Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein tiefenpsychologisch motivierter Thriller, der bis zur letzten Seite in Atem hält. Adele und Niklas aus Venedig tauschen mit einem anderen jungen Paar die Wohnungen, doch die Freude über den Neubeginn in Berlin währt nur kurz. Als eine Nachbarin ihnen immer eigenartigere Dinge über ihre Tauschpartner erzählt, beginnt ihre Welt aus den Fugen zu geraten. Ein gut gehütetes Geheimnis kommt ans Tageslicht, und es drängt sich ein furchtbarer Verdacht auf: In dieser Wohnung muss etwas Grauenhaftes geschehen sein.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 294
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andrea Nagele leitete über ein Jahrzehnt ein psychotherapeutisches Ambulatorium. Heute arbeitet sie als Autorin und betreibt in Klagenfurt eine psychotherapeutische Praxis. Sie pendelt zwischen Klagenfurt am Wörthersee, Grado und Berlin.
www.andreanagele.at
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von arcangel.com/Amy Weiss
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-070-9
Thriller
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Wem anders als meiner Sophie, Mika und Bastian, die mich so lange in Friedrichshain beherbergt haben, könnte ich dieses Buch widmen?
»Stell dich nicht so an, Idiot«, fauchte sie. »Du musst viel tiefer graben, darin verscharrt man nicht mal eine Heuschrecke. Oder willst du etwa, dass man die Leiche findet, bevor wir auf und davon sind?«
»Leg selbst einen Zahn zu, anstatt mich zu beschimpfen«, gab er gedämpft zurück. Am liebsten hätte er sie angebrüllt, doch er schaffte es gerade noch, sich zurückzuhalten.
Der Schweiß tropfte aus sämtlichen Poren seines Körpers.
»Sagt das allen Ernstes derjenige, der jemanden umgebracht hat? Kaltblütig gemeuchelt?« Sie lehnte sich auf den Spaten und funkelte ihn an. »Allen Ernstes?«, wiederholte sie höhnisch, und feiner Speichel flog ihm entgegen.
»Du hast recht. Aber mach bitte weiter, bald bricht der Tag an. Dann fliegt alles auf, und wir sind beide verloren.« Er ärgerte sich über den kleinlauten Ton in seiner Stimme, doch er befürchtete, wenn er der Aggression, die in ihm brodelte, freie Bahn ließ, würde er vielleicht neben der Leiche in der Grube landen.
Ja. Er gestand es sich ein. Er hatte Todesangst vor ihr. Vor der Frau, die er einmal geliebt hatte, mehr als sein eigenes Leben. Oder war das nur einer dieser dummen Sprüche, leicht dahingesagt, weil sie so selbstlos klangen, jedoch meilenweit von der Wahrheit entfernt?
»Träumst du?« Sie stieß ihm grob in die Rippen. »Wir sind verloren?« Sie schnaufte abschätzig. »Das stell ich mal definitiv in Frage. Hör sofort mit diesem irrsinnigen Gelaber auf, sonst bin ich weg, und du kannst schauen, wie du mit der Situation zurechtkommst, in die du dich hineinmanövriert hast. Ohne meine Hilfe bist du doch völlig aufgeschmissen. Keiner weiß das besser als du, stimmt’s?«
Der Mond schob sich durch eine Wolke und warf einen seltsam irisierenden Schatten auf ihr Haar.
»Bitte«, sagte er leise, »bitte lass mich nicht hängen. Wir schaffen das nur zu zweit.« Es kam ihm vor, als winselte er wie ein getretener Hund. Er wusste zwar nicht, was diese armen Tiere wirklich spürten, wenn ihnen jemand Schmerz zufügte, aber er glaubte, es zu erahnen.
»Dann tu, was ich dir sage. Schließlich bist du von uns beiden der Mörder.«
Das Wort »Mörder« zerschnitt sein Herz in zwei blutende Hälften.
War er das denn, ein Mörder?
In seinem Kopf ging alles drunter und drüber, drehte sich wild umeinander wie die bunten Steinchen in einem Kaleidoskop. Kaum entstand ein Muster, zersplitterten die Farben in unendlich viele glitzernde Einzelteile.
»Habe ich es wirklich getan, oder warst du es?«
Obwohl er meinte, er hätte die Frage nur gedacht, spürte er die scharfe Kante der Schaufel an seiner Schläfe.
»Au!« Er schrie gequält auf und stürzte seitlich zu Boden.
Es roch bitter und schal und nach Verwesung.
»Sei nicht so wehleidig, du weißt genau, was du getan hast, und ich weiß es auch. Steh auf und spiel hier nicht die Mimose.«
Mühsam rappelte er sich hoch, der Hieb hatte eine blutige Schramme in seiner Haut hinterlassen.
Mit dem Zipfel seines Hemdes wischte er Blut und Schweiß weg und murmelte: »Entschuldige bitte. Ich weiß, wie viel ich dir zu verdanken habe. Vertragen wir uns wieder. Bitte.«
Klein kam er sich vor und jämmerlich.
Sie näherte sich ihm jäh, und er musste sich beherrschen, nicht zurückzuweichen, doch sie legte sanft ihre Arme um seinen zitternden Körper.
»Verzeih mir. Das eben wollte ich nicht. Ich könnte dir niemals wehtun. Lass es uns zu Ende bringen, und dann vergessen wir, was heute Nacht geschehen ist, und kehren nie wieder an diesen verdammten Ort zurück.«
»Ja, meine Geliebte. Genauso machen wir es. Dieser Ort ist verflucht. Es fühlt sich an, als läge ein böser Zauber auf ihm.«
»So ist es.«
Sie schaufelten mit vereinten Kräften das Grab tief und tiefer, schütteten es zu und passten es gekonnt der Umgebung an.
