Graffitikatz - Kaspar Panizza - E-Book

Graffitikatz E-Book

Kaspar Panizza

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Beschreibung

Was haben ein Altrocker und ein Fabrikerbe gemeinsam? Nicht viel, sollte man meinen. Vielleicht, dass beide am ganzen Körper tätowiert sind? Dass beide ermordet wurden? Oder dass beiden die Haut abgezogen wurde? Für Kommissar Steinböck und sein Team ein makabrer Fall. Zur selben Zeit taucht Banksy in der Stadt auf und hinterlässt an mancher Münchner Hauswand heimlich seine Werke. Immer dabei ist Steinböcks Katze Frau Merkel, die Banksy auf Schritt und Tritt folgt.

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Kaspar Panizza

Graffitikatz

Frau Merkel und die toten Bilder

Zum Buch

Gehäutet Banksy ist in der Stadt. Ganz München spielt verrückt, und die Katze Frau Merkel hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Künstler nachts durch die Straßen zu begleiten. Zur selben Zeit landen ein Mitglied von Münchens Schickeria mit seinem brennenden Porsche in der Rohrach­schlucht und ein narzisstischer Altrocker bäuchlings auf einem Lautsprecher im Übungsraum seines Penthauses. Beide sind mausetot und ihre Körper mit Tattoos übersät, ausgeführt vom besten Tätowierer der Stadt. Und beiden fehlt ein Stück Haut. Ein makabrer Fall für Kommissar Steinböck und sein Team von der Münchner Mordkommission. Huong, die vietnamesische IT-Spezialistin, findet eine heiße Spur im Darknet, die die Morde in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Zahlreiche Verdächtige und ebenso viele Motive tun sich auf. Und Frau Merkel mischt wie immer ungefragt mit. Ein klarer Fall? Von wegen. Was weiß die Katze, was Steinböck nicht weiß?

Kaspar Panizza wurde 1953 in München geboren. Den Autor, der aus einer Künstlerfamilie stammt, prägten die Arbeiten seines Vaters, eines bekannten Kunstmalers, sowie die Bücher seines Urgroßonkels Oskar Panizza. Nach dem Pädagogikstudium machte Kaspar Panizza eine Ausbildung zum Fischwirt, erst später entdeckte er seine Liebe zur Keramik. Nach abgeschlossener Ausbildung mit Meisterprüfung arbeitete er zunächst als Geschirr-Keramiker und später als Keramik-Künstler im Allgäu. 2004 übersiedelte er nach Mallorca, wo er eine Galerie mit Werkstatt betrieb und zu schreiben begann. Seit 2009 lebt Kaspar Panizza in Ribnitz-Damgarten an der Ostsee, wo er zusammen mit seiner Ehefrau bis 2018 ein Keramik-Atelier führte. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Алексей Коза / stock.adobe.com und Zorro4 / Pixabay

ISBN 978-3-8392-7666-2

Widmung

Für Knut und Isa. Wie schön, dass ihr da seid.

Stammprotagonisten in nahezu jedem Band

Frau Merkel: die Katze, die Steinböck mit ihren nervigen Kommentaren oft zur Verzweiflung bringt

Steinböck (SB): sehr eigenwilliger Hauptkommissar; Leiter des Ermittlungsteams

Emil Mayer junior: Kommissar; mittelmäßig pigmentierter Afro-Bayer und Rollstuhlfahrer

Ilona Hasleitner: Kommissarin; Recherche-Genie und Herrin der Butterbrezen

Dr. Thomas Klessel: Leiter der Gerichtsmedizin; zelebriert gerne den Inhalt seines silbernen Flachmanns

Dr. Horst Schmalzl: Psychotherapeut; Gerichtsgutachter, der von Frau Merkels Genialität überzeugt ist (Katze!!)

Dr. Nepomuk Sanghäusel: Staatsanwalt

Dr. Xaver Hirschbauer: Sanghäusels Ehemann und Tierarzt

Peter Obstler: Informant, SBs Freund und direkter Draht zur Münchner Unterwelt

Bernulf Valentin Schwäble : Polizeibeamter in der Mordkommission

Ferdel Bruchmayer: schleimiger Staatssekretär und SBs Intimfeind

Schneehofer: Kommissar; Pforte und Information

Sabine Husup: nervige und neugierige Lokalreporterin

Lotta Nilson: Leiterin der Mordkommission

Tamara: Kantinenchefin und heimliche Herrscherin des Kommissariats

Der Berliner: Besitzer eines Imbisswagens vor dem Revier

Veronika: Steinböcks Nachbarin

Harti Kleverlä: alias Sokrates; Isarphilosoph

Phan Lan Huong: IT-Genie und illegale Reinigungskraft im Dezernat

Amely und Götz von Domenik: SBs Vermieter

Wichtige Personen in diesem Band

Remus Blank, Winny Zunge, Mike Mösken, Pius Feininger: Mitglieder der Münchner Rock band »Isar-Stenzen«

Prodomo: Musikagent

Arnie: sein Leibwächter

Luitpold von Blasenstein: Pseudokünstler und verwöhnter Erbe

Margarete von Blasenstein: die Matratzenkönigin; alter bayrischer Geldadel

Dr. Willi Kotz: ihr Lebensabschnittsgefährte und Anwalt

Sticky Needles: Münchens Toptätowierer

Doris Löbel oder Dolly: seine Praktikantin

Dr. Martina Brocken: Hautärztin

Onkel Josef (José): SBs Onkel aus Mallorca

TAGEBUCH

16. März

Sie wissen jetzt, dass ich schwanger bin. Er wollte unbedingt wissen, wer der Vater ist. Natürlich habe ich es nicht verraten. Ich stelle meine Ohren einfach auf Durchzug. Was wollen sie auch machen. Ich bin im fünften Monat. Ein Abbruch kommt nicht mehr infrage.

