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Nicht unbedingt erfreulich, wenn zur Eröffnung des Oktoberfestes ein Toter kopfunter am Riesenrad hängt und das makabre Foto auf den sozialen Medien erscheint. Zwangsläufig muss Kommissar Steinböck für seine Ermittlungen die ungeliebte Wiesn besuchen. Und dann schickt ihm der Mörder auch noch einen Kinderreim, in dem er weitere Morde ankündigt. Ein perfides Spiel beginnt und mittendrin die Katze Frau Merkel, die sich gegen den aufdringlichen Geisterbahnkater Berlusconi zur Wehr setzen muss.
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Seitenzahl: 287
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Kaspar Panizza
Wiesnkatz
Frau Merkel rockt das Oktoberfest
Blut’zapft is! Wenn Kommissar Steinböck eines hasst, dann ist es die Menschenmenge auf dem Oktoberfest. Zusammen mit seinen Leuten untersucht er den makabren Mord an einem Schausteller, der kopfunter am Riesenrad hängt. Immer dabei die Katze Frau Merkel, die von einem aufdringlichen Kater verfolgt wird. Ein Kinderreim, der Steinböck und der Presse zeitgleich zugeschickt wird, lässt den Kommissar erahnen, dass es nicht bei diesem einen Mord bleiben wird. Ein Serienkiller auf der Wiesn! Mit seinem Freund Obstler und der vietnamesischen IT-Spezialistin Huong versuchen er und sein Team, dem Täter auf die Spur zu kommen. Obstler inkognito als Wahrsager in einem alten Wohnwagen neben dem »Käfer«-Zelt. Zu allem Überfluss ist da noch der spanische Besuch bei Steinböcks Nachbarin. In Kürze verdreht die attraktive Privatdetektivin ihm den Kopf. Eine ganz normale Observation hat sie nach München geführt, doch plötzlich eskaliert die Situation, und Steinböck hat es mit einem neuen Verbrechen zu tun.
Kaspar Panizza wurde 1953 in München geboren. Den Autor, der aus einer Künstlerfamilie stammt, prägten die Arbeiten seines Vaters, eines bekannten Kunstmalers, sowie die Bücher seines Urgroßonkels Oskar Panizza. Nach dem Pädagogikstudium machte Kaspar Panizza eine Ausbildung zum Fischwirt, erst später entdeckte er seine Liebe zur Keramik. Nach abgeschlossener Ausbildung mit Meisterprüfung arbeitete er zunächst als Geschirr-Keramiker und später als Keramik-Künstler im Allgäu. 2004 übersiedelte er nach Mallorca, wo er eine Galerie mit Werkstatt betrieb und zu schreiben begann. Seit 2009 lebt Kaspar Panizza in Ribnitz-Damgarten an der Ostsee, wo er zusammen mit seiner Ehefrau bis 2018 ein Keramik-Atelier führte. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © fottoo / stock.adobe.com;
r.classen / shutterstock.com; Adobe Firefly
ISBN 978-3-7349-3048-5
Für meinen Freund Reini, der mich liebenswürdigerweise all die Jahre mit Horstis skurrilen Gedichten versorgt hat.
Frau Merkel: die Katze, die Steinböck mit ihren nervigen Kommentaren oft zur Verzweiflung bringt
Steinböck (SB): sehr eigenwilliger Hauptkommissar; Leiter des Ermittlungsteams
Emil Mayer junior: Kommissar; mittelmäßig pigmentierter Afro-Bayer und Rollstuhlfahrer
Ilona Hasleitner: Kommissarin; Recherche-Genie und Herrin der Butterbrezen
Dr. Thomas Klessel: Leiter der Gerichtsmedizin; zelebriert gerne den Inhalt seines silbernen Flachmanns
Dr. Horst Schmalzl: Psychotherapeut; Gerichtsgutachter, der von Frau Merkels Genialität überzeugt ist (Katze!!)
Dr. Nepomuk Sanghäusel: Staatsanwalt
Dr. Xaver Hirschbauer: Sanghäusels Ehemann und Tierarzt
Peter Obstler: Informant; SBs Freund und dieses Mal als Wahrsager Rantallaplan auf der Wiesn tätig
Bernulf Valentin Schwäble: Polizeibeamter in der Mordkommission
Ferdel Bruchmayer: schleimiger Staatssekretär und SBs Intimfeind
Schneehofer: Kommissar; Pforte und Information
Sabine Husup: nervige und neugierige Lokalreporterin
Lotta Nilson: Leiterin der Mordkommission
Tamara: Kantinenchefin und heimliche Herrscherin des Kommissariats
Der Berliner: Besitzer eines Imbisswagens vor dem Revier
Veronika: Steinböcks Nachbarin
Harti Kleverlä: alias Sokrates; Isarphilosoph
Phan Lan Huong: IT-Genie und illegale Reinigungskraft im Dezernat
Amely und Götz von Domenik: SBs Vermieter
Candela Clar: Veronikas Besuch aus Mallorca
Luigi, Alberto und Franzi Cannelloni: Betreiber einer Geisterbahn
Rosi Müller oder die Rote Rosi: führt einen Zuckerwattestand
Nelly Martini: ihre Tochter
Sepp Hornesel: Angestellter beim Riesenrad
Korbinian und Milana Zacherl: Besitzer einer Schießbude
Juri Melnik: Milanas Bruder
Xaver Hackel: sein Wiesnbesuch endet tödlich
Tanja Fischer: Studentin mit Nebenjob
Mohammed Ignatius: Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes
Sorgfältig klebte die Person die beiden Kuverts mithilfe eines kleinen nassen Schwammes zu. Jetzt stand der Ablauf fest. Sie hatte alles genau geplant. Es war nur recht und billig, dass sie die anderen an ihrem Vorgehen teilhaben ließ. Die Person verstaute die beiden Briefe in einer Plastiktüte, steckte die Tüte in den Hosenbund und streifte den Pullover darüber. Anschließend verließ sie die Wohnung. Es dauerte zehn Minuten, bevor sie den Supermarkt erreichte. Sie hatte extra diesen Briefkasten gewählt. Weit genug von ihrer Wohnung entfernt. Sie holte die Tüte unter ihrem Pullover hervor und fischte die beiden Briefe heraus. Dann drückte sie die Klappe des Kastens nach innen und ließ die Kuverts langsam durch den Schlitz gleiten. Sie zog sich die Einweghandschuhe von den Händen, stopfte sie in die Tüte und entsorgte diese in einem der Mülleimer vor dem Supermarkt.
