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Was die Welt am meisten fürchtet, ist längst geschehen. Ein mutiertes Vogelgrippe-Virus (H5N1) hat eine weltweite Pandemie ausgelöst und die Menschheit fast ausgerottet. Jetzt geht es nur noch ums Überleben. In ihrer dystopischen und post-apokalyptischen Romanreihe hat A. R. Shaw eine realistische Welt nach dem Ausbruch einer viel zu plausiblen Pandemie geschaffen. Die Übriggebliebenen müssen nicht nur ihr persönliches Überleben sichern, sondern wachsen und gedeihen – sonst sind nicht nur sie, sondern ihre Art verloren. In Band 2 der Thriller-Reihe sind die Bewohner von Grahams Camp in den Cascade Mountains im Bundesstaat Washington einem extrem harten Winter ausgesetzt. Währenddessen konzentriert sich die ihnen wohlgesonnene Gemeinschaft der Prepper darauf, jeglichen direkten Kontakt mit der Außenwelt und möglichen Trägern des Virus zu vermeiden. Spannungen zwischen den beiden Lagern entstehen, als das Schicksal erneut zuschlägt. Menschlichkeit und Mitgefühl stehen im Konflikt mit dem Überlebensinstinkt und werden auf eine harte Probe gestellt. Sind Grahams Gruppe und die Prepper zum Scheitern verurteilt in dem Versuch, friedlich nebeneinander zu existieren? (1) "Prepper" bezeichnet Personen, die sich mittels individueller Maßnahmen auf jedwede Art von Katastrophe vorbereiten: durch Einlagerung von Lebensmittelvorräten, die Errichtung von Schutzbauten oder Schutzvorrichtungen an bestehenden Gebäuden, das Vorhalten von Schutzkleidung, Werkzeug, Waffen und anderem. Dabei ist es unwichtig, durch welches Ereignis oder wann eine Katastrophe ausgelöst wird. Viele Themen der Prepper überschneiden sich mit denen der Survival-Szene. [Quelle: Wikipedia]
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Seitenzahl: 395
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übersetzt von Raimund Gerstäcker
Copyright © 2014 A.R. Shaw
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Veröffentlichung darf vervielfältigt, verbreitet oder in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich Fotokopien, Tonaufnahmen oder mittels anderer elektronischer oder mechanischer Methoden übertragen werden, ohne die vorherige schriftliche Genehmigung des Herausgebers einzuholen. Dies gilt nicht für kurze Zitate in Rezensionen und weitere nicht kommerzielle Nutzung gemäß dem Urheberrecht.
Meinem Vater gewidmet,
Amos R. Barber
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE CASCADE PREPPERS Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Raimund Gerstäcker
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-433-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Der Pfad zwischen den Bäumen
Der frühmorgendliche Winterhimmel war in ein lebhaftes Lila getaucht, das auf dem Weg zum Horizont in ein stechendes Blau überging. Es war so kalt, wie die Hölle heiß ist, sofern es einem gelang, sich das Gegenteil zur Hitze der Hölle als Eiseskälte vorzustellen. Graham holte die straff gespannte Schnur ein, Hand über Hand. Mit kreisförmigen Bewegungen wickelte er die Schnur von der Hand über den Ellbogen auf und starrte dabei in das dunkelblaue Eisloch im zugefrorenen See. Sich drehend und windend kam die Forelle auf ihn zu, um ihr Schicksal zu erfüllen.
Sam zog ein letztes Mal kräftig an der Schnur, streckte die Hand aus und packte den gierigen Fisch mitten in der Luft. Er entfernte den Haken aus dem Maul und warf den eiskalten Fisch in einen Eimer, der schon gut gefüllt mit seinen Brüdern und Schwestern war. Sam und Graham legten eher Wert auf Menge statt Größe, wenn sie in den seichten Gewässern unter dem Eis fischten. Dennoch hatten sie heute Morgen länger gebraucht als üblich, um genug für alle in ihrer Gruppe zu fangen.
Innerhalb weniger Minuten war das tiefe Blau, vor dem eben noch der Mond eingebettet in einen feinen Nebel gestanden hatte, vom Himmel verschwunden. Das grelle Tageslicht war so intensiv, dass sie Sonnenbrillen aufsetzen mussten. Trotz der Wärme, die das Sonnenlicht mitbrachte, blieb es kalt, und sie behielten ihre zusätzlichen Pelzschichten an.
Sobald sie genug für das Frühstück gefangen hatten, sammelten sie still ihre Ausrüstung ein und machten sich auf den Weg zurück zum Camp. Wie jedes andere Zweierteam, das immer wieder der gleichen Routine unterworfen war, verrichteten sie ihre Arbeit ohne ein einziges Wort, das sich auf die Aufgabe bezog. »Nimm deine Nase da raus, Sheriff«, warnte Graham sanft den Hund mit seiner rauen, tiefen Stimme, als er ihn dabei erwischte, wie er in den Eimer spähte. »Du wirst schon deinen Anteil bekommen.« Er tätschelte den Hund am Kopf, wuschelte ihm durchs Fell und hob ihren morgendlichen Fang auf. Hinter ihm erschien Sam mit den anderen Schnüren in der Hand, nachdem er die Eislöcher mit Sperrholzplatten abgedeckt hatte, damit sie nicht zu sehr zufroren.
»Bereit?«, fragte Sam.
»Ja.«
Das Eis knirschte unter ihren Stiefeln, als sie über die zuverlässige Kruste liefen, und ihre Schritte hallten in der Weite der Landschaft wider, bis sie auf dem Pfad zwischen den Bäumen waren. Mark war gerade damit fertig geworden, den Weg vom Schnee der letzten Nacht zu befreien.
Als sie die Lichtung heraufkamen, warf Bang, der von Kopf bis Fuß in seiner Schneeausrüstung steckte, gerade den Hühnern Essensreste zu. Begierig umschwirrten sie ihn und stürzten sich auf die mageren Delikatessen. Sheriff rannte voraus, um seinem jungen Freund zu helfen. Graham lachte, amüsiert darüber, dass der Hund nicht verstand, warum sie die Vögel in Käfigen hielten und warum, um alles in der Welt, er sie nicht in ihrem Stall besuchen durfte. Die Hennen legten unhöflicherweise keinerlei Wert auf Sheriffs Gegenwart und eilten immer ans andere Ende ihres Geheges, wenn er sie jeden Morgen begrüßen kam.
Graham rief Bang zu: »Denk dran, dass du ihnen frisches Wasser gibst!«
»Mache ich doch immer«, antwortete Bang, den die unnötige Erinnerung etwas verärgert aussehen ließ. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Mark hat gemeint, ich soll dir sagen, dass Ennis immer noch schläft.«
»In Ordnung, danke. Ich sehe nach ihm.« Graham und Sam gingen schweigend an der Vorderseite ihrer Blockhütte vorbei. Sam wirkte nachdenklich, was für ihn nicht ungewöhnlich war. Man konnte den ganzen Tag mit ihm verbringen und häufig kam nicht mehr als ein Nicken oder ein gelegentliches Wort aus ihm heraus. Graham vermutete, dass Sam entweder über ihre Zukunft nachdachte oder darüber trauerte, dass er von seiner Tochter Addy getrennt war. Ob er jemals wieder einen anderen Menschen in seine Gedankenwelt hineinlassen würde, war völlig offen. Umso überraschter war Graham, als Sam sich zu Wort meldete.