18. März

Wir waren heute beim Arzt. Ich konnte mein Kind sehen. Es ist ein Junge. Ich bin so glücklich.

26. März

Die Stimmung zu Hause ist eisig. Mein Stiefvater führt etwas im Schilde. Heute war die Frau vom Jugendamt wieder da. Zusammen mit ihr kam eine Psychologin. Sie stellte mir eine Menge komischer Fragen. Ob ich wisse, was es bedeutet, ein Kind großzuziehen. Ich habe ihr nicht wirklich zugehört. Nach einer Stunde ist sie wieder gegangen. Ich befürchte, sie wollen mir mein Kind wegnehmen.

27. März

Heute hab ich meinen Sohn zum ersten Mal gespürt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl.

PROLOG

Es waren diese unerwarteten Geräusche, die die vermummte Person vorsichtig werden ließen. Gerade hatte sie das etwa 30 mal 40 Zentimeter große Hautstück in Küchenpapier gewickelt und in einer Plastiktüte verstaut, als sie das Poltern im Treppenhaus hörte. Für einen Moment hielt sie die Luft an.

Dann vernahm sie eine Männerstimme, die näher kam. Die Eingangstür wurde geöffnet und jemand rief nach dem Toten, der nebenan auf dem Boden lag. Er würde die Leiche jeden Moment entdecken. Die Person versteckte sich hinter dem Regal im Nebenraum. Schützend zog sie den staubigen Vorhang, der die Kammer teilte, vor ihren Körper. Die Stimme rief immer noch nach dem toten Mann.

Ein unterdrückter Aufschrei ließ erkennen, dass der Mann den Toten gefunden hatte. Jetzt herrschte eine tödliche Stille.

Kurze Zeit später schimmerte durch den Vorhang der Schein einer Handytaschenlampe. Man hörte ein leises Fluchen und das Geräusch von Schubladen, die auf- und zugeschoben wurden. Dann ein zufriedenes »Jawohl«. Eilige Schritte. Die Eingangstür fiel ins Schloss.

Die Person hinter dem Vorhang hörte nur noch ihren eigenen Atem. Eine weitere Minute lauschte sie in die Stille, bevor sie zurück in den großen Atelierraum ging. Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. Sie hatte einen Plan, und den musste sie nicht ändern, trotz des unerwarteten Besuchers. Sie würde alles in Ordnung bringen, und sie hatte ihren Banksy.

Einen Tag später.

»Der schöne Porsche«, murmelte der uniformierte Beamte. Dabei drückte er sich mit beiden Händen die Polizeimütze vor die Brust und schaute wehmütig den Hang hinab. Ein bisschen so, als wenn er salutieren würde.

Die Sonne war gerade aufgegangen, und etwa zehn Meter weiter unten, vom Stamm einer alten Fichte aufgehalten, lag ein Fahrzeug auf dem Dach. Eine schwarze Rauchwolke stieg daraus auf und dazwischen züngelten noch vereinzelte Flammen.

»Hätt ich nie gedacht, dass ein Carrera so schön brennen kann«, erwiderte sein Kollege und versuchte den Hang hinabzusteigen.

»Mensch, Kurti, bleib lieber heroben. Die Feuerwehr ist schon unterwegs. Die haben für so was Spezialisten.«

»Aber wenn da noch jemand drin ist?«

»Wenn da noch jemand drin ist, kannst du eh nichts mehr machen. Laut dem Zeugen brennt der Wagen seit einer halben Stunde.«

In diesem Moment hörte man das Martinshorn, und nur wenige Augenblicke später kam ein Einsatzwagen der Feuerwehr über die Straßenkuppe der B 308 gefahren. Kurti drehte um und kletterte zur Straße zurück. Der Löschzug hielt dicht neben den beiden Beamten an. Zwei Männer, jeder mit einem Feuerlöscher bewaffnet, sprangen aus dem Fahrzeug und eilten, halb auf dem Hintern rutschend, halb hüpfend, den Hang hinunter. Es dauerte keine Minute und sie hatten den brennenden Porsche gelöscht.

Inzwischen war ein weiterer Kollege mit einer Brechstange unten angekommen. Nachdem sie die Fahrertür aufgebrochen hatten, kniete er sich auf den verbrannten Boden und lugte ins Innere.

Der Einsatzleiter, der sich zu den beiden Polizisten oben an der Straße gesellt hatte, rief ungeduldig in sein Funkgerät: »Und, wie schaut’s aus?«

»Schlecht«, knarzte es zurück. »Eine Person, aber da ist nix mehr zu machen. Ihr könnts gleich den Bestatter rufen.«

»Schon wieder einer, der sich in der Rohrachschlucht darannt hat«, knurrte Kurti wütend. »Die Leut werden auch nicht g’scheiter.«

»Irgendwie komisch. Die Stelle ist doch überhaupt nicht gefährlich. Hier gibt’s nicht mal eine Leitplanke. Als hätte er das schöne Auto absichtlich da runtergefahren«, überlegte der erste Polizist laut.

»Du tust gerade so, als wenn dir das Auto mehr leidtäte als der Verstorbene«, mokierte sich Kurti. »Außerdem hat der Zeuge gesagt, dass der Fahrer mit quietschenden Reifen und einem Höllentempo unterwegs gewesen ist.«

»Welcher Zeuge?«, wollte der Feuerwehrmann wissen.

»Ein Wanderer, er hat den Unfall von dort oben beobachtet.« Kurti deutete auf die Straße über ihnen, die sich in Serpentinen den Berg hinaufschlängelte.

