Altersreise - Henning Scherf - E-Book

Altersreise E-Book

Henning Scherf

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Beschreibung

Wie wollen wir alt sein? Und vor allem: Wie können wir würdig altern? Nicht weggesperrt in Altensilos, sondern gemeinsam mit anderen, mitten in der Gesellschaft? Dass das möglich ist und wie das geht zeigt Scherf, der sich dafür »vor Ort" begeben hat, Heime besucht, mit alten Menschen mitgelebt hat. Entstanden ist Henning Scherfs persönliches Buch zur Lage der »alten Alten". Minuten-Pflege und Finanzprobleme müssen nicht sein. Scherf gibt konkrete und positive Antworten: Altsein ist eine Herausforderung. Aber sie ist zu bewältigen.

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Henning Scherf

Mit Uta von Schrenk

Altersreise

Wie wir altern wollen

Fotosvon Tristan Vankann

Impressum

Titel der Originalausgabe: Altersreise

Wie wir altern wollen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80382-6

ISBN (Buch): 978-3-451-30443-9

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Vom Glück, alt zu werdenGewonnene Jahre nutzen

Kapitel 2 Vom Unglück, alt zu seinWege aus der Pflegemisere

Kapitel 3 Von der VergesslichkeitSich vertraut machen mit Demenz

Kapitel 4 Von Hilfe und BedürftigkeitMehr als nur eine Geldfrage

Kapitel 5 Vom Leben in MaßenErnährung und Bewegung

Kapitel 6 Vom sozialen WesenGemeinsam statt einsam

Kapitel 7 Vom TätigseinAktivsein hält jung

Kapitel 8 Von den GenerationenJung und Alt gehört zusammen

Kapitel 9 Vom SterbenDie Angst nehmen

Kapitel 10 Von der WürdeGute Pflege braucht gute Arbeitsbedingungen

Kapitel 11 Von Geldern und ReformenDas Geld in die Ambulanz

Kapitel 12 Vom Ende der ReiseNeue alte Freunde

Dank

Zu den Bildern

Vorwort

Mein Schwiegervater war zwanzig Jahre lang Vorsitzender des Sozialausschusses des Deutschen Landkreistages. Dieser kluge und zugleich lebensnahe Mann war eine Institution. Die Leute holten sich Rat bei ihm, wenn es um familiäre und soziale Fragen ging. Er wusste, wovon er sprach, wenn es um Krankenhäuser, um Altersheime ging. Für andere hat er geplant, für sich selbst hingegen keinerlei Vorsorge für eine eventuell eintretende Pflegebedürftigkeit getroffen. Als er selbst sein Altersleben regeln musste, hatte er keine Ahnung, wie das gehen sollte. Er war Ende siebzig, als er mit schwerem Parkinson ins Heim kam. In ein DRK-Heim mit unhaltbaren Zuständen. Meine Frau war damals in Nicaragua, so dass ihre Schwester und ich mich um ihn und seine Frau kümmerten. Ich besuchte ihn oft und sah, wie weggeschoben und wie fremd er sich dort fühlte, sich aber nicht aus dieser Lage befreien konnte. Meine Frau ist dann zurückgekommen, und gemeinsam haben wir für ihn und meine Schwiegermutter einen Platz mit besserer Pflege in der Bremer Heimstiftung gefunden. Und nun zeigte sich, welch einen Unterschied es darstellt, ob man noch in der Lage ist, sich in eine neue Altersumgebung einzufügen, oder ob man die Kurve nicht mehr kriegt. Mein Schwiegervater lebte seinem Ende entgegen, ihm fehlte die Kraft, noch neue Kontakte zu knüpfen. Seine Frau dagegen war noch beweglich, engagierte sich im Heimbeirat, fing an zu schreiben und spielte Bridge in mehreren Clubs. Wenn sie zu Turnieren ging, vergaß sie vor lauter Vorfreude ihren Gehstock.

Plötzlich betraf mich dieses Thema also selbst. Damals habe ich aus der Nähe erlebt, wie elend die Angebote für alte Menschen am Ende ihres Lebens waren. Viel geändert hat sich bis heute nicht. Meine Lehre aus dem Altersschicksal meines Schwiegervaters war: »Wenn du einmal selbst soweit bist, musst du das anders machen. Lass dich nicht überrollen von der Pflegebedürftigkeit, lass dich nicht überraschen. Bewahr dich davor, irgendwohin gebracht zu werden, wo du fremd, orientierungslos und perspektivlos bist. Bereite dich darauf vor!« Man muss sein Altersleben gestalten, so lange man es noch kann.

Diese Erfahrung war der Grund, warum ich mich Jahre später, nämlich jetzt, da ich selbst ein alter Mann bin, auf die Reise gemacht habe, um das gute Altersleben – trotz Gebrechlichkeit, trotz Pflegebedürftigkeit, trotz Demenz – zu finden. Und ich habe es gefunden. Insgesamt acht Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenprojekte habe ich zwischen 2010 und 2012 besucht, um zu erfahren, wie es möglich ist, alten Menschen trotz aller körperlichen und geistigen Nöte ein würdevolles Leben in vertrauter, geschützter Umgebung zu ermöglichen. Manchmal bin ich nur zwei Tage geblieben, manchmal zwei Wochen.

