mir erzählt hast, dass auch ich aus dieser Welt komme, wenn ich sie nicht kennenlernen darf. Das ist unfair. Es geht hier nicht nur um dich. Ich möchte Empyrion mit eigenen Augen sehen. Also, wann geht es los?“
„Ann …“
„Na, na“, unterbrach sie mich mit erhobenem Finger, und ich kam mir vor wie eine Grundschülerin. „Ich dulde keine Widerrede!““
Tja, Widerstand war wohl zwecklos. Ich seufzte resigniert. Sie würde mich begleiten.
Ein kleiner Teil in mir machte freudige Luftsprünge und konnte sich nicht mehr einkriegen. Meine beste Freundin würde mich begleiten. Ich war nicht allein. Ich hatte sie bei mir.
Doch der andere Teil in mir machte sich wahnsinnige Sorgen. Was war, wenn sie sich nicht einleben konnte und sofort wieder zurückwollte? Was war, wenn ihr etwas passierte oder sie tatsächlich für meine Vergehen mit belangt wurde?
Dann war das meine Schuld. Meine allein!
„Tess“, knurrte Anni ungeduldig. „Wann geht es los?“
Ich seufzte erneut, schüttelte noch mal den Kopf und holte dann langsam Luft. „Jetzt!“
„Was, schon heute Nacht?“ Ann sah mich zugleich erschrocken und verwirrt an.
„Ich habe keine Wahl. Sie brauchen mich. Und ich habe einen Schwur abgelegt, die Welt der Menschen zu beschützen. Nur weil ich eine Zeit lang hier gelebt habe, ist dieser Schwur nicht verwirkt. Im Gegenteil. Ich habe mehr denn je das Bedürfnis, diese Welt zu beschützen. Irgendwann holt einen die Vergangenheit ein. Ich war töricht und dumm, als ich glaubte, ich könnte ihr davonlaufen. Ich habe solche Angst, Ann. Angst, mich meinen Taten zu stellen, Angst, dass sie dich –“