Gras drüber - Kathrin Heinrichs - E-Book

Gras drüber E-Book

Kathrin Heinrichs

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  • Herausgeber: Blatt Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

- Zwei Hausmeister, die im Hotel ein Chaos anrichten - vier Frauen, die beim Doppelkopf nicht nur den nächsten Stich planen - ein Klassentreffen, das alles andere als nostalgisch verläuft - ein Zufall, der das Leben verändert (mit dem Glauser- Preis ausgezeichnet) - ein Hund, der eine Beziehung belastet - ein Leichenwagen, der leer ist - ein Priester, der sich fromm gibt - und weitere packende Geschichten

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Seitenzahl: 186

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Gras drüber

Kurzkrimis aus dem Sauerland und anderen Regionen

2024 by Kathrin Heinrichs

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Olaf Warburg

Umschlagfoto: Adelheid Prünte

Druck: cpi books

ISBN 978-3-934327-65-8 eISBN 978-3-934327-66-5

Kathrin Heinrichs

Gras drüber

Kurzkrimis aus dem Sauerland und anderen Regionen

Blatt-Verlag, Menden

Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.

Personen und Handlungen der Geschichten dagegen sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

Gras drüber

Knast oder Keller

Leer

Zelt-Therapie

Die Welt ein Dorf

Mitgenommen

Runter vom Sofa

Freier Fall

Damen-Solo

Dran glauben

Brocken-Blick

Kein bisschen lebendig

Knurrhahn

Mädchen für alles

Gras drunter

Zu den Geschichten

Gras drüber

Es liegt zwar kein Schnee, viel zu warm für die Jahreszeit, aber der Song im Radio macht mich trotzdem sentimental. „Driving home for Christmas“, Chris Rea. Mein Elektro-BMW schnurrt durch die geschwungene Landschaft, an Weihnachtsbaumkulturen vorbei, und plötzlich kommen Erinnerungen hoch. Wie Papa für einen guten Zweck Weihnachtsbäume schlug in seinem winzigen Wäldchen. Wie Conni und ich sie oben am Sportplatz verkauften. Wie wir verfroren nach Hause kamen, um von Mama mit duftendem Christstollen und heißem Kakao empfangen zu werden. Glückliche Kindheit im Sauerland. Meine Tochter Lynn würde sich garantiert nicht für zwei D-Mark die Stunde in die Eiseskälte stellen. Für uns war es toll.

Das ist alles weit weg. Mama ist vor vier Jahren gestorben, Papa hat sie bis zuletzt gepflegt. Meine Schwester Conni wohnt in der Schweiz, ich in Hamburg, aber Papa klagt nie, obwohl er durch Bandscheibenvorfälle eingeschränkt ist. Ich komme zweimal im Jahr in meine alte Heimat, einmal im Sommer, einmal im Dezember, und dann meckert meine Cara auch schon, weil eigentlich etwas anderes ansteht.

Dabei fahre ich inzwischen ganz alleine nach Hause. Ich habe mir abgewöhnt, die Familie ins Auto zu packen, das Genöle bin ich leid. Wenn ich da bin, regle ich ein paar Sachen, die Papa nicht hinkriegt, aber das meiste hat er im Griff. Umso erstaunlicher, dass er diesmal extra nachgefragt hat.

„Du kommst doch am Samstag?“, hat er vorgestern am Telefon gefragt.

„Na klar, zweites Adventswochenende, haben wir doch besprochen. Steht etwas an?“

„Ja. Nein. Vielleicht.“

„Ein technisches Problem?“

Die Technik macht ihm am meisten zu schaffen. Einmal hat er über Wochen die Fernbedienung seines Fernsehers nicht benutzt. „Ist doch nicht schlimm“, meinte er, als ich sie im Sommer instandgesetzt habe, was heißt instandgesetzt. Ich habe die Batterien ausgetauscht. „Es ist gesund, mal aufzustehen und am Apparat das Programm einzustellen.“

So ist mein Vater. Bescheiden. Pragmatisch. Das Gegenteil von bequem.

„Nicht direkt technisch“, hat mein Vater am Telefon gemurmelt und dabei zum ersten Mal ein bisschen verzweifelt gewirkt. „Aber so ähnlich.“

„Ich kümmere mich“, hab ich gesagt, „am Samstagmittag bin ich bei dir.“

Cara hat natürlich geunkt. „Wetten, das Klo ist verstopft. Und bis es wieder heil ist, geht er in den Garten.“

Cara ist ungerecht, wenn es um meine Familie geht. Als sie noch mit ins Sauerland fuhr, hat sie darauf bestanden, im Hotel zu übernachten.