»Weißt du, Ennis wird keinen weiteren Winter mehr erleben. Du solltest darauf vorbereitet sein, Graham.«
Graham antwortete leise. »Ja, ich weiß. Wir verlieren ihn jeden Tag ein Stückchen. Er redet kaum noch, und wenn er es tut, sind es unverständliche Warnungen. Als ob er versucht, uns so viel wie möglich mitzugeben, bevor er geht.« Graham blieb abrupt stehen und stieß mit der Stiefelspitze gegen das Eis. Ein Wölkchen aus weißen Kristallen stob nach vorn. »Ich bin dankbar, dass wir ihn so lange bei uns hatten.«
Sam klopfte ihm auf den Rücken. Er mochte Ennis auch. Der alte Mann hatte Sam sogar ein paar Tricks gezeigt, wie er die kleinen Holzfiguren besser hinbekam, die er für Addy schnitzte, seine Tochter, die er sehen und hören, aber nie wieder berühren durfte. Wenn ein Mann einem etwas Nützliches fürs Leben beibrachte, gehörte er für Sam zu den Guten. Ein Jammer, dass sie mit ansehen mussten, wie Ennis' Lebenskräfte nachließen, jetzt, wo sie ihn so sehr lieben und schätzen gelernt hatten.
»Pass auf, ich säubere die Forellen und kümmere mich ums Aufräumen. Geh du vor und hilf Tala mit Ennis«, sagte Sam.
»Danke, Sam.« Graham reichte ihm seine Ausrüstung. Dann bemerkte er Sheriff, der in der Hoffnung auf einen oder zwei Fischköpfe hinter Sam hertrottete. Dem Hund fiel es leicht, sich über den Tag immer wieder einer anderen Person anzuschließen, je nachdem, wer die besseren Leckereien hatte. Heute Morgen war Sam der Mann der Stunde, aber bei Einbruch der Dunkelheit würde Sheriffs ganze Loyalität zweifellos wieder Macy gehören.
Graham lief zurück zur Hütte, sprang die Treppe immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben und stampfte über den Holzboden der Veranda. Die Tür schwang auf. Tala begrüßte ihn mit einem besorgten Gesichtsausdruck.
»Da bist du ja endlich! Ich brauche deine Hilfe. Es geht ihm gar nicht gut«, sagte sie. Sorgenfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab, sie kämpfte mit den Tränen. Graham nahm sie in den Arm. »Schon gut, schon gut, ich kümmere mich darum«, sagte er und beruhigte sie, so gut er konnte. Eigentlich war Tala ganz und gar nicht der ängstliche Typ. Sie hatte sich als realistisch und praktisch erwiesen, mehr noch als die meisten Menschen, denen Graham je begegnet war. Und sie alle wussten im Stillen, dass sie Ennis bald verlieren würden. Doch Talas offensichtliche Sorge beunruhigte Graham und ließ ihn befürchten, dass das Ende unmittelbar bevorstand.
»Mark und ich haben versucht, ihm aufzuhelfen, aber er hat gesagt, dass er auf dich warten will. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er uns schon nicht mehr erkennt.«
»Ich werde gleich nach ihm sehen. Hat er schon etwas gegessen oder getrunken?«
»Ich habe ihm vorhin etwas Wasser gebracht. Ich glaube nicht, dass er davon schon etwas getrunken hat.« Dann senkte sie ihre Stimme noch mehr und flüsterte: »Graham, was sollen wir tun? Es wird von Tag zu Tag schlimmer, er trinkt weder Wasser noch irgendetwas anderes, von Essen ganz zu schweigen. Ich glaube, eine Infektion hat ihn erwischt, und er will nicht, dass wir merken, unter welchen Schmerzen er leidet.«
»Wir hatten Glück, ihn für die Zeit bei uns zu haben, die ihm vergönnt war«, sagte Graham und zog sie zu sich. Sie sah blass aus. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Als er ihr in die Augen blickte, sah er Angst aufblitzen und fragte sich, was sie so erschreckt haben mochte. Bevor er sie fragen konnte, zogen Schritte hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf sich. Macy kam aus dem Badezimmer und sah, wie sie sich umarmten.
»Könnt ihr das nicht woanders machen?«, fragte sie und stapfte frustriert durch die Tür nach draußen.
Graham und Tala mussten beide lachen. »Armes Mädchen«, sagte Tala und wandte sich wieder dem Gedanken an den kranken alten Mann zu. »Ich denke, Ennis braucht Antibiotika und Phenazopyridinhydrochlorid.«
»Phenazo-was?«, fragte Graham.
»Phenazopyridin. Es betäubt die Harnwege. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Die Antibiotika haben wir, das andere aber nicht. Ich hasse es, ihn so leiden zu sehen.«
Graham nickte. Er zog sie fest an sich und küsste sie auf die Stirn. Dann ließ er sie los. »Lass es uns ihm so bequem wie möglich machen, bis wir genauer wissen, was mit ihm los ist.«
Tala schloss die Augen und nickte. Stille Tränen rannen über ihre Wangen.
Graham zog seinen Mantel aus und ging in das Innere der Blockhütte. Ihm voraus auf dem Weg zum Schlafraum ging sein Schatten, der durch den goldenen Schimmer dieses ungeheuer kalten Morgenlichts glitt, das auf den abgewetzten, verwitterten Holzfußboden fiel.
Leise betrat er den Schlafraum und fand Ennis auf die Seite gedreht und tief schlafend. Reglos lag er da, nur sein leises pfeifendes Schnarchen war zu hören, an das Graham sich in den letzten Monaten so gewöhnt hatte. Er richtete ein wenig die Decke und betastete die Stirn des alten Mannes. Als er kein Fieber spürte, ließ er ihn weiterschlafen und hoffte, dass die Ruhe ihm helfen würde. Er schloss die Tür zum Schlafraum hinter sich, um den Lärm der Lebenden abzuwehren, die bald ihren Morgenroutinen nachgehen würden.
»Er schläft tief und fest«, sagte er flüsternd zu Tala, um so lange wie möglich den Frieden zu bewahren, der noch über ihrem Zuhause lag. Am besten blieben sie noch eine Weile so leise wie möglich, bevor die anderen zurückkehrten. »Nach dem Frühstück gehe ich noch einmal zu ihm. Wann bist du das nächste Mal am Funkgerät und sprichst mit Clarisse? Vielleicht kann sie uns ein paar Hinweise geben.«
»Wir sind für morgen Nachmittag verabredet.« Tala wirkte noch immer stark angespannt, und als Graham in ihre braunen Augen sah, war dort noch etwas, das ihm Anlass zur Sorge gab. Tatsächlich sah sie bei näherer Betrachtung ziemlich blass aus für eine Frau mit indianischem Erbe und ebensolchem Hautton. »Du siehst nicht gut aus. Ist dir schlecht?«
»Es geht schon. Ich mache mir nur Gedanken um Ennis.«
Schnell verschwand Tala in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Graham hatte nicht vor, sie einfach so davonkommen zu lassen, und ging ihr nach, um eine bessere Antwort einzufordern. Doch die Tür ging auf und Sam kam mit den Kindern und Sheriff im Schlepptau herein. Graham und Tala hatten so gut wie nie auch nur einen Moment Privatsphäre – kein Wunder bei vier Kindern, zwei weiteren Erwachsenen und Sheriff.
