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Der zehnte Fall für Commissaria Maddalena Degrassi. Sechs Freundinnen sind sowohl der Literatur als auch dem Glücksspiel verfallen. Dann wird eine von ihnen ermordet aufgefunden. Das Tatmotiv scheint offensichtlich, denn das Opfer hat vor Kurzem viel Geld gewonnen – und davon fehlt jede Spur. Während die Ermittlungen unter den Freundinnen und Nachbarn Fahrt aufnehmen, wird klar, dass jede und jeder es auf den Gewinn abgesehen haben könnte. Immer tiefer geraten Commissaria Maddalena Degrassi und ihr Team in einen Strudel aus Habgier und Lügen.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2025
Andrea Nagele leitete über ein Jahrzehnt ein psychotherapeutisches Ambulatorium. Heute arbeitet sie als Autorin und betreibt in Klagenfurt eine psychotherapeutische Praxis. Sie pendelt zwischen Klagenfurt am Wörthersee, Grado und Berlin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Rezept.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Dalibor Brlek/Alamy/Alamy Stock Photos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-269-7
Ein Adria Krimi
Originalausgabe
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Ich widme meiner Herzensfreundin Karin Waldner diesen Krimi, egal, ob sie das Buch nun mag oder nicht.
1
»112, Euronotruf, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich … Ich … Bitte entschuldigen Sie. Aber ich … ich habe eine … tote Frau, ja … es ist eine Frau, halb im Treppenhaus, halb in ihrer Wohnung … liegend … vorgefunden. Mir ist ganz … flau im Magen. Bin ich bei Ihnen denn überhaupt richtig?« Die Stimme des Anrufers klang zittrig und seine Worte gepresst.
Für den Mitarbeiter der Leitstelle in Palmanova war diese Art der Kommunikation keine Seltenheit, sondern quasi an der traurigen Tagesordnung. »Sie haben die richtige Nummer gewählt. Können Sie mir bitte die näheren Umstände schildern? Warum gehen Sie davon aus, dass die besagte Frau nicht mehr am Leben ist?«, fragte er daher sachlich nach, geschult darin, aufgeregten Anrufern mit freundlicher Gelassenheit zu begegnen, um Ruhe und eine gewisse Sicherheit zu vermitteln.
»Alles hier ist … voll Blut. Sie liegt so komisch verdreht … Und ich … ich … wollte doch nur den … Müll entsorgen. Hatte zum Glück … mein Handy in der … Hosentasche.«
»Wo befinden Sie sich?«
»In Grado. Dort … wo … ich lebe.«
»Sind Sie allein, oder befindet sich außer Ihnen noch jemand dort?«
»Nein … nur ich bin da.«
»Nennen Sie mir bitte laut und deutlich Ihre genaue Adresse.«
Der Anrufer gab stammelnd das Stadtviertel, den Straßennamen und die Hausnummer bekannt. Auf Nachfrage wiederholte er alle Angaben noch mal.
»Das haben Sie gut gemacht. Sind Sie noch bei der Frau? Können Sie feststellen, ob sie vielleicht doch noch am Leben ist? Haben Sie ihren Puls gefühlt?«
»Nein. Nur … ich habe … das ganze … hellrote Blut gesehen.« Er hechelte nach Luft. »Blut, ja … und viel … grauen Schleim. Ich will … da nicht wieder hin. Berühren … kann ich sie unter … keinen Umständen. Sie bewegt … sich nicht. Das konnte … ich feststellen. Ich … glaube, nein, ich bin mir … sicher … sie ist tot.«
»In Ordnung. Beruhigen Sie sich bitte und atmen Sie gleichmäßig ein und langsam wieder aus. Es ist ganz normal, dass Sie aufgeregt sind. Sie müssen auch nicht wieder zu der Toten. Am besten setzen Sie sich weiter unten im Treppenhaus auf eine der Stufen und lehnen sich an die Wand. Aber verlassen Sie bitte nicht das Haus. Warten Sie, bis wir bei Ihnen eintreffen, und bleiben Sie in der Leitung.«
»Was … soll ich machen, wenn einer der anderen Bewohner kommt?«, japste der Mann. »Viele hier haben Hunde, die sie morgens ausführen.«
»Fordern Sie die betreffende Person einfach freundlich auf weiterzugehen. Es dauert wirklich nicht mehr lange, und jemand ist bei Ihnen. Versprochen. Die Einsatzkräfte sind bereits verständigt und werden in Kürze bei Ihnen eintreffen. Danke, dass Sie so umsichtig waren, uns sofort zu benachrichtigen. Hilfe ist unterwegs.«
2
Guido Lippi nahm den Anruf der Rettungsstelle kurz vor Dienstschluss entgegen. Er fühlte sich müde, ausgelaugt, obwohl seine Nachtschicht ruhig verlaufen war.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, meldete er sich.
»Wir benötigen Unterstützung auf der Colmata in Grado. Ein Nachbar hatte beim Verlassen seiner Wohnung eine blutüberströmte Frau im Treppenhaus vorgefunden und den Notruf gewählt. Wir sind vor Ort, konnten aber leider nichts mehr ausrichten, die Frau war bereits tot. Ein Fremdverschulden kann definitiv nicht ausgeschlossen werden.«
»Wir sind schon auf dem Weg«, erklärte Lippi und ließ seine Stimme energisch klingen. Innerlich verfluchte er den Zeitpunkt des Gespräches. Ein wenig später nur, und das Team des heutigen Tages hätte den Fall übernommen.
Ausgerechnet an einem Samstag, dachte er missmutig. Nach dem gemeinsamen Frühstück zu Hause hatte er mit Stella, seiner Frau, und der kleinen Simone, ihrer Ziehtochter, einen Ausflug ins Aquarium von Triest machen wollen. Doch daraus würde nun mit Sicherheit nichts werden.
»Fanetti!«, rief er mürrisch ins angrenzende Büro. »Keine Zeit zum Pennen. Ich kann durch Wände sehen. Außerdem schnarchst du. Wie hält deine Ginevra das bloß aus? Wir müssen sofort los, hörst du? Es gibt eine Leiche.«
Sein Kollege Arturo Fanetti, von allen Legolas genannt, da er dem Elbenprinzen aus dem »Herrn der Ringe« in erstaunlicher Weise ähnelte, kam verschlafen hereingetrottet und blieb vor Lippis Schreibtisch stehen. Sein blonder Zopf hing über die linke Schulter, sein Gesicht wirkte zerknittert. »Was, wie, wohin?«, fragte er mit rauer Stimme und sah Lippi verwirrt an.
