Grau ist bunt - Henning Scherf - E-Book

Grau ist bunt E-Book

Henning Scherf

4,8

Beschreibung

Wie wollen wir im Alter leben? Henning Scherf hat sein eigenes Bild vom Alter und Älterwerden entwickelt. Und eine alternative Lebensform, die er selber in seiner Alters-WG praktiziert. Seine Einsichten machen nicht nur Mut, sondern regen die eigene Fantasie an. "Henning Scherf beweist, was 'Alte', was Rentner, können, wenn sie wollen." Berliner Morgenpost

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Henning Scherfmit Uta von Schrenk

Grau ist bunt

Was im Alter möglich ist

Neuausgabe 2018

Titel der Originalausgabe: Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006, 2011, 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design

Umschlagmotiv: @ tristan vankann/fotoetage

Satz: Barbara Herrmann, Freiburg

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN E-Book 978-3-451-81451-8

ISBN Print 978-3-451-03149-6

Inhalt

Vorwort zur Erstausgabe

Editorial zur Neuausgabe

1. Familie

2. Freiheiten

3. Notwendigkeiten

4. Loslassen

5. Aktivitäten

6. Gemeinsamkeit

7. Hilfe brauchen

8. Abschied nehmen

Nachwort

Literatur

Vorwort zur Erstausgabe

Nun bin ich schon ein Jahr aus aller Berufstätigkeit heraus und werde täglich gefragt: Wie geht es denn? Wie bewältigen Sie die neue Freiheit? Wie ist Ihr Alltag strukturiert? Hilft Ihnen Ihre WG, Ihre Hausgemeinschaft? Was ist verloren gegangen? Was ist weniger geworden?

Jede Woche werde ich zu Kirchengemeinden, Seniorenvertretungen, Kommunalverbänden und anderen Gruppen eingeladen, um diese Fragen zu beantworten. Mein Altersleben gilt als positives Beispiel. Immer mehr Menschen in meinem Alter wollen ihren Lebensabend nicht so verbringen, wie es ihre eigenen Eltern getan haben. Sie fragen nach Alternativen, suchen Modelle, wollen ausprobieren, ob es nicht auch anders gehen kann. Leider wird das Alter überwiegend als Angst- und Panikthema vermittelt. Doch mit diesem Endzeitjammer über die alternde Republik, mit diesen Schreckensbildern von Massen an pflegebedürftigen Greisen, die mit ihren Rollstühlen uns alle in Bedrängnis bringen, muss Schluss sein! Ich möchte gerne über die Chancen reden, die ein Leben nach der Berufstätigkeit eröffnet. Ich möchte darüber reden, was alles im Alter möglich ist. Ich möchte Menschen Mut machen und sie hinterm Ofen hervorlocken.

Es ist ein großes Geschenk, dass viele von uns – anders als unsere Eltern und Großeltern – alt werden und nach der Berufstätigkeit ein neues Leben beginnen dürfen. Ich freue mich auf jeden neuen Tag.

Editorial zur Neuausgabe

Inzwischen sind einige Jahre vergangen, und Henning Scherf hatte reichlich Gelegenheit, seine eigenen Rezepte für ein gelungenes Altern auszuprobieren: Aktiv zu bleiben, inmitten seiner Enkel, seiner Familie, Freunde und »Mitbewohner«. Sich nicht abzukapseln von der Gesellschaft, sondern sich weiter für das einzusetzen, was ihm am Herzen liegt. Und auch die Beschränkungen des Alters annehmen zu lernen und ihnen vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen zu können.

Der Verlag Herder gratuliert Herrn Scherf mit einer Neuausgabe dieses Buches herzlich zu seinem 80. Geburtstag. Denn ähnlich wie kluge Menschen werden auch kluge Worte niemals wirklich alt.