Sam gab Tala die gesäuberten Fische, damit sie diese – im wahrsten Sinne des Wortes – rasch in die Pfanne hauen konnte. Ihre morgendlichen Aufgaben hatten alle hungrig gemacht. Während die anderen aufräumten und den Tisch deckten, bestückte Graham aufs Neue den Ofen, um die anhaltende Kälte abzuwehren, die durch die Risse und Spalten in den Holzwänden der alten Blockhütte hereinsickerte.
Bald verströmten die Geräusche und Gerüche bratender Fische die verheißungsvolle Erwartung, dass der Hunger in Kürze ein Ende haben würde. Wie immer vor dem Frühstück bildete sich vor der Badtür die vertraute Schlange, da sich alle frisch und sauber an den Tisch setzen wollten. Genauso schnell, wie sie das Essen zubereitet und den Tisch gedeckt hatten, verzehrten sie ihre Mahlzeit aus in Maismehl gebratenen Forellen, cremig gerührter Maisgrütze und hausgemachten, herzhaften Biskuits, ohne über den üblichen Dank hinaus allzu viele Worte zu wechseln. Um ihre Vorräte zu schonen, aßen sie üblicherweise kein Mittagessen. Also hatten sie gelernt, das Frühstück und das Abendessen ernst zu nehmen und gut zu essen. Wenn sie zwischendurch der Hunger packte und sie neue Energie für die harte Arbeit benötigten, die Tag für Tag von ihnen abverlangt wurde, nahmen sie sich etwas von den zusätzlichen Backwaren, die Tala immer bereithielt.
Graham beendete seine Mahlzeit und sah auf, in der Erwartung, dass sich seine und Talas Blicke wie üblich trafen. Aber sie sah nach unten und machte einen gedankenverlorenen Eindruck. Er wusste, dass sie sich Sorgen um Ennis machte, aber er vermisste ihre Fröhlichkeit, die sie sonst ausstrahlte. Heute Morgen schien sie unnatürlich still zu sein. »Das war ein prima Frühstück, Tala«, sagte er. »Danke.«
Sie sah zu ihm auf und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Dann widmete sie sich wieder ihrem Essen, rührte aber kaum etwas davon an. Er wollte sie gerade fragen, was sie beschäftigte, als Sam sich zu Wort meldete. Da Sam niemand war, der verschwenderisch mit Worten umging, wandte sich Graham ihm mit voller Aufmerksamkeit zu, während Tala und der Rest der Bande begannen, den Tisch abzuräumen.
»Hey, Graham, bevor du gehst …« Sam lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Tisch. »Ich schlage vor, dass wir noch ein letztes Mal in diesem Winter auf die Jagd gehen. Diesmal wollen Mark und Marcy dabei sein.« Er deutete auf die beiden Teenager, die aus der Tür eilten, um ihren Wachdienst zu übernehmen.
Die deutliche Pause verriet Sam, dass Graham einige Vorbehalte hatte. »Ich weiß nicht so recht«, sagte Graham schließlich. »Seit Jahren habe ich keinen so kalten Winter erlebt.«
Sam wusste, dass es stimmte. Die Außentemperaturen hatten in den letzten Wochen weit unter dem Gefrierpunkt gelegen. Jetzt war Februar, und sie alle sehnten sich nach wärmerem Wetter. Als ob die Erde selbst den massiven Verlust an menschlichem Leben betrauerte, verhüllte sich Mutter Natur zu einer trostlosen Landschaft aus weißer Kälte. Trotzdem versuchte Sam weiter, Graham davon zu überzeugen, dass es notwendig war, noch einmal in diesem Winter hinauszugehen. »Wir müssen unsere Vorräte aufstocken, und zumindest zwei von den Jungen sollten mitkommen. Sie müssen lernen, damit sie im nächsten Jahr ohne uns alte Männer auf die Jagd gehen können.«
Es war Graham anzusehen, wie er nachdachte, und Sam wartete. Graham und er mussten ihnen die Dinge beibringen, die sie brauchten, um notfalls auch auf sich allein gestellt überleben zu können. So sah ihr Leben jetzt aus, und keiner von ihnen wusste, ob er die nächsten kalten Wintertage erleben würde, geschweige denn die hoffnungsvollen Blüten des nächsten Frühlings.
Sam wusste aus Erfahrung, diese Jagd war die letzte der Wintersaison. Später würde es da draußen zu matschig und gefährlich werden, um sich so weit von der Blockhütte zu entfernen, wie es für eine erfolgreiche Jagd nötig war. Er hoffte, dass Graham das auch so sah.
»Könnt ihr nicht noch eine Woche warten?«, fragte Tala und unterbrach die unangenehme Stille. »Vielleicht ist es dann nicht mehr ganz so kalt.«
»Wenn wir noch länger warten, wird der Schnee tauen und die Bedingungen sich rapide verschlechtern. Im nassen Schnee zu zelten ist kein Spaß, und es ist ungleich gefährlicher und schwieriger, sicher über die Pässe zu kommen. Lawinen sind nur eine der möglichen Gefahren. Jetzt ist die letzte Gelegenheit vor dem Frühling, sicher unterwegs zu sein. Ich würde nicht vorschlagen, die beiden mitzunehmen, wenn es zu gefährlich wäre.«
»Natürlich nicht, Sam«, sagte Graham. »Ich denke, wenn du sie jetzt mitnimmst und ihnen ein paar Härten zumutest, lernen sie wahrscheinlich am meisten. Und Marcy für ihren Teil ist bereit. Sie hat jetzt zum ersten Mal darum gebeten, mit auf die Jagd zu dürfen. Es wird eine gute Gelegenheit sein, ihre Überlebensfähigkeiten zu verbessern.«
»Nun ja, sie könnte durchaus auch den einen oder anderen Hintergedanken haben«, äußerte Tala ihren lange gehegten Verdacht.
»Dazu kommt es auf gar keinen Fall.« Graham fuhr sich mit einer müden Hand durch sein bärtiges Gesicht. »Wenn ihr schon gehen müsst, dann sorge dafür, dass die beiden Turteltäubchen immer schön beschäftigt sind.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, wie lange wir Marcy und Mark noch voneinander fernhalten können. Und ich muss mich jetzt auf meine alten Tage auf einmal mit zwei Töchtern im Teenageralter herumschlagen. Sie machen mich wahnsinnig.«
Tala sah ihn kurz böse an und warf dann Sam einen entschuldigenden Blick zu, während sie sich gegen die Küchentheke lehnte.
Graham verstand sofort. »Es tut mir leid, Sam. Du darfst mir einen ordentlichen Tritt in den Hintern verpassen.«
Sam hob die Hände, wie um die Entschuldigung körperlich abzuwehren. Ja, der Schmerz, von seiner Tochter getrennt zu sein, war nach wie vor heftig, aber Mitgefühl half kein Stück.