Mir war das peinlich. Ist mein Elternhaus nicht gut genug für uns?

Ich finde, ich kann dankbar sein, dass mein Vater nichts von mir erwartet. Er kocht jeden Tag und hat soziale Kontakte. Mit seinen Nachbarn Ortwin und Friedhelm hat er bis vor kurzem jeden Freitag Karten gespielt. Friedhelm allerdings ist vor ein paar Wochen gestorben, vielleicht setzt ihm das zu.

Äußerlich ist alles tipptopp, als ich in die Einfahrt einbiege. Der Bürgersteig gefegt, die beiden Mülltonnen akkurat nebeneinandergestellt, der kleine Corsa meines Vaters, mit dem er nur noch zum Supermarkt fährt, unter dem Carport. Dahinter stelle ich meinen Flüster-SUV ab und bitte Siri, eine Nachricht an Cara zu schreiben, dass ich gut angekommen bin. Cara antwortet gleich: „Vergiss im Sauerland die guten Vorsätze nicht!“

Cara macht gerade ein Coaching. Jeden Tag Sport, Meditation und schlaue Sprüche zum Finden der Balance. All das reicht sie an mich weiter, ob ich will oder nicht. Das geht mir ziemlich auf den Geist.

„Ja klar“, diktiere ich Siri. „Aber das Sauerland ist ja sowieso für Ruhe und Frieden bekannt.“

Noch bevor ich klingeln kann, öffnet mein Vater die Haustür, so kenne ich ihn nicht.

„Stephan“, er zieht mich ins Haus. „Du bist doch alleine gekommen?“

Und dann steht da auch noch Ortwin im Flur, Papas bester Kumpel. Was ist hier los?

„Junge“, Ortwin klopft mir auf die Schulter, was ihm nicht leichtfällt. Ortwin ist klein.

„Ortwin“, ich möchte zurückklopfen, aber ich fürchte, das Persönchen bricht dann zusammen.

„Also dann“, sagt mein Vater, „das Problem liegt im Keller.“

Mein Vater ist wackliger auf den Beinen als beim letzten Besuch. Während ich hinter ihm die Kellertreppe hinabsteige, gehe ich in Gedanken die Worst Cases durch. Wasserrohrbruch? … Oder doch ein Problem mit der Toilette und die Fäkalien sammeln sich unten? … Oder geht es um Nager? Sehen mich gleich ein paar Rattenaugen an? Was auch immer. Gut, dass Cara nicht hier ist.

Ich werde in den hintersten Raum des Kellers geführt, wo nur Krimskrams herumsteht. Der Apfelpflücker, das ausrangierte Aquarium, die Kettensäge.

„Und?“, frage ich.

Es ist Ortwin, der es ausspricht. „Wir haben eine Leiche im Keller.“ Und dann zeigt er zum Einnetzer hin. Das Einnetzgerät ist ein Teil meiner Kindheit. Damit haben Conni und ich damals die Weihnachtsbäume verpackt. Und tatsächlich steckt auch jetzt ein eingenetzter Baum in der Trommel. Äh – Moment, ist das wirklich ein Baum?

„Was ist das?“, stammele ich – und weiß schon, dass ich anders fragen müsste. Nicht was, sondern wer.

„Der Neffe von Friedhelm“, sagt mein Vater verlegen. „Er ist die Treppe hinuntergestürzt.“

Das ist völlig verrückt, sowas passiert einfach nicht. Wenn einer die Treppe hinunterstürzt, liegt er verkrümmt am Fuße der Treppe, der Notarzt kommt, dann die Polizei, und das Ganze nimmt seinen tragischen Gang.

Und plötzlich wird mir klar, dass die beiden alten Männer mich veräppeln. Dass irgendwo eine versteckte Kamera läuft, deren Aufnahme für den nächsten runden Geburtstag gedacht ist. Energisch trete ich zum Baumtrichter hin und versuche das Netz aufzureißen. Hinter mir höre ich einen Aufschrei, als ich sehe, was ich plötzlich in den Händen halte: ein Büschel Haare.