»Hast wohl auf dem Aktenstoß, den die Degrassi dir zum Abarbeiten hingelegt hat, von deiner Ginevra im Düsterwald geträumt?«
»Ginevras Familie stammt aus Aquileia«, murmelte Fanetti, der anscheinend immer noch im Halbwachzustand war.
»Reiß dich mal am Riemen. Geh ins Badezimmer, klatsch dir kaltes Wasser ins Gesicht und mach dich bereit.«
Arturo Fanetti schlurfte folgsam hinaus. Als er kurz darauf wieder in Lippis Büro erschien, hing sein Zopf über die rechte Schulter, und er wirkte eindeutig erfrischt, wenn auch ebenso wenig begeistert vom Einsatz wie Lippi.
»Bereit?«
»Geht wohl nicht anders«, entgegnete Fanetti.
»Das klingt so, als hätten wir heute beide etwas Besseres vorgehabt.«
»Mhmm«, brummte Fanetti, nickte verhalten und schlüpfte in seine hellblaue Blousonjacke. »Ich erledige noch schnell ein Telefonat und treffe dich am Dienstwagen.«
»Und ich gebe Rita Bescheid.«
Im Morgengrauen verließen sie den Parkplatz des Polizeigeländes. Lippi fuhr, und Fanetti lehnte neben ihm, zwar etwas belebter als zuvor, aber immer noch leicht benommen.
»Uns beiden würde Zolis berühmter Espresso jetzt den nötigen Schub verschaffen, was?«
»Das ist wahr.« Fanetti grinste Lippi schief an. »Ich scheine über einem Einbruch in ein Ferienhaus in der Pineta eingenickt zu sein. Sollte nicht vorkommen, passiert aber leider mitunter.«
»Der Einbruch oder dein Einschlafen?«
»Beides, würde ich mal so kategorisch wie selbstkritisch behaupten.«
Lippi lächelte amüsiert und fühlte sich sofort wohler. Mit einem lebhaften Kollegen an seiner Seite arbeitete er deutlich lieber als mit einem Polizisten, der völlig neben sich stand. »Sag mal, Arturo, was war denn heute bei dir geplant? Etwas Besonderes? Vielleicht etwas, wofür du eine Ladung Schlaf im Vorhinein gebraucht hättest?« Lippi kicherte über seinen eigenen Witz.
»Nun, wenn du es schon so genau wissen willst, Ginevra hat gestern extra gut eingekauft. Wir wollten uns nach dem Dienst ein Sektfrühstück gönnen und nach San Giorgio di Nogaro fahren, um später in dem urtümlichen Lokal ›Alla Risata‹ in Richtung Marano Lagunare zu Mittag zu essen. Daraus wird jetzt höchstwahrscheinlich nichts werden.«
»Wirklich aufsehenerregend klingt das Ganze für mich ehrlich gesagt nicht. Der Sekt wird im Kühlschrank schon nicht schlecht werden, und essen gehen könnt ihr auch am Sonntag.«
»Für uns wäre es schon etwas Besonderes gewesen. Heute ist unser Jahrestag.«
Lippi hätte sich am liebsten geohrfeigt. Manchmal war er so ein unsensibler Narr, dass es selbst für ihn kaum zum Aushalten war. Stella wies ihn oft genug auf seine Unfähigkeit hin, Empathie zu entwickeln. Obwohl sie fand, dass sich das in letzter Zeit »deutlich gebessert« hatte. Was vermutlich in nicht geringem Ausmaß an ihrer häuslichen Situation lag.
Die kleine Simone, die noch nicht lange bei ihnen lebte, forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Nachdem ihre Mutter Bibiana, eine gemeinsame Freundin von Stella und seiner Vorgesetzten Commissaria Maddalena Degrassi, durch das fahrlässige Handeln eines Arztes verstorben war, hatten sie sich des verstörten Kindes angenommen.
Lippi fand sich zum ersten Mal in der Rolle eines Vaters wieder.
Für ihn war das alles andere als leicht. Stella hingegen schien in ihrem Muttersein völlig aufzugehen.
»So, da wären wir.« Er zeigte auf die angegebene Adresse und hielt nach einer passenden Stelle zum Parken Ausschau. Der Rettungswagen mit den zwei Sanitätern darin stand mit geöffneten Türen an der Hafenmauer. Sie betreuten einen älteren Mann. »Das wird der Nachbar sein, der die Tote gefunden hat. Mit dem reden wir später ausführlich.«
»Okay, lass mich aussteigen. Während du parkst, sage ich ihm, dass er auf uns warten soll.«
Lippi musste schmunzeln, als er Fanetti im Rückspiegel die Straße entlangeilen sah. Sein weißblonder Zopf baumelte beim Gehen auf dem schmalen Rücken hin und her. Er sieht wirklich aus wie ein Faun, dachte er.
Gemeinsam betraten sie das Haus und tauschten sich mit dem Arzt der Ambulanz aus. Die Frau schien mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden zu sein. Genaueres wisse man allerdings erst, wenn die Rechtsmedizin die Tote auf dem Tisch hätte.
»Ist der Zeuge, den Ihre Kollegen im Wagen versorgen, vernehmungsfähig?«
»Der Arme steht gehörig unter Schock. Da sein Kreislauf verrücktspielte, habe ich Sauerstoff und eine Infusion verordnet. Ein Krankenhausaufenthalt wird aber wahrscheinlich nicht nötig sein.«
»Gut, denn wir müssen ihn befragen.«
»Klar doch«, sagte der junge Arzt freundlich und wies durch das Fenster nach draußen auf die vielen Schaulustigen, die sich inzwischen unten auf der Straße versammelt hatten. »Die werden Sie im Zaum halten müssen.«
Lippi nickte. »Arturo, rufst du bitte in der Dienststelle an? Sie sollen uns noch ein Fahrzeug mit zwei Kollegen schicken, die den Zugang zur Wohnung und dem Haus sichern, damit niemand Unbefugtes reinschneit und die Techniker hier in Ruhe ihre Arbeit erledigen können. Dann verständige die Spurensicherung. Ich informiere die Commissaria und verscheuche die Gaffer. Sobald die Kollegen eingetroffen sind, reden wir mit den Nachbarn.«
Fanetti rümpfte seine aristokratisch anmutende Nase, so als wollte er Lippi mitteilen, dass er wieder mal die Schwerstarbeit zu erledigen hätte.
»Wird’s bald?« Manchmal ärgerte Lippi sich über den verwöhnten Elbenprinzen, auch wenn er ihn inzwischen ins Herz geschlossen hatte.