»Graham, für den Moment habe ich die Lage akzeptiert, so wie sie jetzt ist. Es geht ihr gut und ich kann sie nach wie vor sehen und mit ihr sprechen. Ich kann nicht bei ihr sein, aber sie ist gesund und gut aufgehoben im Lager der Prepper. Von ihr getrennt zu sein ist die Hölle, aber Clarisse sagt, dass sie weiter nach einem Heilmittel sucht, um das Virus zu bekämpfen. Ich kann nur hoffen, dass sie eines Tages etwas findet, das uns alle heilt. In der Zwischenzeit stecke ich eben bei euch fest. Nehmt es mir nicht übel.« Sams Worten zum Trotz wusste Graham, dass er immer noch einigen Groll gegen sie als Träger des Virus hegte. Zu groß war das Opfer gewesen, das er auf sich genommen hatte, und unterschwellig belastete es auch die Beziehungen zwischen ihnen und den Preppern.
Tala lächelte. »Wir nehmen dir gar nichts übel, wir freuen uns, dass du bei uns bist. Wir wünschten nur, die Umstände wären andere.« Grahams zustimmendes Nicken schien Sam so aufrichtig zu sein wie sein zerknirschter Gesichtsausdruck, der besagte, dass es ihm leidtat, etwas Unüberlegtes gesagt zu haben.
Sam entfuhr ein schnaufender Atemzug, der ein Schluchzen hätte verdecken können. Er war sich selbst nicht sicher, in welche Richtung sich seine Gefühle entwickeln würden. »Ich auch. Obwohl es schon einige Zeit her ist, ist der Schmerz immer noch so stark wie an dem Tag, an dem ich sie bei den Preppern zurücklassen musste. Ich fühle mich wie ein Elternteil nach der Scheidung und Dalton hat das Sorgerecht für sie. Ich liebe den Kerl, aber ich hasse ihn auch. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»Es ergibt sogar sehr viel Sinn«, versicherte Tala ihm.
Obwohl Graham und Tala ihn immer wieder ermutigten, über alles zu reden, blieb Sam meistens still. Als er zu ihnen gekommen war, war er zu tief in seiner Trauer versunken gewesen, um auch nur ein einziges Wort laut zu äußern, aus Angst, er würde mehr aus sich herauslassen, als er bewältigen konnte. Statt seinem Schmerz herzerbarmend freien Lauf zu lassen, behielt er ihn lieber für sich. In der Anfangszeit war er stets früh am Morgen verschwunden, um die Wälder zu durchstreifen. Niemand hatte ihn gefragt, was er mit seiner Zeit anstellte. Er hatte mitbekommen, wie einige der Kinder Fragen stellten, und als Graham ihnen gesagt hatte, sie sollten ihm etwas Zeit geben, um seinen Verlust verarbeiten zu können, wusste er, dass der andere ihn verstand. Der Schmerz, den Sam ertragen musste, war grenzenlos und höllisch. Einmal – nur einmal – hatte Graham ihn laut dafür bewundert, dass er seine Wut nicht an ihm und seiner kleinen Gruppe von Trägern ausließ. Sam war klar, dass Graham sich selbst schuldig fühlte und nichts mehr wünschte, als etwas gegen die Situation tun zu können.
Manchmal überwältigte Sam der Kummer beinahe, aber draußen zwischen den stoischen Bäumen, den trostlosen Bergen und dem endlosen Schnee hatte er endlich gelernt, zu akzeptieren, was er nicht ändern konnte.
Jetzt, wo er das Virus in sich trug, war ihm keine andere Wahl geblieben, als sich Grahams Gruppe anzuschließen. Wenigstens konnte er noch mit seiner Tochter Addy über das Funkgerät sprechen, und alle paar Tage brachte Dalton sie zum vereinbarten Treffpunkt am Skagit River, wo Sam sie aus sicherer Entfernung über den Fluss hinweg auf der anderen Seite sehen konnte. Irgendwie hatte sich eine Art Normalität eingestellt oder zumindest ein möglicher Umgang angesichts ihrer unmöglichen Situation.
Einige Zeit war ins Land gegangen, bevor Sam sich auf seine neue Lage eingestellt hatte. Jeden Tag zum Abendessen hatten sie seinen Platz eingedeckt, ob er in der Blockhütte war oder nicht. Spätabends war er immer wieder zurückgekehrt und hatte zumindest in der Hütte geschlafen. Allmählich hatte er immer mehr Zeit mit ihnen verbracht und an ihrem Alltag teilgenommen. Und inzwischen war er Teil ihrer Familie.
»Ich habe gehört, dass Addy in letzter Zeit viel Zeit mit Clarisse verbringt«, sagte Tala. »Wir sprechen mindestens einmal in der Woche über Funk. Sie genießt es, Addy im Labor um sich zu haben, wo sie ihr beigebracht hat, wie man verschiedene Substanzen und Gewebe im Mikroskop erkennt. Sie hat sogar einen Laborkittel gefunden, der ihr passt.«
Ein stolzes Lächeln breitete sich auf Sams Gesicht aus. »Dalton hat mir erzählt, dass Addy ihre Zeit lieber mit Clarisse im Labor verbringt als mit den anderen Kids in der Schule. Er hat gesagt, dass du ihr ein paar Tipps gegeben hast, wie sie Addy in höherer Mathematik unterrichten kann?«, fragte Sam.
»So ist es. Ich denke, das ist das Beste, was ihr im Moment passieren kann. Sie ist sehr schüchtern, nach dem, was ich gehört habe. Wenn sie mit den anderen Kindern in der Schule unterrichtet würde, käme sie nicht so schnell voran wie bei Clarisse. Clarisse ist ohnehin eher der Typ Einzelgänger. Es passt also für beide wunderbar.«
»Dalton sagt, dass sich Clarisse immer noch Vorwürfe macht«, sagte Graham. »Sie verlässt die Quarantänestation nur selten und schickt abends die Wache zurück ins Lager. Dann verbringt sie die Nacht allein in ihrem Labor.«
»Was passiert ist, war nicht ihre Schuld. Es war niemandes Schuld. Was passiert ist, ist passiert. Ich bin jetzt ein Träger. Zumindest lebe ich noch«, sagte Sam mit einem Ausdruck, der nach einstudierter Schicksalsergebenheit klang. Dann versuchte er, das Thema zu wechseln. »Also, wir machen das jetzt mit der dreitägigen Jagd? Ich nehme morgen die zwei Turteltäubchen mit?«
»Ja klar, zumindest kommt Marcy für ein paar Tage aus ihrem Trott heraus und kann hier nicht so viel Unfug anstellen. Sie wirkt immer genervter, und sie ist bewaffnet. Das macht mir Sorgen, Mann«, sagte Graham grinsend.
»Gut, ich lasse sie ihre Ausrüstung zusammenstellen«, sagte Sam und erhob sich vom Tisch.
»Und ich mache euch ein paar Essenspakete fertig«, sagte Tala.
Jeden Morgen in diesem trostlosen Leben nach dem Tod standen sie auf und gingen gemeinsam die nie enden wollenden Aufgaben des Tages an, jeder einzelne wie ein Rädchen in einem Getriebe. Sobald ein Rädchen nicht richtig rund lief oder quietschte, nutzten sich die anderen umso schneller ab, und das wiederum barg Gefahren für die ganze Gruppe.