»Nun gibt es kein Zurück mehr«, murmelte die Person. »Ich hab es so lange geplant, und jetzt werde ich mich rächen.«
»Der Postbote war gerade da«,stellte die schwarze Katze Frau Merkel fest und sprang neben Steinböck aufs Sofa. »Los, steh auf und schau, was er gebracht hat«, rief sie und stieß mit dem Kopf gegen das Buch, das der Kommissar in den Händen hielt.
Bedächtig nahm er den Kopfhörer ab und legte ihn auf den Tisch. »Was willst du?«
»Du hast mich genau gehört. Trotz deiner Micky-Maus-Ohren. Also, könntest du jetzt zum Briefkasten gehen?« Frau Merkel stellte die Vorderpfoten auf Steinböcks Bauch und schaute ihn auffordernd an.
»Schau doch selbst nach«, brummte er und schob sich die Katze vom Bauch.
»Sehr witzig«,fauchte sie.
»Warum bist du so neugierig?«
»Ich erwarte Post«, erklärte Frau Merkel.
»Du erwartest Post?«, fragte der Kommissar ungläubig und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Hättest du Veronika dein altes Smartphone geschenkt, müssten wir nicht auf einen Brief von ihr warten.«
»Du weißt, dass sie mit so einem Teufelszeug nichts zu tun haben will.«
»Lächerlich! Du hättest es ihr eben schmackhaft machen sollen. Würdest du deinen Alabasterkörper endlich erheben und zum Briefkasten gehen?«
»Warum sollte sie uns schreiben? Onkel Josef hat mich doch angerufen und gesagt, dass sie übermorgen kommt. Und ich werd sie am Flughafen abholen.«
»Du meinst, wir werden sie abholen. Übrigens möchte er Onkel José genannt werden. Darf ich dich erinnern, dass der Postbote gerade einen Brief in den Kasten geworfen hat?«
Steinböck wusste, dass erdieses Spiel nicht gewinnen konnte, also erhob er sich schwerfällig vom Sofa und verließ den Wintergarten in Richtung Briefkasten. Frau Merkel folgte ihm auf den Fersen. Der Kommissar griff durch den Briefschlitz und drückte das Türchen nach außen. Den Schlüssel hatte er längst verloren, aber auch auf diese Weise hatte er bisher alle Post bekommen. Er nahm den Packen Papier heraus und studierte die verschiedenen Sendungen.
»Werbung, noch mal Werbung«, knurrte er und entsorgte die bunten Prospekte in der blauen Papiertonne, die sinnigerweise gleich neben dem Briefkasten stand. Dann ging er zurück zum Wintergarten.
»Irgendein Angebot für Thunfisch? Unsere Vorräte nehmen langsam ab.«
»Du wirst schon nicht verhungern. Aha, eine Nachricht von der Versicherung. Sie bieten mir eine günstige Sterbepolice an.«
»Zahlt die auch, wenn du ins Kreuzfeuer zweier Mafiabanden gerätst?«
»Wie kommst auf den Schmarren?«
»Dann wär endlich mal wieder was los in der Stadt. Seit Banksy war nur noch der Abgang der beiden Topmanager vom FC Bayern erwähnenswert.«
»Ach, die Topmanager, die mit dem Kahn weggerudert sind«, feixte Steinböck und betrachtete das letzte Kuvert. »Ein Brief von der Staatskanzlei.«
»Von Veronika ist nichts dabei?«
»Nein, sie kommt übermorgen, und damit basta.«
»Und was will der Alte?«
»Welcher Alte?«
»Sagtest du nicht, der Brief sei vom Söder?«
»Schau ma mal«, brummte der Kommissar und riss das Kuvert auf. Er kniff die Augen zusammen und streckte den Brief so weit von sich, bis er die Schrift endlich lesen konnte. »Des kannst vergessen! Ohne mich! Ich mach mich doch nicht zum Affen!«, schimpfte er und legte die Post auf der Glasplatte des Korbtisches ab.
»Also, was will der Söder?«
»Schau doch selbst nach!« Steinböck ließ sich zurück aufs Sofa sinken.
Frau Merkel sprang auf den Tisch und stupste mit der Pfote die Briefe auseinander. »5.000 Euro im Todesfall. Das würde sich rentieren. Schließlich musst du auch an die Hinterbliebenen denken.«
»Welche Hinterbliebenen? Redest du etwa von dir?«, knurrte er missmutig.
»Ach, ist der Herr Kommissar heute wieder empfindlich! Dabei hat das Wochenende gerade erst begonnen«, mokierte sich die Katze und bugsierte den Versicherungsbrief zu Boden. »Eine Einladung zum Oktoberfest! Der Herr Ministerpräsident lädt persönlich verdiente Bürger zum Frühschoppen ins Hackerzelt. Und hier steht handschriftlich hinzugefügt: ›Mit Katze!‹ Was wirst du anziehen?«
»Vergiss es! Ich war seit zehn Jahren nicht mehr auf der Wiesn. Den Schmarren mach ich nicht mehr mit! Da kauft sich die männliche Porscheschickeria teure Hirschlederne und Haferlschuh, die sie sonst im Leben nie angezogen hätte, und dieBeautyinfluencerinnen zwängen sich in viel zu enge Dirndl. Zum Schluss gibt’s noch a Selfie, auf dem man sich mit Maßkrüg voller Champagner zuprostet.«
»Alter Mann, auch du musst mit der Zeit gehen. Ich könnte mir dich in Lederhosen und Loferl1 gut vorstellen«, konterte Frau Merkel.