Zunächst war ich voller Sorge, ob ich diese für mich ungewöhnliche Lebenslage aushalten würde. Und dann wurde es von Mal zu Mal entspannter. Ich habe mich wohlgefühlt in diesen Tagen gemeinsamer Alltagserfahrung mit sehr alten, gebrechlichen und auch dementen Menschen. Ich war Teil einer Mischung aus Selbsthilfe, freiwilliger Arbeit, Angehörigenbeteiligung und professioneller Hilfestellung. Wir hatten kein Gegenüber von Betroffenen und Profis, wie es in den allermeisten Heimen selbstverständlich ist, sondern wir nahmen am gemeinschaftlichen Leben teil, jeder auf seine Weise. Untersuchungen von traditioneller Heimpflege und alternativen Pflegeeinrichtungen lassen den Schluss zu, dass die Menschen in Pflegewohngemeinschaften länger leben. Ich erkläre mir das mit dem Lebensgefühl, selbständig und noch beschäftigt, zugleich aber auch beschützt zu sein. Diese kleinen Einrichtungen, die überall in unserem Land meist auf Initiative engagierter Angehöriger oder Pfleger entstehen, sind eine ernstzunehmende Alternative zur üblichen Heimunterbringung. Sozialpolitiker und insbesondere Kommunalpolitiker sollten sehr genau prüfen, ob nicht in diesem Modell die Zukunft einer demografisch gewandelten Gesellschaft liegt: Wir bleiben zusammen, und auch eine Demenzerkrankung kann uns nicht trennen.

Ich wünsche mir sehr, dass die Leser dieses Buches angeregt und neugierig werden auf das eigene Alter und auf das Zusammenleben mit alten und gebrechlichen Menschen – und dass sie es schaffen, sich rechtzeitig ihr eigenes Altersleben so einzurichten, wie sie es sich vorstellen.

Kapitel 1

Vom Glück, alt zu werden

Gewonnene Jahre nutzen

Borgfeld, Dienstag, 25. Mai 2010

Mein erster Tag in einer neuen Welt.

Zunächst erledigte ich noch meine Termine und Korrespondenzen im Rathaus. Alle wünschten mir gute Tage in der WG.

Meine beiden Radtaschen waren vollgestopft, und los ging es mit meinem Rad nach Borgfeld. Das ist ein wunderbarer Radweg durch den Bürgerpark, vorbei an der Universität und hinaus auf die Wümme-Deiche.

Ich wurde erwartet. Haus- und Projektleiterin nahmen mich in Empfang. Mein Rad landete im Keller.

Mit schmalem Gepäck bin ich in mein Zimmer (20 Quadratmeter plus Dusche und Toilette) eingezogen. Nachdem alles verstaut war, führte mich die Projektleiterin, Frau Blank, in die Tagesstruktur, in die Personalsituation und in die Lage meiner Mitbewohner ein.

Bevor wir alle uns um den Mittagstisch versammelten, hatte ich ein erstes Gespräch mit Beate Lenders. Wir kennen uns schon lange. Wir beide freuen uns sehr, uns zwei Wochen im gleichen Haus, Zimmer an Zimmer, austauschen zu können.

Sie hat vor einem Jahr ihre Tochter in Berlin verloren, zu der zu ziehen ihr Traum gewesen war. Jetzt ist sie hier, hat wunderschöne Möbel in die WG eingebracht und ist ein Lichtblick nicht nur für mich. Wir haben gleich Pläne gemacht: Jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang, Theaterbesuche und irgendwann gemeinsam nach Berlin fahren.

Beim Mittagessen saßen wir alle (zehn WG-Bewohner und Betreuer) um einen großen Tisch. Neben mir Herr Busche, mit Schlips und Kragen, wohlerzogen, aber unaufhörlich im Haus herumwandernd. Uns gegenüber Herr Christensen aus dem Fedelhören, unserer Parallelstraße; nachdem er begriffen hatte, wer ich war, taute er auf, sang sogar einen Glen-Miller-Song und fragte mich nach seinen und meinen Nachbarn aus. Er lebt auf der Grenze von Verzweiflung und Einsamkeit und immer wieder aufflammender Erinnerung.

Von den sechs Frauen habe ich Frau Schröder, eine Schulhausmeistersfrau aus Dorstfeld, kennengelernt. Sie ist Witwe und hat hier einen guten Platz gefunden. Sie arbeitet fleißig beim Kochen mit, backt jeden Tag Kuchen für alle und ist überhaupt so etwas wie die gute Seele.

Die Jüngste von allen ist eine 61-jährige, körperlich topfitte Sportlehrerin mit unübersehbaren Alzheimersymptomen. Wir haben nach dem Essen auf der Diele Ball gespielt und haben vor dem Abendessen eine Art Gewaltmarsch (acht Kilometer ohne Pause) ums Blockland absolviert. Geredet haben wir dabei kaum, aber es ist uns offensichtlich beiden gut gegangen. Wir waren lange auf dem Deich bei untergehender Sonne und frischem Wind, wenigen Radfahrern und endloser Marschlandschaft.

Ein längeres Gespräch hatte ich mit der Ältesten, Frau Rulfs. Sie kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien, spricht mit Akzent Deutsch und ist voller Geschichten über das bunte Völkergemisch ihrer Heimat in vorkommunistischer Zeit. Mit ihr, so hoffe ich, werde ich noch spannende Gedanken über das Zusammenwachsen von Völkern und über neue und alte Heimat austauschen.

Weiterhin gehört eine liebenswürdige Witwe aus Emden dazu, die fest davon überzeugt ist, dass ihr Mann mit mir bekannt war. Ich habe ihr beim Essen begeistert zugehört, wie sie dem verzweifelten Christensen Mut machte. Er wollte immer wieder nach Hause – wo niemand ist –, und sie sagte ihm, sie sei hier angekommen, dies sei ihr Zuhause, hier hätte sie Menschen gefunden, die mit ihr teilten.