Alltag
Graham legte etwas Feuerholz nach, um die anhaltende Kälte zu vertreiben. Danach sah er ein weiteres Mal nach Ennis und fand ihn aufrecht sitzend und an sein Kopfkissen gelehnt. Er schnitzte an einem dünnen Holzstab, aus dem vielleicht einmal ein guter Pfeil werden mochte. Die Holzspäne fielen achtlos auf die Bettdecke. Ihm fiel auf, wie sehr Ennis am ganzen Körper bis zu den Händen zitterte. Graham hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn mit einer scharfen Klinge am weichen Holz arbeiten zu sehen.
»Ist dir kalt?«, fragte Graham, doch Ennis ignorierte die Frage. Er starrte weiter nach vorn und schlug blind Späne aus dem Holz. Graham legte seine Hand auf Ennis' Schulter, was ihm endlich seine Aufmerksamkeit einbrachte. Zuerst wirkte sein Blick, als sähe er nur einen Fremden, aber nach einem zweiten Blinzeln blitzte ein Funken Erkennen in seinen Augen auf. »Ist dir kalt?«, wiederholte Graham und versuchte, ruhig zu bleiben, um ihn nicht mit der scharfen Klinge in der Hand aufzuschrecken.
Ennis hielt inne und ließ den Pfeil und das Messer auf seinen Schoß sinken, als ob er einen Moment brauchte, um festzustellen, ob er vor Kälte zitterte oder ob der beständige, brennende Schmerz das Zittern verursachte. »Nein«, sagte er langsam mit finsterem Gesicht.
»Möchtest du im Wohnzimmer am Feuer sitzen? Ich helfe dir.«
»Ich würde es schon allein schaffen, aber du kannst mir gern helfen.« Ennis' alte, knorrige Hände klappten vorsichtig das Messer zusammen, wie sie es schon unzählige Male in seinem langen Leben getan hatten. Graham stieß einen stillen, erleichterten Atemzug aus. Er wollte den Stolz des Alten nicht verletzen, indem er ihm sein Messer wegnahm. Er zog die mit Holzspänen übersäte Decke zur Seite und streckte die Arme aus, um Ennis aufzuhelfen.
»Ich muss mal«, sagte Ennis. Also half Graham ihm, langsam schlurfend den Weg zur Toilette zurückzulegen. Nur widerwillig ließ er ihn allein ins Bad und blieb im Flur stehen, nachdem Ennis ihm bedeutet hatte, die Tür zu schließen. Graham ließ ihm seinen Willen. Verdammt, ich will auch nicht, dass mir jemand aufs Klo hilft, wenn ich ein alter Mann bin. Trotzdem wartete Graham nahe der Tür. Dann kam ihm der Gedanke, einen Blick um die Ecke zu werfen, um nachzusehen, ob Ennis das Glas Wasser getrunken hatte, das ihm zuvor gebracht worden war. Das Glas stand voll bis zum Rand auf dem Nachttisch. Oh Mist. Da der alte Mann zitterte und offenbar keinen Schluck trank, begann Graham sich Sorgen zu machen, dass er nicht nur krank, sondern vermutlich auch dehydriert war. Er hat wahrscheinlich eine Blasenentzündung.
Als Graham an der sauberen und glänzenden Küche vorbeikam, bemerkte er, dass Tala bereits unterwegs war. Sicher ist sie im Gewächshaus und kümmert sich um die Setzlinge für den Frühling. Geht sie mir aus dem Weg? Sie liebte es, Zeit im Gewächshaus zu verbringen – das galt für sie alle. Die hoffnungsvollen kleinen Pflänzchen standen auf eine bestimmte Weise dafür, dass am Horizont dieser düsteren Welt endlich Licht zu sehen war. Sie waren ein Meilenstein in ihrem neuen Leben. Wenn nur der verdammte Schnee endlich schmolz, damit sie den neuen Garten einrichten konnten und einen Schritt weiterkamen. Je früher, desto besser. Sie brauchten diesen Erfolg, emotional ebenso wie in ihrem Kampf ums Überleben.
Das Gewächshaus, das sie auf einer ihrer vielen Plündertouren gefunden hatten, stand neuerrichtet zwischen der Blockhütte und dem Zugang zum See – eine willkommene Gabe des Zufalls und ein Vorbote guter Dinge, auf die sie so sehr hofften. Tala war schwer begeistert gewesen, als die Männer mit dem zerlegten Gewächshaus zurückgekommen waren. Seitdem teilte sie ihren Tag zwischen den Aufgaben in der Blockhütte wie dem Saubermachen und dem Essenkochen einerseits, und den Arbeiten mit Erde, Samen und Setzlingen andererseits. Sie hatte mehrere Tage damit verbracht, Stück für Stück das Innere des Häuschens zu säubern und soweit wie möglich keimfrei zu machen. Sobald die Männer eine ausreichend große Fläche vom Schnee befreit hatten, hatten alle mit angepackt und das Gewächshaus wie ein riesiges Puzzle wieder zusammengesetzt.
Jetzt benutzte Tala jeden Behälter, den sie auftreiben konnte, um Setzlinge zu ziehen. Graham seinerseits sammelte in den verlassenen Häusern alte Zeitungen ein, um runde Pflanzgefäße herzustellen, so wie es ihm seine Mutter jeden Frühling in Issaquah beigebracht hatte.
Sie stellten Tische ins Gewächshaus, bestückten sie mit Setzlingen und montierten erbeutete Pflanzenlampen darüber, um trotz des sonnenarmen Winters die Photosynthese und damit das Wachstum anzukurbeln. Tala drohte sehr überzeugend jedem, der nur daran dachte, die aufkeimenden zarten Sprossen zu berühren. Schimmelpilze und Bakterien waren die größte Bedrohung für die jungen Pflanzen und Tala wachte genauso mit Argusaugen über das junge Grün wie über ihre neu gefundene Familie.
Graham musste leise kichern, als ihm einfiel, wie Tala einmal Sheriff ausgeschimpft hatte, weil seine neugierige Nase den Setzlingen zum ersten und einzigen Mal zu nahe gekommen war. Sie hatte finster den Kopf geschüttelt und drohend den Finger auf den geliebten Hund gerichtet. Sheriff hatte, offenbar etwas perplex ob ihrer eigentümlichen Gestik und Mimik, seinen Kopf fragend zur Seite geneigt. Seine großen braunen Augen hatten Graham besorgt angesehen. Hat sie ihren Verstand verloren? Zumindest hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich von den Pflanzen fernzuhalten hatte, und jetzt kam Sheriff nicht einmal mehr in die Nähe der Tische.
Inzwischen nahm niemand mehr die Narben wahr, die Tala in den brutalen Händen ihrer beiden furchtbaren Entführer erlitten hatte. Graham war glücklich gewesen, als er endlich den Gipsverband von ihrem Bein aufschneiden und entfernen konnte, nachdem Clarisse erklärt hatte, der Knochen sei jetzt hinreichend verheilt. Sie machten daraus eine großartige Tradition, die sie Gips-Bruch-Tag nannten, und verwandelten den Akt der Heilung in eine Art Feier. Sie alle brauchten Anlässe zum Feiern, kleine und große. Tala war danach noch eine oder zwei Wochen lang behutsam umhergehumpelt und Graham hatte ihr geholfen, ihre Wadenmuskeln zu trainieren. Bald hatte sie wieder wunderbar allein laufen können. Ihre äußeren Narben waren gut verheilt.