»Bin schon unterwegs. Ich telefoniere vor dem Haus und schaue mal, wie weit die Sanitäter mit dem Zeugen sind, der die Leiche entdeckt hat.«
»Ja, mach das. Aber überfordere den armen Mann bitte nicht. Keine Lust, dass er den nächsten Kollaps erleidet.«
Fanetti verdrehte die Augen. »Das ist wohl eher dein Part, Guido, nicht wahr? Du kannst mitunter ziemlich heftig werden, wenn einer nicht gleich ausspuckt, was du von ihm hören möchtest.«
Damit hatte sein Kollege nicht ganz unrecht. Meistens war wirklich er es, der die Leute einschüchterte, das musste er zugeben.
Die Schaulustigen verzogen sich auf seine Aufforderung hin nur ungern. Aber Guido Lippi wusste genau, wie er schauen musste, nämlich ziemlich unfreundlich, damit andere Menschen verstanden, dass sie das Weite suchen sollten.
Er ging wieder hinein, um vor dem Eingang zur Wohnung auf das Eintreffen der Kollegen zu warten und seine Chefin anzurufen, doch ehe er zum Telefon greifen konnte, kam eine junge Mutter mit einem Schulkind die Treppe hinabgelaufen und grüßte ihn erschrocken. Dann wanderte ihr Blick von seiner Uniform zur Wohnungstür, und sie hob rasch die Hand, um dem Jungen dadurch die Sicht auf die Leiche zu versperren. Aber der Kleine hatte sie schon bemerkt. Entsetzt sog er die Luft ein.
»Mama?« Er zog sie am Arm. »Wer liegt da auf dem Boden? Was macht der Polizist?«
»Komm, lass uns gehen. Schau bitte nicht hin. Ich weiß auch nicht, wer es ist.«
So bestürzt, wie die Mutter das sagte, hatte Lippi den Eindruck, dass sie sehr wohl wusste, um wen es sich bei der toten Frau handelte.
»Frag doch den Mann, Mama, vielleicht weiß er es.«
»Vielleicht später, nachdem ich dich zur Schule gebracht habe, in Ordnung? Wir sind schon spät dran, du willst die erste Stunde doch nicht verpassen.«
Lippi dachte, dass der Junge den Unterricht sicher gern gegen nähere Informationen eintauschen würde. Doch die Mutter zog ihren Sohn vehement weiter.
Lippi musste sich ein Grinsen verkneifen. In fast jedem Kind steckte eben ein Detektiv.
Der Anblick des blutüberströmten Körpers war einfach grauenvoll. Obwohl es keine neue Erfahrung für ihn war, Lippi hatte in seinem Leben schon genug Leichen gesehen, vermied er es beharrlich, den Blick auf die Tote zu richten. Sobald die Spurensicherung eintraf, würde er die Kollegen bitten, die Leiche in die Wohnung zu schaffen. Dieser Anblick tat niemandem gut.
3
Maddalena schreckte aus einem Alptraum hoch und wischte den Schlaf aus ihren Augen.
Langsam nur beruhigte sich ihr rasender Puls.
Sie setzte sich auf und drehte aus ihren Locken einen Zopf. Mit dem Zipfel ihrer Decke wischte sie sich den Schweiß von Stirn und Nacken und lehnte sich an ein Kissen.
Mann, was hatte sie wieder schlecht geschlafen.
Seit dem Tod ihres Verlobten Franjo und dem ihrer allerbesten Freundin Bibiana, die beide unter tragischen Umständen sterben mussten, konnte sie keine Nacht mehr in Ruhe verbringen. Ständig wurde sie von bedrohlichen Schreckgespenstern heimgesucht.
Oft schlenderte sie mit Bibiana, die stets auf der Suche nach einer neuen weißen Bluse war, durch einen schicken Laden, und kaum dass die Freundin einen Kleiderbügel herauszog, schlang dieser sich, wie von Geisterhand geführt, eng um ihren Hals. Maddalena versuchte dann mit aller Kraft, den Draht von Bibianas Kehle zu lösen, doch es gelang ihr nie, immer war sie die ohnmächtige Zeugin des qualvollen Erstickens ihrer liebsten Freundin. In einem anderen Alptraum stieg sie mit Franjo in eine Tropfsteinhöhle hinab. Am tiefsten Punkt angekommen, rutschte er auf dem glitschigen Boden aus und prallte heftig mit der Schulter gegen die Wand, woraufhin sich ein von der Decke der Grotte hängender Stalaktit löste und seinen Brustkorb durchbohrte. Maddalena musste hilflos mit ansehen, wie ihr Verlobter zuerst die Augen verdrehte, röchelte und dann elend verblutete.
Jedes Mal wachte sie schweißüberströmt auf, und ihre Glieder bebten.
Heute war Samstag.
Sie hatte frei, auch keinen Bereitschaftsdienst, konnte daher ohne Konsequenzen ihr Handy ausschalten.
Aber was bedeutete das schon?
Selbstverständlich ließ sie es eingeschaltet.
Ihr Verantwortungsgefühl war zu groß, um sich einfach unerreichbar zu machen. Als Chefin ihrer Truppe musste sie natürlich ausrücken, sobald sie gebraucht wurde.
Besonders dann, wenn es einen wirklichen Notfall gab.
Also lud sie das Telefon auch am Wochenende stets auf hundert Prozent und stellte den Lautsprecherregler auf die höchste Stufe. Früher hatte sie manchmal nur die Vibration aktiviert und das Summen regelmäßig überhört. Das kam nicht mehr in Frage, denn es erweckte den Anschein, als wäre es ihr nicht wichtig genug, als würde sie einen etwaigen Anruf ganz gern überhören.
Die vergangenen Tage waren ruhig gewesen, ja, sie waren fast ereignislos an ihnen vorübergezogen.
Außer zwei Einbrüchen und ein paar Diebstählen, hauptsächlich handelte es sich dabei um den Klau von Fahrrädern, war nicht viel passiert.
In der Dienststelle würde sich ihre Mannschaft also ungestört alten, ungelösten Fällen widmen oder den notwendigen Papierkram erledigen. Ein Anruf, der sie zur Arbeit beorderte, war unter diesen Umständen nicht zu erwarten.
Was für eine Wohltat, dachte sie und räkelte sich.
Ihre Gelenke knackten unerwartet laut, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr so beweglich wie früher zu sein.
Maddalena beschloss, wieder mehr Sport zu treiben. Eigentlich war das regelmäßige Training vorgeschrieben, doch in letzter Zeit vernachlässigte sie es.