»Ist der schon so früh unterwegs gewesen? Da war’s doch noch dunkel.«

»Mei«, Kurti zuckte mit den Schultern, »so sind sie halt, die Wanderer.«

»Und wo ist euer Zeuge jetzt?«, hakte der Feuerwehrmann nach.

»Ja, wo ist der Kerl eigentlich?«, fragte Kurti seinen Kollegen, der immer noch wehmütig auf die rauchenden Überreste des Porsches schaute.

DIENSTAG

»Der Dackel, der Saukopf, hat schon wieder meinen Hausschuh verzogen«, schimpfte Kommissar Steinböck und suchte, nur mit seinen Boxershorts bekleidet, gebückt hinter dem großen Terrakottatopf. Dabei achtete er darauf, das selbst gezogene Avocadobäumchen nicht mit den Schultern zu beschädigen. »Selbst gezogen« war etwas übertrieben. Veronika aus dem zweiten Stock hatte ihm vor zwei Wochen einen kleinen Topf gebracht, in dem ein Kern steckte. Aus dessen Mitte wuchs eine etwa 20 Zentimeter hohe Pflanze mit zarten Blättern, die an eine kleine Palme erinnerte.

»Geh, Steinböck, du hast doch an grünen Daumen«, hatte sie ihm erklärt. »Wenn ich mir anschau, wie schön die Marihuanapflanzen bei dir wachsen, wirst auch die Avocado hochpäppeln.« Sprach’s und hatte ihm den Topf in die Hand gedrückt.

Die Idee, dass er einen grünen Daumen haben könnte, war ihm nie gekommen, aber tatsächlich gedieh in seinem Wintergarten alles prächtig, was er von seiner Vormieterin übernommen hatte. Obwohl seine Katze Frau Merkel der Meinung war, dass das nur mit ihrer positiven Aura zu tun hatte.

»Grins ned so dreckig! Sag mir lieber, wo der Thunfisch meinen Hausschuh versteckt hat«, wandte er sich an Frau Merkel, die wie immer im Topf der Marihuanapflanze lag und ihn amüsiert beobachtete.

»Frag ihn doch, wenn du es schaffst, zu ihm durchzudringen. Vielleicht betörst du ihn ja mit deinem extravaganten Outfit«, meinte sie lakonisch. »Übrigens, ich habe Hunger«, fügte sie fordernd hinzu.

Steinböck taxierte den Dackel, der sich in der anderen Ecke des Wintergartens in seinem Körbchen aalte. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hinterbeine gespreizt und schnarchte lautstark vor sich hin. Die Vorderbeine hielt er wie ein Erdmännchen angewinkelt vor der Brust. Der Kommissar hatte seinem Freund, dem Polizeipsychologen Horsti Schmalzl, versprochen, übers verlängerte Wochenende auf den Hund aufzupassen. Dr. Schmalzl besuchte einen Medizinerkongress in London. Vielleicht hatte die Katze ja recht – sie vermutete, dass er den Kongress vorschob, um ein paar Tage den Hund loszuwerden. Gott sei Dank wollte er heute zurückkommen.

Steinböcks Suche hinter den Blumentöpfen blieb vergeblich.

»Sauhund, wo ist mein Schlappen?«, knurrte er.

Für einen Augenblick verstummte das Schnarchen. Der Dackel öffnete kurz die Augen, schielte in seine Richtung, nur um sie gleich wieder zu schließen und noch lauter weiterzusägen.

»Thunfisch, ich geh jetzt duschen. Und wenn ich zurückkomme, ist der Schlappen da, ansonsten …«

»Spar dir deine Drohungen. Der Köter versteht dich sowieso nicht. Seine beiden Gehirnzellen braucht er fürs Fressen und Pennen«, lästerte Frau Merkel.

»Du wirst es ihm schon klarmachen.«

»Warum sollte ich?«

»Weil du ebenso verfressen bist wie dieser Dackel. Du kannst zwar den Fernseher bedienen, aber für die Kühlschranktür brauchst auch du mich«, kommentierte er genervt, zog seine Boxershorts demonstrativ über den Bauchnabel, weil er wusste, wie sehr die Katze das verabscheute, und verschwand im Bad.

*

Als Steinböck aus der Dusche zurückkam, lag sein zweiter Hausschuh mitten auf dem Fußboden.

»Na also, geht doch«, grummelte er und musterte den Dackel, der unverändert in seinem Körbchen lag. Er verknotete das Badetuch vor der Brust, schlüpfte in den wiedergefundenen Schlappen und schlurfte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Anschließend öffnete er eine große Dose Thunfisch und verteilte den Inhalt auf die beiden Futternäpfe. Den für die Katze stellte er ausnahmsweise auf den Tisch, den für den Dackel auf den Boden. Kaum hatte er dies getan, da stürmte der Dackel in die Küche und stürzte sich auf das Futter. Keine 20 Sekunden später war die Schüssel leer. Der Hund erhob sich auf die Hinterbeine und tänzelte vor dem Küchentisch hin und her.

»Das willst du nicht wirklich. Du weißt, was die Katz mit dir macht, wenn du an ihr Futter gehst.«

Ein kurzes Wimmern, und Thunfisch kehrte, gefolgt vom Kommissar, zurück in den Wintergarten.

Dort erwartete Steinböck seine Nachbarin Veronika, die in seinem Korbsessel saß und ihm mit einer zusammengefalteten Zeitung zuwinkte. »Fesch schaust aus, Steinböck. Hast wohl a bisserl abgenommen. Du solltest mal wieder zu mir zum Essen kommen. Ich mach dir auch Krautwickel, die magst doch so gerne.«

»Die Katz ist da anderer Meinung, sie meint, ich wär zu fett.«

»Ach, die Katz, die hat doch keine Ahnung. Grad richtig. Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, wärst du nicht sicher vor mir«, erklärte sie schelmisch.