Aber Graham knurrte vor Wut in sich hinein, wenn er an Talas innere Narben dachte. Tatsächlich war alles gerade noch gut ausgegangen, aber Tala weigerte sich standhaft, ihm oder irgendjemand anderem gegenüber zu erkennen zu geben, wie entsetzt und ohnmächtig sie sich gefühlt haben musste. Ohne Daltons und Ricks beherztes Eingreifen wäre Talas Schicksal besiegelt gewesen. Auch Sam trug schwer an der Last seines eigenen Schicksals, selbst wenn er nicht am Virus gestorben und stattdessen zum Träger geworden war. Dass er deswegen von seiner Tochter getrennt leben musste, war kaum zu ertragen.
Grahams Gedanken trugen ihn immer weiter fort. Tala und er waren einander nähergekommen, in gewisser Hinsicht näher, als er und seine Frau sich jemals gewesen waren. Das ergab sich schon allein aufgrund der Erlebnisse und Gefahren, die sie gemeinsam durchgestanden hatten. Dass Tala plötzlich auf Distanz zu ihm ging, verriet ihm, dass sie sich über etwas Sorgen machte; etwas, das über Ennis' sich immer weiter verschlechternden Zustand hinausging. Ihr Schweigen beunruhigte ihn, weil er sie gut genug kannte, um zu dem Schluss kommen zu müssen, dass sie ihm aus irgendeinem Grund etwas verschwieg – etwas Wichtiges.
Ennis drehte den Türknauf und gestikulierte, Graham solle die Tür für ihn aufschieben. Der alte Mann hatte versäumt, sein Hemd in die Hose zu stecken, wie er es normalerweise tat, aber schließlich hatte er in diesen Tagen auch niemanden, den er beeindrucken musste. Je länger der Winter andauerte, umso ungepflegter sahen sie alle aus. Ennis wirkte erschöpft von diesem kleinen Ausflug ins Bad. Er stützte sich auf Grahams Arm.
»Möchtest du am Feuer sitzen?«, fragte Graham erneut. Die knochigen Hände des alten Mannes zitterten weiter, und die eiskalte Luft, die durch die Risse im Holz ins Innere zog, brachte sie alle dazu, immer mindestens zwei Schichten Kleidung übereinander zu tragen.
»Ja, das ist eine prima Idee.« Es war gut, zumindest ein wenig Kraft in seiner heiseren Stimme zu hören. »Wo ist mein Mädchen?«
Froh über dieses erste Zeichen, dass Ennis klar bei sich war, fragte Graham: »Du meinst Macy?«
»Genau, Macy. Wo ist sie?«
»Unterwegs. Keine Sorge, sie ist bald wieder hier.« Graham führte ihn zum Schaukelstuhl, der am Ofen im Wohnzimmer stand. Er half Ennis, sich hinzusetzen, griff nach der Decke, die über der Lehne hing, und legte sie über seinen Schoß. Er schob noch ein Holzscheit nach und stocherte ein wenig in der Glut, dass die Funken im emaillierten, gusseisernen Inneren des Ofens stoben. Nachdem er die Ofentür geschlossen hatte, fragte er Ennis: »Hast du Schmerzen?«
»Nein, nein. Mir geht es gut.«
Graham bezweifelte das stark. In den letzten Wochen war Ennis immer schmaler geworden. Graham wünschte, er hätte ein Mittel, das dem alten Mann half, länger bei ihnen zu bleiben. Vor allem um Macys willen. Sie war Ennis besonders nahegekommen. Oft las sie ihm abends nach dem Essen aus den Büchern vor, die Graham bei seinen Plündertouren fand. Jeden Abend las Macy ein Kapitel vor, und danach war Ennis endlich bettschwer und ließ sich – stets von Graham – ins Bett helfen.
Am frühen Morgen war es immer Sam, der Ennis in seinen Stuhl am Feuer half und ihm seinen Kaffee brachte, bevor er sich an die Arbeit machte. Sie alle hatten Ennis sehr ins Herz geschlossen, und Graham befürchtete, dass sein unvermeidlicher Tod der Gruppe einen schweren Schlag versetzen würde.
Sie sahen beide auf, als Tala durch die Eingangstür trat und sie schnell hinter sich zumachte, um die Wärme in der Hütte zu halten. Ihre Sorgenfalten verschwanden plötzlich, als sie Ennis erblickte, und sie lächelte Graham dankbar zu. Für ihn hatten sich damit alle Gedanken an etwaige Geheimnisse, die sie von ihm fernhielt, erledigt.
»Guten Morgen, Ennis. Wie wäre es mit einem Kaffee?« Tala zog ihre dicke Winterjacke aus, ging zu Ennis und drückte den alten Mann.
»Schon gut. Ihr beiden müsst endlich aufhören, so einen Aufriss um mich zu machen«, sagte Ennis.
»Wir machen keinen Aufriss. Wir versuchen nur, uns anständig um dich zu kümmern. Du würdest das gleiche für uns tun«, sagte Graham.
»Nein, würde ich auf keinen Fall! Ihr macht viel zu viel Ärger, als dass man sich um euch auch noch kümmern sollte«, sagte Ennis neckisch. Er war selbst amüsiert über seine Antwort und lachte laut auf.
Tala lächelte Graham zu und flüsterte: »Wenigstens reißt er immer noch Witze.« Als der alte Mann sie für einen kurzen Moment nicht ansah, schüttelte Graham den Kopf.
»Dein Kaffee kommt in einer Minute«, sagte Tala und hob ihre Stimme ein wenig, damit er sie hören konnte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Um Ennis' Würde zu wahren, gab Graham ihr zu verstehen, sie eine Weile allein zu lassen. Er wollte von Mann zu Mann mit ihm reden.
»Ich könnte jetzt ein Stück Bananenkuchen vertragen«, rief Ennis ihr nach. »Bananenkuchen fehlt mir sehr.« Er hielt seine beiden knorrigen alten Hände vor sich, die zitterten, als er damit ein Rechteck formte.
»Leider werden wir für sehr lange Zeit keine Bananen mehr zu Gesicht bekommen«, sagte Graham. Er befühlte die Stirn des alten Mannes. »Ganz im Ernst, Ennis, du hast Fieber. Und ich denke auch, dass du Schmerzen hast und es nur nicht zeigen willst. Du trinkst auch nichts. Hast du eine Blasenentzündung?«
Der alte Mann schnaubte und sah nach unten. »Wehe, ihr verschwendet Medikamente an mich. Ich bin längst auf dem letzten Weg nach Hause, Graham. Die Kinder und Tala, sie werden die Medikamente später viel dringender brauchen. Es werden keine mehr hergestellt, das hast du sicher schon mitbekommen?«
Das Geständnis schockierte und verärgerte Graham. »Wie lange geht das schon, Ennis? Verdammt, wir können jederzeit mehr Medikamente besorgen. Ja, sie werden nicht mehr hergestellt, aber es gibt sicher noch einige Vorräte in der Nähe. Du kannst dich nicht so für uns opfern. Herrgott noch mal, Ennis.« Er streckte wieder die Hand nach dem Gesicht des alten Mannes aus, aber Ennis versuchte, sie beiseite zu schlagen. »Nein, Ennis, lass das, Mann. Gehst du überhaupt noch auf den Topf? Du weißt, was ich meine.« Er versuchte zu flüstern.