1. Familie

Dem Elend des Alters bin ich in Miami Beach begegnet. Auf einer meiner Reisen nach Nicaragua, Ende der achtziger Jahre, musste ich dort übernachten, weil erst am nächsten Tag wieder ein Flugzeug nach Managua ging. Ich wollte nicht im Flughafenhotel bleiben und fuhr in die Stadt. Was ich zu sehen bekam, war – ergraut. Alte Menschen, die am Strand lagen und auf den Abend warteten. Alte Menschen in den Shopping-Malls. Und Alte an den Highways, die auf Campingstühlen saßen und nichts weiter taten, als den vorüberfahrenden Autos hinterherzustarren, Stunde um Stunde, bis zur nächsten Mahlzeit.

In einem der Restaurants am Strand, in dem ich zu Abend aß, saßen ein paar alte Damen am Nachbartisch. Sie sprachen deutsch miteinander, und nach einer Weile stellte ich mich vor. Mit welcher Begeisterung sie mich aufnahmen – endlich jemand Neues, mit dem sie in ihrer Muttersprache reden konnten! Es waren deutsche Jüdinnen, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren, sich durchgebissen hatten, in den Dreißiger-Jahre-Nöten der Vereinigten Staaten. Frauen, die einige Male so weit waren, nach Deutschland zurückzugehen, obwohl dort die Gaskammern waren. Die es dann doch nicht taten, sich in New York und in anderen Großstädten der Ostküste einrichteten, alt wurden, ihre Männer überlebten. Und die dann ihr gesamtes Geld investierten und sich in eines dieser unzähligen Rent-Hotels im Süden Floridas einkauften, sich endlich den erträumten Lebensabend im Süden gönnten. Wohnen im Hotel, Essen in der Lobby. Doch der Traum von Sonne, Strand und Meer erwies sich als tückisch. Tag für Tag am Licht – das macht die alte, empfindlich gewordene Haut nicht ewig mit. Tag für Tag in der Hotellobby – bald kennt man jedes Gesicht, jede Geschichte. Und dann, am Ende eines langen Lebens – Tag für Tag am Highway.

Diese Menschen in Miami Beach waren fit, konnten sich selbst versorgen, sie brauchten keine Pflege. Und dennoch führten sie in meinen Augen ein bedauernswertes Leben, ohne eine Struktur, ohne eine Rolle, die ihnen zugedacht war. Ein Leben, bei dem sie sich nicht einbringen, nicht ihre Geschichte erzählen, sich nicht verbünden konnten. Auf den ersten Blick erscheint dieser desolate Alltag der Alten in Miami wie ein Widerspruch. Im reichsten Land der Welt, in dem jeder sich selbst verwirklichen kann. In einer multikulturellen Gesellschaft, offen für jedermann. Und dann doch: einsam und allein zwischen Millionen. Früher habe ich die USA für das menschenfreundliche Gesicht des Kapitalismus gehalten. Heute denke ich, dass wir in »Old Europe« mit dem Schatz einer jahrhundertealten Kultur gewachsener Nachbarschaftsstrukturen der zusammengewürfelten amerikanischen Gesellschaft etwas voraushaben.

Diese Art von Lebensabend – Kommt nach Miami, hier werdet ihr entsorgt! – ist schrill, grotesk. In Miami wurde mir klar: Es verläuft ein dramatischer Riss durch die USamerikanische Gesellschaft, es gibt eine Segregation zwischen Alt und Jung. Eine Spaltung zwischen denen, die noch in der Mühle der Arbeit sind, und denen, die nicht mehr gebraucht werden. In diesen südstaatlichen Altenghettos schafft sich die Zivilgesellschaft ab, wird die Menschenwürde entsorgt.

Miami ist nicht Bremen, die Vereinigten Staaten sind nicht Europa. Noch leben wir hier stärker vernetzt. Und doch zeigt der Blick in unsere Ballungszentren: Auch hier droht die Segregation, die Spaltung der Gesellschaft, die Vereinzelung und die Auflösung von familiären und nachbarschaftlichen Bindungen. Auch hier kommt es vor, dass Tote erst nach Wochen gefunden werden, wenn der Verwesungsgeruch ins Treppenhaus steigt. Diesen Entwicklungen müssen wir entgegenwirken: Trostlosigkeit und Vereinsamung im Alter lassen sich nur vermeiden, wenn Jüngere und Ältere einen neuen Generationenvertrag schließen, sich neu aufeinander einlassen.