Die letzte Mitbewohnerin ist stark behindert. Ich höre ihre Kuckuck-Rufe durchs ganze Haus, sie will nicht mit uns gemeinsam essen und Gespräche mit ihr finden nicht statt. Um sie werde ich mich in den zwei Wochen noch sehr bemühen müssen.

Jetzt sitze ich in meinem Zimmer; gerade hat sich ein junger Nachtdienstler vorgestellt, und ich schreibe an einem kleinen Sekretär, vor mir das Bild unserer Großfamilie mit drei Kindern, drei Schwiegerkindern und sieben Enkelkindern. Meine Anspannung hat sich gelegt. Ich werde diese Tage nutzen. Es wird eine Erfahrungsreise in eine andere Welt …

***

Keine konnte so schön sterben wie Beate Lenders. Die Lenders als Antigone – ich habe als 15-jähriger Schüler in Bremen diese Frau angehimmelt. Nur ihretwegen bin ich ins Theater gegangen. Ich habe mich aber nie getraut, meiner Heldin einen Liebesbrief zu schreiben, mich nie getraut, ihr Blumen auf die Bühne zu werfen oder gar vor ihrer Garderobe zu stehen und zu sagen: »Danke, großartiger Auftritt.«

Und nun treffe ich sie in dieser Pflegewohngemeinschaft in Borgfeld, einem Vorort Bremens, wieder. Borgfeld ist die erste Station auf meiner Rundreise, auf der ich herausfinden will, wie man sein Leben im hohen Alter trotz Gebrechlichkeit, trotz Demenz oder trotz Sehnsucht nach den bereits verstorbenen Liebsten dennoch voller Würde und so aktiv es nur geht leben kann. Wenn man so will, ist diese Reise für mich, der ich jetzt über siebzig bin, eine Art Expedition ins hohe Alter. Eine Expedition in eine Welt, in die ich aber vielleicht in ein paar Jahren schon selbst übersiedeln werde.

Aber zunächst einmal freue ich mich, dass ich gleich bei der ersten Station meiner Altersreise ein bekanntes Gesicht wiedersehe. Beate Lenders – die Schöne, die vollendete Dramatikerin. Nun endlich kann ich ihr all das erzählen, was ich mich als junger Kerl nicht getraut habe. Und sie freut sich darüber, über die alten Geschichten, über meine Verehrung. Nun kann ich sie in den Arm nehmen. Und sie lässt sich gerne in den Arm nehmen. Nun kann ich sie mit Vornamen anreden, nun ist sie für mich einfach Beate. Sie macht sich schick für mich, und sie sieht wunderbar aus, eine schöne alte Dame. Wir gehen zusammen spazieren – alleine geht sie keinen Schritt aus dem Haus, weil sie Angst hat, dass sie nicht wieder zurückfindet oder dass sie unter die Räuber gerät. Wir plaudern und wir entdecken und beobachten die Bäume, die Wiesen, die Blumen, die Tiere. Ich bin sogar mit ihr ins Theater gegangen – ihr Arzt war skeptisch, er fürchtete, sie bekomme dann eine Krise. Wir haben es trotzdem getan. Und nichts dergleichen: Sie hat sich gefreut und ich hatte das Gefühl, ich habe sie dort abgeholt, wo sie in Gedanken ohnehin ist, wo sie sich zu Hause fühlt.

***

Borgfeld, Freitag, 28. Mai 2010

Kurz vor 18 Uhr sind Beate und ich mit der Straßenbahn zum Theater gefahren. Sie hat an allem Anteil genommen. Zum Teil erkannte sie einzelne Straßenecken und besonders schöne Häuser wieder.

Im Theater trafen wir Luise mit einer Freundin. Wir vier verstanden uns vom ersten Augenblick an. Beate nahm so lebhaft an allem teil, dass ich mir vorgenommen habe, sie auch künftig gelegentlich in die Stadt einzuladen.

Es gab: Gerhart Hauptmann, ›Einsame Menschen‹. Vergleichbar mit den Stücken Strindbergs oder Tschechows, dreht es sich um Beziehungen und gestörte Kommunikation. Mich hat das Stück sehr beschäftigt, weil es im Gegensatz zu meiner eigenen Haus- und Wohngemeinschaft und auch im Gegensatz zur gegenwärtigen Demenz-WG ein hoffnungsloses Nebeneinander der Menschen vorführt: Jeder müht sich nach Kräften, aber niemand erreicht den anderen. Und der Selbstmord der Hauptfigur macht allem ein bitteres Ende.

Beate Lenders war voll präsent, sie hat mit mir gründlich über Stück und Inszenierung geredet. Wir hatten übereinstimmende Einschätzungen. Sie möchte, wann es irgend geht, gern wieder ins Theater. Anders als die besorgten Pfleger befürchtet hatten, war sie guter Dinge, als wir von diesem Theaterbesuch heimkehrten.

***

Beate Lenders war irgendwann nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen. Sie ist nicht mehr aus dem Haus gegangen, hat nichts mehr eingekauft, hat nichts mehr gekocht, nichts mehr gegessen. Sie hatte schlicht vergessen, wie man das macht. Wenn man sie allein gelassen hätte, wäre sie verhungert.