Tragischerweise summt plötzlich mein Handy. In einer Art Schockzustand schaue ich drauf. Cara natürlich. „Wie läuft es? Hast du schon nette Bekanntschaften gemacht?“

Ich schaue auf die Haare in meiner Rechten. „Und wie“, raune ich. „Und mit Ruhe und Frieden läuft’s auch.“

Sie haben mich aufs Sofa verfrachtet und mir Schnaps eingeflößt. Tatsächlich geht es mir nach zwei Obstbränden besser.

Sie können überhaupt nichts dafür, sagen die beiden alten Männer, der Neffe ist die Kellertreppe hinuntergestürzt, ein tragischer Unfall, irgendwie.

„Warum habt ihr dann die Polizei nicht gerufen?“

„Ich wusste, dass er das fragt“, wendet sich Ortwin vorwurfsvoll an meinen Vater.

„Weil ich normal bin! Jeder normale Mensch ruft die Polizei, wenn ein tragischer Unfall passiert.“

Ortwin guckt ein wenig beleidigt. Mein Vater hebt hilflos die Arme. „Es ist ein bisschen komplizierter. Irgendwie.“

Dieses Irgendwie an allen möglichen Stellen. Haben die beiden Alten tatsächlich einen Menschen umgebracht?

„Habt ihr einen Menschen umgebracht?“, frage ich nach.

„Nein!“, kommt es von beiden wie aus der Pistole geschossen. Und dann fangen sie an zu erzählen.

Dass dieser Kerl – sie sagen es mit Abscheu – ein brutaler Grobian sei. Nie habe er sich um Friedhelm gekümmert, aber jetzt, da sein Onkel tot sei, wolle er ans Erbe. Obwohl Friedhelm das doch Ana geben wollte, die ihn gepflegt hat.

„Wo ist diese Anna?“, erkundige ich mich.

„Ana“, verbessern mich die beiden Herren im Chor. „Sie kommt aus Mazedonien“, erklärt Ortwin bemüht. „Über zwei Jahre hat sie Friedhelm wie ein Engel gepflegt.“

Ana scheint eine Heilige zu sein, so wie die beiden über sie sprechen. Davor war ein Drache am Werk, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Drache, der sich über Nacht aus dem Staub gemacht hat, Ignatia, oder so ähnlich.

„Okay“, halte ich fest, „wo ist Ana jetzt?“

„Sie hat sich eine Weile zurückgezogen“, sagt mein Vater verschwommen. Das klingt wieder verdammt nach Irgendwie.

„Wir mussten befürchten, dass dieser Kerl sich an ihr vergreift“, erläutert jetzt Ortwin. „Zweimal ist es fast zum Äußersten gekommen. Da konnte sich Ana gerade noch retten.“

„Wir brauchten eine Lösung“, sagt mein Vater lapidar. Und dann überfällt mich plötzlich Panik. Ich stecke hier in etwas drin. Meine Spuren sind im Keller und an der Leiche.

„Wir müssen die Polizei rufen!“

„Wo denkst du hin?“, mein Vater schüttelt unwillig den Kopf. Für einen Moment bin ich der kleine Junge, der nach Schokolade fragt, obwohl es in zehn Minuten Mittagessen gibt. „Du weißt doch, wie es auf dem Land ist. Die Polizei braucht vierzig Minuten.“

„Ja und?“, frage ich. „Wie lange steckt dieser Kerl schon in diesem Netz?“

„Vier Tage“, pariert Ortwin. „Aber keine Sorge, da unten ist es kühl.“

Ich sinke zurück auf mein Sofa.

„Vermisst den denn niemand?“, kommt es mir in den Sinn.

„Nee!!“ Synchrones Kopfschütteln, wieder sind sich beide Oldies einig. „Keine Familie. Der ist ein Krimineller, hat schon Friedhelm gesagt. Organisiert den Nachschub für ein paar Frankfurter Bordelle.“

Das wird immer verrückter. Ein Zuhälter aus Frankfurt, der als Kanonenladung in unserem Einnetzer steckt! Den man aber leider nicht auf den Mond schießen kann! Ich wollte einen entspannten Heimaturlaub machen!

„Deshalb haben wir auch sein Auto auf einem Frankfurter Wanderparkplatz geparkt“, erklärt Ortwin wie selbstverständlich.

„Ihr habt was?“, raste ich aus.

„Ist doch kein Problem“, mein Vater hebt beruhigend die Hände. „Wir sind mit dem Deutschlandticket zurück.“

Ortwin reicht mir erneut einen Schnaps.