Adele
Ihr Häuschen war klein, doch an einem der wunderbarsten Orte der Welt gelegen.
Venedig.
Venezia.
Venice.
Wohl Hunderte Male hatten sie in letzter Zeit unabhängig voneinander, manchmal auch gleichzeitig, den Namen ihrer Lieblingsstadt ausgesprochen und dabei glückstrahlend gelacht.
Jetzt saßen sie, abgeschirmt von Nachbarn, mit Freunden in ihrem bezaubernden Minigarten, umgeben von Oleander und Sträuchern, die sie zuvor höchstens mal in einem botanischen Garten bewundert hatten und deren Duft betörend war. Adele konnte nicht genug von diesem Geruch bekommen.
Sie waren noch nicht lange verheiratet und schwebten auf einer wahrhaft rosaroten Wolke allumfassender Liebe.
Fröhlich prosteten sie einander zu, und Adeles Freundin Giovanna legte den Arm um sie. Die anderen naschten Chips und Pistazien, die zwischen ihren Zähnen knirschten.
»Flüstere mir noch mal eure tolle Geschichte ins Ohr«, hauchte Giovanna. Und Adele erzählte.
Ursprünglich kamen Niklas und sie aus Hamburg, waren aber beide zum Studium fortgezogen, er zunächst nach Köln, sie direkt nach Berlin. Und dort hatten sie sich dann endlich kennengelernt, nach der Arbeit in einem Club. Sie waren sofort ineinander verschossen gewesen und hatten von da an fast jede freie Minute miteinander verbracht.
Bald schon stellte sich die Frage, ob sie denn nicht zusammenziehen wollten. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes, und die Antwort war klar. Sie wohnten in unterschiedlichen Vierteln, er in Berlin-Mitte, sie an der Grenze von Pankow zu Prenzlauer Berg. Klang gut, war es aber nicht. Die Entfernung zueinander war ebenso groß wie der Weg zu ihren Arbeitsstätten.
Sie überlegten gründlich und sorgsam, welche Kriterien ihr gemeinsames Heim erfüllen sollte, und es war Adele, die schließlich ihrem geheimen Traum Ausdruck verlieh.
»Was hältst du von einer anderen Stadt, nicht hier in Deutschland?«
Niklas verstand nicht gleich, er schaute sie eine Weile verdutzt an. »Gleich ein kompletter Länderwechsel?«
»Warum nicht? Was spricht dagegen?«
Zuerst antwortete er nicht, dann forderte er sie mit ernster Miene auf: »Schließ deine Augen. Eine so bedeutungsvolle Entscheidung ist nämlich nicht ohne Bedingungen zu treffen.«
»Jetzt machst du mir Angst.« Adele war kurz erschrocken über den abrupten Wechsel seiner Stimmlage und riss gegen seine Anweisung ihre hellen, graugrün schimmernden Augen weit auf.
»Worum habe ich dich gerade gebeten, mein Liebling? Hör bitte ein einziges Mal auf mich. Auch wenn es dir schwerfällt.«
»Ach ja. Augen zu.« Jetzt gluckste sie, und eine unbestimmte Last, deren Anwesenheit sie zuvor gar nicht recht gespürt hatte, fiel von ihren Schultern. »Aber beeil dich, ich platze gleich vor Ungeduld.«
Sie kauerte auf dem Perserteppich, ihre zarten Hände vorm Gesicht, und hielt den Atem an, als eine wunderschöne Musik erklang. Sie kam wohl aus Niklas’ iPhone.
»Into the great wide open … under them skies of blue.«
Adele sprang auf und umarmte Niklas innig.
»Einer meiner Lieblingssongs von Tom Petty! Heißt das«, sie schmiegte sich an seinen Hals, »du sagst Ja zu einem länderübergreifenden Ortswechsel?«
»Wie vorhin angedroht, nicht ohne eine gewisse Bedingung.« Er hielt sie ein Stück von sich weg und zog eine kleine Schachtel aus der Tasche seiner schwarzen Jeans.
»Das … ist doch nicht das, was ich vermute?«
»Nichts würde mich seliger machen, als wenn du das Gleiche willst wie ich, mein Schatz.«
»Oh.« Sie schluckte und rang nach Worten. Ihr wurde heiß, dann brach es aus ihr heraus. »Es ist genau das, was ich mir insgeheim erhofft hatte«, jubelte sie und nahm den Ring, der in einer Schlaufe im blauen Samt steckte, heraus. Ein paar Sekunden ließ sie ihn auf ihrem Handteller liegen, um ihn anzusehen, und schob ihn dann über ihren Finger.
Ergriffen betrachtete sie ihn. »Passt haargenau«, sagte sie leise.
»Natürlich, schließlich habe ich mich bei deinen Freundinnen nach deiner Ringgröße erkundigt. Die sind übrigens nicht so verschwiegen, wie sie es einem gern vormachen. Als eine von ihnen – ich sage nicht, wer – mir nahelegte, neben der Ehe auch eine Luftveränderung in Erwägung zu ziehen, habe ich so lange nachgebohrt, bis sie mir verraten hat, was du dir wünschst. Und wohin es dich zieht. Was mich in meinen eigenen Plänen nur bestärkt hat. Adele, wenn wir eine so große Veränderung planen, gehört unsere Liebe besiegelt.«
»Sag mir ruhig ihren Namen. Diese Verräterin nehme ich mir demnächst mal gründlich vor. So eine Geheimnistuerin«, entgegnete Adele grinsend. »Was heißt das alles eigentlich im Detail?«, fragte sie dann.