Nicht selten haderte sie mit dem Schicksal und fragte sich ernsthaft, wofür sie sich denn so auspowern sollte, wenn schon ein kleines Versehen, eine Unachtsamkeit, eine fatale Nachlässigkeit ihr vorzeitiges Ende bedeuten konnte. So wie es bei Franjo und Bibiana der Fall gewesen war.
Natürlich wusste sie, dass solche Überlegungen fehl am Platz waren. Sie musste in der Gegenwart leben, statt sich um Dinge zu sorgen, die außerhalb ihrer Macht lagen.
Daher hatte sie sich für heute mit Leonardo Morokutti, ihrem alten Kollegen und langjährigen Freund, zu einem Mittagessen an der Strada Costiera in einem der coolen Restaurants mit Meerblick verabredet.
Ihre Freundinnen, Maddalena schluckte, weil dazu vor allen anderen auch ihr Herzensmensch Bibiana gehört hatte, lagen ihr immerfort und lästig mit diesem Kollegen in den Ohren. Alle fanden, Leonardo und sie würden das perfekte Paar abgeben.
Das entsprach jedoch nicht Maddalenas Gefühlslage.
Franjo war immer noch da.
Früher war er ihr bildhaft erschienen und hatte sie zu Gesprächen aufgefordert. Einmal hatte ihr Assistent, Piero Zoli, sie sogar bei so einem Zwiegespräch überrascht. Das war für sie eine Art Zäsur gewesen, denn seither bemühte sie sich, es nicht mehr dazu kommen zu lassen, dass sie sich mit Franjo in einer Scheinwelt befand.
Zu ihrem Entsetzen war ihr Verlobter wenig später tatsächlich verschwunden, so als hätte er verstanden, dass es endgültig Zeit war, zu gehen und Maddalena sich selbst zu überlassen.
Es tat weh.
Verdammt weh sogar.
Manchmal, wenn sie eine Zigarette auf ihrer kleinen Terrasse rauchte, ertappte sie sich dabei, dass sie sich bemühte, ihn wieder heraufzubeschwören. Doch Franjo war immer ein Dickschädel gewesen und hörte auch im Tod nicht auf, seinen Sturkopf durchzusetzen.
Leonardo war und blieb nichts weiter als einer ihrer nettesten Kollegen außerhalb ihrer Dienststelle, mehr war da nicht, und mehr würde es auch nie werden.
Gleichgültig, was er oder die anderen sich erhofften.
Nun, sie konnte diesem Treffen dennoch einiges abgewinnen. Es gab hervorragendes Essen, einen fabelhaften Blick auf das blau glänzende Meer, das den Sommer verkündete, und die Gesellschaft eines humorvollen, unterhaltsamen Mannes, der die verrücktesten T-Shirts trug, die sie je gesehen hatte.
Unter der Dusche sang sie und musste über ihre Misstöne herzlich lachen. Stimmlich war sie mehr als nur unbegabt.
Einmal hatte sie nach dem Pilateskurs mit ihren Freundinnen in Stefanos Bar, in die sie häufig einkehrten, beschwipst zu singen begonnen. Francesca, Stefanos Ehefrau, hatte ihn hinter dem Tresen mit dem Ellbogen in die Seite gestoßen und glucksend auf Maddalena gezeigt, woraufhin Stefano, dessen Großmutter aus Österreich stammte, eine verächtlich anmutende Handbewegung machte und zum Entsetzen seiner höflichen Frau völlig ungeniert auf Deutsch entgegnete: »Meine Oma hätte beim grauenvollen Gesang unserer Commissaria glatt behauptet, sie besäße ein sogenanntes Schweinsohr.«
Nicht wenige der Anwesenden hatten gekichert, und Francesca musste Maddalena unter dem Gelächter ihrer Freundinnen wohl oder übel übersetzen, was Stefano gesagt hatte.
Danach war Maddalena etwas beleidigt gewesen, hatte sich das jedoch nicht anmerken lassen. Ihre Sangeskünste hatte sie dort allerdings niemals mehr zum Besten gegeben.
Wenn sie jetzt daran dachte, schmunzelte sie.
Stefano hatte recht gehabt. Sie konnte wahrlich viel, doch das Singen stand eindeutig nicht auf der Liste ihrer besonderen Fähigkeiten.
Maddalena stieg aus der Duschkabine, trocknete sich ab und hörte ihr Telefon klingeln.
Unwillig drückte sie, in ihr Handtuch gewickelt, die grüne Taste und nahm das Gespräch an.
Guido Lippi war dran. »Commissaria, es ist mir äußerst unangenehm, Sie zu belästigen. Ich weiß, wie widerlich es ist, an seinem freien Tag so ein Gespräch entgegennehmen zu müssen.«
»Mensch, Lippi, kommen Sie auf den Punkt. Was ist los, dass Sie mich aufschrecken müssen?«
Guido Lippi versuchte schon seit Langem, ihrem engsten Mitarbeiter Piero Zoli den Rang als Lieblingskollege abzulaufen. Das hatte sie stets als lächerlich abgetan, zu durchsichtig war sein Bemühen, nachdem er sich zuvor offen als ihr missgünstiger Konkurrent positioniert hatte.
Dennoch war sie Lippi seit einiger Zeit sehr verbunden. Er gab sich große Mühe, Teamfähigkeit zu beweisen, und hatte sie einmal aus einer sehr prekären Situation gerettet, das würde sie ihm nie vergessen.
Also reagierte Maddalena milde und setzte nach: »Es wird sicher etwas Wichtiges sein, oder irre ich mich?«
»Sie irren sich keineswegs, meine vergötterte Ehefrau, Stella, würde es mir bis in alle Ewigkeit vorhalten, wenn ich Sie grundlos in Ihrer wohlverdienten Freizeit störe.«
Maddalena verdrehte die Augen. »So reden Sie doch endlich, Lippi.«
Er räusperte sich. »Wir haben hier eine weibliche Leiche. Es handelt sich um Totschlag oder sogar Mord, doch niemand kann eine Aussage tätigen, die uns weiterhilft. Ihre Unterstützung wäre äußerst willkommen.«
Maddalena überlegte ein paar Sekunden lang.
»Wohin soll ich kommen?«
»An die Riva Bersaglieri. Danke, Chefin. Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann. Sie erkennen das Haus sofort. Es sind viele Einsatzfahrzeuge vor Ort.«
Maddalena drückte das Wasser aus ihrem nassen Haar und ärgerte sich.
Sollte sie ihre Locken föhnen?
Nein, entschied sie und band ein Tuch um ihren Kopf. Sollte die Luft doch das Trocknen übernehmen.
Unwillig wählte sie Leonardos Nummer.
»Maddalena. Du wirst doch nicht absagen?«, fragte er.