„Warum ich dich angerufen habe“, erklärt nun mein Vater, als würden wir über einen neuen Telefonanbieter sprechen. „Das Einnetzen ist über unsere Kräfte gegangen. Wir kriegen ihn nicht aus dem Keller. Zumindest nicht am Stück.“

Mir dreht sich der Magen um, weil mir die Kettensäge plötzlich in den Sinn kommt. Vielleicht sage ich deshalb: „Ja klar.“

Mein Vater scheint ermutigt durch meinen Kommentar. „Wir wissen auch schon, wo er hinsoll. Die Landjugend sammelt nach Weihnachten immer die Tannenbäume fürs Osterfeuer ein.“

Die Welt um mich herum fängt an sich zu drehen. Ich versuche in Ohnmacht zu fallen, aber es klappt leider nicht.

„Ihr wollt ihn nicht ernsthaft aufs Osterfeuer packen? Packen lassen! Von Jugendlichen?“

„Nein“, wieder gemeinschaftliche Entrüstung ob meines bescheidenen Verstands.

„Wir haben gedacht, dass du ihn dort unterpacken könntest“, erklärt mir mein Vater. „Einen Haufen Strauchgut gibt es da schon. Die Bäume von der Landjugend kommen dann nach Weihnachten dazu.“

„Hä?“, ich werde energisch. „Wir haben den 12. Dezember. Die Leiche soll bis Ostern dort liegen? Wie stellt ihr euch das vor? Dort gehen Hundebesitzer spazieren, jeder Köter schnüffelt da rum. Ach, was sag ich, jeder Spaziergänger merkt das. Eure Einnetzaktion nützt da gar nichts – es wird bestialisch stinken.“

Ortwin sieht meinen Vater achselzuckend an. „Eigentlich schön, dass der Junge mitdenkt. Wie damals, als du mit ihm das Baumhaus gebaut hast.“

Dann summt es in meiner Tasche. Eine Nachricht von Cara natürlich. „Du denkst doch dran, dass wir bis Weihnachten keinen Alkohol trinken?“

Ich halte Ortwin mein Schnapsgläschen hin. Wortlos schenkt er mir ein.

Als Knuffi, der Hamster meiner Tochter, letztes Jahr starb, hat das Ausheben seines Grabes fünf Minuten gedauert. Das ist diesmal anders. Ich bin vollkommen erschöpft, als ich das Werk als vollendet betrachte, jetzt erstmal ausruhen. Ich sinke auf den Boden, strecke mich aus, versuche Arme und Beine wieder zu spüren. Ein Moment von Ruhe und Frieden überkommt mich. Jetzt einschlafen und nie mehr erwachen! Das ist der Moment, da es in meiner Hosentasche surrt. Cara schreibt: „Hast du an deine Sporteinheit gedacht?“

„Nee, ganz vergessen“, diktiere ich Siri, „ich setze heute aus. Ich liege grad so gemütlich.“

Cara versucht sofort, mich telefonisch zu erreichen, ich gehe nicht dran, finde aber genug Energie, mich aufzuraffen und die drei Herren in meinem Auto zu stören.

Ich klopfe an die Scheibe, keiner reagiert. Okay, einer ist tot, der ist entschuldigt, aber Ortwin und mein Vater könnten durchaus etwas mehr Begeisterung zeigen, jetzt, da ich allein das Grab ausgehoben habe. Ich muss nochmal klopfen, bevor sie erwachen, sie haben es sich in meinem Auto gemütlich gemacht.

Am Ende helfen sie sogar mit, den Eingenetzten in die Grube zu ziehen. Zwei Meter tief, das war mein Anspruch. Das Zukippen ist schnell gemacht, allerdings nehme ich mir ausreichend Zeit fürs Verdichten. Ich will nicht, dass hier innerhalb kurzer Zeit eine Senke entsteht.

Ortwin und mein Vater sind zufrieden. Sie wollten eigentlich nicht, dass Friedhelms Neffe in unserem eigenen Wäldchen verschwindet, sie wollten ihn auf der ungenutzten Wiese am Ende des Dorfes unterbringen: „Gras drüber, fertig!“

Das habe ich abgelehnt. Ich möchte nicht, dass der Neffe wieder auftaucht, wenn dort ein Baugebiet entsteht. Als Kompromiss haben Ortwin und mein Vater den letztendlichen Liegeplatz bestimmt – zu meinem Leidwesen ganz am Ende des Waldstücks, das man mit dem Auto nur schwerlich erreicht.