Steinböck fühlte sich geschmeichelt. »Magst auch einen Kaffee?«

»Ach geh, du mit deinen komischen Pads. Des ist doch kein Kaffee. Naa, lass nur, ich wollt nur die Zeitung von heute bringen. Da ist ein Bild von dir drinnen. Ich weiß, dass du des Blattel ned magst, aber da steht so viel Interessantes über Münchens Reiche und Schöne drin.«

»Erstaunlich, dass du erwähnt wirst, wo du weder zu den Reichen und schon gar nicht zu den Schönen gehörst«, mischte sich Frau Merkel ein.

»Egal«, fuhr Veronika fort. »Ich lass dir die Zeitung hier. Aber ned wegschmeißen! Ich sammle nämlich alle Artikel über dich«, sagte sie stolz und machte Steinböcks Platz frei. »Und morgen Abend gibt’s Krautwickel mit Salzkartoffeln. Wehe, du kommst nicht.«

Bevor der Kommissar widersprechen konnte, hatte sie den Wintergarten verlassen. Seufzend ließ er sich in seinem Korbsessel nieder, nahm einen Schluck Kaffee und griff nach der Zeitung. Die Katze war auf die Stuhllehne gesprungen und blickte über seine Schulter.

»Da hat die Husup wieder maßlos übertrieben, und Emil und Ilona werden überhaupt nicht erwähnt. Dabei hättest du ohne die beiden den Fall nie gelöst.«

»Ja, da muss ich dir ausnahmsweise mal Recht geben. Aber ein sehr gutes Foto von mir.«

»Ich sag nur Photoshop. Mit dem Programm ist heute alles möglich«, lästerte sie. »Damit lässt sich sogar aus unserem neuen Kanzler eine Werbeikone für Energiedrinks machen.«

»Du glaubst, das geht mit Photoshop?«, schmunzelte er. »Also ganz im Ernst: Unsere Klatschreporterin hat sich wirklich Mühe gegeben.«

»Wahnsinn, Banksy kommt in die Stadt«, rief die Katze plötzlich und zeigte mit der Pfote auf die Zeitung.

»Eine Banksy-Ausstellung. Das heißt noch lange nicht, dass er selbst kommt.«

»Mensch, lies doch. Man hat bereits mehrere Graffitis in der Stadt entdeckt, die eindeutig auf ihn hinweisen.«

»Du bist doch die, die immer behauptet, man könne dem Mist aus dieser Zeitung nicht glauben.«

»Mecker nicht ständig herum. Schau mal hier, angeblich hat man ein neues Graffiti, das von Banksy stammen könnte, ganz in unserer Nähe in der Herzogstraße gesehen.«

»Na, dann weiß ich ja, wo du dich heut Nacht herumtreibst.«

»Aber hallo! Darauf kannst du dich verlassen. Wenn er da ist, werd ich ihn finden«, rief Frau Merkel und sprang von der Lehne.

»Schon gut. Denk dran, wir haben heute einen Termin beim Tierarzt.«

»Ich weiß, Zwangsimpfung.«

»Das lässt sich nicht ändern, unsere Chefin besteht darauf«, erklärte Steinböck spöttisch und begann sich eine Zigarette zu drehen. Anschließend widmete er sich dem Artikel über Banksy, und Frau Merkel verschwand in den Garten.

Nicht dass Steinböck ein versierter Kunstliebhaber gewesen wäre, aber die Aktion mit dem geschredderten Bild hatte ihn damals sehr beeindruckt. Danach hatte er sich näher mit dem Künstler beschäftigt, und dessen politisch kritische Kunst imponierte ihm. Er überlegte, die Ausstellung zu besuchen.

Ein lautes Scheppern aus der Küche riss ihn aus seinen Gedanken. Er ahnte, was geschehen war. Der Dackel hatte es irgendwie vom Stuhl aufs Küchenbuffet, und von da auf den Tisch geschafft, hatte den Napf von Frau Merkel leer gefressen, war anschließend auf dem Rückweg vom Buffet gefallen und saß jetzt leicht benommen unter dem Stuhl. Dummerweise kam in diesem Moment die Katze aus dem Garten zurück.

»Zum letzten Mal: Der Kerl muss weg«, keifte sie, soweit man bei einer Katze von Keifen sprechen konnte.

»Ganz ruhig, Brauner, wir bringen Thunfisch gleich zurück.«

»Von mir aus können wir ihn später auch zum Tierarzt mitnehmen. Er könnte das Vieh einschläfern.«

Das war auch für Steinböck zu viel und er strafte Frau Merkel mit eisiger Verachtung.

*

Hilbert Wägele deckte sorgfältig das Leintuch über den Toten und sah sich ein weiteres Mal dessen Foto an, das ihm die Mutter des Verstorbenen gebracht hatte. Er war ein Meister seines Faches und hatte den Ruf, jeden wieder so herzurichten, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Trotzdem hatte er der armen Frau geraten, von einem Blick in den offenen Sarg abzusehen.

»Wenn Sie’s ned können, geh ich halt zur Konkurrenz«, hatte sie gesagt und ihn damit bei seiner Ehre gepackt.

Eine Woche hatte er den Leichnam in der Kühlkammer gelassen, aber jetzt konnte er die Restaurierung nicht mehr hinausschieben. Noch einmal hob er das Leintuch und blickte in das bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Gesicht.

»Wenn’s der Kunde so will, soll er es auch bekommen«, murmelte er, drehte den Kopf des Toten vorsichtig zur Seite und überlegte, wie er mit der plastischen Rekonstruktion beginnen sollte. Auf dieser Seite war wenigstens das Ohr noch einigermaßen intakt. Die Verletzung am Hinterkopf musste nicht bis ins letzte Detail retuschiert werden. Trotzdem fiel ihm beim Betrachten etwas auf. Er nahm eine Pinzette und untersuchte die Wunde genauer. Während seiner Laufbahn hatte er schon viele Tote wiederhergerichtet, sowohl Unfall- als auch Mordopfer.