»Wir kündigen unsere Wohnungen. Ich habe mich bereits in Venedig mit einigen Immobilienmaklern besprochen und glaube, etwas für uns Passendes gefunden zu haben. Im Rathaus war ich auch schon. Das war, als du dachtest, ich wäre auf dem Seminar in München.«
Adele hatte selbst hin und wieder Außentermine und war daher nicht verwundert gewesen, als Niklas für ein paar Tage weggefahren war. Sie hatte ihn zwar vermisst, aber dadurch endlich wieder mal Zeit gehabt, ausführlich mit ihren drei Freundinnen zu quatschen.
»Weißt du noch?«
»Ja, ja«, sagte sie ungeduldig. »Jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Berichte mir sämtliche Details.« Sie kuschelte sich an ihn, seinen Ring am Finger, und zerzauste liebevoll seine hellblonden, dichten Locken.
Sie war aufgeregt wie nie zuvor.
Ihr ganzes Leben änderte sich gerade, drehte sich wie ein Wirbelwind um die eigene Achse.
Immer noch sang Tom Petty, und in Adeles Augen brannten Freudentränen. Schnell wischte sie mit einem Papiertaschentuch über ihre Wangen.
»Willst du mich denn heiraten?«
»Ja«, antwortete sie leise und fügte dann lauter hinzu: »Ja, Niklas, ja, ich will.«
»Und ich, mein Liebling, will das auch. Mein Ja hast du für immer und ewig.«
Der Tag, an dem Niklas ihr den Antrag machte, hatte begonnen wie viele, doch er endete mit einem gegenseitigen Ja, das der Startpunkt für ihr gemeinsames Leben hier in Venedig gewesen war und das sie nur als Ausdruck des höchsten Entzückens bezeichnen konnte. Immer wieder schwelgte sie in den Erinnerungen und Emotionen dieser außergewöhnlichen Story, die noch dazu ihre eigene war.
»Das ist eine der bezauberndsten und berührendsten Liebesgeschichten, die mir je untergekommen ist«, sagte Giovanna mit ihrem rauen Timbre.
Verdammt, sie redete wieder nur von sich und Niklas. Auch wenn Giovanna sie dazu aufgefordert hatte, war das keine Entschuldigung für sie als Gastgeberin. Kein Wunder, dass drei der anderen Freunde verstohlen gähnten.
Adele besann sich ihrer Rolle und holte eine weitere Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank und von der marmornen Anrichte die bereits zubereiteten köstlichen Cicchetti, winzige Häppchen, belegt mit lokalen Spezialitäten. Eine venezianische Besonderheit, hübsch angerichtet auf der Silberplatte ihrer verstorbenen Großmutter. Adele bevorzugte Baccalà mantecato, einen Cremeaufstrich aus Stockfisch, Niklas hingegen mochte seine am liebsten pur mit Acciughe, den salzigen Sardellen, auf frisch gerösteten Brötchen mit einem Klecks Butter.
Zum Essen zogen sie sich mit ihren Gästen vom Garten auf die überdachte Terrasse zurück.
Während sie aßen und tranken, fühlte Adele sich heiter und sorglos. Giovanna berichtete inzwischen von einem Skandal, der die großen Luxusliner betraf. Eine hitzige Diskussion entstand, alle wollten ihr geliebtes Venedig retten. Adele war zwar oberflächlich am Gespräch beteiligt, geistig jedoch ganz woanders. Immer wieder spulte sie den wunderbarsten Tag in ihren Gedanken ab. Das geschah ihr häufig. Nicht nur Giovanna, auch sie konnte von ihrer Lovestory nicht genug kriegen.
Endlich servierte Niklas die von ihm gebackene Zitronentarte, holte kleine Teller und Besteck aus der Küche und stellte alles unter den begeisterten Rufen ihrer Gäste auf den schmiedeeisernen Tisch.
»So, und jetzt genießen wir den restlichen Abend, bis wir so müde und hageldicht sind, dass wir in der Morgenröte im Sitzen einschlafen.«
»Da bin ich dabei, mein Schatz.«
Er fand einfach die passenden Worte für jede Gelegenheit. Adele war auf den haargenau richtigen Mann getroffen, sie ergänzten einander perfekt, und bis auf ein paar geringfügige Kabbeleien hatte es noch nie Streit zwischen ihnen gegeben. Und wenn es nach ihr ginge, würde das ein Leben lang so bleiben.
Sie waren füreinander geschaffen.
Niklas
Er fand Freude daran, seine Liebste bei allem zu unterstützen. Natürlich sonnte er sich gern ein wenig in der Bewunderung ihrer gemeinsamen Freunde, die unaufhörlich betonten, wie gut sie beide zueinanderpassten und was für ein hervorragender Koch er doch sei.
Klar, manchmal nervte ihn das Chaos, das Adele hinterließ, wenn sie sich in der Küche zu schaffen machte. Kaum bereitete sie ihm einen Espresso, konnte er sicher sein, dass die Tischplatte voll Kaffeepulver war. Als »Kreatives Kochen« bezeichnete er ihre Unordnung flapsig und neckte sie damit.
Statt gekränkt zu sein, schenkte sie ihm in solchen Momenten jedoch bloß ein zärtliches Lächeln, das sein Herz unmittelbar schmelzen ließ. Beinah kam er sich boshaft vor. Adele war in einem begüterten Elternhaus aufgewachsen. Für sie war es von jeher selbstverständlich gewesen, verwöhnt zu werden.
So merkte sie gar nicht, dass er das meiste im Haushalt allein erledigte, beginnend mit den Einkäufen bis hin zur Zubereitung ihrer Mahlzeiten. Für Adele war es normal, bedient zu werden, sie kannte es nicht anders.