»Es tut mir leid, aber höhere Mächte sind im Spiel und haben unser Treffen vereitelt. Es liegt wahrlich nicht an mir. Bitte glaube mir das.«
»Du hältst meine Einladungen viel zu oft nicht ein, manchmal denke ich, ich sollte beleidigt sein, tesoro.«
Maddalena tat es leid. »Bitte, Leonardo, sei mir nicht böse. Die Pflicht ruft, aber die nächste Einladung geht auf mich. Ich melde mich bei dir, versprochen.«
Leonardo unterbrach grußlos die Verbindung.
Maddalena wunderte sich nicht, denn sie wusste seit Langem, dass Männer Zurückweisungen nicht so leicht wegsteckten und alles persönlich nahmen. Mit einem Aufseufzen zog sie sich an und machte sich zu Fuß auf den Weg. Es war nicht wirklich weit zum Ort des Geschehens. Sogar von ihrer Terrasse aus konnte Maddalena die Blaulichter auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals flackern sehen.
Zügig umrundete sie den kleinen Innenstadthafen und bog auf die parallel zu ihrer Riva verlaufende Uferstraße ein.
Fanetti begegnete ihr als Erster.
Er lächelte sie fröhlich an, als gäbe es im Haus keine Leiche und sie wären hier bloß zu einem netten Frühstück verabredet.
Das passte so gar nicht.
Arturo gelang es mitunter einfach nicht, die richtige Miene zur rechten Zeit aufzusetzen. Er war und blieb ein ewig verwöhntes Kind, sosehr er sich auch bemühte, erwachsen zu wirken.
»Fanetti, wir sind hier an einem Tatort und nicht zum Zeitvertreib in einer Bar. Also grinsen Sie mich nicht so gut gelaunt an«, maßregelte sie ihn daher streng, musste jedoch ein Kichern unterdrücken, als sie seine entgeisterte Miene sah.
»Öh«, machte er verwirrt, »ich wollte Sie doch lediglich besonders freundlich begrüßen, da Sie für uns Ihren freien Tag opfern.«
»Okay. Danke.« Maddalena verpasste ihm einen leichten Stupser mit ihrem Ellbogen. »Nichts für ungut, Fanetti. Sie wissen ja, dass ich es Ihnen nicht nachtrage.«
Maddalena hatte Arturo Fanetti schon lange in ihr Herz geschlossen. Zuerst war sie ihm kühl und verschlossen entgegengetreten, da sie vermutete, er wäre von Comandante Achille Scaramuzza eingesetzt worden, um sie zu beobachten. Schließlich war Fanetti der Spross und Erbe eines seiner ältesten Freunde, eines an Geld und Einfluss reichen Kaffeeproduzenten aus Triest. Zum Glück hatte sich das als Irrtum herausgestellt, und Fanetti erwies sich als loyaler Mitarbeiter, der sie unterstützte, wo er nur konnte. Da sah sie ihm schon so einige auffallende Marotten nach.
»Also, Kollege. Was gibt es?«
Arturo Fanetti zog seinen Zopf über die Schulter nach vorn und strahlte sie nicht die Spur beleidigt an. »Den da«, er wies auf einen bleichen Mann, der in einem Rettungswagen kauerte, »sollten Sie mal befragen. Der weiß deutlich mehr, als er bis jetzt gesagt hat. Gerechterweise muss ich zugeben, dass er unter einem gewaltigen Schock leidet und wohl noch ziemlich durcheinander ist.«
»Danke, Fanetti«, sagte Maddalena wieder kurz angebunden, denn sie hasste es zutiefst, wenn jemand sie anwies, was sie zu tun hatte. »Zuerst werfe ich einen Blick auf die Tote.«
Fanetti nickte ergeben.
4
Zehn Tage zuvor
Die Freundinnen saßen im Halbkreis um einen Tisch auf dem Vorplatz der kleinen Bar am Hafen. Es war der Beginn ihres wöchentlichen Mittwochstreffens.
»Wir als Einheimische dürfen uns das Recht herausnehmen, die Stühle so zu stellen, dass jede von uns etwas von der Frühjahrssonne abkriegt«, erklärte Carolina im Brustton der Überzeugung.
»Korrekt gesprochen, meine Liebe. Aurora soll uns rasch Kissen bringen, damit wir uns auf den kühlen Messingsitzflächen nicht den Hintern abfrieren.« Anastacia kicherte und winkte der drinnen am Tresen stehenden jungen Wirtin auffordernd zu.
»Das will ich meinen«, bekräftigte Romina und strich sich ein blondiertes Strähnchen aus der Stirn. »Erst neulich hat mich eine hartnäckige Blasenentzündung geplagt. Und in unserem Alter können wir auf solche Wehwehchen absolut verzichten.«
Ludmilla schnaufte empört. »So alt, wie du uns gerade hinstellst, sind wir auch wieder nicht. Im besten Fall etwas betagt.« Sie zog ihren hautfarbenen Lippenstift akkurat ohne Spiegel nach und ergänzte: »Schließlich sind wir alle weit unter siebzig.«
Mariella schmunzelte. Anastacia mit ihren vierzig Jahren kam als Einzige an sie heran. Doch sie war eindeutig die Jüngste in der Runde der Frauen, deren Alter bis fünfundsechzig reichte, und tatsächlich noch weit von der siebzig entfernt, hatte also gut lachen.
Carolina öffnete ihre Tasche, zog rosa Lipgloss aus einem Seitenfach und betupfte damit ihre Lippen. Dann nahm sie ein Kleenex und wischte vorsichtig die Schweißtropfen unter ihrer großen Sonnenbrille weg, die fast so etwas wie ihr Markenzeichen war. Die Freundinnen sahen sie selten, eigentlich nie ohne diese Brille. Sie war von allen die am elegantesten Gekleidete und stets perfekt geschminkt.
»Leute, schaut mal.« Romina wies auf den Eingang der Bar. »Das ist doch unsere Commissaria? Jetzt keine Auffälligkeiten, bitte. Mit der Polizei sollte man sich immer gut stellen.«
Alle lachten.
Aurora brachte ihnen mit unbewegter Miene die gewünschten Kissen und hielt danach einen kurzen, aber lebhaften Plausch mit der Commissaria.
Die Freundinnen steckten die Köpfe zusammen und begannen einen mit leisen Stimmen gehaltenen Tratsch über ihre Commissaria.