Weiter kam sie nicht. Der Kommissar setzte die Kopfhörer auf und entschloss sich, die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren.
1 Wadenwärmer in der Herren-Trachtenmode
»Mama, ich möcht jetzt endlich Geisterbahn fahren«, quengelte der kleine Junge und zog an der Hand seiner Mutter.
»Wart noch, Ferdinand. Wir ham hier so einen schönen Platz, wenn die Promis vorfahren«, erklärte ihm die Frau im Dirndl, die sich zusammen mit einigen Schaulustigen und einer Gruppe von Demonstranten vor dem Nebeneingang des Schottenhammelzeltes postiert hatte. »Schau, da kommt die erste Limousine. Des ist der Aiwanger. Weißt schon, der so eine komische Stimme hat.«
»Ja, wie der Opa, wenn er sich an ganzen Knedel in Mund schiabt und dann redet«, ließ sich der Bub kurz ablenken.
»Genau! Der Opa kann sich auch nicht mehr an die Flugblätter aus seiner Schulzeit erinnern. Und da kommt der Söder, unser Ministerpräsident.«
»Ich hab g’moant, der wär Kanzler.«
»Naa, des hat diesmal noch nicht geklappt, aber er versucht’s des nächste Mal bestimmt wieder«, erklärte die Frau ihrem Sohn.
»Vielleicht hätte er mehr Bäume umarmen sollen«, erwiderte er altklug.
»Mei, was du alles weißt«, antwortete die Frau stolz und tätschelte ihm den Kopf.
Das war keine gute Idee. Der Ferdinand erinnerte sich daran, warum er hier war. »Wenn ich ned Geisterbahn fahren darf, dann will ich jetzt wenigstens aufs Riesenrad.«
»Des fahrt erst um zwölfe, wenn der Bürgermeister o’zapft hat.«
»Naa, Mama, des dreht sich schon.«
»Des kann ned sein, schau, des steht doch«, versuchte sie ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Vielleicht weil da oaner aus der Gondel hängt«, rief der Junge aufgeregt, zog noch mal an ihrem Arm und zeigte mit dem ausgestreckten Finger nach oben. Zumindest hatte er die Aufmerksamkeit der Umstehenden erregt.
»Da baumelt wirklich einer an der Gondel«, stellte ein junger Mann mit Pferdeschwanz fest und deutete mit seinem Protestschild, auf dem er ein nachhaltiges Oktoberfest forderte, in Richtung Riesenrad.
»Der hängt an einem Seil. Ob der sich selber aufg’hängt hat?«, überlegte eine junge Blondine und machte bereits die ersten Handyfotos.
»Wie soll des gehen?«, maulte der Langhaarige. »Außer er hat eine Fernbedienung.«
Inzwischen hatte auch der Herr Ministerpräsident bemerkt, dass die Aufmerksamkeit der Demonstranten nicht ihm gehörte, was gehörig an seinem Ego kratzte.
»Da hängt einer an der Gondel«, erklärte ihm der Aiwanger.
»Ich weiß, Hubert«, zischte Söder böse. »Hoffentlich holt den bald einer da runter.«
»Warum? Lass ihn halt noch a bisserl baumeln, der ist eh schon tot«, knödelte Aiwanger.
»Mensch, Hubsi, die ganze Welt schaut heut auf die Eröffnung des Oktoberfestes. Und anstelle eines Fotos von mir und diesem leidigen Oberbürgermeister beim O’zapfen werden alle Nachrichten die Leich zeigen, die am Riesenrad hängt. Also kümmere dich drum, dass der da runterkommt.«
Den Befehl hätte sich der Söder sparen können. Denn im selben Moment setzte sich das Riesenrad wieder in Bewegung – rückwärts dieses Mal. Vereinzelt erklang Beifall. Jedenfalls blieb es dem Mann, der an der Gondel hing, erspart, post mortem noch einmal über die Theresienwiese hinwegzuschweben.
»Mama, wenn der drunten ist, dann möcht ich Riesenrad fahren«, hörte man den Ferdinand noch, der wie alle anderen der Politprominenz keine weitere Aufmerksamkeit schenkte.
*
Die beiden Frauen saßen auf dem Balkon in der Morgensonne. Durch die verkratzte Glasplatte hindurch schimmerte der verschnörkelte Metallständer des runden Tisches. Er hatte bereits deutlich Rost angesetzt. Trotz der Wärme hatte sich die Jüngere der beiden in eine Wolldecke gewickelt.
»Bist du sicher, dass du keinen Kaffee möchtest?«, fragte die Ältere.
»Ganz sicher, ich hatte am frühen Morgen schon zwei. Ich freu mich, dass es dir heute etwas besser geht. Hast du die Briefe?«
Die Ältere nickte und brachte unter der Decke einen großen braunen Umschlag hervor. Daraus zog sie zwei Kuverts. Eines war grau, das andere gelb.