Als sie mit Marlene, ihrer besten Freundin seit Schulzeiten, nach dem Abitur in eine sehr kleine Wohnung gezogen war, um mit dem Studium zu beginnen, hatte Marlene die Bude auch allein geschmissen. Sie räumte Adeles Zeug weg, trug die Mülltüten zu den Containern, räumte die Geschirrspülmaschine ein und aus, und mit der Waschmaschine war es dasselbe.
Adele schenkte ihr dafür angesagte Parfums und coole Lippenstifte, sie war ja nicht undankbar und hatte sich auch den Angestellten ihrer Eltern gegenüber immer großzügig gezeigt.
Und doch liebte Niklas sie vom ersten Moment ihrer Begegnung an abgöttisch.
Als er ihr damals den Antrag machte, war er sich zuerst unsicher gewesen, ob er ihren Geschmack beziehungsweise ihre Vorstellung von einem angemessenen Verlobungsring getroffen hatte, trotz Marlenes Unterstützung.
Aber Adele hatte sich an ihn gekuschelt und sich stürmisch für seinen Antrag bedankt.
Damit war ihr Pakt besiegelt.
Es gab nichts mehr, worüber er nachdenken musste.
Dennoch, manchmal hatte Niklas den Eindruck, dass er sich mit Adele in einer Welt befand, die nicht die seine war.
Diese Leute, die hier mit ihnen in ihrem superkleinen Garten saßen, an edlen Getränken nippten, die Adele haufenweise herangeschleppt hatte, und die köstlichen Häppchen in sich hineinschaufelten, die er sorgsam zubereitet hatte, waren sie wirkliche Freunde oder bloß Nutznießer von Adeles Reichtum?
Jeder hier wusste, wer ihr Vater war, jeder kannte seine Börsenkurse. Und alle wollten bei ihnen eingeladen werden – eine Gunst, die Adele gern und für seinen Geschmack viel zu häufig gewährte.
Okay, die anscheinend selbst gut betuchte Giovanna war eine ehrliche Haut, zumindest gab sie sich nach außen hin so. Und seine entzückende Frau nahm ihr das ohne jeden Zweifel bedingungslos ab.
Während ihre italienischen Freunde vergnügt dem Pinot Bianco, Chardonnay und zu späterer Stunde dem Merlot zusprachen – der Prosecco war längst alle, die herrlich belegten Cicchetti bereits aufgegessen, und von der Zitronentarte gab es nur noch ein, zwei bröselige Stückchen –, erinnerte Niklas sich an den Heiratsantrag, den er Adele auf dem Perserteppich in ihrer kleinen Wohnung in Berlin gemacht hatte.
Sie hatte ihn so verliebt angesehen.
Irgendeine Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart.
Adele, die nicht so viel wie er oder ihr Freundeskreis vertrug, wäre fast von seinem Schoß gerutscht, hätte er sie nicht festgehalten.
»Ich habe zwar vorhin was anderes verkündet, aber mein Liebling träumt schon«, sagte er lachend.
Die Gäste verstanden, nickten beschwipst und bedankten sich herzlich. Einer nach dem anderen verließ ihren Zaubergarten und versprach, sich bald zu melden. In Venedig selbst ging man zu Fuß oder nahm ein Vaporetto. Von ihrer kleinen Insel, der Giudecca, kamen sie nur mit dem Boot über den Kanal zur Anlegestelle in der Stadt. Niklas kannte den Fahrplan nach Zattere auswendig.
Schließlich war auch der letzte Gast, dessen Privatboot an einem der schmalen Kanäle ankerte, auf dem Heimweg, und sie beide waren endlich allein.
Niklas konnte nicht anders, als seine Adele zu beschützen. Er zweifelte an so vielem und war verdammt misstrauisch, was die wahren Beweggründe dieser »Freunde« anging.
Aber seine bezaubernde Frau brachte für seine Bedenken nicht das geringste Verständnis auf. Sie warf sich arglos in die Arme derer, die sie vorgeblich verehrten und bewunderten. Adele war die Liebe seines Lebens, aber in erschreckender Weise leider auch naiv und gutgläubig.
Niklas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl es inzwischen weit nach Mitternacht war, lag die feuchte Schwüle immer noch in der Luft.
»Ah!« Er stöhnte zufrieden, als sie ins Haus gingen und sich auf dem breiten Sofa niederließen.
Adele setzte sich wieder auf seinen Schoß. Sie schmiegte sich an ihn und roch so köstlich nach diesem Parfum, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte sie durch die Luft geschwenkt und lauthals gelacht.
»Endlich sind sie alle weg. Es ist so schön, mit dir allein zu sein«, flüsterte er.
Blöd war bloß, dass sie so ein, wie sie meinte, besitzergreifendes Verhalten nicht billigte.
Adele liebte es, sich in Gesellschaft zu bewegen, Niklas hingegen zog die Zweisamkeit vor.
Er trug Adele, die bereits eingeschlafen war, hoch in ihr Bett, um das er umsichtig ein Moskitonetz gespannt hatte. Lange Zeit saß er nur so da und betrachtete seine leise schnarchende Schönheit. Ihr dichtes rotes Haar breitete sich auf dem cremefarbenen Kissen aus. Und die langen Wimpern ihrer wunderbaren graugrünen Augen warfen Schatten auf ihre zarte blasse Haut.
Konstantin
War es eine Stunde, zwei oder schon drei, die er mit trübem Blick vor dem Display seines Notebooks saß? Immer wieder wurde der Bildschirm schwarz, schlief ein, und Konstantin erweckte ihn erneut zum Leben.