Maddalena Degrassi war bei der Bevölkerung von Grado ziemlich gut angeschrieben, allerdings mehr beim weiblichen Teil der Bewohner der Insel. Bei Männern schlug sie mitunter einen zu schneidigen Ton an. Dennoch stand ihre Beliebtheit in krassem Gegensatz zu der ihres Vorgesetzten Achille Scaramuzza. Der Comandante galt als so überheblich wie cholerisch, und er verhielt sich emanzipierten Frauen gegenüber herablassend. Was zwischen den beiden regelmäßig zu Konflikten führte, wie man hörte. Zudem war er seit einiger Zeit nicht nur der Chef der Commissaria, sondern auch noch ihr Stiefvater. Zum heimlichen Gespött aller hatte dieser ungehobelte Kerl die Frechheit besessen, sich in Maddalenas wunderschöne, feinsinnige Mutter Sibilla zu verlieben, die es ihm – aus unerfindlichen Gründen, da waren sich die Freundinnen einig – gleichgetan hatte.
»Ciao, meine Lieben!«, rief in diesem Moment eine Frau mit dichtem, kurzem silbernem Haar und steuerte auf die angeregt plaudernde Gruppe zu. Stolz schob sie einen großen dunkelblauen Kinderwagen vor sich her, blieb auf halbem Weg stehen und breitete behutsam eine Decke über das darin strampelnde Baby.
»Wer ist die denn?«, fragte Carolina neugierig und kniff unter der Sonnenbrille ihre Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser erkennen, um wen es sich handelte.
Sie schätzte Ungeplantes nicht sonderlich.
Die anderen schauten ähnlich überrascht. Da trat auf einmal die Commissaria an die Frau heran.
»Giorgia!«, begrüßte Maddalena Degrassi die Frau erfreut und legte zur Begrüßung den Arm um sie. »Wie schön, dich hier zu treffen.«
Ein kollektives leicht verwirrtes Raunen ging durch die Runde.
Giorgia war das?
Doch nicht etwa ihre stets rothaarige Giorgia?
Das konnte doch nicht wahr sein.
Sie sah völlig verändert aus.
Giorgia war die Sechste in ihrem Bunde, obwohl sie nur unregelmäßig an den gemeinsamen Treffen teilnahm. Das lag unter anderem an ihrem aufreibenden Job, dem Radunfall, bei dem sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte und daher lange Zeit ausfiel, und nicht zuletzt an Dante, ihrem Ehemann.
»Was ist da passiert?«, fragte Anastacia in die Runde, bekam aber keine Antwort.
Nach einem kurzen Schwätzchen mit Aurora und der Commissaria, bei dem sie lachend auch in ihre Richtung wies, kam die veränderte Giorgia schließlich zu ihnen herüber. »Verblüfft, Mädels?« Sie schmunzelte.
Und ja, sie alle musterten Giorgia wahrhaft erstaunt.
Wie lange hatten sie einander nicht gesehen?
Keine von ihnen wusste es.
Sie pflegten jeden Mittwoch ihren Stammtisch abzuhalten. Sofern das Wetter es zuließ, im Freien, sonst im Inneren einer ihrer Lieblingsbars. Einmal im Monat, meistens am Freitag, kamen sie zur Literaturrunde in der Wohnung von jeweils einer von ihnen zusammen.
»Jetzt glotzt mich nicht so an, als wäre ich das achte Weltwunder der Antike, denn so in die Jahre gekommen bin ich sicherlich nicht. Obwohl es sich, ehrlich gesagt, manchmal so anfühlt. Die Zeit geht halt nicht spurlos an uns vorbei.« Giorgia angelte sich einen Stuhl vom unbesetzten Nebentisch, setzte sich und stellte den altertümlich anmutenden Kinderwagen direkt neben sich ab. Möglichst unauffällig wischte sie die Schweißtropfen, die sich auf ihrer Stirn und unter der Nase gebildet hatten, weg.
Carolina hatte die Geste natürlich dennoch bemerkt. Sie beobachtete immer genau, was andere taten, wie sie sich verhielten. Rasch griff sie in ihre teure Tasche und zog abermals ein Kleenex hervor. »Da.« Sie reichte es Giorgia und genoss es, wie diese sich wand, da sie sich ertappt fühlte.
So ein Malheur war Schwitzen nun wirklich nicht, fand Carolina.
Romina sprang auf, um die Freundin von allen Seiten zu begutachten. »Es ist deine neue Frisur, die dich so was von komplett verändert. Du bist ein ganz anderer, ein neuer Mensch geworden«, stellte sie in die Hände klatschend fest. »Fast hätten wir dich nicht wiedererkannt. Nicht wahr, Mädels? Da gebt ihr mir doch allesamt recht?«
Die anderen nickten zustimmend.
Giorgia grinste. »Ich hatte das ewige Nachfärben mit dem schädlichen Chemiezeug endgültig satt, und Cris, meine tolle Friseurin, gab darum statt der roten Färbung nur etwas silbernes Tönungsspray auf meinen Ansatz. Das sah verdammt gut aus. Sie riet mir, bald wiederzukommen, denn sie hätte eine Idee. Als ich das nächste Mal bei ihr im Salon war, zeigte sie mir ein Foto von einer wirklich schicken Frisur und meinte, dass Silbergrau seit Kurzem voll im Trend läge. Sie schnitt danach den Rest der Längen ratzfatz weg und färbte alles silbern ein. Das ist nun das ansehnliche Resultat. Was meint ihr?«
»Du wirkst wie eine mir gänzlich unbekannte Frau.« Anastacias Finger wuschelten Giorgias neue Frisur genussvoll durcheinander. »Es steht dir verteufelt gut. Viel besser als das unechte Tizianrot, und dein Haar fühlt sich um einiges dichter an.«
»Du siehst aus wie eine jüngere, hübschere Kopie deiner selbst«, warf Carolina widerwillig ein. Ihr gefiel, für alle deutlich erkennbar, nicht, wenn andere wegen ihres Aussehens gelobt wurden. Sie und Romina waren felsenfest davon überzeugt, sich über die Jahre am besten gehalten zu haben.
Diese kleine Eitelkeit belächelten die übrigen Freundinnen liebevoll. Die beiden waren ja auch umwerfend. Carolina mit ihrer tollen Haut und dem gepflegten Äußeren, stets auf dem neuesten Stand der Mode, und Romina mit ihren kecken blonden Strähnchen und dem Schmollmund. Auch wenn die blasse Mariella mit ihrem schwarzen, langen Haar natürlich erst recht hervorstach. Sie war höchstens vierzig, arbeitete in der Schule und besaß zum großen Ärgernis ihrer Freundinnen kein Handy. Das bedeutete, sie war nicht ständig erreichbar und unzeitgemäß.
»Glaubst du, Mariella hütet ein schauerliches Geheimnis, weil sie von einer so rätselhaften Aura umgeben ist?«, hatte Anastacia einmal gefragt, als sie mit Romina zusammensaß.