* * *

Mit Miami begann meine Suche nach dem, was man Altersleben nennt. Wie gehe ich damit um, dass ich alt werde? Wie entgehe ich der Gefahr der Vereinsamung, der Langeweile? Wie will ich meine eigenen Angelegenheiten regeln?

Mit dem Altwerden ist es so eine Sache. Es spielt sich einfach so ab, nebenher. Bei mir zumindest gab es nie den Punkt, an dem ich dachte: Jetzt werde ich alt. Es gab aber einen Einschnitt, den Moment, als unsere jüngste Tochter auszog, an dem ich merkte, dass ein Lebensabschnitt zu Ende ging. Damals, Anfang der achtziger Jahre, wusste ich: Jetzt ist es passiert, jetzt bin ich in einer neuen Rolle, bin nicht mehr zusammen mit meiner Frau Luise dafür verantwortlich, dass es den Kindern Woche für Woche gut geht, sondern die sorgen jetzt für sich selbst. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr über meine Kinder definieren. Natürlich waren sie nicht aus der Welt, sie kamen und kommen immer wieder zurück, inzwischen auch mit sechs Enkelkindern. Aber sie leben in sehr großer Selbständigkeit und in räumlicher Distanz.

Als unsere Kinder noch zu Hause lebten, führten wir ein inneres, ein privates Leben und ein äußeres, ein öffentliches. Darin, das innere vor dem äußeren Leben zu schützen, sah ich immer meine wichtigste Aufgabe. Als die Kinder aus dem Haus waren, verschmolzen beide Sphären – ich musste nun keine Rücksicht mehr nehmen, konnte nun als öffentliche Person relativ unbesorgt auch Teile meines Privatlebens preisgeben. Es ist wie in dem Gedicht von Rilke: Es hat sich ein neuer Ring um unser Leben gelegt. Wir sind auf eine neue Rolle in einem neuen Lebensabschnitt verwiesen.

Das eigentliche Altern, der körperliche und seelische Prozess, ist viel dezenter. Wer an einem Zaun entlanggeht, wird die einzelnen Latten kaum unterscheiden können – doch wer sich umblickt, erkennt, wie lang die Strecke ist, die hinter ihm liegt. Vielleicht muss man deswegen auch so aufpassen, dass man etwas aus seinem Alter macht, bevor es etwas aus einem macht.

Vor zehn oder fünfzehn Jahren war ich müder als jetzt, ich konnte nicht mehr so viel Neues aufnehmen. Das lag sicher auch an dem politischen Druck, der damals auf mir lastete: 1991 hatten wir in Bremen die Ampel-Regierung gebildet, ein mehr als fragiles Gebilde. Zu der Zeit war ich Senator für Bildung und Justiz. Wir Sozialdemokraten mussten ständig den Spagat zwischen Grünen und Liberalen machen. Damals habe ich mir immer wieder gesagt: Warum lässt du dir das gefallen? Du hast doch hier ein Mandat bekommen für konstruktive Arbeit, stattdessen wirst du in Schlachten hineingezogen, die gar nicht deine sind. Bundesweit kam der Frust im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung dazu. Wir haben damals fundamentale Fehler begangen, unter der rasanten Zerstörung des DDR-Wirtschaftssystems leiden wir noch heute. Und ich war mittendrin, hatte Verantwortung. Zu Beginn der neunziger Jahre habe ich überlegt: Wie komme ich hier raus? Aber der Abschied aus der Politik ist mir erst fünfzehn Jahre später gelungen.

