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Teuer, trendy und todschick – der Häkelclub entwirrt gefährliche Fäden Der zweite Fall für Henri und den Häkelclub! Eine witzige und warmherzige Cosy-Crime-Serie rund um den Handarbeitsladen ›Nähschiff & Nadelflotte‹ - Urige, eigenwillige und liebenswerte Charaktere ermitteln im Häkelclub - Für Leserinnen und Leser von Krischan Koch und anderen Cosy-Crime-Serien in Norddeutschland»Klabauterkutten« selbst zu machen, ist der neueste Schrei in der Handarbeitswelt. Dafür wird die Wolle der Skudden-Schafe verwendet, die wegen aufwändiger Herstellungsverfahren sehr teuer ist. Doch die Firma »Seemannsgarn« hat das Verspinnen der Wolle revolutioniert. Prompt organisiert Henri für die Kundinnen seines Handarbeitsladens »Nähschiff & Nadelflotte« einen Ausflug dorthin. Hier zeigt man ihnen zwar die Schafhaltung, nicht aber die eigentliche Wollfabrik, denn die Herstellungsverfahren seien streng geheim. Eine Exkursions-Teilnehmerin äußert sich offen misstrauisch. Kurz darauf ist sie tot: Sie wurde von einem Mähdrescher überrollt. Ein Unfall mit Todesfolge? Der Häkelclub beginnt zu ermitteln. Mit exklusiver Häkelanleitung! Alle Bände von ›Der Häkelclub ermittelt‹: Band 1: Mörderische Masche Band 2: Grausames Garn
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Seitenzahl: 392
Edda Langner ist Mitarbeiterin im Handarbeitsladen ›Nähschiff & Nadelflotte‹ und Gründerin des Modelabels ›Frollein’s Fashion‹ – und ihr ist ein echter Coup gelungen: Ihr Klabautercape-Design ist der neueste Schrei in der Handarbeitswelt. Dafür wird allerdings Skuddenwolle benötigt, die aufgrund aufwändiger Herstellungsverfahren sehr teuer ist. Ein Glück, dass die Firma ›Seemannsgarn‹ das Verspinnen der Wolle revolutioniert hat und dem ›Nähschiff‹ einen deutlich günstigeren Preis anbieten kann! Spontan organisiert Henri für die Kundinnen seines Handarbeitsladens eine Fahrt zur Wollfirma. Bei dem Ausflug geschieht ein furchtbares Unglück: Die Exkursions-Teilnehmerin Ria Mommert, die mit ihren kritischen Fragen negativ auffällt, wird von einem Mähdrescher überrollt und erliegt wenig später ihren Verletzungen. Ein Unfall? Henri und der Häkelclub werden stutzig und beginnen undercover zu ermitteln.
Karla Letterman
Ein Fall für Henri und den Häkelclub
Für alle Klabauterfrauen
Henri Ketelsen, eigentlich gelernter Uhrmacher, hat mit 35 Jahren von seiner tödlich verunglückten Frau Maike das Handarbeitsgeschäft ›Nähschiff & Nadelflotte‹ geerbt, das er zunächst verkaufen wollte. Die einzige Angestellte Edda Langner hat dies jedoch zu verhindern gewusst und außerdem dafür gesorgt, dass Henri selbst handarbeiten lernt. Seitdem wird er in Bökersbrück nur noch ›Häkel-Henri‹ genannt.
Er hat ein Faible für langlebige, klassische Kleidung und hängt besonders an seinem original englischen Trenchcoat.
Edda Langner ist 59 Jahre alt und die gute Seele des Handarbeitsgeschäft ›Nähschiff & Nadelflotte‹. Sie leitet Häkelclub und Strickzirkel. Nach dem Tod ihrer Chefin Maike Ketelsen hat sie dafür gesorgt, dass Witwer Henri das Geschäft übernimmt und die Handarbeitskreise fortgeführt werden. Ihr langjähriger Traum ist jedoch ein eigenes Label für Strickmode, die sie in ihrer Freizeit selbst designt.
Von Anfang an im Häkelclub dabei ist Lena Rosendorn, 52, Friseurmeisterin und Hobbychemikerin. Sie liebt alle Rosétöne und verarbeitet gern feine, flauschige Wolle. Lena ist tatkräftig und hilfsbereit, sie zögert nicht lange, wenn es gilt, einen pfiffigen Plan umzusetzen.
Die hochgewachsene, kräftig gebaute Gabriele Lösch ist Journalistin und versierte Fotografin und stets um Genauigkeit bemüht. Um bei ihren Recherchen nicht unnötig aufzufallen, stylt sich die 41-Jährige natürlich. Sie bevorzugt gedeckte Farben – außer bei ihrem Auto, einem türkisfarbenen kleinen Geländewagen.
Die rauchige Stimme kündigt sie schon von Weitem an: Claudia Schlotterbek, 45, Mitinhaberin einer Kfz-Werkstatt und Technikgenie. Sie tritt forsch und ungezwungen auf und hat ein Faible für Abhörtechnik. Da sie meist in Eile ist, verarbeitet sie gern dicke Wolle mit großen Nadelstärken.
Frauke Niehoff ist Physiotherapeutin mit eigener Praxis. Sie ist als einziges Mitglied des Häkelclubs auch im Strickzirkel aktiv und kennt halb Bökersbrück. Sie ist burschikos, gewissenhaft und meist besonnen. Es sei denn, sie muss jemanden zum Reden bringen – dann wendet die 47-Jährige eine ›manuelle Therapie der ganz besonderen Art‹ an.
Kim Zander, 24, ebenfalls Physiotherapeutin, ist seit Kurzem in Fraukes Praxis tätig. Sie trägt grundsätzlich Schwarz und verarbeitet auch nur schwarze Wolle – höchstens noch Anthrazit, das sie als ›Schwarz im Kurzurlaub‹ bezeichnet.