»Dieses Loch im Schädel stammt bestimmt nicht von dem Autounfall. Eher von einer Tischkante oder einer Schlagwaffe. Da hat der Amtsarzt wohl gepfuscht«, folgerte er.

Langsam ging er in sein Büro und überlegte krampfhaft, wie er das der Mutter des Verstorbenen beibringen sollte. Er blickte aus dem Bürofenster auf den kleinen Hof seines Beerdigungsinstituts. Dann zog er sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

»Servus, Klessel, ich bin’s, der Wägele Hilbert. Es gabat da ein Problem.«

*

Gerade als der Kommissar das Körbchen und eine Tragetasche gefüllt mit albernem Hundespielzeug auf der Rückbank verstauen wollte, ertönte die Bonanzamelodie aus dem Inneren seines VW Käfers. Er fluchte. Noch keine fünf Minuten hatte er das Smartphone angeschaltet, und schon klingelte es. Er legte die Tasche auf dem Autodach ab. Prompt kullerten ein Ball und ein pinkfarbener Gummiknochen heraus und fielen auf den Asphalt.

»Kruzifix«, schimpfte er. »Der ganze Mist ist doch für nichts nutze. Der Köter schleppt eh nur meinen Hausschuh herum.«

»Meine Rede, trotzdem solltest du endlich an dein Handy gehen. Obwohl, lass es lieber, ich rieche Unheil.«

»Alles in Ordnung, das ist der Horsti, der will bestimmt wissen, wann wir ihm seinen Dackel bringen.«

»Mensch, Steinböck, endlich erreich ich dich«, schnarrte es aus dem Handy. »Mein Flug von London ist ausgefallen. Ich kann erst morgen früh fliegen. Ich hoff, es macht dir nichts aus, den Thunfisch noch eine Nacht länger zu beherbergen. Die Katz freut sich sicher.«

»Klar, Horsti, gar kein Problem. Dem Dackel geht’s gut bei uns, und die Katz wird Luftsprünge machen«, antwortete er mit hämischem Grinsen.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, stöhnte Frau Merkel und sprang auf das Autodach, ihre Nase dicht vor seinem Gesicht. »Wir wollten den Dackel heute entsorgen.«

»Du wirst doch nicht einen Freund im Stich lassen wollen«, erklärte er ihr mit gespieltem Ernst. »Natürlich bleibt der Hund noch einen Tag bei uns.« Er beendete das Gespräch und rief dann laut: »Auf geht’s, Thunfisch, wir fahren ins Büro und am Nachmittag geht’s zum Tierarzt.«

Ein ganz blöder Satz. Von diesem Moment an war der Hund wie vom Erdboden verschwunden.

Mithilfe von zwei Dosen Thunfisch gelang es schließlich doch, den Dackel ins Auto zu locken. Den Inhalt der ersten Dose, die Steinböck auf den Einstiegsholm gestellt hatte, hatte der Hund so schnell hinuntergeschlungen, dass sowohl Katze wie Kommissar zu spät kamen. Bei der zweiten klappte es. Frau Merkel versteckte sich unter dem Käfer und trieb den Dackel fauchend ins Auto, woraufhin Steinböck schnell die Tür schloss.

»Wir könnten das professionell machen«, erklärte Frau Merkel, als sie losfuhren. Sie stand mit den Hinterbeinen auf dem Beifahrersitz und beobachtete den Verkehr.

»Was meinst du? Hundefänger?«

»Ja, wir könnten uns auf Dackel spezialisieren.«

»Glaubst du, dass es da einen großen Bedarf gibt?«

»Wenn nur jedes dritte von diesen kurzbeinigen Monstern so wie Thunfisch ist, könnten wir uns vor Aufträgen nicht retten.«

Steinböck warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Dackel lag wie üblich auf dem Rücken, streckte alle viere von sich und winselte leise. Sein Bauch grummelte hörbar.

»Wenn des bloß gut geht«, murmelte er.

»Fahr schneller. Oder bist du auf einen Ausbruch vorbereitet?«, unkte Frau Merkel, die jetzt über die Rückenlehne den Hund beobachtete.

»Was für ein Tag«, stöhnte Steinböck und erhöhte sein Tempo von 30 auf 40 km/h.

*

»So, des war die letzte Lampe.« Der Elektriker klappte die Alustehleiter zusammen. »Jetzt sehts ihr eure Leichen gleich in einem besseren Licht«, witzelte er und schlurfte nach draußen.

»Einen Vorteil hat’s gehabt, dass ihr Handwerker so unglaublich schnell seid«, brummte Thomas Kessel, der Gerichtsmediziner, und knöpfte seinen weißen Kittel zu. »Dadurch sind uns beim Übergang von Neonröhren zu LED-Lampen die Energiesparlampen erspart geblieben.«

Eigentlich hatte er heute den Vortrag eines Kollegen besuchen wollen, aber Hilbert Wägeles mysteriöser Anruf hatte ihn dazu veranlasst, im Institut zu bleiben. Lange musste Thomas Klessel nicht warten. Ein Gong kündigte den Aufzug an.

Es war Wägele persönlich, der einen Kunststoffsarg den Gang entlangschob. »Dein Kollege wollte zwar übernehmen, aber ich wollt dir meine Leiche selbst überbringen.«

»Dann lass mal sehen«, antwortete Klessel und deutete mit der Hand zu einem der Untersuchungsplätze.

»Du hast nicht zufällig deinen Flachmann dabei?«, wollte der Bestatter wissen.