Doch sie hat Glück gehabt. In der Wohngemeinschaft, in der sie einen Platz bekam, ist ihr die Grundversorgung aus der Hand genommen. Jemand kocht für sie, jemand regelt ihre finanziellen Belange. Und es ist deutlich zu spüren, dass ihr damit eine Last genommen ist. Sie wird mit einbezogen, deckt etwa den Tisch, aber sie ist nicht mehr verantwortlich, kann sich nun anderen Dingen widmen, die sie schon verdrängt hatte. Sie konzentriert sich nun auf ihre frühere Tätigkeit als Schauspielerin, freut sich, wenn ein ehemaliger Kollege sie besucht. Sie hilft im Haushalt, spielt mit den anderen, macht mit ihnen Ausflüge. Sie ist nun nicht mehr völlig erstarrt vor Überforderung durch den Alltag. Ihre Hilflosigkeit hat sie wieder ablegen können, dank einer Struktur, die sie auffängt.

Beate hat in der Nähe ihrer jetzigen Alters-Wohngemeinschaft gelebt. Als wir spazieren gegangen sind, hat sie mir erzählt: »Diesen Weg bin ich immer gegangen; dieses Haus kenne ich; das sieht hier aus wie früher, als ich noch mit meinem Mann hier spazieren gegangen bin.« Sie ist also nicht von einem Stadtteil in den anderen verfrachtet worden, sondern lebt nun dort, wo sie die letzten 30 oder 35 Jahre gelebt hat. Das ist ein enormer Vorteil für ihre tägliche Orientierung und ihr persönliches Sicherheitsgefühl: Alles ist, wie es immer war. Hinzukommt, dass sie sich in der Wohngemeinschaft aus dem Gemeinschaftsraum und der Küche jederzeit in ihr Appartement, zwischen ihre Möbel, ihre Bücher und Bilder zurückziehen und sich dort wie zu Hause fühlen kann.

Ich musste 72 Jahre alt werden, um einem Star meiner Jugend nahezukommen. Ich glaube, diese neue Haltung hängt einerseits mit dem Älterwerden zusammen – ihrem und meinem. Der Zugewinn an Souveränität und Gelassenheit hat uns zusammengebracht. Aber andererseits hätte es diesen Austausch, dieses Verständnis zwischen uns auch nicht gegeben, wenn wir nicht beide jung geblieben wären und gemeinsame Erinnerungen hätten. Beate hat kein resigniertes Wort geäußert, und das, obwohl sie mit mir über den Tod ihres Mannes, den Tod ihrer Tochter und den Tod ihrer Schwester gesprochen hat. Die Freude, dass wir uns gefunden haben, stand im Vordergrund.

Ich habe also eine neue Freundin. Sie ist zwar ein bisschen älter als ich, sie ist auch dement – unserer Freundschaft aber tut das keinen Abbruch.

Viele Menschen sprechen von dem Bedeutungsverlust, der das Altern so schwer erträglich mache. Ein Bedeutungsverlust, der wachse, je hinfälliger und hilfloser ein Mensch werde. »Hilflosigkeit« sagen die meisten Menschen, meinen aber Altersvergesslichkeit, Alzheimer, Demenz – die Schreckgespenster des Lebensabends. Gespenster, die einem vermeintlich den Verstand rauben, die Würde nehmen und die Bedeutung entziehen.

Dieses Gerede vom Bedeutungsverlust beruht meiner Meinung nach auf einem fatalen Fehlschluss! Unser Leben entspricht einem Bogen: Wir fangen als hilflose Säuglinge an, die sterben müssen, wenn sie niemanden haben, der sie umsorgt. Doch dann machen wir eine Riesenentwicklung durch, erarbeiten uns Selbständigkeit und schaffen alles Mögliche – unter anderem als Erwachsene das Aufziehen von eigenen Kindern. Und irgendwann nähern wir uns wieder unseren Anfängen, sind wieder angewiesen auf Unterstützung. Vielleicht nicht in allen Dingen, aber früher oder später braucht fast jeder eine helfende Hand. So wie Beate Lenders, die einst berühmte Schauspielerin des Bremer Theaters.

Unser Leben ist nicht nur bedeutungsvoll, wenn wir auf dem höchsten Punkt unseres Lebensbogens stehen. Die Rolle und die Lage eines Menschen mag sich verändern, aber nicht seine Würde. Bedeutungsverlust klingt so, als wäre man als alter Mensch weniger wert, andern nur noch eine Last. Das ist zuallererst herzlos-materialistisch und dann auch noch falsch gedacht. Denn in jeder dieser unterschiedlichen Lebenslagen, an jeder Stelle dieses Lebensbogens besitzt jeder Mensch seine nicht relativierbare Menschenwürde. Das gilt für das neugeborene Baby wie für den moribunden Greis. Würde ist die Basis unseres Lebens.

Wer freut sich heute noch darauf, alt zu werden? In einer Gesellschaft, die vom Jugendwahn infiziert ist, hat das hohe Alter keinen besonders hohen Stellenwert. »Forever young« lautet der Psalm der Fitnessjünger und Botox-Gläubigen. Falten, zittrige Hände, steife Gelenke und schwache Augen sind geradezu biblische Plagen in dieser Welt. Das Alter als Schreckensbild. Das war Jahrhunderte lang anders: Wer alt wurde, wurde verehrt. Der Zugewinn an Lebenserfahrung überwog in den Augen der Mitmenschen die Schwäche des Körpers. In der Antike, im Mittelalter und noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden nur wenige sehr alt. Wer ein hohes Alter erreichte, war entweder wohlhabend und hatte ein belastungsarmes Leben geführt oder muss enorm zäh gewesen sein. Mit der modernen hygienischen und medizinischen Versorgung und der besseren Ernährungslage breiter Bevölkerungsschichten seit den Fünfzigerjahren erscheint ein hohes Alter in Deutschland den meisten nicht mehr als ehrfurchtgebietender Zustand. Im Gegenteil, er wird in unserer gesellschaftlichen und politischen Debatte zunehmend als Belastung dargestellt. Publizisten warnen vor dem »Methusalem-Komplex«, Wirtschaftswissenschaftler berechnen die demografische Last der Sandwich-Generation, die zugleich Kinder und Eltern zu versorgen hat, Politiker denken über die Finanzierbarkeit von künstlichen Hüften ab 85 Jahren nach.