»Du weißt Bescheid. Es ist nur für den Notfall.«
»Der auf keinen Fall eintreten wird. Wir sollten jetzt fahren.«
»Ich hoffe, dass du recht behältst«, flüsterte die Jüngere und kuschelte sich in ihre Decke. »Willst du wirklich keinen Kaffee?«
»Warum zögerst du das Ganze heraus?«
»Ich weiß nicht, ich komme mir so unehrlich vor.«
»Wir haben doch alles besprochen. Vergiss nicht, du bist zu mir gekommen.«
»Also gut«, sagte sie mit gespieltem Elan und ließ die Decke von ihren Schultern gleiten. »Lass uns zu diesem Doktor fahren.«
*
Steinböck hatte sich auf ein ruhiges Wochenende eingerichtet. Der Kühlschrank war voll, und eigentlich hatte er nicht vor, die Wohnung zu verlassen. Das erste Wiesnwochenende war immer das Schlimmste. Die Stadt war voller Touristen, und die ohnehin knappen Parkplätze waren alle belegt. Wenigstens spielte das Wetter mit. Die Sonne schien, und das Thermometer in Steinböcks Wintergarten war bereits am frühen Vormittag auf 27 Grad geklettert. Er stellte den Korbstuhl an den wackligen Biertisch im Garten, auf dem Smartphone und Brille lagen, stellte seinen Kaffee ab und legte die Füße hoch. Die Katze war seit mehreren Stunden unterwegs, somit war niemand da, der ihm auf die Nerven ging. Also ein rundum gelungener Morgen.
Gerade als er einen Schluck Kaffee nehmen wollte, öffnete sich die Terrassentür der Nachbarwohnung und sein Kollege Emil Mayer junior kurvte mit seinem Rolli ins Freie.
»Servus, Emil. Hast gestern gefeiert? Normalerweise hängst du doch schon um 8 Uhr an der Teppichstange und machst deine Klimmzüge.«
Mayer junior, ein mittelmäßig pigmentierter Afrobayer, wie er sich selbst zu nennen pflegte, schob mit der linken Hand seinen Rollstuhl an und blickte gleichzeitig auf sein Smartphone, das er in der rechten hielt. »Morgen, Chef, schau mal, was da grad für Fotos auf Facebook hochgeladen werden.«
»Ich will’s gar nicht wissen.«
»Fotos von der Wiesn.«
»Hat sich der Bürgermeister beim Anzapfen wieder vollg’saut?«, feixte Steinböck. »Hauptsache, ich muss da nicht hin.«
»Da wär ich mir nicht so sicher«, erwiderte Emil, der seinen Rolli mit einer geschickten Drehung neben seinem Chef einparkte. Er reichte ihm das Handy und beobachtete dabei grinsend Steinböcks Gesicht.
»Und? Irgendwelche Witzbolde haben a Puppen am Riesenrad aufgehängt.«
Emil griff nach der Brille, die vor dem Kommissar auf dem Tisch lag, und reichte sie ihm mit einem mitleidigen Lächeln. Missmutig setzte dieser sie auf, während Emil das Bild mit Daumen und Zeigefinger vergrößerte.
»Des könnt echt sein«, gab er widerwillig zu. »Aber dann hätten uns die Kollegen bestimmt …« Weiter kam er nicht.
Sein Handy begann über den Tisch zu tanzen, dazu erklang die Bonanzamelodie.
»Morgen, Ilona. Schön, deine Stimme zu hören«, säuselte Steinböck ins Telefon. Er hatte den Lautsprecher angeschaltet und hielt das Handy Richtung Emil.
»Es gibt eine Leiche auf der Wiesn«, erklärte Ilona Hasleitner, Steinböcks und Mayer juniors Kollegin, Recherche-Genie und Herrin der Butterbrezen im Kommissariat.
»Hab ich schon gehört. Sie hängt am Riesenrad.«
»Woher weißt du des?«
»Die asozialen Medien. Ich bin informiert.«
»Gerade du? Dass ich nicht lach! Ich geh davon aus, dass der Emil neben dir sitzt. Auf geht’s, Kollege, schubs den Alten aus dem Korbsessel, und dann auf zum Tatort! Es pressiert. Übrigens wieder mal eine Anordnung von ganz oben. Man fürchtet um den guten Ruf des Oktoberfestes.«
»Und vor allem um die guten Umsätze«, beendete Mayer junior das Gespräch sarkastisch.
»Woher weiß die Ilona, dass du neben mir sitzt?«
»Weil sie im Gegensatz zu dir eins und eins zusammenzählen kann«, meldete sich die Katze Frau Merkel, die unbemerkt aufgetaucht war. »Mach dich fertig, es gibt Arbeit. Endlich komme ich mal aufs Oktoberfest!«
»Ja mei, weil unsere Ilona halt ein gescheites Madl ist«, versuchte auch Emil, Steinböcks Frage zu beantworten. »Dann mal los. Willst selber fahren, oder soll ich dich durch den Wiesnverkehr chauffieren?«
»Untersteh dich! Der alte, klapprige Käfer bleibt zu Hause«, befahl Frau Merkel dem Hauptkommissar. Sie bevorzugte Emils leistungsstarken Golf.
»Mensch, Emil, bei deinem Fahrstil ist das eine Wahl zwischen Pest und Cholera.«
»Also, wie entscheidet sich der gnädige Herr?«, feixte Mayer junior.
»Von mir aus, dann fahr ich halt mit dir«, seufzte Steinböck.
»In fünf Minuten am Auto«, rief Mayer junior, drehte seinen Rollstuhl um 180 Grad und verschwand in seiner Wohnung.
»Wie unfair! Ein junger, dynamischer Rollstuhlfahrer gegen einen alternden Hauptkommissar«,witzelte Frau Merkel und schritt gemächlich zu Emils aufgemotztem Golf.
*
20 Minuten später verließen sie endlich den Hof in der Fallmerayerstraße. Mayer junior schaffte es, unterstützt von einer johlenden Katze, in zwölf Minuten bis zum Esperantoplatz zu kommen. Wohlgemerkt konnte nur Steinböck das affige Getue der Katze hören, aber der hatte schon bei der Abfahrt seine Augen geschlossen und sich fest vorgenommen, sie nicht zu öffnen, bevor sie nicht das Riesenrad erreicht hatten.