„Und warum nun gerade hier?“, will ich wissen, als wir selig ums Grab herumstehen.

Da hebt mein Vater seinen Blick. „Naja, wär nicht schön gewesen, wenn bei den Buddelarbeiten Ignatia wieder ans Licht gekommen wär.“

Ich fahre jetzt öfter nach Hause. Mindestens einmal im Monat, ich fühle mich hier total in meiner Balance. Dann checke ich die Gräber, kümmere mich um dies und das und wir spielen Karten.

Nebenan in Friedhelms Haus wohnt jetzt Ana. Sie ist wirklich ein Engel.

Letztens habe ich mit meinem Vater den hinteren Keller aufgeräumt. Er wollte alles loswerden: Apfelpflücker, Kettensäge und sogar das Einnetzgerät. Ich war kurz davor alles rauszuschmeißen, aber dann habe ich die Sachen doch stehenlassen. Wer weiß, ob ich sie nicht vielleicht doch nochmal brauche. Cara geht mir mit ihren Coaching-Tipps im Moment tierisch auf den Geist.

Knast oder Keller

Irgendwann hat mein Therapeut mich gefragt, was „dieses Hönnetal“ für mich bedeutet.

Ich weiß, was andere Leute denken, wenn sie Hönnetal hören. Liebliches Tal. Sagenumwobene Landschaft. Hönne-Idyll.

„Abgründe“, habe ich assoziiert. „Grenzerfahrungen. Außen lieblich. Innen kalter Stein.“

Mein Therapeut hat mich angeblickt und verhalten genickt.

„Wollen Sie darüber sprechen?“, hat er gefragt.

Daraufhin habe dann ich verhalten genickt.

Im Hönnetal habe ich meine halbe Kindheit verbracht. In Neuenrade zu wohnen, ist auch verkehrstechnisch eine Art Schicksal.

Neun Jahre mit der Bahn zur Schule nach Menden.

Für mich hieß das: Neun Jahre mit Ansgar zur Schule nach Menden.

Ansgar stieg in Balve zu. Und brauchte dann einen Platz. Wenn ich ihm keinen freigehalten hatte, nahm er einfach meinen. Eigentlich nahm er immer meinen, auch wenn ich ihm einen freigehalten hatte.

Ansgar war Handballer mit neunzig Kilo, Ansgar hatte unbändig Kraft, Ansgar hatte aber vor allem Autorität. Ansgar war mein tägliches Schicksal.

Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was es bedeutet, Zugfahrer zu sein. Jeden Morgen in aller Frühe aufstehen, dann quer durch Neuenrade zum Bahnhof, dort in den Zug und in Menden nochmal den Berg rauf zum HGG. Heilig-Geist-Gymnasium. Gab’s damals noch.

Aber es geht mir um den Zug. Im Zug herrschte das Recht des Stärkeren. Der Stärkere war Ansgar. Neun Jahre ging das so.

„Ich glaube, Martin will heute in den Keller“, sagte Ansgar oft schon am Bahnhof Sanssouci. In den Keller hieß: in den Fußraum, unter die Sitze. Wenn der Schaffner kam, alle die Beine drüber, Jürgen und Lutz machten mit. Ansgar war ein Leader.

Manchmal sagte Ansgar auch: „Ich glaube, Martin will heute in den Knast.“

Das war unangenehm, weil es dann nämlich rauf in die Gepäckablage ging. Mit mir war das möglich, ich wog ja praktisch nichts. Und dann lag ich da oben wie ein eingeklemmter Hering und guckte durch die Stäbe nach unten, ein bisschen wie im Knast. Knast aber auch, weil man da alleine nicht rauskam.

In den Knast kam ich nur, wenn kein Schaffner da war. Für die Gepäckablage gab‘s Ärger, den wollte Ansgar nicht.

Nur wenn Ansgar Hauaufgaben brauchte, wurde ich verschont. Und die brauchte er häufig, Ansgar konnte nämlich nichts.

„Mathe und Englisch“, sagte Ansgar oft schon beim Reinkommen, und dann musste ich liefern. Das war kein Problem, ich habe die Hausaufgaben sowieso immer gemacht. Doof wurde es, als Ansgar nicht mehr selbst abschreiben wollte. Er sagte dann beim Reinkommen zwar „Mathe und Englisch“, aber fortan war ich derjenige, der alles in sein Heft eintragen musste.