»Unsere liebenswerte Volksschultante kann niemandem ein Härchen krümmen«, entgegnete Romina mit gerümpfter Nase. »Die erschrickt doch vor ihrem eigenen Schatten. Aber du hast nicht ganz unrecht, sie wirkt undurchschaubar. Wir würden sie vielleicht nicht kennengelernt haben, hätte Carolina sie damals nicht mitgebracht, weil sie Gefallen an der Lehrerin ihrer beiden Kinder fand.«
»Nicht schwer, denn der schüchterne, in sich gekehrte Fredo stellte ja auch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für seine Eltern dar. Wo die erhoffte Begabung hätte sein sollen, gab es bloß pures Desinteresse. Und Mariella hat sich mit ihm beschäftigt und ihn aus seinem Schneckenhaus gelockt. Auch ihr Einfluss auf Allegra ist unbestritten. Die hatte doch nur Mode und Jungs im Sinn und schwänzte oftmals die Schule, um mit ihren Freundinnen abzuhängen. Klar, dass Carolina Mariella ins Herz geschlossen und zu uns gebracht hat.«
Romina und Anastacia wussten nicht, wie Ludmilla und Giorgia über Mariella dachten. Es war Usus in ihrer Gruppe, sich mit nur einer anderen quasi zu verbünden und bestimmte Dinge abseits der anderen unter sich zu besprechen. Hin und wieder wechselte auch mal die Bezugsperson.
Waren sie alle zusammen, ging es stets ziemlich turbulent zu, auch wenn jede darauf bedacht war, keine der Freundinnen ernsthaft zu verletzen.
»Eigentlich ist das doch alles dasselbe«, ließ Romina die anderen nun wissen und räusperte sich ausgiebig. »Gefärbt ist nun mal gefärbt, ob rot, blau oder silbergrau. Und künstlich ist das alles. Wirklich mutig ist es, sich seinem Alter zu stellen und das Weiß nicht mehr durch irgendeine Farbe zu verdecken.«
»Liebste Romina. Sei mal nicht so oberschlau. Du hast selbst blonde Strähnchen. Und deine Lippen waren auch schon mal schmaler. Das nenne ich Doppelmoral«, polterte Mariella, die sonst eher zurückhaltend war. Sie war zu kurz Teil der Gruppe, um in dieser Art mit den anderen zu diskutieren. Außerdem gab sie nie Privates von sich preis. Nur ihr leichter Akzent ließ darauf schließen, dass sie nicht in Italien geboren war.
Romina und Anastacia verständigten sich wortlos über den Tisch hinweg.
Ja, Mariella verbarg etwas. Sie zeigte sich nicht so, wie sie wirklich war. Dieser fast schon aggressive Ausbruch bestätigte ihnen das.
»Das klang eben wirklich doof. Tut mir leid«, warf Romina beschwichtigend ein. »Egal, ob Natur oder nicht, es steht Giorgia. Nur darum geht es.« Sie betrachtete verlegen die Spitzen ihrer unverkennbar neuen Schuhe.
»Aber wirklich«, echote Anastacia.
Alle warfen sich sarkastische Blicke wegen Anastacias müder Bekräftigung zu und glucksten hinter vorgehaltenen Servietten.
»Wollt ihr meinen Nachwuchs, und ich meine damit nicht meine Haarpracht«, Giorgia zwinkerte etwas verkrampft, »denn nicht endlich mal begrüßen?«, fragte sie die Freundinnen leicht irritiert. Eindeutig schien sie angenommen zu haben, dem entzückenden Baby würde mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden als ihrer neuen Frisur.
Jetzt scharten die Frauen sich um den Wagen, in dem Giorgias Enkelsohn ruhig schlief.
»Ist der süß.«
»So ein prachtvolles Jüngelchen.«
Jede gab einen entsprechenden Kommentar von sich. Sie überschlugen sich förmlich beim Äußern von Komplimenten und Erfinden von Koseworten, und Giorgia nickte zufrieden.
»Warum ist eigentlich niemand zur Taufe gekommen?«, wollte sie wissen. »Eingeladen wart ihr nämlich alle.« Ihre Enttäuschung darüber war unübersehbar. »Die Taufe fand im Heiligtum Santuario Beata Vergine Maria auf der Isola Barbana statt. Für keine von euch wäre es schwierig gewesen, dort aufzutauchen. Die Fähre fährt regelmäßig zwischen Barbana und Grado hin und her. Und eine von euch besitzt sogar ein privates Boot, wie wir alle wissen.« Sie warf Carolina einen Blick zu.
Ludmilla schien von Giorgias Worten berührt zu sein.
»Was haltet ihr davon, Mädels, wenn wir das Fest in gewisser Weise nachzuholen versuchen?«, ergriff die stille Mariella zum Erstaunen ihrer Freundinnen abermals entschieden das Wort.
»Wie meinst du das?«, fragte Giorgia verwundert.
»Na, bei der ›Perdòn‹. Die findet doch immer am ersten Sonntag im Juli statt. Da gondeln wir hin und nehmen am Gottesdienst teil. Wie denkt ihr über meine Idee?« Mariella war selbst sichtlich begeistert, ihre Wangen glühten rot vor Aufregung.
Giorgia begann zu lächeln. »Das würde mich und Dante außerordentlich freuen. Toller Einfall. Du sprichst von der traditionellen Prozession, wenn ich dich richtig verstanden habe?«
»Ja«, erwiderte Mariella, nun wieder schüchtern.
»Es dauert allerdings noch ein wenig bis dahin«, gab Carolina zu bedenken und brachte unumwunden ihr Allgemeinwissen zur Kenntnis. »Die Statue der Madonna degli Angeli aus unserer Basilika Sant’Eufemia schippert dann mit einem mit Fahnen und Blumen geschmückten Schiff von Grado nach Barbana, inmitten einer Prozession von Booten.«
»Und du, liebe Freundin, hast während der Pilgerfahrt einen Logenplatz«, warf Romina ein. »Dein Mann fährt mit dir und euren Kindern zwischen all den anderen Boote besitzenden Bewohnern unserer kleinen Insel und etlichen neureichen Touristen über das Wasser.«
»Ja, ihm steht es als einem der wichtigsten Mitarbeiter des Rathauses aber auch zu, und ebenso obliegt es ihm, bestimmte bedeutende Würdenträger mit auf sein Boot zu nehmen. Natürlich alle bekleidet mit ihren offiziellen Uniformen.«
»Nichts anderes hätten wir erwartet.« Ludmilla lachte herzlich und machte sich damit wie üblich über Carolinas angeberische Art lustig. Jedoch auf nette Weise.