Am Eingang wurde es dann kritisch. Obwohl bis zum offiziellen Anzapfen noch eine halbe Stunde Zeit war, tummelten sich bereits Tausende von Menschen auf dem Wiesngelände. Emil beschloss, mit Blaulicht auf das Gelände zu fahren. Geschickt zog er sich aus dem Seitenfenster und setzte die magnetische Lampe aufs Dach. Die Leute machten bereitwillig Platz, und so erreichten sie wenige Minuten später den Tatort.
Ein paar uniformierte Beamte standen hinter dem rot-weißen Absperrband, vor dem sich eine Menge Schaulustiger versammelt hatte. Die Polizisten hoben das Band an, und Emil fuhr langsam darunter durch.
»Du kannst jetzt die Augen wieder aufmachen und Emils Rolli aus dem Kofferraum holen«, wies die Katze Steinböck an. »Du bist schließlich der Hauptkommissar und leitest diesen Fall.«
Inzwischen hatte Ilona Hasleitner sie entdeckt und eilte auf sie zu. »Ich kümmere mich um den Rollstuhl. Der Tote liegt dahinten, wo die Kollegen den Sichtschutz aufgebaut haben.«
»Danke, Ilona.« Steinböck nickte ihr zu und stieg eine Metalltreppe hinauf.
»Die sind wie die Geier«, begrüßte ihn Bernulf Valentin Schwäble, ein uniformierter Kollege aus der Mordkommission. Er deutete mit dem Kopf auf die Umstehenden, die fast alle ihre Smartphones in die Luft hielten, um ein Foto zu schießen. »Seitdem die Leich bei Facebook aufgetaucht ist, werden es immer mehr Leut. Dahinten beim Klessel liegt der Tote.«
Thomas Klessel, der Gerichtsmediziner, trug einen dieser weißen Ganzkörperkondome. Er kniete neben einem Mann, der auf einer Bahre lag. Um den Hals des Toten war immer noch das Seil befestigt, an dem er unter der Gondel gebaumelt war.
»Servus, Thomas. Ist er durch den Strick gestorben?«, wollte Steinböck wissen.
»Hallo, Herr Kommissar. Als der zu seinem letzten Flug angetreten ist, war er schon seit Stunden tot«, brummte der Gerichtsmediziner, während er sich erhob. Er streifte sich die weiße Kapuze vom Kopf und deutete auf die Leiche. »Sieh dir die Menge Blut an seiner Kleidung an. Schaut aus, als wenn er mehrere Stiche in den Bauch bekommen hat.«
Steinböck musterte den Toten. Er hatte dunkles, gelocktes Haar, zum Teil von grauen Strähnen durchzogen. Die Gesichtszüge wirkten zynisch und überrascht.
»Der hat nicht damit gerechnet, dass ihm sein Gegenüber ein Messer in den Bauch rammt. Wie lang ist er schon tot?«
»Der Todeszeitpunkt war vermutlich gegen 2 Uhr nachts. Näheres über die Todesursache und Tatwaffe später in meinem Etablissement. Ich hab übrigens einen ganz edlen Tropfen in meinem Flachmann.«
»Ich komm darauf zurück.«
»Denkt ihr beiden alten Männer nur ans Saufen? Ihr seid wirklich ein Schandfleck für die Münchner Polizei«,pöbelte Frau Merkel.
»Sag mal, Thomas, du hast mir doch versprochen, die Katz zu sezieren, wenn ich sie dir vorbeibringe.«
»Habts ihr zwei wieder ein Beziehungsproblem?«, schmunzelte der Rechtsmediziner. »Komm gegen drei zu mir in die Pathologie, dann weiß ich bestimmt mehr. Und um deine Vorfreude zu steigern: Ein edler irischer Whiskey wartet auf dich.«
»Sehr schön! Dann fehlt jetzt nur noch a ordentliches Frühstück.«
»Tja, nix mit Wochenende.« Laut rief Klessel: »So, Kollegen von der SpuSi, die Leich gehört euch. Wenn ihr fertig seid, bringts ihr sie zu mir in meine heiligen Hallen.«
Drei ebenfalls in Weiß gekleidete Gestalten undefinierbaren Geschlechts näherten sich dem Toten und begannen mit ihrer Arbeit. Steinböck suchte nach Hasleitner. Er entdeckte sie zusammen mit Mayer junior bei einem graubärtigen Mann im roten Overall und trat zu ihnen.
»Sepp Hornesel. Er war sozusagen der Chauffeur im Cockpit«, stellte Ilona den Mann vor. »Erzählen S’ unserem Chef noch mal, was passiert ist.«
»Das ist mir ganz schön an die Nieren gegangen«, krächzte Hornesel. Trotz seines grauen Vollbarts war gut zu erkennen, dass ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. »Ich hab das Riesenrad angeschaltet und wollte ein oder zwei Proberunden drehen, bevor es um 12 Uhr losgeht. Das machen wir immer so. Ich hab den Mann nicht gleich gesehen, erst als er schon vier Gondeln hoch war. Einmal rumfahren mit ihm wollte ich auch nicht. Ich musste den Rückwärtsgang einlegen, was nicht so einfach ist. Deswegen hing er etwas länger da oben. Aber wie’s aussieht, war er eh schon vorher tot.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na ja, das Blut war eingetrocknet.«
»Und Sie haben den Mann zuvor nicht bemerkt?«
»Nein, er lag wohl hinter der Gondel, und des Seil war auch nicht zu sehen.«
»Stammt das Seil von Ihnen?«, wollte Emil wissen.