»Ist es so schlimm?«

»Schau selber«, brummte er und öffnete je zwei Klammern auf beiden Seiten des Kunststoffsarges.

Gemeinsam hoben sie den Deckel beiseite.

Der Gerichtsmediziner schlug das weiße Tuch zurück und pfiff leise durch die Lippen. »Da schau her, der Herr Blasenstein war ganz schön tätowiert, sofern man des an den wenigen nicht verbrannten Stellen noch erkennen kann. Du sagst, er ist in seinem Porsche verbrannt?«

»So hat’s mir seine Mutter erzählt. Margarete von Blasenstein.«

»Die Matratzenkönigin?«, forschte Klessel nach.

»Genau die. Und wenn sie erfährt, dass ich die Leiche ihres Sohnes ohne triftigen Grund in die Gerichtsmedizin gebracht habe, dann …«

»Also gut, was hast du entdeckt?«

Wägele zeigte auf das Loch in der verkohlten Haut am Hinterkopf, das deutlich zu sehen war. Klessel beugte sich vor, zog eine Art beleuchtete Lupe aus seinem Kittel und überprüfte die Stelle.

»Gute Arbeit, Hilbert. Das ist eindeutig die Folge eines Schlages oder Sturzes. Welcher Arzt hat denn den Totenstein ausgestellt?«

»Soviel ich verstanden habe, der Amtsarzt. Ein guter Freund der Familie. Trotzdem wird sie mir das nicht verzeihen. Wie soll ich ihr des nur erklären?«, jammerte der Bestatter.

»Das erklärt ihr einer meiner Kollegen von der Mordkommission. Nach Selbstmord oder Unfall sieht des nicht aus. Kommt selten vor, dass einer nach so einem Sturz oder Schlag Auto fährt. Ich werd mich um den Mann kümmern. Wägele, du hast was gut bei mir.«

»Wie schaut’s jetzt aus mit einem Schnaps?«, fragte er mit gequältem Grinsen.

»Laphroaig, zwölf Jahre alt«, flüsterte Klessel und zog einen silbernen Flachmann aus der Brusttasche seines Kittels. Vorsichtig füllte er den kleinen Becher, der auch als Deckel diente, und reichte ihn Wägele.

»Sláinte«, antwortete der andächtig und kippte den Inhalt hinunter.

*

»Du, Steinböck, vergiss ned den Impfnachweis für die Katz. Die Chefin hat schon nachg’fragt«, rief Schneehofer von der Pforte, als Steinböck, Hund und Katze im Schlepptau, durch die Eingangshalle des Präsidiums schritt.

»Passt schon«, antwortete er, ohne sich umzudrehen, und verschwand im Treppenhaus. Im Büro angekommen ließ er sich in seinen Drehstuhl fallen und pustete hörbar durch.

»Morgen, Chef, du hast ja den Dackel immer noch«, begrüßte ihn Kommissarin Ilona Hasleitner, die sich gerade einen Cappuccino einlaufen ließ.

»Der Horsti kommt erst morgen zurück. Irgendwas ist mit seiner Maschine. Ich komm mir grad vor wie ein Raubtierdompteur. Auf jeden Fall freu ich mich jetzt auf meine Butterbreze«, ächzte er.

In diesem Moment meldete sich Emil Mayer junior. Er saß an seinem Schreibtisch, wurde jedoch von dem großen Monitor verdeckt. Erst als er seinen Rolli zur Seite schob, konnte Steinböck ihn sehen.

»Servus, Steinböck, gut, dass du kommst. Wir hätten einen Toten.«

»Tja, das Leben kannt so schön sein«, seufzte der Kommissar.

»Muss aber nicht«, vollendete die Katze unhörbar für Ilona und Emil.

»Also, wo müssen wir hin?«

»Du wirst lachen, die Leich ist schon da. Sie liegt beim Klessel auf dem Tisch.«

»Jetzt bin ich gespannt.«

»Du holst dir deinen Latte macchiato, greifst dir eine Butterbrezen und ich erzähl dir, was wir wissen.«

»Das ist ein Wort«, antwortete Steinböck, öffnete das Fenster, um die Katze rauszulassen, und stellte zufrieden fest, dass der Hund bereits in der Ecke lag und vor sich hin schnarchte.

Aufmerksam lauschte Steinböck den Ausführungen Mayer juniors, der endete, als der Kommissar sich gerade das letzte Stück Butterbreze in den Mund schob. »Luitpold von Blasenstein, was für ein Name«, brummte er. »Ist die Identität des Opfers gesichert? Nur weil er in dessen Auto saß, muss er noch lange nicht dieser Blasenstein aus München sein, auch wenn die Mutter davon ausgeht.«

»Klessel ist dran, einen Zahnabgleich zu machen.«

»Und wo ist der Porsche?«

»Der steht in einer Werkstatt in Scheidegg. Die Feuerwehr hat die Brandursache nicht überprüft. Sehr seltsam. Und die Untersuchung des Amtsarztes ist ein Witz. Wenn er den Toten angesehen hätte, wäre ihm das Loch am Hinterkopf garantiert aufgefallen. Auf jeden Fall hab ich die Kemptener SpuSi in die Werkstatt geschickt«, erklärte Emil.

»Könnte die Verletzung nicht vom Autounfall kommen?«

»Sehr unwahrscheinlich. Der Tote war angeschnallt. Der Porsche ist innen völlig intakt, abgesehen davon, dass er zum Teil ausgebrannt ist.«

»Und niemandem ist das Loch aufgefallen? Weder dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, noch den Kollegen von der Streife? Hat da jemand Einfluss genommen, um eine nähere Untersuchung zu verhindern?«

»Sieht ganz so aus.«

»Was wissen wir über diesen Luitpold von Blasenstein?«

»Was für ein Name!« Die Katze kam gerade durchs Fenster zurück und schüttelte sich.