Ich habe es nicht selten erlebt, dass sich alte Menschen entschuldigen, dass sie alt sind. Soweit ist diese gesellschaftliche Indoktrination schon gedrungen, dass der Mensch nur noch mit einem schlechten Gewissen alt werden kann. Grauenvoll. Dabei gibt es da nichts zu entschuldigen. Im Gegenteil: Es ist ein Glück, alt zu werden! Es ist ein Glück, eine Lebensphase zu erleben, in der sich vielleicht meine Lage und meine Rolle verändert, ich aber eine Persönlichkeit bleibe. Alte Menschen verdienen es, respektiert und geachtet zu werden. Sie haben Grundrechte ohne Abstriche, wie alle anderen Menschen auch. Hier ist keiner überflüssig, hier soll sich keiner »vom Acker machen«. Nein, hier soll gelebt werden, so lange Leben da ist. Und unsere Verpflichtung als Gesellschaft ist es, genau dies möglich zu machen. Dass es möglich ist, ein Leben, das sich dem Ende zuneigt, in Würde und mit Freude zu führen, wird Tag für Tag in hunderten Einrichtungen und tausenden Familien in diesem Land bewiesen. Dass es sie gibt, die viel beschworene »Gute Pflege«, habe ich auf meiner Rundreise gelernt – dass sie noch nicht die Regel ist, leider auch.

Menschen, die sich nur an Leistungsspitzen orientieren und soziale Verantwortung für das Gewäsch von Verlierern halten, haben nicht begriffen, was Leben ist. Oberflächlichkeit ist keine Antwort. Rücksichtslosigkeit ist keine Antwort. Egoismus ist keine Antwort. Der Mensch ist ohne Gemeinschaft nicht denkbar.

Leben und Menschenwürde sind auch mit zurückgehender oder beschädigter Kompetenz möglich. Und ich wünsche mir, dass die Einsicht an Boden gewinnt, dass auch ein Leben mit Defiziten ein lebenswertes Leben sein kann. Das Alter, auch das hohe Alter mit Demenz, Gebrechlichkeit, Krankheit und Verlusten, gehört zum Leben – und immer mehr von uns durchleben immer mehr Jahre dieser Phase. Der Lebensbogen neigt sich für viele von uns kaum merklich, aber er neigt sich für jeden. Und deshalb wird es Zeit, sich schon jetzt mit dem hohen Alter anzufreunden. Denn eines Tages ist es da.

Auch mich wird es erwischen. Vielleicht wird es Demenz sein, vielleicht der Verlust eines lieben Menschen, vielleicht Arthrose oder eine andere Alterserkrankung, die mir unweigerlich klar machen wird: »Jetzt bist du alt.« Irgendwann wird es soweit sein. Das versuche ich mir immer wieder klarzumachen. Und das ist, davon bin ich überzeugt, der richtige Weg: Darüber nachzudenken, wie es wohl sein wird, so lange man noch darüber nachdenken kann. Antizipieren, nicht ablenken! Noch fühle ich mich vom Alter nicht wirklich berührt. Noch sind meine Auseinandersetzungen mit Demenz und Wohnformen im Alter, mit Pflege und Alterskrankheiten nur Gedankenspiele. Doch dieses Nachdenken über das Alter hilft mir zu sortieren, was auf mich zukommen kann. Und es baut meine Ängste vor dem Alter ab. Daher kann ich nur jeder und jedem raten, sich Gedanken zu machen. Je gründlicher ich persönlich über das Altsein nachdenke, mit anderen darüber rede und auch lerne, wie andere damit umgehen, umso weniger fürchte ich mich davor. Ob es dann später so kommen wird, wie ich es mir jetzt vorstelle, das weiß ich natürlich nicht. Aber davor weglaufen – das will ich nicht. Ich möchte nicht die Wirklichkeit ausblenden.

Ich möchte vielmehr eine Geisteshaltung erreichen, die es mir erlaubt, mich nicht immer nur über das zu beklagen, was mir nicht mehr gelingt, sondern die es mir möglich macht, mich auf das zu konzentrieren, was mir noch gelingt. So wie es Jörg Zink in seinem Buch »Ich werde gerne alt« beschreibt. Die eigenen Erfahrungen mit der Altersgebrechlichkeit oder den Altersausfällen annehmen und gelassen bleiben – das ist die Grundlage für ein zufriedenes Alter. Die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil, eine gute Freundin von mir, macht vor, wie so ein Leben im hohen Alter trotz manchem Verlust, trotz Einsamkeit, trotz Krankheit aussehen kann: Andere an der Vitalität, die einem eigen ist, teilhaben lassen. Hoffnung spenden, vermitteln, dass das Leben trotz Mängeln lebenswert ist, und dass man auch noch im hohen Alter etwas zu lachen hat. Als Annelie Keil mit vierzig Jahren einen Herzinfarkt erlitt und zehn Jahre später an Brustkrebs erkrankte, resignierte sie nicht, sondern nahm ihr persönliches Schicksal als Triebfeder für ihre beruflichen Forschungen. Künftig konzentrierte sie sich auf die Psychosomatik, wohl wissend, dass die Seele in der modernen Medizin allzu oft vernachlässigt wird. Später engagierte sie sich in der Hospizbewegung und gründete mit anderen in Bremen den Weiterbildungsstudiengang »Palliative Care«, der den Umgang mit Sterbenden verbessern soll. Ich kann nur hoffen, dass mir eine solche Lebenshaltung auch dann noch gelingt, wenn ich einmal mit Defiziten zu leben habe.