Dann fragte Carolina, die ihre Sticheleien nicht lassen konnte: »Giorgia, trotz deiner neuen Rolle als Über-Oma lässt du uns doch diesmal nicht wieder im Stich und erscheinst hundertprozentig zur nächsten Literaturrunde? Du hast inzwischen schon viel zu oft gefehlt. Monatelang. Bitte, liebe Freundin, erhelle uns mit deinen tiefgründigen Ansichten. Deine Meinung zählt, sie ist und war uns allen immer ausgesprochen wichtig.«
Die anderen blickten Carolina etwas erstaunt an, denn ihre Worte klangen nicht die Spur freundlich, sondern geradezu abwertend. Aber an Carolinas Überheblichkeit waren sie inzwischen gewöhnt. Sie konnte allerdings auch sehr herzlich sein, sonst wäre sie längst nicht mehr Teil der Runde. Schon einige Male hatten die anderen hinter ihrem Rücken über sie gesprochen und waren alle der gleichen Meinung: Die Freundin teilte aus, weil es offensichtlich etwas gab, das sie quälte, und davon abgesehen tat es ihr enorm gut, mit ihnen zusammen zu sein. Unabhängig davon, ob sie imstande war, das, was sie insgeheim beschäftigte, anzusprechen oder nicht.
Hoffentlich vertraute sie sich ihnen oder wenigstens einer von ihnen irgendwann an. Das wäre allen zu wünschen, denn in letzter Zeit hatte sich Carolinas Tonfall so sehr ins Negative, geradezu Gehässige verändert, dass sie von den anderen bereits darauf hingewiesen worden war.
»Aber sicher. Selbst wenn ich nur ziemlich oberflächlich vor mich hinplappere, denn darauf spieltest du an, liebe Carolina, hast du meine Interpretationen schon mehr als nur einmal als leeres Gequatsche abgetan.« Giorgia sah Carolina giftig an. »Dennoch würde ich mich sehr gern zu dem aktuellen Buch äußern. Ich komme, so viel steht fest. Wann und wo findet das Treffen diesmal statt?« Sie wartete etwas zu wissbegierig auf eine Antwort.
»Bei mir, am Freitag in einer Woche um neunzehn Uhr«, sagte Ludmilla. »Und dass du dabei sein wirst, glaube ich erst, wenn ich es sehe. Du warst viel zu oft abwesend. Selbstverständlich verstehen wir, warum du so häufig verhindert warst, zuerst wegen deines Unfalls und dann Dantes Krankheit. Doch jetzt? Gut, du hilfst weiterhin ein wenig in der Bar aus. Aber alles andere ist doch wieder gut. Das Baby wirst du auch nicht ständig hüten. Und Dante kann sich ein paar Stunden selbst versorgen. Trotzdem hast du dich weiterhin rargemacht. Das bedeutet, Giorgia, wir hoffen diesmal wirklich auf dich und deine geschätzte Kritik, die keineswegs als leeres Gequatsche angesehen wird. Es liegt also bei dir, tesoro.« Ludmilla brachte präzise hervor, was alle dachten. Sonst hielt sie sich meistens zurück, aber diesmal übte sie sich in unmissverständlicher Direktheit, was ihr in der Freundinnenrunde Pluspunkte einbrachte.
»Das Buch, das wir besprechen wollen, hast du hoffentlich gelesen?«, erkundigte sich Carolina so skeptisch, als würde sie ernsthaft daran zweifeln.
Aurora trug gerade ein voll beladenes Tablett an ihrem Tisch vorbei, auf dem getoastete Häppchen, Oliven, eine Flasche Prosecco und Gläser sowie Wasser in Karaffen standen. Ihr schien Carolinas Ton nicht zu gefallen, denn sie blieb so abrupt stehen, dass die hohen Stielgläser bedenklich klirrten.
»Pass auf!«, rief ihre Mutter mahnend aus dem geöffneten Fenster der Bar.
»Jaja«, brummte Aurora und erklärte, noch ehe Giorgia ihrerseits etwas auf Carolinas bissigen Kommentar erwidern konnte: »Also ich sehe Giorgia ständig die Nase tief in einen Schmöker vergraben, während sie den Kinderwagen hin- und herschiebt.«
»Fragt sich nur, was sie gelesen hat«, stichelte Anastacia. »Könnte ja auch ein Kochbuch mit Rezepten für gesunde Babynahrung gewesen sein. Oder liege ich da gänzlich falsch?«
»Jetzt blas du nicht auch noch ins gleiche Horn wie Carolina«, ereiferte sich Mariella und versuchte vergeblich, einen Funken Harmonie wiederherzustellen.
Die Freundinnen grinsten nur und senkten ihre Köpfe, um es zu verbergen.
»Mariella, meine Süße, was regst du dich heute so auf? Sonst ist dein Mundwerk doch eher verschlossen«, wies ausgerechnet Ludmilla, die Sanfte, sie zurecht.
»Stimmt doch«, murrte Mariella. »Manchmal geht es halt um mehr.«
»Mehr?«
»Um Freundschaft, Freude und Lust am Lesen.« Mariella nahm einen Schluck von ihrer Cola. Ihr darauffolgender kleiner, aber heftiger Rülpser brachte alle zum Kichern.
»Genauso sehe ich das auch«, bestätigte Ludmilla. »Geben wir Giorgia noch eine Chance. Man kann sein Leben eben nicht immer selbst bestimmen.«
Die anderen gaben ihr großzügig recht. Giorgia war schließlich eine von ihnen, und es war keine unter ihnen, die sie nicht ins Herz geschlossen hatte, auch wenn alle einen unbestimmten Groll gegen sie hegten, weil sie sich so sehr zurückzog und sie kaum noch an ihrem Leben teilhaben ließ.
Giorgia hatte nicht nur die Farbe ihrer Haare und die Frisur verändert, sondern vieles mehr war passiert, von dem sie alle anscheinend nicht den blassesten Schimmer hatten. Sie war ihnen fremd geworden.
Doch möglicherweise ergab sich ja bei dem nächsten literarischen Zusammentreffen eine Situation, die es Giorgia erlaubte, sich ihnen gegenüber zu öffnen.
Alle hofften das, denn es wäre durchaus eine Bereicherung, sie wieder in der Freundinnengruppe zu haben.
5
Giorgia hatte die Truppe verlassen und schob den Kinderwagen am Hafenbecken entlang. Ihr war diese unvorhergesehene Zusammenkunft mit ihren alten Freundinnen in höchstem Maße unangenehm gewesen.