Es fiel ihm seit einiger Zeit immer schwerer, sich zu sammeln und auf eine Stelle des Manuskriptes zu fokussieren. Für Tätigkeiten, die ihm früher leicht von der Hand gegangen waren, brauchte er viel zu viel Zeit.
Das Problem war nicht der nahende Abgabetermin seines kunsthistorischen Artikels über den deutschen Maler Caspar David Friedrich an den Verlag, das Cheflektorat dort war großzügig. Sein Mangel an Konzentrationsfähigkeit war es, was ihm zunehmend Sorgen bereitete.
Wahrscheinlich fühlte sich jemand mit ADHS ganz ähnlich.
Starrte er mal nicht auf die Zeilen seines Textes, dann wippte sein rechter Fuß so heftig, dass er mit dem Knie ununterbrochen an die Tischkante stieß. Der dabei entstehende schmerzhafte Reiz versandete aber wohl irgendwo in seinem Rückenmark und wurde nicht ans Gehirn weitergegeben. Ganz unpraktisch fand er diesen fehlerhaften Vorgang nicht, er ersparte ihm weiteres Leid.
Ständig war er in Gedanken woanders, häufig an Plätzen, die er lieber mied und die ihm Angst einflößten, immer seltener an Orten, die er früher einmal romantisch gefunden hatte.
Auch das Schlafen bereitete ihm Qualen, fortwährend schreckte er aus chaotischen Träumen hoch, deren Erinnerungsfetzen er keinem Gesamtzusammenhang zuordnen konnte.
Zu allem Überfluss litt er noch dazu an einer Art Dauerhunger; sein Appetit war kaum zu stillen. So futterte er zu Veronikas Missfallen Unmengen salziger Cracker, scharfer Wasabinüsse oder gebrannter Mandeln. Nougatpralinen hatten es ihm ebenso angetan. Am liebsten aber verschlang er ein weiches Karamellbonbon nach dem anderen. Allein das Rascheln der Hülle, wenn er das herrlich süße beige Ding daraus löste, ließ den Speichel in seinem Mund fließen.
Es war, als wollte er ein seelisches Defizit, das er sich als tiefes schwarzes Loch in seinem Inneren vorstellte, durch ein Übermaß an Nahrung ausfüllen. Mindestens fünf Kilogramm hatte er in kurzer Zeit zugenommen. Dem Rotwein am Abend widmete er sich nicht weniger großzügig. Fast keine Nacht mehr fiel er nicht betrunken ins Bett.
Dennoch konnte er kaum durchschlafen. Nicht mal Veronikas körperliche Nähe konnte seine »Zustände«, wie sie dieses häufige Aufschrecken nannte, besänftigen.
Heute Abend hatten sich zu allem Überfluss spontan Gäste angekündigt. Ein ehemaliger Kommilitone mit seiner Frau wollte ihn unbedingt wiedersehen.
Doch er wusste um das damit verbundene Problem. Er konnte die beiden nur allein empfangen.
Obwohl Konstantin sich seit einer Weile von seiner Umwelt völlig abschottete, hätte er sich auf Jochens Gesellschaft gefreut. Und mit Luise und ihrem unerschöpflichen Reichtum an Geschichten ginge ihnen der Gesprächsstoff ohnehin nie aus. Viel zu lange schon hatte er die beiden alten Freunde nicht gesehen. Vielleicht fand sich ja eine Lösung?
»Veronika!«, rief er. »Jochen und Luise, du weißt schon, mein Kommilitone an der Humboldt-Uni und seine Frau, wollen heute Abend hier vorbeischauen.«
Sofort öffnete sich die Küchentür, und ein Duftschwall des im Ofen garenden Rosmarinhühnchens drang in sein Arbeitszimmer. Unmittelbar lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Sein Magen knurrte hörbar.
Veronika kam mit unergründlichem Blick geradewegs auf ihn zu und stoppte erst vor seinem Schreibtisch.
»Mmh«, machte sie und noch mal: »Mmh.« Dabei drehte sie nachdenklich den Kopf von links nach rechts, und er hörte ihre Genickwirbel knacken. Auffordernd sah sie ihn an. »Vielleicht würde dir ein wenig Abwechslung guttun? Du wirkst so in dich gekehrt, fast schon depressiv auf mich. Seit Wochen geht das so. Und ich ertrage deine melancholische Stimmung nur schwer.«
Der Vorwurf in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Ein Schauer rieselte über Konstantins Rücken. Er stand abrupt auf und stieß dabei seinen Drehstuhl heftig zurück. Die Rückenlehne krachte gegen das an der Wand befestigte Regal, und zwei dicke Wälzer polterten zu Boden.
Veronika lief um den Tisch herum, bückte sich, hob die Bücher auf, pustete den Staub weg und stellte sie zurück zu den anderen. »Typisch«, sagte sie aufgebracht. »Alles ist so schmutzig. In allen Ecken Wollmäuse. Ich sollte vielleicht sauber machen, bevor deine Gäste kommen.«
Konstantin ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen und rollte zurück an die Schreibtischkante. Ein unbestimmtes Gefühl überkam ihn. War es Panik? Veronika konnte doch nicht allen Ernstes einen gemeinsamen Abend wollen.
»Du … du«, begann er und dachte angestrengt nach, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Jetzt nur keinen Fehler machen.
Er durfte Veronika nicht verärgern oder gar kränken, aber so wie es aussah, führte kein Weg daran vorbei.
Während er in Gedanken behutsam formulierte, was er ihr gleich sagen würde, klatschte sie laut in die Hände.
Erneut fuhr er zusammen und wischte dabei versehentlich einen Kugelschreiber von seinem Schreibtisch. Klackernd fiel er zu Boden. Konstantin bückte sich und griff danach. Ein brennender Schmerz fuhr seine Wirbelsäule entlang.