Ilona Hasleitner, die inzwischen hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, las von ein paar Zetteln ab: »Wohnt in Schwabing in der Lyonel-Feininger-Straße. Das Haus gehört seiner Mutter. Geboren: April 1983. 2005 Abitur an einer Privatschule. Danach hat er etliche Studiengänge begonnen und keinen davon zu Ende gebracht. Er hat mehrere Kunstschulen besucht und betreibt eine Website, wo er seine künstlerischen Arbeiten vorstellt.«

»Und, wie sind die Arbeiten?«, fragte Mayer junior neugierig.

»Na ja, wer’s mog«, antwortete Hasleitner diplomatisch und wandte sich wieder den Zetteln auf ihrem Schreibtisch zu. »Im Moment versucht er sich als Keramiker. Jetzt wird’s interessant. Der Blasenstein hatte keinen Führerschein mehr. Zweimal haben sie ihn stark betrunken erwischt. Beim letzten Mal hat er einen Kurierfahrer auf dem Radelweg umgenietet. Der arme Kerl lag vier Monate im Krankenhaus. Mithilfe gewiefter Anwälte und den Beziehungen seiner Mutter, der Matratzenkönigin, ist der gute Luitpold mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.«

»Woher weißt du des?«, wollte Steinböck wissen.

»Steinböck, wir sind Polizisten! Wenn jemand vorbestraft ist, ist der in unserem System. Aber auch im Internet wird man fündig. Da kursieren diverse Artikel unserer lieben Klatschreporterin Sabine Husup im Abendblatt und eine Menge gehässige Kommentare auf Social Media. Doch darauf kann man eh nur wenig geben. Trotzdem ist die Richtung überall die gleiche. Unser Matratzenprinz scheint ein kleines, arrogantes, unbeliebtes Arschloch gewesen zu sein. Außerdem ist er nach seiner Mutter der einzige Erbe von einer Riesenfirma mit Niederlassungen in Isny, Kempten und München.«

»Vorausgesetzt, er ist auch der Tote im Porsche. Ich hoffe, der Klessel beeilt sich ein bisschen. Ich werd mit dem Sanghäusel sprechen, dass das unser Fall wird. Schließlich hat der Tote hier in München gewohnt, und die Kollegen vor Ort haben die Sache eh schon vergeigt. Außerdem müssen wir uns mit der Mutter unterhalten. Wo wohnt die?«

Ilona wühlte kurz in ihren Zetteln. »Am Starnberger See. Willst du hinfahren oder sollen wir sie herbestellen?«

»Ich denk, das besprech ich erst mit dem Staatsanwalt. Du weißt, der bayrische Geldadel ist sehr speziell.«

»Vor allem, wenn man gerade einen nahen Angehörigen verloren hat«, erwiderte Hasleitner scharfzüngig.

»Du hast ja recht. Auf jeden Fall hat das Opfer ein Loch im Hinterkopf, und dass das kein Selbstmord war, versteht sich in diesem Fall von selbst«, brummte Steinböck und verließ das Büro.

*

Was für ein Muskelspiel, was für ein Kunstwerk! Zufrieden betrachtete er seinen nackten Körper in einem der zahlreichen Spiegel des riesigen Badezimmers. Ein Vermögen hatte er für all die Tattoos ausgegeben. Es gab keine freie Fläche mehr. Wozu auch? Stolz gönnte er dem Spiegelbild seines Rückens noch einen Blick. Was für ein genialer Coup! Er wollte die Tätowierungen immer nur für sich. Er liebte es, sich zu betrachten.

Gut, wenn sie nächste Woche dieses Konzert gaben, würde er sich vielleicht während der Zugabe spektakulär das T-Shirt vom Leib reißen. Aber wer würde schon erkennen, geschweige denn schätzen, welche Kunstwerke er auf der Haut trug?

Remus musste grinsen. 20.000 Eintrittskarten im Vorverkauf, damit hatte er nie gerechnet.

Nackt, wie er war, und mit seiner Hose in der Hand verließ er das Bad in Richtung Übungsraum. Im Gang blieb er zwischen zwei mannshohen Spiegeln stehen. Erneut streifte sein Blick das Kunstwerk auf seinem Rücken.

Endlich raffte er sich auf, zog die Jeans an und verschwand dann mit nacktem Oberkörper im Musikzimmer. Remus schloss die gepolsterte Tür hinter sich, stöpselte seine Gibson E-Bass-Gitarre ein und drehte den Lautsprecherknopf nach oben. Langsam fuhr er mit dem Plektrum über die Saiten. Er drehte die G-Saite etwas höher. Anschließend löste er den Haargummi aus seinem Zopf und schüttelte die dünnen langen Haare, bis sie auf beiden Seiten auf seinen Schultern auflagen. Der graue Haaransatz wurde immer länger. Er musste sie vor dem Konzert unbedingt wieder blond färben.

Wäre Remus Blank nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er vielleicht den Luftzug bemerkt, der zu spüren gewesen war, als sich die Tür des Übungsraums öffnete. Dafür fühlte er kurz darauf für den Bruchteil einer Sekunde, wie sein Kopf explodierte. Jetzt war es sein Blut, das das Grau seiner Haare färbte.

*

TAGEBUCH

11. Juli

In zwei Wochen ist der Geburtstermin. Ich habe Angst um meinen Jungen. Mein Stiefvater ist ständig besoffen. Gestern hat er meine Mutter geschlagen. Sie hatte mein altes Kinderbett aus dem Keller geholt. Sie haben sich die halbe Nacht gestritten. Ich habe nicht verstanden, worum es ging. Heute muss ich ins Krankenhaus. Der Arzt möchte, dass ich die beiden letzten Wochen auf der Entbindungsstation bleibe. Das Kind hat sich immer noch nicht gedreht. Vielleicht brauche ich einen Kaiserschnitt.