»Ja. Bei starkem Wind arretieren wir damit die unteren Gondeln.«
»Kennen Sie den Mann?«
»So genau hab ich ihn nicht angeschaut, aber es könnt einer von den Italienern sein.«
»Welche Italiener?«
»Ihnen gehört das Gruselhaus. Das ist eine Geisterbahn zwei Querstraßen weiter vorne.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Nein, bin ich nicht. Ich sagte doch, dass ich ihn mir nicht genau angeschaut habe.«
»Hat man einen Ausweis bei dem Toten gefunden?«, wollte Steinböck von Ilona Hasleitner wissen.
Ilona reichte ihm eine Plastikkarte. »Sein Ausstellerausweis. Luigi Cannelloni, Team Gruselhaus. Ihre Vermutung ist richtig, Herr Hornesel. Zweifel ausgeschlossen. Das Foto zeigt eindeutig den Toten. Ein Geburtsdatum steht nicht dabei, aber ich schätze ihn auf Anfang 50.«
»Ich denk, wir sollten bei der Geisterbahn vorbeischauen«, erklärte Steinböck.
»Hoffentlich behalten sie dich nicht dort«, mischte sich Frau Merkel wieder ein.
»Vielleicht kannst du mit Emil dorthin gehen. Ich würd mich gern mit Bernulf Valentin in der Nachbarschaft umhören«, antwortete Hasleitner.
»Also gut, Kollege Mayer, schmeiß deinen Turbo an, und dann geht’s los. Mal schauen, ob es dort Angehörige gibt.«
Die SpuSi hatte den Toten inzwischen freigegeben und kümmerte sich als Nächstes ausführlich um den Tatort. Luigi Cannelloni wurde in einen Leichenwagen verladen.
*
Etwa 300 Meter die Ausstellerstraße hinauf befand sich das Gruselhaus. Die komplette Front war mit skurrilen Köpfen bemalt, die sich teilweise dreidimensional nach außen wölbten. Im oberen Stockwerk führte die Bahn wieder nach draußen. Am Ausgang befand sich der Oberkörper eines zähnefletschenden King Kongs, an dem jeder Wagen vorbeimusste. Direkt darüber die riesige Pranke des Ungetüms, die sich auf und ab bewegte.
Neben dem Kassenhäuschen trafen Steinböck und Mayer junior einen bärtigen Mann um die 40 mit blank rasiertem Schädel, der mit einem Schraubenschlüssel am Geländer herumhantierte. Sein rechtes Auge war mit einer schillernden Augenklappe bedeckt.
»Der käme als Täter schon mal infrage«, unkte die Katze, die, wie üblich, der besseren Aussicht wegen auf Emils Schoß Platz genommen hatte.
»Der arme Kerl könnte Modell für einige dieser Köpfe gewesen sein«, murmelte Steinböck Emil zu. Trotzdem fragte er höflich: »Sind Sie der Besitzer?«
Der Mann schüttelte stumm den Kopf, wobei seine Augenklappe je nach Lichteinfall glitzerte, und deutete dabei auf eine blonde Frau mittleren Alters, die mit einem Tuch die dunklen Kunstledersitze der Fahrkabinen sauber wischte. Sie bemerkte die beiden Polizisten und kam ihnen misstrauisch entgegen.
»Gehört Ihnen die Geisterbahn?«
»Wer will das wissen?«, fragte sie patzig.
»Sorry, Hauptkommissar Steinböck, mein Kollege Mayer von der Münchner Mordkommission.«
»Das Gruselhaus gehört meinem Mann und mir. Ich bin Franziska Cannelloni.« Ihr Münchner Dialekt und die zahlreichen Sommersprossen ließen den Kommissar vermuten, dass sie selbst wohl kaum Italienerin war.
»Kennen Sie diesen Mann?« Emil zeigte ihr den Ausstellerausweis.
»Natürlich, das ist Luigi. Ein Cousin meines Mannes. Was ist mit ihm?«
»Sollte er heute bei der Wiesneröffnung nicht mithelfen?«
»Doch, er arbeitet aber erst ab 17 Uhr.«
»Wohnt er hier?«
»Ja, er hat einen kleinen Trailer hinter der Bahn. Möchten Sie ihn sprechen?«
Steinböck und Mayer junior blickten sich kurz an, dann nickten sie.
»Kommen Sie mit!« Sie ging auf eine besonders hässliche Fratze zu, die sich als Tür entpuppte und sich mit lautem Quietschen öffnete. »Da fehlen ein paar Tropfen Öl«, lachte Frau Cannelloni verlegen.
Dahinter standen zwei Wohnwagen und ein großes Wohnmobil. Die Frau klopfte gegen die Wand des einen Caravans.
»Hey, Luigi, hier ist Besuch für dich.«
Trotz wiederholten Klopfens rührte sich nichts. Dafür öffnete sich die Schiebetür des Wohnmobiles. »Francesca, was iste los? Wer sind diese signori?«
Ein Mann um die 50 kam heraus. Bis auf die fehlende Augenklappe ähnelte er dem Typen mit dem Schraubenschlüssel. Auf dem Arm trug er eine weiße Katze, die sich ihm aus den Händen wand und zu Boden sprang, als sie Frau Merkel entdeckte.
»Wir sind von der Mordkommission und wollten zu Herrn Cannelloni.«
»Zu mir, Alberto Cannelloni? Oder meine Cousin Luigi?« Er erinnerte sich wohl, etwas über Steinböck in der Boulevardpresse gelesen zu haben, denn er sagte: »Aha, berühmter Kommissar mit Katze und seine ajutante möchte meinen Cousin sprechen«, und beantwortete damit seine Frage selbst.
»Wen meint der mit dem ajutante?«, flüsterte Emil breit grinsend.
»Na, wen wohl? Bestimmt den Alten«,schnurrte Frau Merkel und sprang zu Boden, um die fremde Katze zu inspizieren. Ein grau-weißes Tier, passend zur Geisterbahn, mit einem eingedrückten Gesicht, dem noch dazu ein halbes Ohr fehlte.