»Au«, stöhnte er verhalten.
Sein fünfter Lendenwirbel machte ihm seit einiger Zeit wieder ziemlich zu schaffen.
»Okay, genug Trübsal geblasen. Dachtest du etwa, ich würde hierbleiben und den Abend mit euch verbringen? Ich gehe lieber mit einer meiner Freundinnen zum Inder. Die jammern schon, dass wir uns viel zu selten sehen, und du weißt, wie gern ich Palak Paneer esse.«
»Ah. Ja. Nein, natürlich dachte ich das nicht«, antwortete Konstantin und atmete beherrscht durch die Nase aus. »Gute Idee, mein Herzchen.«
Veronika verdrehte die Augen in der Annahme, dass ihm das entging.
»Das Hühnchen lass ich euch. Wenn ich dabei wäre, würde der Abend schneller in Schieflage geraten als eine Segelyacht bei Sturm. Also, was hältst du von meinem Vorschlag?«
Konstantin hoffte, dass ihm die Erleichterung nicht allzu deutlich anzusehen war. Sie hatte es genau auf den Punkt gebracht.
»Das … klingt großartig. Nicht, dass du fortgehst. Ich meine, ich hätte dich lieber ständig an meiner Seite. Aber es scheint eine hervorragende Idee zu sein. Du bekommst endlich wieder mal dein scharfes Grünzeug mit dem grässlichen Käse, der vielleicht gar keiner ist, sondern analog«, er kicherte verkrampft, »und ich muss nicht mit ins Restaurant, sondern quatsche stattdessen mit Jochen über alte Zeiten. Mir fällt schon was ein, warum mein Schatz zwar für uns gekocht hat, aber nicht mit von der Partie ist.«
Veronika wirkte zufrieden; sie warf ihm eine Kusshand zu. »Ich bereite alles für euch vor. Und du schickst mir eine Nachricht, wenn die Luft wieder rein ist und ich«, jetzt kicherte sie ebenfalls, »nach Knoblauch riechend in unser Bett gekrochen kommen kann. Danach wirst du wohliger schlafen denn je und von fremden Ländern mit exotischen Gewürzen träumen.«
Nach einem weiteren durch die Luft zu ihm herüberschwebenden Kuss verschwand Veronika in der Küche.
Und Konstantin atmete aus.
Veronika
Was ist Konstantin doch für eine Memme, dachte Veronika und setzte sich mit einem Glas eiskalter Orangenlimonade ans offene Fenster.
Ein Hauch von Sommerluft umwehte ihr erhitztes Gesicht und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Mit einem Blatt Küchenrolle tupfte sie die Feuchtigkeit weg und drückte das Glas kühlend an ihre Halsschlagader.
Mann, tat das gut.
Langsam nur beruhigte sie sich, und der Ärger wurde schwächer. Auch an ihren Nerven zerrte die unerquickliche Situation. Sie wollte versuchen, sich ihm gegenüber nicht mehr so biestig zu verhalten, und wieder fürsorglicher und zärtlicher werden wie zu Beginn ihrer Beziehung.
Dennoch, Konstantin hätte Jochen direkt am Telefon absagen müssen.
Schließlich war es nicht besonders höflich, sich selbst einzuladen, noch dazu so verdammt kurzfristig. Konstantin wäre daher eindeutig im Recht gewesen.
Aber so war er eben, ihr Konstantin, ein Duckmäuser, und dennoch liebte sie ihn. Vielleicht mehr denn je.
Sie hatten viel miteinander durchgemacht.
»Stopp!«, befahl sie sich halblaut.
Streng verbot sie sich jedes weitere Grübeln über das, was falsch gelaufen war.
Sie konzentrierte sich ganz auf das Gegenwärtige.
Ihr war ein freier Abend mit einer ihrer beiden Freundinnen – oder sogar allein – ohnehin lieber.
Kurzerhand rief sie Carolin an. Admira hatte stets diesen Blick, der Veronikas Gedanken durchbohrte, und sie war so verdammt beharrlich. Sie würde wissen wollen, was Veronika wohlweislich verschwieg.
Mit Carolin war es einfacher.
»Das kommt echt wie gerufen, Vroni.« Freude klang aus den Worten ihrer Freundin. »Der Zeitpunkt ist perfekt, mein Freund ist gerade in Dresden auf einem Management-Seminar. Ich bin allein zu Hause und würde mich bei Netflix ohnehin zu Tode langweilen.«
So ein Quatsch. Wie konnte sich einer bei Netflix zu Tode langweiligen, bei dieser enormen Auswahl?
Das war wieder einer der Punkte, die sie voneinander unterschieden. Veronika liebte Serien, konnte nicht genug davon bekommen. Und wenn es doch mal passierte, klickte sie die nächste an. Aber Menschen waren eben eigenartig. Niemand sollte sich mit seinem Notebook langweilen. Veronika empfand so was als regelrechte Unart und Würdelosigkeit.
Doch statt eines Widerwortes, das ihr schon auf der Zunge lag, log sie lahm: »Sehe ich ähnlich. Dann ist es also abgemacht? Was hältst du von einem Abend beim Inder? Bei Bharat, unserem Lieblingstreffpunkt damals. Um neunzehn Uhr?«
»Toll. Ich bin dabei. Hast du Admira auch gefragt?«
»Nein. Ich dachte, wir gehen zu zweit.«
Veronika hörte Carolins Atem, der wie ein Luftstoß an ihr Ohr drang.