Viele ältere Menschen verhalten sich, so lange es ihnen gut geht, nach dem Spruch: »Alt sind nur die anderen«. Sie nehmen das eigene Altern nicht eigentlich wahr, betrachten die ersten Zipperlein als vorübergehende Konditionsschwäche. Damit einher geht dann auch oft die Scheu, sich mit den »alten Alten« einzulassen. Das sind die Verdränger. Und ich prophezeie, dass sie nicht zu denen gehören werden, die im hohen Alter ihr Leben selbstbestimmt (so weit, wie es dann noch geht) leben werden. Zugleich begegne ich auf meinen Lesungen und Vorträgen erstaunlich vielen Menschen in meinem Alter, die ein lebhaftes Interesse daran haben, mit hochbetagten Alten zusammen zu sein und die keinen Bogen um Gebrechlichkeit und Demenz machen. Immer wieder kommen Menschen zu mir und sagen: »Wir möchten gerne mit anpacken – wir sind pensioniert, zu Hause fällt uns die Decke auf den Kopf.« Ich glaube, die sozialen Potenziale, die in dieser Generation der 60- bis 80-Jährigen schlummern, sind ein großer Schatz, den zu missachten wir uns als alternde Gesellschaft schlicht nicht erlauben können. Diese vitale Generation der jungen Alten dürfen wir nicht aufs Amüsement reduzieren. Zu viele von ihnen beweisen, dass sie bereit sind, ihren Platz in der Gesellschaft aktiv wahrzunehmen, gerade auch im Dienste sehr alter Menschen. Viele 60-Jährige pflegen ihre 80-jährigen Eltern. Viele der jungen Alten gehen mit Altersverwirrten spazieren. Und es ist ja nicht nur der Hilfsbedürftige, der von den Spaziergängen profitiert. Der Helfer holt sich frische Luft, Licht, Bewegung und das gute Gefühl, gebraucht zu werden. Wer sich eine solche Aufgabe organisiert, der bringt Struktur in seinen Alltag, der hat keine Zeit mehr, den ganzen Tag herumzusitzen und auf das Vorabendprogramm zu warten. Es kann ein Lebenselixier sein, für andere da zu sein.

So bescheiden kann ein großes Hilfsprojekt aussehen. So einfach ist gute Pflege. Ich will diese Riesenaufgabe, vor der wir stehen, die Aufgabe, unsere älter werdende Gesellschaft zu versorgen, nicht kleinreden. Natürlich reicht ein Spaziergang nicht aus. Aber er ist ein Anfang. Und er ist ein Stein in einem großen Mosaik an Hilfeleistungen, seien sie ehrenamtlicher oder professioneller Natur. Die Versorgung unserer alten Mitmenschen ist nur zu leisten, wenn wir das Ehrenamt einbeziehen. Wenn wir Freiwillige, die gern etwas für andere tun wollen, integrieren und sie nicht mit bürokratischen Versicherungsproblemen vor den Kopf stoßen. Oder sie abblitzen lassen, weil sie nicht in ein professionelles Team zu passen scheinen.

Ich habe vor einigen Jahren in einem Projekt des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mitgearbeitet. Dort haben sich jeweils ein Mensch mit Behinderung und einer ohne zusammengetan und einmal pro Woche etwas gemeinsam unternommen. Ich bin mit meinem Partner Tandem gefahren – ich vorn, Hermann hinten. Wir haben sogar Wettfahrten mit anderen gemacht und uns dabei die ganze Zeit auf dem Fahrrad unterhalten. Das war eine wunderbare Erfahrung. Warum ist nicht das Gleiche mit alten Menschen möglich, die zwar nicht mehr alleine steuern, aber noch ohne Weiteres fahren können, wenn jemand anders am Lenker sitzt? Dann fahren da Menschen durch die Natur und freuen sich, dass sie sich noch bewegen können, dass sie noch den Wind um die Nase spüren und wieder etwas riechen und sehen. Menschen, die sonst zu Hause hinter verschlossener Tür verkümmern. Solche Ansätze sind nun wirklich keine Überforderungen, und sie sind zwischen diesen beiden Generationen von jungen Alten und alten Alten in großer Zahl nötig und, davon bin ich überzeugt, auch möglich.

Sehr alten Menschen zu helfen, hat letztlich auch einen zutiefst eigennützigen Aspekt: Es ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft. Man macht sich rechtzeitig mit etwas vertraut, was so oder so ähnlich früher oder später auf einen selbst, auf den Partner oder die Freunde zukommt. Da kann man sich dann schon einmal aus der Anschauung heraus überlegen, wie man später leben möchte und was man vielleicht anders haben möchte.