»Berlusconi findet Polizeikatze … Wie sagt man molto carina? Ah ja, viel hübsch.«
»Der Name passt. So wie der Kater aussieht, hat auch er schon ein paar Not-OPs und Liftings hinter sich.«
»Die Katz heißt Berlusconi?«, fragte Steinböck verdutzt.
»Ja, wie unser großer Staatsmann, der leider gegangen ist in die Himmel.« Cannelloni bekreuzigte sich und schaute für einen Moment nach oben.
Vom Namen her tät’s passen, dachte Steinböck und beobachtete, wie Frau Merkel dem elder statesman eine mit der Pfote verpasste. Der schien sich davon nicht besonders irritieren zu lassen.
»Ist der Berlusconi ned kastriert?«, wollte Mayer junior wissen.
»Kastriert?«, rief Cannelloni entsetzt. »Eine Cannelloni gebe seine Eier nie her! Iste eine Frage der Ehre!«
Beim zweiten Pfotenhieb fuhr Frau Merkel ihre Krallen aus. Der alte Berlusconi jaulte kurz auf, kroch dann aber demütig auf sie zu und legte sich auf den Rücken. Eigentlich eines ehemaligen Staatspräsidenten unwürdig.
Franziska hatte inzwischen den Wohnwagen inspiziert. »Luigi ist nicht da. Vielleicht trinkt er irgendwo einen Kaffee.«
»Kommt bestimmt gleich wieder«, erklärte Alberto, ohne den Blick von den beiden Katzen zu lassen. Man spürte, dass ihn die Unterwürfigkeit des Katers persönlich schmerzte.
»Ich befürchte, Ihr Cousin kommt nicht wieder. Wir haben seine Leiche vor einer Stunde hier auf der Wiesn gefunden.«
»Isse tot? Luigi isse tot?«, fragte Alberto erschrocken, machte dasselbe verdutzte Gesicht wie sein toter Cousin Luigi und wischte sich nervös durch den grauen Bart. Sein Blick riss sich von den beiden Katzen los. »Iste Luigi Mann, der hängt in Facebook an Gondel?«
Der Kommissar nickte.
»Wer macht jetzt die Spätschicht?«, wollte Franziska Cannelloni wissen. Luigis Tod schien ihr nicht besonders nahe zu gehen.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte Emil.
»Gestern Abend.« Franziska blickte ihren Mann an. »Wir sind früh zu Bett gegangen. Aber der Luigi hängt sich doch nicht auf!«
»Im Moment sieht es danach aus, dass ihn jemand gewaltsam zu Tode gebracht hat«, erklärte Steinböck.
»O je, du klingst, als hättest du den Duden verschluckt«, stöhnte die Katze, die weiterhin versuchte, dem aufdringlichen Kater zu entkommen.
»Jemand hat Luigi getötet?« Alberto begriff endlich die Zusammenhänge.
»Wir müssen Sie bitten, nicht mehr in Luigis Wohnwagen zu gehen«, erklärte Emil, während er aus der Seitentasche eine Rolle selbstklebendes Absperrband hervorholte und ein paar kurze Stücke über den Türspalt klebte. »Ein paar Kollegen von der Spurensicherung werden nachher vorbeischauen. Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, trotzdem muss ich Sie dazu auffordern, morgen früh bei uns im Büro vorbeizukommen.«
»Viel Vergnügen! In den Saustall möcht ich freiwillig nicht rein. Ich muss die Kasse öffnen«, erklärte Franziska Cannelloni und ging.
»Wer wohnt denn in dem anderen Caravan?«, wollte Mayer junior wissen.
»Iste unsere collega Sergio. Er iste meine Halbbruder, eine bisschen pazzo. Versteht wenig Deutsch. Parlare auch ganz wenig.«
»Können wir uns kurz mit ihm unterhalten?«
»Iste draußen. Er steuert die Bahn.«
»Gut, Herr Cannelloni, kann sein, dass wir noch mal auf Sie zurückkommen. Ein interessanter Kater, Ihr Berlusconi«, sagte Emil schmunzelnd anstelle einer Verabschiedung und folgte seinem Chef zurück zur Bahn. Dort beobachtete er, wie Steinböck dem collega Sergio seine Visitenkarte reichte.
»Wir brauchen einen Dolmetscher, um seine Aussage aufzunehmen«, brummte Steinböck. Sein Blick wanderte die Ausstellerstraße hinauf. »Wo kommen plötzlich die ganzen Leut her?«
»O’zapft is«, lachte Mayer junior. »Jetzt geht die Wiesn erst richtig los.«
»Wenn ich mir vorstelle, dass ich ohne Frühstück den ganzen Weg durch diese Menschenmassen durchmuss, wird’s mir ganz anders«, jammerte Steinböck.
»Hab dich ned so. Da vorne hinterm Schichtl ist der Ausgang zur Pettenkoferstraße. Ich roll zum Auto zurück und hol euch dort ab.«
»Mein Gott, bist du eine Spaßbremse! Eigentlich sollte ich mit meinem schwarzen Bruder mitfahren. Aber wer passt dann auf dich auf?«,meckerte Frau Merkel und blickte Emil wehmütig nach.
»Schau, Saukatz, da vorn ist der Schichtl, von dem Emil grad gesprochen hat«, machte Steinböck Frau Merkel auf das Theater aufmerksam. »Jeden Abend wird dort einer aus dem Publikum geköpft. Da war ich als Bub mal drin.«
»Ich weiß, ich hab ja schließlich Internet. Wir sollten zügig daran vorbeigehen, sonst behalten sie dich noch hier.«
»Sehr witzig.«
Inzwischen hatten sie den Ausgang erreicht. Vor einer Losbude stand eine Frau Anfang 50 mit grünen Haaren auf einer umgedrehten Bierkiste und hielt eine Ansprache. Steinböck nahm Frau Merkel auf den Arm und näherte sich vorsichtig.