»Nein, kaum. Es schmerzt höllisch«, gab der Alte zu.
»Verdammt, dass muss doch nicht sein! Tala, bring ihm etwas Wasser und das Antibiotikum«, rief er laut und ignorierte Ennis' Proteste, als er aufstand und Tala das Gewünschte abnahm. »Lass ihm bitte Zeit und bleib ruhig, sonst schaltet er komplett auf stur. Wir haben keine Schmerzmittel, und die Antibiotika brauchen ein paar Tage, um zu wirken«, sagte sie leise.
»In dem alten Haus in Cascade, in dem vor dem Ende der Welt ein fast genauso alter Arzt gelebt hat, finden wir bestimmt auch Schmerzmittel«, sagte Graham und reichte dem starrsinnigen alten Mann die beiden Tabletten zusammen mit dem Wasser. »Nimm die und trink einen großen Schluck«, befahl er. Dann erinnerte er sich an Talas Worte. »Bitte.«
Ennis nahm die Medizin, sah zu Graham hoch und sagte stur: »Du bist nicht mein Boss.« Er schüttelte den Kopf, aber schluckte die Tabletten trotzdem. Während er trank, sagte Graham: »Ich bin jetzt dein Boss, und das ist auch gut so. Wir tauschen später, und dann bist du mein Boss.«
Graham drehte sich um, als Macy mit kalten, rosigen Wangen hereinkam. »Tala, ich bin bereit. Ich funke die Prepper an. Soll ich irgendwelche Neuigkeiten übermitteln?«
»Ja, sag ihnen, Sam, Mark und Marcy gehen am Morgen auf unsere letzte Hirschjagd in dieser Saison«, sagte Tala. Graham war dankbar, dass sie Ennis' Zustand nicht erwähnte. Am besten, sie behielten es vorerst für sich.
»In Ordnung«, sagte Macy und verdrehte die Augen. »Ich freue mich schon jetzt, dass sie für ein paar Tage nicht hier herumlungert.« Sie ging in den Schlafraum und setzte sich an den Tisch, auf dem das Funkgerät mit der Verbindung zum Lager der Prepper stand. Die tägliche Kommunikation wurde gerade zu einer ihrer Routineaufgaben. Jeden Morgen kontaktierten sich beide Gruppen, berichteten sich gegenseitig die Lage und tauschten Neuigkeiten aus.
Macy drückte auf den Knopf des Mikrofons. »Hi, Rick, Macy hier«, sagte sie.
»Nein, nein, nein, du machst das völlig falsch«, antwortete Rick.
»Warum muss ich mich unbedingt mit Twin Two melden? Du benutzt nie ein Rufzeichen«, beschwerte sich Macy mit Nachdruck.
»Rick ist mein Rufzeichen. Ich erfinde die Regeln nicht, ich sorge nur dafür, dass sie eingehalten werden«, zog er sie mit dem alten Klischee auf.
»Schön. Hier Twin Two«, sagte Macy mit so viel Sarkasmus in der Stimme, wie sie hineinlegen konnte.
»Viel besser«, sagte Rick. »Was hast du heute Morgen Neues für uns?«
»Alles ist gut. Sam, Mark und Marcy gehen für drei Tage auf die Hirschjagd. Morgen früh fahren sie los«, sagte sie.
»Okay. Klingt nach einem Plan. Wir halten uns ab 0800 vom Nordausgang fern. Hier ist alles ruhig, bis auf das Banjo-Turnier, das wir veranstalten. Außerdem haben wir entdeckt, dass es den Bigfoot wirklich gibt, und wir machen eine Pizza-Party. Entschuldigung, aber ihr seid nicht eingeladen«, sagte er frotzelnd.
Macy biss nicht an. Stattdessen schaffte sie es, ihre Stimme komplett ausdruckslos zu halten. »Ich werde die guten Nachrichten weiterleiten. Macht euch einen spektakulären Tag, Rick. Twin Two out«, sagte sie und wartete Ricks Bye-bye kaum ab, bevor sie auflegte.
Macy fand den Umgang mit Rick oft anstrengend. Warum sie immer noch an einem toten Verfahren festhalten sollten, verstand sie nicht. Sie mochte diesen Begriff, totes Verfahren, und sie benutzte ihn gern, wenn es um die Themen Schule, Politik und Zahnspangen ging. Bei gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung, die noch am Leben waren, lag die Wahrscheinlichkeit bei nahezu null, dass sich jemand in ihren Funkverkehr hineinschaltete. Nichtsdestotrotz gefiel es ihr, eine Aufgabe im Camp zu haben, die wichtig war, und sie hatte sich freiwillig dafür gemeldet. Nachdem das Funkgespräch beendet war, schrieb sie in ihr Logbuch die Zeit und die ausgetauschten Informationen. Das Wortgeplänkel ließ sie weg. Dann ging sie zurück in die Küche, um nach Tala zu sehen.
»Ich übernehme jetzt meine Wachschicht«, sagte Macy, als sie die Küche durchquerte. Sie sah, dass Tala sich mit geschlossenen Augen über die Spüle lehnte und tief atmete. »Geht es dir gut?«, fragte Macy alarmiert.
Tala legte ihr schnell eine Hand auf den Rücken, um Macy aus der Küche zu schieben. »Es geht mir gut. Ich glaube, ich habe nicht genug geschlafen, das ist alles.«
»Ja, ich habe dich heute schon sehr früh gehört. Hast du vielleicht was gegessen, das seine besten Zeiten schon hinter sich hatte?«
»Nein, ich glaube nicht. Mir geht es gut, kümmere dich ruhig um deinen Wachdienst.«
»Okay«, murmelte Macy, machte sich aber immer noch Sorgen. So schwach auf den Beinen hatte sie Tala noch nicht erlebt. Die Krankheit eines jeden von ihnen betraf sie alle. Nach der Pandemie fürchteten sie jede Erkrankung, ob es nun rational war oder nicht. Für den Moment beließ es Macy dabei und ging ihres Weges, aber sie schwor sich, Tala im Auge zu behalten.
Auf dem Weg nach draußen machte Macy Station bei Ennis. Er blickte zu ihr auf, und als sie ihn anlächelte, streckte er die Hand aus und tätschelte ihren Arm, als wollte er sich vergewissern, dass sie tatsächlich existierte. Nach der Anstrengung blieb ihm keine Kraft mehr für Worte. Geistesabwesend wandte er sich wieder der Glut des Ofens zu. Macy zog seine Decke zurecht und nahm ihren Mantel, den Sam mit Wolfsfell gefüttert hatte, damit er sie in diesem langen, kalten Winter warm hielt. Sie steckte ihre Pistole in das Holster und hängte sich ihren Bogen und den Köcher um.