Als ich mal Französisch für ihn abgeschrieben habe, das war in der Zwölf, hat er sich sein Heft angeschaut und gesagt: „Totales Buchstabenchaos, wie soll ich das lesen? Das hier zum Beispiel: heureux?“

„Das heißt glücklich“, habe ich gesagt. „Man spricht es Örö.“

„Örö“, hat Ansgar mich nachgeäfft, „klingt ja voll schwul.“

In Ansgars Welt war sowas ein Witz, deshalb haben Lutz und Jürgen gelacht. Also hat Ansgar weitergemacht.

„Örö ist Oberrödinghausen“, hat er gesagt, „warum schreibst du mir Oberrödinghausen ins Heft?“

Ich wollte erklären, dass es Örö heißt, nicht Orö, aber das hab ich mir geklemmt, es gab auch so noch Ärger genug.

Und zwar, als Hossmann, unser Französischpauker, das mit dem Abschreiben merkte. Er hat beim Hausaufgabenkontrollieren unsere Hefte verglichen.

„Dieselbe Schrift“, hat er dann zu Ansgar gemeint, „das hat wohl Martin für dich erledigt. Beide Samstage nachsitzen und ich rufe deine Eltern heute Nachmittag an.“

Die Rückfahrt war schrecklich. Ansgar hat mich in Klusenstein aus dem Zug rausgezogen. Er fühlte sich vor dem Französisch-Kurs blamiert. Und er wollte nicht nach Hause, das konnte ich sogar ein bisschen verstehen. Sein Vater war Fabrikant und ein echter Tyrann. Ansgar sollte die Firma übernehmen, es standen Erwartungen im Raum.

„Ich muss nach Hause“, habe ich gebettelt, als Ansgar mich aus dem Zug gezerrt hat. Ich sehe noch heute Lutz‘ und Jürgens Köpfe am Fenster. Sie wirkten erschrocken, sie wussten nicht, was Ansgar mit mir vorhat. Aber sie hatten eine Ahnung, dass das zu arg werden könnte.

„Ich kann doch nichts dafür“, habe ich gekeucht, während mein Kopf unter Ansgars Arm festgeklemmt war.

„Natürlich kannst du dafür“, hat Ansgar gebrüllt und mich runter zur Hönne geschleift. „Du hast die Schrift nicht gut genug gefälscht.“

Was dann kam, hat mein Leben verändert.

Ich habe das überlebt. Ich habe das knapp überlebt. Dabei hat Ansgar mich länger als eine Minute unter Wasser gehalten, mehrfach hintereinander.

Ich habe Todesangst gehabt. Und dieses existentielle Gefühl hat mich nie mehr verlassen. Manchmal ist es plötzlich da. Ausgelöst durch einen Trigger. Eine abfahrende Bahn. Das Plätschern eines Flusses. Sogar Vogelgezwitscher.

Liebliche Geräusche. Wie das Hönnetal selbst. Aber Geräusche, die in meinem Kopf etwas auslösen können. Auch heute noch, nach Jahren der Therapie.

Als ich da lag, am Ufer, im Grunde halbtot, hat Ansgar sich noch einmal zu mir heruntergebeugt. „Kannst ja den nächsten Zug nehmen“, hat er gezischt und mir einen letzten Tritt in die Seite gegeben. „Und halt gefälligst dein Maul! Sonst ist Klusenstein beim nächsten Mal das Letzte, was du siehst.“

Stunden später habe ich zu Hause eine Menge Ärger gekriegt, weil meine Kleidung ganz nass war. Gesagt habe ich nichts.

Anschließend war ich vier Wochen krank. Erkältung. Bronchitis. Lungenentzündung. In dieser Zeit ist Ansgar achtzehn geworden und hat von seinen Eltern ein Auto gekriegt. Danach ist er nicht mehr mit dem Zug zur Schule gefahren, das hat meine Lage entspannt. Hausaufgaben abschreiben nur noch in der Schule, und da waren viele Leute drumrum.

Sein Abitur hat Ansgar am Ende leidlich bestanden, vor allem wegen Handball, aber auch, weil er in der Matheklausur von mir abgeschrieben hat.