Wir, meine Frau, meine Freunde und ich, haben den ersten Schritt ins Altersleben schon recht früh getan, mit Mitte vierzig. Damals waren unsere Kinder aus dem Haus, und wir haben beschlossen, unsere Hausstände im Grünen vor den Toren der Stadt aufzugeben und stattdessen gemeinsam ein altes Stadthaus altengerecht zu sanieren und in Wohnungen aufzuteilen. Dort leben wir nun gemeinsam mit fünf Parteien auf fünf Etagen, und es lebt sich ausgesprochen gut so – Einkaufsmöglichkeiten sind vor der Tür, eine große Auswahl von Ärzten ist um die Ecke, die Straßenbahn nicht weit, das Zentrum Bremens zu Fuß erreichbar. Keiner von uns möchte diese städtische Vielfalt und das bequeme Leben unter einem Dach missen: das gemeinsame Frühstück einmal die Woche, die spontane Begleitung zum Arzt, falls es nötig sein sollte, die gemeinsamen Reisen, wer Lust und Kraft dazu hat, und das Wissen, dass immer jemand zu Hause ist, wenn man mal Hilfe nötig haben sollte.

Unsere Reisen haben sich dabei verändert. Früher konnte es gar nicht weit genug gehen: jedes Jahr nach Nicaragua, sogar eine Weltreise mit Besuch bei lieben Freunden, ein Segeltörn über den Atlantik. Heute finden wir Fahrradtouren um die Müritz herum, die Elbe von Dresden runter nach Magdeburg oder an Oder und Neiße entlang ausreichend. Es lockt immer die vorher gebuchte Unterkunft, und die Tagespensen werden kürzer. Auch gefällt es uns, mit unseren Enkelkindern regelmäßig durchs Watt zu wandern oder an der Ostsee bei Freunden die nahen Bauernhöfe anzusehen und Badegelegenheiten ohne dramatische Wellen oder Angst vor Sonnenbrand zu genießen. Dabei wird Entschleunigung für uns immer wichtiger. Wir suchen die Pausen und freuen uns, wenn die Enkelkinder dann mit uns Doppelkopf spielen.

Mit Mitte siebzig hat man heute oft noch zwanzig Jahre vor sich – und die will ich aktiv gestalten und nicht einfach aus der Hand geben. Das sind gewonnene Jahre. Mit Mitte siebzig will ich mich nicht aufs Sofa setzen und resignieren, da erwarte ich noch viel Leben und viel Neues. Wenn so ein junger Alter auf mich zukommt und mir vorjammert, dass er sich schon so müde fühle, dann erzähle ich immer von der über hundert Jahre alten Bremerin, die sagt, sie sei zu jung für »diese Zusammenlebeformen«. Alter ist kein Zustand, sondern Empfinden. Und wer sich mit sechzig alt fühlt, kann mit achtzig noch gute Zeiten erleben. Alter ist immer auch eine Frage davon, wie strapaziert wir sind, wie zufrieden mit unserem Leben und wie wir unsere Ressourcen betrachten. Deshalb bleibt einem nur eines: Immer ausprobieren, was noch geht.

Ich meine damit nicht, sich das Altwerden schönzureden. Ich gebe zu, auch mir fällt es schwer, daran zu denken, dass irgendwann, vielleicht schon bald jeder Tag mühselig werden könnte. Aber es geht ja auch gar nicht darum, sich täglich vor Augen zu führen, was alles passieren kann. Es geht darum, sich in der jeweiligen Lebensphase zu orientieren und das Beste aus dieser Zeit zu machen.

Die solidarische Rentenversicherung ist ein Segen. Doch Ruhestand klingt sehr danach, dass hier Menschen aufs Abstellgleis geschoben werden sollen. Ich jedenfalls will mitten im Leben bleiben. Ich will nicht, dass man mich in die Ecke schiebt und sagt: »Halt mal den Rand.« Sondern ich will Anteil am Leben haben – am Leben meiner Freunde, meiner Kinder und Enkel, meiner Kirchengemeinde und meiner Stadt. Und dafür will ich auch etwas tun. Bei meinen Besuchen in Alterswohngemeinschaften habe ich erlebt, dass es für alte Menschen, auch für Demente, das Schlimmste ist, wenn sie nichts mehr zu tun haben. Für sie ist es existenzbegründend, beteiligt zu werden, gefragt zu werden. Zum Beispiel in der Küche: Ob die Kartoffel perfekt geschält ist, ist nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass sich da jemand darüber freut, dass er Kartoffeln geschält hat. Dass das sein Essen ist, das er zubereitet hat, sein Gemüse, das er geputzt hat und sein Salat, den er gewaschen hat. Man sollte solchen Menschen nicht alles aus der Hand nehmen und sie in die Ecke schieben, sondern sie einbeziehen, in der Mitte halten.

Der Entschluss, mein Altersleben zu einem Zeitpunkt zu gestalten, an dem das Alter noch weit weg war, kam nicht einfach aus dem Nichts. Der Gedanke, das Alter nicht einfach auf mich zukommen zu lassen und abzuwarten, was geschehen wird – zu Hause wohnen bleiben, die Kinder ausziehen und das Haus groß und leer werden sehen –, dieser Gedanke kam mir, meiner Frau und meinen Freunden nicht von heute auf morgen. Zumindest ich habe über Vorbilder gelernt, wie ein aktives Altersleben aussehen kann. Zum einen hatte ich meine Großmutter vor Augen, die bis zu ihrem Tod in unserer Familie mitgelebt und sich mitgekümmert hat, vor allem um uns sechs Kinder. Oder die alte Kapitänsfrau, die meine Eltern zusammengebracht hat, eine stark übergewichtige, aber ungemein rüstige alte Dame, die sich bis zuletzt mit großem Selbstbewusstsein in der Gemeinde eingemischt hatte. Und ich habe Wilhelm Kaisen, den Bremer Nachkriegsbürgermeister, dafür bewundert, dass er mit 92 Jahren noch Vorträge gehalten und bis zuletzt auf seinem kleinen Bauernhof gewerkelt hat – einfach weil er Freude an der Arbeit und Freude am öffentlichen Leben hatte. So habe ich im Laufe meines Lebens eine ganze Reihe hoch betagter Menschen kennengelernt, die mir vorgelebt haben, was ein erfülltes Altersleben sein kann. Dazu gehören auch der einstige Berliner Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, der Berliner Bischof und Präses Kurt Scharf, dazu gehören der Theologe Helmut Gollwitzer und auch der Jurist Ludwig Raiser, mein alter Professor – allesamt alte Herren, die mir gezeigt haben, dass man bis ins hohe Alter lebendig sein, am öffentlichen Leben teilnehmen und sich einmischen kann.