In meinen letzten Berufsjahren wollte mich die Politik nicht loslassen – ich wollte schon. Während meine gesamte Generation bereits in Rente war, saß ich immer noch da und unterschrieb Pensionsurkunden für Leute, die jünger waren als ich. Das war grotesk. Doch die Wahlerfolge standen dagegen, mein CDU-Koalitionspartner und meine eigenen Leute von der SPD mussten das Gefühl bekommen, ich sei in den besten Jahren. Wieso eigentlich sollte ich – aus ihrer Sicht – aufhören wollen? Es gibt ja etliche Politiker – Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf, Otto Schily –, die an ihren Sesseln klebten, die nicht ohne die »Droge Macht« können, wie es der Journalist Jürgen Leinemann beschreibt. Aber das war nicht mein Problem. Ich habe mich nie für unersetzlich gehalten. Im Gegenteil: Ich hatte Angst davor, den ewigen Regierungschef zu geben und durch einen Schlaganfall oder Herzinfarkt im Amt gefällt zu werden. Ich wollte noch Zeit und Kraft haben für ein Leben nach der Arbeit. Dreimal musste ich ansetzen, um aus dem Amt herauszukommen. Im Schatten der vorgezogenen Bundestagswahlen im Herbst 2005 habe ich in Bremen meinen Abgang vorbereitet. Mit 67 Jahren der Abgang in ein neues Leben!

Ich erlebe viele, auch Freunde, die Angst vor der Pension, vor dem Altwerden haben. Ich selbst kenne diese Angst nicht. Zumindest noch nicht. Das liegt an Verschiedenem: an der glücklichen Ehe, die meine Frau und ich nun schon seit 46 Jahren führen, an dem Glück, das wir mit unseren Kindern und Enkelkindern haben. Es liegt an dem Glück, das wir mit unserer Hausgemeinschaft haben, und es liegt an dem Glück, dass ich in diesem Stadtstaat lebe, an den überwiegend wohlwollenden und hilfsbereiten Leuten hier. Ich bin in Bremen geboren und aufgewachsen, und ich habe hier wie an keinem anderen Platz in der Welt Bindungen knüpfen können, die mich tragen.

* * *

Im Grunde habe ich mir bis Ende vierzig nur begrenzt Gedanken über meinen eigenen Lebensabend gemacht. Ich wollte auf die Weise alt werden, auf die meine Großmutter alt geworden ist: in der Mitte der Familie, umgeben von Kindern und Enkelkindern. Sie kam in unser Haus, weil meine Mutter kurz nach ihrer Hochzeit schwer krank wurde. Mein Vater hatte sie gerade erst weggeschickt, hatte ihr gesagt: »Ich habe eine Frau geheiratet und nicht eine Schwiegermutter.« Aber da lag nun seine Frau im Krankenhaus mit einer schweren Gürtelrose. Und mein Vater, dessen Drogerie von den Nationalsozialisten boykottiert wurde, weil er in der Bekennenden Kirche war, war mit seinen drei kleinen Kindern aus erster Ehe allein. Seitdem ist meine Großmutter nie wieder aus unserem Haus in der Bremer Neustadt weggegangen. Sie hat erlebt, wie meine Mutter drei Kinder – mich und meine beiden jüngeren Brüder – bekommen hat. Sie hat erlebt, wie mein Vater Soldat wurde und die Frauen den Kriegsalltag allein meistern mussten. Zweimal wurden wir ausgebombt. Meine Mutter wäre wohl mit den sechs Kindern, dem zerstörten Geschäft und dem Mann in Kriegsgefangenschaft verzweifelt, wenn es die Großmutter nicht gegeben hätte. Die beiden Frauen wurden zu einer Notgemeinschaft, und wir Kinder haben davon außerordentlich profitiert.

Das änderte sich auch nicht, als mein Vater Weihnachten 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte: Großmutter blieb. Anfangs, das mag sein, war mein Vater gleichgültig ihr gegenüber. Doch sie war behutsam, sensibel, sie hat sich manchmal unsichtbar gemacht. Und mit der Zeit wurde diese kleine Frau mit dem Haarknoten und dem stets schwarzen Kleid zum Mittelpunkt unserer Familie. Sie war frühmorgens immer die Erste und abends die Letzte, die wach war. Ich habe sie nie krank erlebt, sie war immer da, immer fleißig, immer praktisch, hat gekocht, gewaschen, genäht, gebügelt. Und sie war absolut bedürfnislos. Ihre Rente, 54 Mark, hat sie unter uns Kinder verteilt – sie war die Einzige, die Geld für uns übrig hatte. Als ich in der Schule absackte, zu stottern anfing, hat sie mitgelitten wie niemand sonst. Mit Ratschlägen war sie zurückhaltend, sie hat sich stattdessen mit uns solidarisiert. Meine Kindheit und Jugend war durch diese alte Frau überstrahlt.