»Das ist keine normale Wiesnattraktion«, murmelte er der Katze zu.
»Sie erinnert mich an unsere Vermieterin.«
In der Tat hatte die Frau einige Ähnlichkeiten mit Amely von Domenik. Ihr Outfit bestand aus einem Mix von grellbunten Kleidungsstücken, dazu trug sie weiße Sneakers, deren Sohlen blinkten. Drei ältere Trachtler und ein paar junge Leute in der obligatorischen Wiesnuniform standen kichernd und feixend bei ihr und hörten ihr zu.
»Ich sag euch, des bringt Unglück, dass sie die Bavaria-Statue eingerüstet haben. Das ist kein gutes Zeichen. Die Patronin des Freistaats hinter Gitterstäben!«
»Genau, so was macht man während der Wiesn nicht!«, rief einer mit einem gewaltigen Gamsbart auf dem Kopf.
»Sodom und Gomorra!«, hörte Steinböck die Frau laut rufen. »Die Wiesn ist zu einem Sodom und Gomorra verkommen! Schaut euch doch die Leut an! Bloß noch Schickimicki und Nepp. Eine Maß Bier kostet so viel wie ein volles Tragerl. Spendet einen Euro für den Erhalt des alten Oktoberfestes!«
Die drei Trachtler waren die ersten, die verschwanden, und auch die jungen Leut zogen weiter, nicht ohne eine Münze in die blecherne Kaffeedose zu werfen. Steinböck blieb als einziger Zuhörer zurück.
»Der Kommissar und sei Katz«, rief sie. »Und des ohne Lederhosen!«
»Ich mach mir ernsthaft Sorgen um diese Frau«, bemerkte Frau Merkel.
Keine Angst, die weiß genau, was sie macht, dachte Steinböck und sagte laut zu der Grünhaarigen: »Ich glaub’s nicht, die Lizzy! Es hat geheißen, du lebst jetzt in Australien.«
»Bin sozusagen auf Heimaturlaub. Es kommen so viele Aussies zum Oktoberfest, und für die mach ich den Wiesnführer. Ein Supergeschäft.«
»Und was soll dann des mit dem Sodom und Gomorra?«
»Man muss ja ein bisserl üben«, lächelte sie verschmitzt. »Außerdem sind noch keine Australier da. Die riech ich auf einen Kilometer«, erklärte sie und stieg von der Bierkiste.
»Weiß der Peter Obstler, dass du da bist?«
»Ja freilich, der hat mich doch auf die Idee gebracht. Jetzt, wo er einen Stand auf der Wiesn hat.«
»Der Peter hat einen Stand auf der Wiesn?«, fragte Steinböck erstaunt.
»Bestimmt verkauft er dort seine stinkenden Zigarren. Ob er dabei Lederhosen trägt?«
»Steinböck, was hat’s mit dem Toten am Riesenrad auf sich? Du bist doch deswegen hier. Ich bräucht a bisserl Information für meine Aussies.«
»Ich weiß von nix«, erklärte er schmunzelnd.
»Wie wär’s mit einem Euro für den guten Zweck?«, fragte sie mit einem zweideutigen Lächeln und klapperte mit der Kaffeedose vor seinem Gesicht.
Steinböck wühlte in seinen Hosentaschen herum. Keine Münzen, nur ein einsamer Zehn-Euro-Schein, den er schließlich widerstrebend in ihre Sammelbüchse warf.
»Vergelt’s Gott, Herr Kommissar. Dafür bist du der Erste, den ich informiere, wenn ich was über den Mord herausfinde.«
»Welchen Mord?«
Sie fischte grinsend den Schein aus der Dose und steckte ihn in die Tasche ihres pinkfarbenen Blazers. Plötzlich begann sie laut zu schreien und sprang zurück auf ihre Bierkiste.
»Da kommen Aussies«, flüsterte sie und rief in einem für den Kommissar unverständlichen Englisch etwas über seinen Kopf hinweg.
»Los, nix wie weg«, brummte Steinböck zur Katze und umrundete geschickt eine Gruppe Leute, die neugierig näher kam.
»Eine interessante Frau. Was hat sie mit deinem Freund Peter Obstler zu tun?«
»Die beiden waren mal ein Paar. Bis sie nach Australien ausgewandert ist.«
»Kein Wunder. Bei Obstlers stinkenden Zigarren hätte ich mir auch die größtmögliche Entfernung ausgesucht«, schlussfolgerte Frau Merkel. »Dort vorne steht Emils Bolide, ich freu mich schon auf die Heimfahrt.«
»Wer mit Emil Auto fährt, braucht keine Geisterbahn«, seufzte Steinböck genervt.
*
Mit Befriedigung verfolgte die Person das Treiben um den Tatort herum. Die ratlosen Gesichter der Kommissare, die Schaulustigen, die sich um das Absperrband drängelten. Sie liebte es, Publikum zu haben. Und dann das Foto auf Facebook. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ich hätte es nicht besser planen können, dachte die Person. Sie genoss es, wie Luigi an der Gondel hing. Er war nur einer von vielen, aber er war der Erste, und natürlich hatte er es verdient. Jetzt war es an der Zeit, die neuen Briefe abzuschicken. Diesmal würde es eine besondere Genugtuung sein. Sie hatte alles genau durchdacht. Brief und Wirklichkeit mussten übereinstimmen. Das war der Plan. Die Person hoffte, dass die Polizei und die Presse die Genialität ihres Handelns zu würdigen wussten.
*
Mit der Heimfahrt wurde es dann doch nichts. Hasleitner hatte versprochen, frische Brezen zu besorgen, weshalb ein, laut Steinböcks Meinung, anständiges Frühstück auch im Präsidium möglich war.