Ich habe aber auch das Negativbild kennengelernt: Alte Menschen, die in entsprechenden Einrichtungen auf den Fluren sitzen und vor sich hin vegetieren. Solche Bilder habe ich als Schüler in Bethel während meiner Ferienarbeit bei den psychisch Kranken gesehen und später als Sozialsenator bei meinen täglichen Besuchen in Alteneinrichtungen. Menschen, die auf dem Flur sitzen und vor sich hin dösen, mit dem Kopf wackeln und ansonsten darauf warten, dass sie abgeholt werden. Ein Zustand zum Erbarmen – und dabei ein Zustand, gegen den man doch etwas ausrichten kann!

Man muss das Alter anpacken, gestalten. Wenn man alles auf sich zukommen lässt, dann lebt einen das Leben – und nicht umgekehrt. Ich habe eine ältere Verwandte, die einen wie ich finde denkbar schlechten Leitspruch für ihr Leben gewählt hat: »Nimm di nix för, dann geit di nix fehl.« Nimm dir nichts vor, dann misslingt dir auch nichts. Sie hat gedacht: Am besten kommst du über die Runden, wenn du überhaupt nichts anfängst, nichts riskierst und alles irgendwie laufen lässt. Aber wer sich nicht strapaziert, sich nicht intellektuell herausfordert, verkümmert geistig unweigerlich. Ich kenne viele, die im Grunde bedauernswert sind, weil sie zu Hause sitzen und aus mangelnder Anregung vor sich hindämmern, sich nichts mehr zutrauen und auch niemanden mehr haben, der sie mal heraus holt und sagt: »Komm, wir machen was zusammen.« Menschen, und davon gibt es Tausende, die immer nur hoffen, dass irgendetwas passiert. Aber es passiert nichts – es sei denn, man macht selbst etwas.

Das Entscheidende ist nicht, dass man Angst vor dem Alter hat, vor Krankheit, Einsamkeit und Tod – diese Gedanken beschleichen bisweilen jeden von uns, egal wie fit und rüstig man ist. Das Entscheidende ist, dass man sich diesen Gedanken nicht ergibt, sondern seinen Ängsten vorbeugt. Wer jung bleiben möchte, aber nichts für sich tut, außer Kosmetika zu kaufen, wird nicht sein Ziel erreichen. Aber wenn jemand versucht, dadurch jung zu bleiben, dass er in der Mitte seiner Nachbarschaft, seiner Freunde, seiner Familie bleibt, dadurch, dass er sich Aufgaben sucht, die ihn anregen und mobilisieren, dann tut er das Richtige. Mögen die Hüften steifer und die Beine klappriger werden – darum geht es nicht. Es geht darum, mit diesen Beinen und diesen Hüften noch so viel anzustellen, wie irgend möglich ist.

Erst kürzlich bin ich auf einer Lesung einer Frau begegnet, einer alten Lehrerin aus Ostdeutschland, die sehr schön formuliert hat, wie man zufrieden alt werden kann: Zweierlei gehöre zusammen, die Kunst loszulassen und zugleich seine Hände mit Neuem zu füllen. Ich kann in dem Maße loslassen, was mir früher wichtig war, indem ich meine Hände neu mit Aufgaben fülle, die mich anregen, mit Dingen, die ich erst noch entdecken muss. So ist es zum Beispiel mit dem Lernen bis ins hohe Alter. Früher wurde immer gesagt, das geht bis höchstens Zwanzig und dann ist es vorbei. Das ist Unsinn, wie wir heute wissen. Wenn Senioren an der Universität ein Studium aufnehmen, dann nehmen sie die gewonnenen 30 Jahre aktiv an, die sie im Vergleich zu ihrer Großelterngeneration heute besitzen. Übrigens sind diese Jahre endlich ein Leben in Freiheit, nicht unterdrückt durch Schichtarbeit, grantige Vorgesetzte oder Kollegen, die es einem schwer machen. Nein, ich kann mir aussuchen, was mir Spaß macht, ich probiere etwas aus und dann lasse ich es wieder – das ist doch wunderbar! Diese Art Aktivismus ist kein Weglaufen vor dem Alter, sondern aktives Altern. Dabei muss man sehen, dass das Altern ein Prozess ist. Man muss sich im Grunde jeden Tag neu erfinden. Man muss immer wieder von Neuem herausfinden, was noch geht und was nicht. Zeit, Geduld, Nerven und Aufmerksamkeit – das sind die kleinen Helfer des Alters, nicht irgendwelche Schlafpillen, weil man vor lauter Fernsehen abends nicht zur Ruhe kommt.