Ihr Sterben war ein Sterben, wie ich es allen wünsche. Großmutter ist in ihrem achtzigsten Lebensjahr regelrecht verblichen, in ihrem Bett gestorben, die Familie um sie herum. Sie hatte keine Schmerzen, trotz des Wassers in den Beinen und des Herzleidens. Wir haben uns gründlich verabschieden können, sie bis zuletzt in den Arm genommen. Aus ihren Wachphantasien in den letzten Tagen haben wir erfahren, dass die Zeit, die sie in dieser Familie hatte, die glücklichste Zeit ihres Lebens war. Es war bewegend. Ich war siebzehn Jahre alt, als meine Großmutter starb, war frisch in die Frau verliebt, die ich später heiraten würde, und hatte sicher alles Mögliche im Kopf, nur keine Sterbebegleitung. Und doch habe ich diesen Abschied meiner Großmutter als etwas ganz Wunderbares in Erinnerung, weil er sich in unserer Mitte ereignete und nicht in einer anonymen Klinik, wie später bei meiner Mutter.

Dieses Leben und Sterben hat mein Bild vom Alter geprägt. Das Bild der Großmutter hatte ich vor Augen, wenn ich an mein eigenes Altersleben dachte. Es ist ein Geschenk des Himmels, wenn mehrere Generationen zusammenleben können. Wenn man als Kind die Erfahrung machen kann, dass es nicht nur die Eltern gibt, sondern auch die Eltern der Eltern. Wenn man jemanden hat, der anders ist als Vater und Mutter. Jemanden, der Zeit und Geduld hat. Jemanden, der Erfahrungen vermittelt, die die Eltern gar nicht vermitteln können, weil sie berufstätig sind oder anderen Stress haben. Mein Schwiegervater hat unseren Kindern das Schwimmen beigebracht oder sie mit auf die Jagd genommen – ich war zu der Zeit schon Berufspolitiker und hätte kaum Zeit gehabt für solche Abenteuer. Aber es ist auch nicht nur für die Enkel schön, sondern auch für die Eltern, wenn es da noch jemanden gibt, der älter ist, der die Großelternrolle übernimmt und sie entlastet. Und die Großeltern wiederum wissen, dass sie gebraucht und geliebt werden. Mein Schwiegervater hat immer wieder gesagt, wie wichtig ihm seine Enkel seien, dass er erst jetzt, im Alter, erfahre, wie schön es sei, ein Kind aufwachsen zu sehen. Als seine Kinder klein waren, war er als Soldat im Krieg.

Doch dieses Bild, im Grunde das Gesellschaftsbild der fünfziger Jahre, hat schon zehn Jahre später Risse bekommen. Die Familienstrukturen haben sich verändert. Die Großfamilie gibt es nicht mehr. Die wirtschaftliche Not, die früher mehrere Generationen unter ein Dach gezwungen hatte, ist überwunden. Junge Familien wollen ihr eigenes Leben führen, junge Eltern ihren eigenen Stil im Umgang mit ihren Kindern finden. So wie wir auch. Also blieb meine Mutter in ihrer Wohnung, nachdem mein Vater gestorben war. Sie hätte es sich gewünscht, bei uns zu leben. Meiner Schwiegermutter haben wir später, als wir schon in unserer heutigen Hausgemeinschaft lebten, angeboten, bei uns zu wohnen – unter Tränen hat sie das angenommen und sich dann doch entschieden, mit ihren Freundinnen im Heim alt zu werden. Ihr gegenüber fühle ich mich völlig entlastet. Aber damals, in den siebziger Jahren, war in unserer Kleinfamilie noch kein Platz für eine Großmutter. Stattdessen ging ich zu meiner Mutter zum Mittagessen, brachte ihr Blumensträuße mit, und fast täglich war ein Enkelkind bei ihr. Das war unsere Bringschuld. Und selbst wenn wir es möglich gemacht hätten, wenn wir eine größere Wohnung hätten finanzieren können, wäre es nicht so einfach gewesen wie mit meiner Großmutter. Meine Mutter war sehr viel dominanter, sie hatte den Anspruch, Orientierung zu geben, den Kindern und den Enkelkindern zu sagen, wo es langgeht. Sie verstand ihre Rolle, anders als meine Großmutter, als die der zentralen Autorität. Dabei hatten wir Kinder und Schwiegerkinder durch unser Studium und das Leben in anderen Städten Qualifikationen erworben und Erfahrungen gewonnen, die sie nur ahnen konnte. So habe ich erlebt, dass es nach der gelungenen Drei-Generationen-Familie mit meiner Großmutter – auch in der Familie meiner Frau war es ähnlich gewesen – bei uns keine Fortsetzung gab. Zwar hatten wir eine sehr enge Beziehung, und wir haben in großer Nähe zueinander gewohnt, aber die Großfamilie unter einem Dach war für uns nicht mehr möglich. Ein Leben in mehreren Generationen ist komplex. Man muss sich aufeinander einlassen, Rücksicht nehmen. Wenn man das nicht geübt hat und die Not nicht dazu zwingt, gelingt es nicht.