16. Juli

Ich liege nur herum. Die Frau vom Jugendamt war da. Sie wollte wissen, wie es mir geht. Meine Mutter hat sich noch nicht ein Mal blicken lassen.

19. Juli

Die Hebamme war heute bei mir und hat mich ausführlich untersucht. Die Vitalwerte meines Sohnes haben sich verschlechtert. Ich habe Angst.

*

Lotta Nilson war eine stolze Frau. Vor einem Jahr hatte sie die Leitung der Münchner Mordkommission übernommen. Eigentlich ein Job, den, wenn es nach dem Wunsch des Polizeipräsidenten gegangen wäre, Steinböck hätte machen sollen. Dieser hatte sich jedoch energisch dagegen gewehrt. »Ich bin doch ned blöd«, hatte er gesagt. »Mich dauernd mit der Politik und der Presse herumschlagen? Des wär ja noch schöner.« Also war der Posten mit Lotta Nilson besetzt worden. Steinböcks Meinung nach war es längst an der Zeit gewesen, dass eine Frau das Ruder übernahm. Nur mit der Liaison, die sich anfangs bei den beiden angebahnt hatte, ging es nicht richtig voran. Das wiederum lag am Kommissar, der die eine oder andere Verabredung immer wieder kurzfristig absagte oder, wie erst letzte Woche, einfach vergaß. Wie gesagt, Lotta Nilson war eine stolze Frau, und dass sie letzten Freitag beim Italiener eine Stunde lang vergeblich auf ihn gewartet hatte, wollte sie ihm so schnell nicht verzeihen. Deswegen war sie ziemlich kurz angebunden, als sie ihn endlich auf dem Handy erreichte.

»Morgen, Steinböck, ich hab gehört, wir haben einen Toten.«

»Hallo, Lotta. Ja, heut Morgen reingekommen. Ich hätt dich schon noch informiert«, brummte er.

»Du sollst zum Staatsanwalt kommen. Da wartet Besuch auf dich.«

»So, wer soll das sein?«

»Wirst du dann schon sehen«, antwortete sie schmallippig.

»Übrigens, Lotta, wir wollten doch zum Pizzaessen gehen. Wann passt’s dir denn?«

»Zurzeit sehr ungünstig, ich mach seit Freitag um 20 Uhr eine Diät«, hörte er noch, bevor sie auflegte.

»Komisch«, murmelte Steinböck zur Katze gewandt, die neben ihm durch den Gang trottete. »Wieso gerade seit Freitag 20 Uhr?«

»Kann es sein, dass du ein Date mit ihr hattest, von dem du mir nichts erzählt hast?«

»Ach du grüne Scheiße, letzten Freitag beim Italiener! Da war doch das Länderspiel.«

»Du hast es wieder mal voll vergeigt. Komm, lass uns zu Nepomuk gehen.«

»Du bleibst draußen«, knurrte Steinböck wütend, wobei sich sein Groll eher gegen sich selbst richtete. Auf dem Weg zu Nepomuk Sanghäusel checkte er sein Handy. Die Gerichtsmedizin meldete, dass der Tote wirklich dieser Blasenstein war.

Im Büro vom Staatsanwalt erwartete man ihn bereits ungeduldig.

»Hallo, Steinböck, darf ich vorstellen? Margarete von Blasenstein und ihr Anwalt Dr. Willi Kotz«, sagte Sanghäusel. »Kommissar Steinböcks Team hat den Fall übernommen.«

Kotz ignorierte den Kommissar und blickte gelangweilt auf seine manikürten Fingernägel. Ein Dandy, dachte Steinböck bei sich, wobei das Make-up im Gesicht des Anwaltes mehr dazu diente, ein blaues Auge zu verdecken.

Ganz anders die Frau. Sie schaute ihn arrogant an und zischte wütend: »Wie kommen Sie dazu, meinen toten Sohn aus dem Beerdigungsinstitut zu holen?«

»Wir hatten unsere Gründe«, erwiderte Steinböck bissig. »Herr Wägele, ein sehr aufmerksamer Bestatter, hat uns auf etwas aufmerksam gemacht.«

»Ich werde diesen Mann verklagen, ich werde ihn ruinieren«, giftete sie.

Der Kommissar musterte die Frau näher. Dass sie Geld hatte, war nicht zu übersehen. Allein die mit Brillanten übersäte Armbanduhr überstieg im Preis deutlich Steinböcks Jahresgehalt. Er war sich nicht klar darüber, ob sie das dunkle Trachtenkostüm mit tief ausgeschnittener Bluse als Zeichen ihrer Trauer trug oder um den mehrere Karat schweren Solitär, der an einer Goldkette hing, besonders zur Geltung zu bringen. Trotz allem konnte das Schmuckstück nicht von ihrem faltigen Hals ablenken, wogegen ihr Gesicht eher einem Spannbetttuch glich. Der Klessel hätte das besser hinbekommen, dachte Steinböck, bevor er weitersprach. »Ich frage mich, warum all die amtlichen Untersuchungen nicht durchgeführt worden sind. Sowohl Feuerwehr und Amtsarzt wie auch die Polizei vor Ort haben geschlampt oder nicht hingesehen. Warum? Kann es sein, dass Sie mit Ihrem Einfluss auf irgendeine Weise nachgeholfen haben?«

»Jetzt gehen Sie zu weit«, warf der Anwalt in gereiztem Ton ein und fuhr sich nervös mit gespreizter Hand durch die kurz geschnittenen Haare.