»Freut mich«, die Freundin hielt kurz inne, »auch wenn ich nichts gegen ein Treffen zu dritt gehabt hätte. Aber so ist es vielleicht besser. Nur wir beide. Also, ich ziehe mich bloß rasch um und bin schon auf dem Weg.« Gut gelaunt beendete Carolin ihr Gespräch.
Jetzt täte mir eine Zigarette gut, dachte Veronika und klopfte sich missmutig auf den Oberschenkel. Vor zwei Monaten hatte sie beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören, und diese Entscheidung wollte sie jetzt nicht revidieren, auch wenn es ihr schwerer fiel, als sie angenommen hatte.
Sie sprang abrupt von ihrem Küchenstuhl auf, schloss das Fenster und lenkte sich von ihrer Gier nach Tabak mit einem Schluck Limonade ab.
Sorgfältig, jedoch auch mit einer winzigen Spur Verächtlichkeit, deckte sie den Tisch für drei Personen. Sie schob die Servietten mit den Maiglöckchen unter die Gabeln. Danach bereitete sie die Vorspeise vor, italienischen Bresaola aus dem Feinkostgeschäft auf Rucola, rieb Parmesan darüber, deckte den Teller mit Alufolie ab, pellte die zum Hühnchen gehörenden und auf den Punkt gekochten Kartoffeln und legte sie in die geölte Pfanne. Dann streute sie getrocknete Petersilie darüber und drapierte für später verschiedene harte sowie weiche Käsesorten auf einem Teller. Behutsam umwickelte sie diese letzte Speise mit Frischhaltefolie.
Käse schloss ja bekanntlich den Magen. Danach wären wohl alle pappsatt und würden ihre Wohnung hoffentlich in absehbarer Zeit verlassen.
Ihr Eisschrank war ein großer amerikanischer, der an einem Einzelplatz in Konstantins Küche stand. Auf dieses blaue Monstrum war ihr Schatz ungemein stolz. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er mit seinen Fingerkuppen andächtig über die glänzende Fläche fuhr. Sobald er ihren amüsierten Blick bemerkte, zog er seine Hand verschämt zurück, als hätte sie ihn bei einer unanständigen Tat erwischt.
Veronika legte je eine Flasche Schaumwein und Müller-Thurgau in den Kühlschrank, Konstantins bevorzugten Weißen, und entkorkte den bereits ausreichend kalten Pinot Grigio.
Die hellrosa Farbe dieses italienischen Gesöffs hatte es auch ihr angetan.
»Ha, perfekt«, dachte sie laut und betrachtete zufrieden ihr Werk. »Das sollte passen.«
Beschwingt pfiff sie vor sich hin.
Im Badezimmer machte sie sich frisch, trug Make-up und weinroten Lippenstift auf, tuschte ihre Wimpern und knetete Wachs in ihre dunklen Locken, bis sie wie Spiralen um ihr Gesicht standen. Danach schlüpfte sie in ihr schwarzes Lieblingskleid, schlang ein buntes Tuch um ihren Hals und quälte sich mit ihren nackten, glatt rasierten Beinen in die Ankle Boots.
Umhüllt von einem frisch nach Melonen riechenden Parfum, ihrem Lieblingsduft, öffnete sie die Tür zu Konstantins Arbeitszimmer.
»Wie gefalle ich dir?«, fragte sie ihn neckisch und drehte sich im Kreis.
»Du siehst immer gut aus, aber heute Abend«, er stockte, »da fehlen mir die Worte. Ich liebe dich. Bitte pass bloß auf, dass du dir in deiner Ausgelassenheit nicht wehtust.«
Mann, Konstantin war so achtsam und fürsorglich, dass es kaum auszuhalten war.
»Das krieg ich schon hin. Mich wird kein Regentropfen erschlagen, abgesehen davon, dass gar kein Regen angekündigt ist.« Sie gluckste. »Und mehr als ein kleines indisches Bierchen trinke ich heute sowieso nicht.«
Kaum war der Satz draußen, hätte sie ihn gern zurückgenommen. Er klang provozierend.
Konstantin sah sie erschrocken an. »Du wolltest doch während der Schwangerschaft nicht mehr rauchen und trinken. Ist es mit deinen Vorsätzen schon wieder vorbei?«
Ging das jetzt nicht etwas zu weit?
Sie wollte dem Ungeborenen nicht schaden, wusste aber durchaus selbst, wo die Grenzen lagen. Die brauchte er ihr nicht aufzuzeigen.
»Krieg dich ein«, entgegnete sie vielleicht eine Spur zu heftig, denn er zuckte zusammen und murmelte etwas Unverständliches, das nach einer Entschuldigung klang. Eingeschnappt verzog sie ihre dick bemalten Lippen zu einem Schmollmund. »Willst du mir etwa Vorwürfe machen? Du?«
Er erhob sich und kam auf sie zu.
»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Ich werfe dir nichts vor. Aber Alkohol ist nicht die Lösung für unsere Probleme und schadet dem Kind. Und das will keiner von uns beiden.«
»Probleme? Spinnst du? Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entrüstete sie sich.
Ungeduldig wickelte sie eine Locke um ihren Zeigefinger. Konstantin war ein jämmerlicher Typ. Manchmal fragte sie sich, wie sie es überhaupt noch mit ihm aushielt.