* * *

Ungeachtet der Tatsache, dass unsere Kinder längst ein Leben weit weg von Bremen führten, hielt ich an der Vorstellung fest, mit ihnen alt zu werden – also an jener aus meiner Kindheit herrührenden Vorstellung. Es war meine Frau, die sagte, man dürfe seine Wünsche nicht ungefragt auf die Kinder projizieren und davon ausgehen, dass dann schon alles von alleine laufen werde. Also begannen wir, darüber nachzudenken, wie wir künftig leben wollten.

Mit Sicherheit ist es keine leichte Aufgabe für eine Gesellschaft, neue Wohn- und Lebensformen zu schaffen. Eine Hausgemeinschaft kann nicht verordnet werden. Und die richtigen Leute für eine solche Nähe zu finden, ist eher schwieriger geworden. Die Welt der Massenkommunikation befördert unsere Individualisierung. Die Werbung suggeriert doch jedem jeden Tag: Dreh dein eigenes Ding!

Wir haben im Freundeskreis nicht weniger als fünf Jahre gebraucht, bevor wir die richtigen Leute und das richtige Modell für unser Alter gefunden haben. Ganz behutsam haben wir das Konzept unserer Hausgemeinschaft entwickelt. Wir gingen gemeinsam aus, machten gemeinsam Urlaub, um zu sehen, wie viel Nähe wir ertragen und ob wir auch auf längere Zeit miteinander können. Freunde sprangen ab, und wir machten Abstriche. Zunächst gab es die Idee eines ganzen Dorfes, das wir mieten wollten. Daraus wurde dann die Wohngemeinschaft mit gemeinsamer Küche und gemeinsamer Bibliothek – ich sah schon meinen ehemaligen Arbeitstisch aus dem Bremer Rathaus mit zweieinhalb Metern Durchmesser im gemeinsamen Esszimmer. Und als uns klar wurde, dass jeder doch seine Lieblingsbücher für sich behalten würde und uns eine gemeinsame Küche schon während unserer Studentenzeit zu anstrengend war, wurde aus dieser Idee schließlich die alte Stadtvilla mit ihren fünf Parteien, einem Fahrstuhl für unsere alten Tage und einem samstäglichen Frühstück, das von Küche zu Küche wandert. Wir hoffen, dass wir mit unseren Freunden in diesem Haus alt werden können. Dazu gehört auch, dass wir, sobald es nötig wird, gemeinsam eine Haushalts- und Pflegehilfe bezahlen werden.

Viele, die uns um diese WG-Hausgemeinschaft beneiden, schrecken dennoch davor zurück, sich mit Freunden im Alltag so eng zu verbinden. Und man darf das Unternehmen tatsächlich nicht unterschätzen. Schnell kann ein solches Modell auf den berühmten Satz von Jean-Paul Sartre hinauslaufen: »Die Hölle, das sind die anderen.« Wenn man sich nicht gegenseitig im Wege stehen oder gar einander nerven will, muss man an sich arbeiten. Solch ein behutsames, diskretes Begleiten, bei dem keiner dem anderen zur Last wird, ist etwas Kostbares.