Nach der Abifeier hat Ansgar mich kurz beiseitegenommen. „Es ist vorbei“, hat er gesagt und höhnisch gegrinst, „bist du jetzt glücklich?“

„Oh ja“, habe ich gesagt. „Je suis heureux.“

Das ist jetzt dreißig Jahre her. Jeder von uns hat sein Leben gelebt. Meine alte Heimat habe ich praktisch nie mehr besucht, da meine Eltern kurz nach meinem Abi umgezogen sind. Und Sehnsucht nach meiner Stufe hatte ich nicht.

Das Hönnetal hat nur in meinen Therapiesitzungen eine Rolle gespielt. Und in meinen Träumen.

Aber dann trudelte diese Einladung zum dreißigjährigen Abitreffen ein und kurz vor dem Termin eine Nachricht von Ansgar. Sie alle hatten meine Kontaktdaten im Internet entdeckt, ich war Mathedozent an der Uni Braunschweig.

„Du kommst doch?“, hatte Ansgar geschrieben. „Alte Erinnerungen aufleben lassen? Ich habe mir überlegt, mit dem Zug nach Menden zu fahren – und nachts mit dem Taxi zurück. Bist du dabei?“

„Was ist mit Jürgen und Lutz?“, habe ich gefragt.

„Jürgen hat Prostatakrebs und ist dann zur Reha. Lutz besucht seinen Sohn, der in Harvard studiert.“

Ich ließ das auf mich wirken. Bei jedem fand das Leben sehr unterschiedlich statt.

Exakt neun Minuten nahm ich mir Zeit für eine Antwort. Eine Minute für jedes Jahr. Die Überlegungen meines Therapeuten gingen mir durch den Kopf. „Vielleicht sollten Sie noch einmal hin“, hatte er angeregt, „Konfrontationstherapie. Mal schauen, was dieses Hönnetal mit Ihnen macht.“

Konfrontationstherapie … damals konnte ich nicht viel damit anfangen.

Aber jetzt schien die Gelegenheit da. Vielleicht war es ein Zeichen. Nur Ansgar und ich.

„Ich bin dabei“, habe ich schließlich geschrieben. „Um 18.05 Uhr steige ich in Neuenrade ein, ich halte dir einen Platz frei.“

Ich teste meine Gefühle, als ich ihn am Bahnsteig stehen sehe. Wie erwartet krampft sich in mir etwas zusammen. Ich atme tief ein, versuche gegen die Panik anzugehen. Ich bin nicht mehr der Hänfling, der ich war.

Als er ins Abteil kommt, registriere ich, wie feist er doch ist. Kein Handballspieler mehr, nur noch waberndes Fett. Ich habe auch zugelegt, allerdings Muskeln. Ich wollte nie wieder im Leben der Schwächere sein. Schon im ersten Semester habe ich beim Unisport gepumpt. Heute bin ich ein durchtrainierter Fastfünfziger. Dumm nur, dass ich mein Selbstbewusstsein nicht auf dieselbe Art aufpumpen konnte.

„Hey, Martin, gut siehst du aus.“ Er boxt mir gegen den Arm. Revierschlag. Bild dir bloß nicht ein, es hätte sich etwas geändert.

„Du auch.“ Ich boxe ihm ebenfalls gegen den Arm, aber doppelt so fest.

„Autsch“, der Schwabbel hält sich die Schulter, „bist du verrückt?“

„Nö, nur erwachsen.“

Ansgar mustert mich skeptisch, während er sich mir gegenüber auf dem Sitz niederlässt. Der Zug ist völlig leer. Samstagabends ist die Hönnetalbahn nicht das Fortbewegungsmittel Nummer eins.

Mein Kumpel trägt ein Polo-Shirt, das mit Aufnähern voll ist. Hat bestimmt zweihundert Euro gekostet, trotzdem sieht er darin wie eine bekloppte Litfasssäule aus.

Grinsend blickt er nach oben. „Weißt du noch, damals – Keller oder Knast?“

Ich folge seinem Blick. Die Gepäckablage sieht anders aus als früher. Der ganze Zug sieht anders aus als früher.

„Ja, ich erinnere mich.“

„Das waren unbeschwerte Zeiten, heute spielt die Welt ja verrückt.“

Ich lasse das so stehen, er meint es wirklich ernst.

„Und bei dir läuft‘s?“, stellt er keine Frage.

„Läuft“, sage ich, auch wenn das klingt wie bei meinen Studenten.