Sie besann sich. Es stand eindeutig zu viel auf dem Spiel. »Sorry, Kony, ich hab’s nicht so gemeint. Doch ich weiß selbst, was ich vertrage und wo ich eine Linie überschreite. Ich habe keine Lust, nur ein langweiliges Glas Wasser zu meinem Lieblingsessen zu trinken. Und ein kleines Gläschen Bier ist kein Weltuntergang.« Sie fuhr sich über den Bauch und grinste verwegen. »Oder findest du mich zu dick?«
»Um Gottes willen!« Er fuhr hoch. »Wie kommst du auf so einen Quatsch? Du und dick? Du bist genau richtig, so wie du bist, und ich liebe jeden Zentimeter deines wundervollen Körpers.«
»Lass dir zur Abwechslung mal etwas Originelles einfallen. So einen Blödsinn geben Männer von sich, die ihre Frauen zu fett finden.«
»Veronika. Du weißt besser als jeder andere, wie sehr ich dich begehre. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Alles wäre leer und trostlos.«
Veronika wippte unschlüssig in ihren Ankle Boots auf und ab. Irgendetwas Freundliches, das die Spannung zwischen ihnen entschärfte, sollte sie wahrscheinlich sagen.
»Da ist es ja gut, dass ich nur dich will, Kony. Also hör mit dem Quatsch auf.« Sie hauchte ihm ein weiteres Luftküsschen hin. »Bitte sag mir Bescheid, wenn dein Besuch nach Hause gegangen ist. Dann mache ich mich sofort auf den Weg zu dir. Zufrieden?«
Konstantin lächelte.
Veronika überlegte einen kurzen Moment irritiert, ob es ein gequältes Lächeln war.
Nein, sagte sie sich entschlossen.
Konstantin war glücklich, und das würde auch so bleiben.
»Mein Gott, Veronika! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
Kaum hatte sie das indische Lokal betreten, wurde sie auch schon von Carolins Armen umfangen.
»Red kein dummes Zeug.« Veronika machte sich unwirsch los. Zu viel Nähe hatte sie noch nie vertragen. »Ich habe mich nur ein wenig verspätet. Das wirst du mir ja wohl verzeihen.«
»Klar. Hauptsache, wir sehen uns endlich mal wieder, und ich kann mich persönlich davon überzeugen, dass du noch lebst. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil ich dich in letzter Zeit nicht erreichen konnte. Admira ging es übrigens nicht anders.«
»Tut mir leid. Es war so viel los, dass ich nicht dazu gekommen bin, eure Nachrichten zu beantworten. Ich bin ein Ungeheuer, ich weiß.«
Carolin lachte, Veronika stimmte bereitwillig ein und ließ sich von ihrer Freundin zum Tisch führen.
Es roch verführerisch nach Kreuzkümmel, Knoblauch, Kurkuma, Koriander, Minze und unterschiedlichen anderen Aromen, die sie nicht zuordnen konnte. Dieser spezielle Duft indischer Gewürze war für Veronika betörend.
Der Raum wirkte durch flackerndes Kerzenlicht aus verschnörkelten Laternen gespenstisch und irgendwie altbacken, kitschig. Hell, überlegte Veronika, ist es hier wirklich nicht, eher dämmrig. Vielleicht machen die das bewusst so, damit man nicht allzu genau mitbekommt, was sich auf den Tellern befindet.
»So etwas Doofes«, sagte sie ansatzlos, kaum dass sie saßen, und Carolin sah sie fragend an.
»Was meinst du?«
»Irgendetwas ist hier heute nicht so, wie es sein sollte.«
»Und was?«
»Vielleicht hat mich die Dunkelheit verunsichert. War das Licht hier schon immer so schummrig? Ich hatte das Restaurant moderner in Erinnerung.«
»Der Kerzenschein ist doch für die besondere Atmosphäre verantwortlich. Das war früher genauso, und dir gefiel es.« Carolin warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Du wirkst verändert. Ist etwas passiert?«
Veronika schluckte trocken und setzte rasch das beschlagene Glas mit dem Lassi-Getränk an ihre Lippen, das Carolin bereits für sie bestellt hatte. Mann, tut das gut, dachte sie und genoss die Säure des Joghurts, die sich herrlich mit dem Salz vermischte.
Mit einem Lassi begannen all ihre indischen Abende, ihrer war stets würzig, wohingegen der von Carolin süß schmeckte.
»Nix ist passiert. Warum fragst du?«
»Ich war, weil du dich nicht gemeldet hast, mindestens dreimal bei dir und habe Sturm geläutet, aber niemand hat aufgemacht.«
Veronika zuckte zusammen. Sie stellte das Glas zurück auf den Tisch, und fast wäre es ihr aus den schweißnassen Fingern gerutscht.
»War wohl nicht zu Hause.« Ihre Stimme hörte sich kratzig an, ein Kloß in ihrer Kehle schien dafür verantwortlich. Abermals schluckte sie.
»Einer der Nachbarn, der mit dem weißen Haarkranz, kam aus seiner Wohnung, und als ich ihn nach dir fragte, meinte er, er hätte dich schon länger nicht mehr gesehen.«
»So ein Spinner«, würgte Veronika hervor. »Dem alten Lustmolch kann ich anscheinend nicht oft genug begegnen. Erst neulich habe ich ihm geholfen, sein Fahrrad in den Keller zu tragen.«
»Na ja, ich kann verstehen, dass du ihn nicht allzu gern triffst. Aber für mich klang es irgendwie glaubhaft. Du wohnst doch noch dort?«
»Wo soll ich denn sonst wohnen?«, fragte Veronika schnippisch.
»Vielleicht bei deinem neuen Liebhaber, von dem du bei unserem letzten Treffen erzählt hast?«
»Ach der, die Geschichte ist längst Schnee von gestern. Es ist auch nie wirklich etwas vorgefallen. Eine blöde Spinnerei«, log sie.
»Das bezweifle ich gar nicht. Aber trotzdem stimmt mit dir etwas nicht. Du bist anders.«
»Dann muss ich diesen Eindruck gleich mal korrigieren.«
Veronika winkte den Kellner an den Tisch und bestellte eine Flasche vom besten Weißen auf der Karte.