Unsere Kinder nannten uns »postpubertäre Romantiker«, als sie von unseren Haus-Plänen erfuhren. Sie waren skeptisch, ob ihre Eltern sich noch einmal auf ein gemeinsames Leben mit anderen würden einlassen können. Aber unser Modell trägt, lässt jedem genug Distanz und ermöglicht Nähe. Seit 1988 leben wir nun schon hier, und das mit großem persönlichen Gewinn. Inzwischen sind auch unsere Kinder davon überzeugt. Sie sind gerne hier, bewegen sich ganz frei von Wohnung zu Wohnung und schicken uns die sechs Enkel, die zu richtigen Hauskindern geworden sind. So haben wir letztlich doch die bunte Großfamilie bekommen, die ich mir so gewünscht habe. Und unsere Kinder leben ihr selbstbestimmtes Leben mit ihren Familien in Cardiff, Hamburg und Berlin.

Warum leben wir diese WG-Hausgemeinschaft mit Freunden und nicht mit unseren eigenen Geschwistern? Es sind wohl in erster Linie die unterschiedlichen Wohnorte, in die uns unsere Berufe geführt haben, die ein Zusammenleben unmöglich machen. Es ist aber wohl auch die bewusste Emanzipation vom Elternhaus, die jeder von uns erlebt hat und die zu einer neuen Rolle auch den Geschwistern gegenüber geführt hat. Und schließlich ist es die immer wieder neue Unterschiedlichkeit von Freunden mit ganz anderen Erfahrungen und Ansichten, die diese Art von Zusammenleben spannender macht, als immer nur mit der Familie zusammenzuhocken.

Dass Luise und ich in dieser Wahlfamilie leben dürfen, ist für mich ein großes Geschenk. Und von Routine und Langeweile und Nebeneinanderhertrotten verspüre ich nichts. Dass wir oft einer Meinung sind, obwohl wir so unterschiedliche Rollen hatten und haben, zeigt mir, welch ein Glück wir miteinander haben. Nur sehr selten kommen uns der Alltagsstress, Ungeduld oder Uneinigkeit in die Quere. Aber wir entdecken auch immer wieder neue Herausforderungen, machen gemeinsame Reisen, haben gemeinsame Freunde. Meine Lebenslust, meine tagtägliche Freude auf das, was vor mir liegt, hat in dieser Gemeinschaft ihren Kern und ihre Wurzel.

* * *

Das Alter ist keineswegs betrüblich. Vielmehr hat sich unser Blick getrübt. Das Image dieser letzten Lebensphase hat schwer gelitten. Aber das Alter ist keine Katastrophe, das Leben keine gerade Strecke ins Abseits. Meines zumindest verläuft in Wellen. Warum sollte das jenseits der sechzig plötzlich anders werden?

Gerade erlebe ich ein Hoch. Ich freue mich auf jeden Tag, bin neugierig auf Neues. Ich kann nun Projekte verfolgen, für die ich als Politiker nie Zeit hatte. Ich lerne endlich Orgelspielen, habe mich einer Aquarellklasse angeschlossen, arbeite an meinem Englisch, engagiere mich in dem ökumenischen »Lehrhaus Bremen«, das Freunde von mir gegründet haben. Ich will mich nicht ins private Leben zurückziehen, mich nicht auf die faule Haut legen, am Strand alt werden. Ich will im Rahmen meiner Möglichkeiten Verantwortung übernehmen. Damit ich nicht missverstanden werde: Ämter und Parteiklüngel interessieren mich nicht mehr; Politik im engeren Sinne ist für mich vorbei. Ein Engagement für die Zivilgesellschaft jedoch nicht: Ich organisiere mit anderen den Evangelischen Kirchentag 2009, der in Bremen stattfinden soll. Ich bin Präsident des Deutschen Chorverbandes. Ich werde nächstes Jahr Kuratoriumsvorsitzender des Evangelischen Studienwerkes Villigst, das mir mein Studium ermöglichte. Und mit Luise arbeite ich für die Stiftung »Pan y Arte«, die in Nicaragua große Kulturprojekte finanziert. Wir leben in einer auf Eigeninitiative angewiesenen Zivilgesellschaft, und hier will ich mitmachen, so gut ich kann und so lange ich gefragt werde.