Sie küsste ihn auf die Wange. »Mach's gut, alter Herr.«
Ennis blickte noch einmal nach oben in ihre blauen Augen. »Jawohl. Sei vorsichtig, junges Mädchen. Halte deine Ohren offen, deinen Blick ruhig und vertraue deinen Instinkten. Vertraue immer deinen Instinkten da draußen. Sie werden dein Leben retten.«
»Das mache ich, Ennis.« Sie strich ihm über die Wange und er hielt ihre Hand einen Augenblick zu lange. Sie lächelte ihn an und zog sich zurück.
***
Macy musste blinzeln, damit sich ihre Augen an das grelle Morgenlicht gewöhnten, das vom Schnee reflektiert wurde. Der schnelle Rhythmus von Bangs kleiner Schaufel, mit der er sich einen Weg zum Hühnerstall bahnte, begrüßte sie, als sie auf der Veranda ihre Handschuhe anzog. Graham werkelte unter der Haube ihres treuen 1975er International Harvester Scout (»Am Ende der Woche bis ans Ende der Welt«) im zeitgenössischen Beige und füllte verschiedene Flüssigkeiten nach. Im Gegensatz zu ihrem zweiten Auto, einem Pick-up mit offener Ladefläche, bot der Scout eine geschlossene Bauweise – gerade im Winter ein unschätzbarer Vorteil. »Wir sind dran, Bang«, rief sie. »Wachdienst!«
»Hast du mit drüben telefoniert?«, fragte Graham.
»Ja, Graham. Es ist alles gut.«
»Hat er wieder mit den Kameras angefangen?«
»Nein, ich glaube, das hat er aufgegeben.«
»Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, hat er das Thema nochmal aufgebracht und sich über diese Ungerechtigkeit beklagt. Ich habe ihm gesagt, wenn noch jemand auf der Welt übrig ist, der wahre Ungerechtigkeit erfahren hat, dann ist es Sam. Rick fehlen nicht oft die Worte«, kicherte Graham und ließ die Motorhaube mit einem Scheppern herunterfallen.
»Wie schade. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie uns so lange ausspioniert haben.«
»Nun ja, es hat sich am Ende als eine gute Sache herausgestellt, wenn man bedenkt, was passiert ist.«
»Er besteht immer noch darauf, dass ich mich mit Twin Two melde«, sagte Macy trocken.
Graham lachte laut auf, während Bang zu Macy rannte, bereit, seine Pflicht zu erfüllen.
»Legen sie schon Eier?«, fragte sie.
»Nein, noch nicht. Ich denke, es ist ihnen immer noch zu kalt.«
Macy gab ihm einen der Handwärmer, die Tala genäht und mit Reis gefüllt hatte und die sie gleich zusammen mit dem Frühstück im Ofen erwärmte. Sie legte sie morgens bei der Tür bereit, damit die Hände derjenigen, die einen langen Wachdienst vor sich hatten, zumindest eine Zeit lang warm blieben. Macy steckte einen weiteren Handwärmer in Bangs Tasche und half ihm, seine Jacke zuzumachen.
»Heute bin ich am See dran«, sagte sie lächelnd.
»Ich weiß. Bis nachher«, sagte Bang und hüpfte mit Sheriff im Schlepptau die Einfahrt hinauf. Die Seeseite bot dank der Wildtiere mehr Abwechslung als der Wachdienst an der Einfahrt, die zur Straße hinaufführte.
Macy winkte Graham zu, der zurückwinkte, während sie den Schotterweg zum See hinunterging. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Sie kniff die Augen vor der überwältigenden Helligkeit des grellweißen Sonnenlichts zusammen, das von dem weißen Schnee auf der Lichtung reflektiert wurde. Auf dem Weg zum See und im Schatten der Bäume wurde es deutlich kälter. Rick hatte jetzt eine der Überwachungskameras auf sie gerichtet, obwohl sie vergessen hatte, wo genau sie montiert war. Auf Verdacht winkte sie zum Gruß in Richtung der ungefähren Position. Alles im Namen der Sicherheit, aber Macy fand es noch immer unheimlich, überall beobachtende Augen auf sich zu wissen. Es war gelinde gesagt furchtbar, andauernd und ständig ausspioniert zu werden.
Als sie hörte, wie sich ihre Zwillingsschwester Marcy auf dem Hochsitz bewegte, stellte sie sich auf den wahrscheinlich gleich losbrechenden Streit ein, der in diesen Tagen zum schlechten Standard geworden war.
»Du bist wieder zu spät«, beschuldigte Marcy sie beim Herunterklettern.
»Bin ich nicht. Komm von deinem hohen Ross runter, Marcy. Ich bin gerade erst angekommen.«
»Denkt dran, Mädchen – kein Streit!« Grahams Stimme kam warnend über Funk.
Marcy schob ihrer Schwester das Funkgerät brüsk in die Hand. »Du hast angefangen.«
»Hör auf damit, Marcy. Ich will nicht schon wieder die Mülltonne saubermachen, du etwa?«, flüsterte Macy streng, während sie das Gerät gegen ihren Mantel drückte, damit Graham sie nicht hörte.
Ohne ein weiteres Wort stapfte Marcy den Pfad zur Hütte hinauf, und Macy fragte sich, warum ihre Schwester bei jeder Gelegenheit Streit suchen musste. Sie schnaubte und setzte ihren Stiefel auf die erste Stufe der Leiter, um nach oben zu klettern. Mit dem Fernglas, das immer auf dem Hochsitz blieb, suchte sie die Umgebung ab. Abgesehen von einem kleinen grauen Hirsch, der am westlichen Ufer des zugefrorenen Sees nach einer Stelle zum Trinken suchte, herrschte Einsamkeit. Sie gab Graham, der schon darauf gewartet hatte, ihre Meldung durch. Danach lehnte sie sich zurück und dachte über die problematische Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester nach.
Sie war heilfroh, dass Marcy für ein paar Tage weg sein würde. Macy konnte nicht verstehen, warum ihre Schwester jede Gelegenheit nutzte, um zu sticheln. Im nächsten Monat würden sie beide sechzehn, und Tala hatte angekündigt, einen richtigen Kuchen für sie backen zu wollen – vorausgesetzt, eines der Hühner legte ein Ei. Macy spottete über sich selbst. Letztes Jahr um diese Zeit hatte sie sich von ihren Eltern egoistisch noch ein iPad gewünscht, und nun hoffte sie ganz bescheiden darauf, dass ein Huhn ein Ei legte, damit sie ihren Geburtstag mit einem schlichten Kuchen feiern konnten. Trotz des Weltuntergangs ging das Leben weiter. So viel hatte sich in nur wenigen Monaten verändert.
Eine Träne kullerte über ihre Wange. Sie vermisste Mom und Dad mehr als alles andere. In diesem Moment hätte sie beinahe Marcy für einen von ihnen getauscht. Beinahe.
Das Schnattern der heranfliegenden Gänse war zu hören, bevor Macy sie sehen konnte. Sie kreisten noch ein paar Mal in der Luft und landeten dann auf dem zugefrorenen See. »Ihr Lärmvögel«, sagte sie zu sich selbst. Irgendwie erinnerten sie die Gänse an den SeaTac-Flughafen bei Seattle, wo die Flugzeuge ebenfalls am Himmel ihre Kreise gezogen hatten, bevor sie in den Landeanflug übergegangen waren. Das schien jetzt endlos weit weg zu sein.