Mir ist bewusst, dass diese Euphorie nicht ewig hält. Und ich versuche, mich darauf einzurichten, dass auch wieder ein Tief kommt. Doch den Lebensabschnitt nach der beruflichen Tätigkeit als eine Phase zu bezeichnen, in der man nicht mehr produktiv sei und nur noch Kosten verursache, ist irreführend. Persönlich marode und gesellschaftlich überflüssig – das ist eine dramatische Verzerrung. Statistisch betrachtet sind wir Alten vitaler als je zuvor – aktive Bürger, die wählen, die beteiligt und ernst genommen werden wollen. Meine Frau und ich freuen uns, wenn wir als Großeltern gebraucht werden. Doch in einem unterscheidet sich unser Altersmodell deutlich von dem meiner Großmutter: Selbstlose Dienstleister sind wir nicht, das lässt schon unser Terminkalender nicht zu.

Wir haben unseren Job an den Nagel gehängt, nicht unser Leben.

2. Freiheiten

Meine Großmutter wurde mit 27 Jahren zum zweiten Mal Witwe. Seit dieser Zeit hat sie nur noch schwarze Kleider getragen und für ihre Kinder und Enkel gelebt. Sie war eine alte Frau – mit Ende zwanzig! In diesem Alter emanzipieren sich heute viele junge Frauen erst richtig, beenden ihr Studium, fangen ihr Leben an. Was für ein kultureller Bruch!

Wir, die wir im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen sind, gehen anders mit unserem Leben und auch mit unserem Alter um, als es unsere Eltern und Großeltern noch getan haben. Der italienische Philosoph Norberto Bobbio schrieb in seinem berühmten Essay De senectute: Wer das Alter preist, hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen. Auf mich trifft das zu: Ich gehe jetzt stramm auf die siebzig zu – aber ich fühle mich alles andere als alt. Ich erlebe derzeit eine Phase voller Lebenslust, mit regem Interesse an Neuem und großer Freude über Herausforderungen. Und so wie mir geht es vielen in meiner Altersgruppe. Wir erfahren uns als eine begünstigte Generation, die älter werden darf als alle, die vor ihr gelebt haben. Wir können mit Mitte siebzig, manche sogar noch mit achtzig, neue Lebensentwürfe ausprobieren. Durch unsere längere Lebenserwartung bei guter Gesundheit hat sich eine neue Lebensspanne zwischen das mittlere und das hohe Alter geschoben. Wir sind die jungen Alten – und so wollen wir auch leben! Wir ziehen mit sechzig noch in eine WG. Wir laufen mit siebzig noch Marathon. Wir beraten mit achtzig noch Firmen im Ausland. Wir probieren aus, was noch geht. Und es geht noch einiges.

Um zu verstehen, warum wir leben, wie wir leben, muss man sich vor Augen führen, was uns geprägt hat. Wir Alten von heute sind die Generation, die auf die »skeptische Generation« folgt, wie Helmut Schelsky sie nannte. Die »Skeptiker« haben noch am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, waren in der Hitlerjugend, sind zum Teil voller Begeisterung für den vermeintlichen »Führer« in den Krieg gezogen. Völlig verstört und traumatisiert sind viele von ihnen zurückgekehrt und wollten nie wieder etwas mit Politik und Propaganda zu tun haben. Meine Altersgruppe dagegen hat das Nazi-Regime und den Krieg – als kleine Kinder – einigermaßen unbeschadet überstanden. Wir waren vielleicht ausgebombt, mussten vielleicht hungern und fliehen, haben Tote gesehen, aber wir waren nicht selbst in diesen Krieg verwickelt, haben uns nicht schuldig gemacht und mussten keine Waffe tragen. Der Nationalsozialismus war für uns der Betrug an den Eltern, an den Deutschen und an der Welt.