Kims Schwester Chloé Zander ist mit 25 die jüngste Schornsteinfegermeisterin Schleswig-Holsteins. Auch sie trägt nur Schwarz. Sie flucht gern und hat eine lebhafte Mimik. Die beiden werden insgeheim als die ›Drama-Schwestern‹ bezeichnet.
Die Frau bewegte sich auf leisen Sohlen. Abrupt hielt sie inne. War da vorn in dem kleinen Hof vielleicht ein Streit im Gange? Sie spitzte die Ohren. Tatsächlich, es wurde laut.
»Das können Sie Ihrem Friseur erzählen!«
Die Stimme kannte sie doch? Na warte, Frau Nachbarin, vielleicht ertappe ich dich endlich mal bei einem Problem! Die zur Schau gestellte Rechtschaffenheit dieser Person war ihr schon lange ein Dorn im Auge. Ein derartiger Gutmensch konnte man einfach nicht sein, da musste es doch ein dunkles Geheimnis geben! Vielleicht kam sie dem heute ganz zufällig auf die Spur! Vielleicht konnte sie der Selbstgerechtigkeit dieser Dame einen ordentlichen Dämpfer verpassen! Sie verspürte ein angenehm kribbelndes Gefühl im Magen. Einen leichten Jagdtrieb.
»Jetzt beruhigen Sie sich gefälligst!« Auch die Stimme des Mannes, der selbst alles andere als ruhig klang, erkannte sie.
Das versprach eine interessante Diskussion zu werden! Als die Frau ihren Weg fortsetzte, bewegte sie die Füße ganz behutsam, bis ihr nach einigen Schritten klar wurde, dass man sie bei dem Lärm ringsumher sowieso nicht hören konnte.
»Beruhigen?!« Die Stimme der Frau wurde schrill. »Sie lügen das Blaue vom Himmel herunter, und ich soll wie alle anderen brav nicken und die Klappe halten? Da kennen Sie mich aber schlecht!«
Hui, Frau Nachbarin, das sind ja ganz ungewohnte Töne! Das klingt ja fast nach einer Drohung!
»Nun hören Sie mal, gute Frau.« Der Mann hatte seine Stimme etwas gesenkt, war jetzt um Contenance bemüht. »Keiner lügt hier. Ich werde Ihnen alles noch einmal in Ruhe erklären. Kommen Sie, ich biete Ihnen einen ausführlichen Rundgang an. Ganz exklusiv, nur für Sie.«
»Sie brauchen sich gar nicht an mich ranzuwanzen. Hey, halten Sie mal schön Abstand!«
Der Mann bedrängte seine Gesprächspartnerin offenbar. Was er erwiderte, ging im Lärm eines heranpreschenden Mähdreschers unter.
Die Lauscherin spürte einen heiß-kalten Schauer über den Rücken prickeln. Gleich hatte sie das Ende der hohen Mauer erreicht und konnte einen Blick auf die Szene im Hof werfen.
Sie lugte um die Ecke. Die beiden Streithähne schimpften erbost aufeinander ein, wie deren Körperhaltung verriet. Leider konnte sie nichts mehr von dem Gespräch verstehen, denn der immer näher kommende Mähdrescher übertönte jedes andere Geräusch. Warum er wohl rückwärts in den Hof einfuhr? Und dann auch noch in dem Tempo? Das war wirklich unvorsichtig!
Mein Gott, was war das denn? Jetzt hatte der Mann die Nachbarin angefasst, an der Schulter gerüttelt. Zu dumm, dass man kein Wort mehr verstehen konnte! Was machten die denn da? Sahen sie die Gefahr nicht?
»Achtung!«, schrie die Beobachterin. »Vorsicht!«
Der Mähdrescher hielt direkt auf die Streitenden zu.
Gott im Himmel, der spinnt wohl! Das darf doch nicht …
Die riesige Maschine gab ein Ächzen von sich, als sie ruckartig abgebremst wurde.
Man hatte keinen Aufprall hören können, auch keinen Hilferuf.
Die Tür des Führerhäuschens öffnete sich, zuerst zögerlich, dann entschlossener. Eine großgewachsene, etwas dickliche Gestalt wand sich heraus, ging einige verhaltene Schritte in Richtung Rückseite, steckte dann die Hände in die Hosentaschen und blieb stehen.
Der vorher so streitlustige Mann stand erstarrt neben dem Verladerohr der Maschine. Schließlich bückte er sich wie in Zeitlupe, um unter das Fahrzeug zu blicken.
Edda Langner stand im Hausflur und musterte sich kritisch. Sie hatte dem Spiegel die Seite zugewandt und blickte über die Schulter. Dann breitete sie die Arme aus und drehte sich schwungvoll um die eigene Achse. Der Poncho flog ihr frech um die Schultern. Hui! Das hatte sie schon als Kind geliebt.
Plötzlich tauchte Wolfram hinter ihr auf; sie hatte ihn nicht herunterkommen hören. »Na, min Deern, willst du bei einem Tanzwettbewerb mitmachen?« Er lachte. Als sie stehen geblieben war, drückte er ihr einen Kuss in den Nacken.
Edda lächelte. »Tanzen wäre auch mal wieder schön, meinst du nicht?«
»Hm. Wenn’s nicht gleich nächste Woche sein muss …« Er seufzte leicht. »Ich habe schon mächtig Respekt vor der Vernissage! Da werden viele Menschen auf einem Haufen sein, und ich mittendrin. Du weißt doch – ich bin das gar nicht mehr gewohnt.«
»Dann wird es Zeit, dass du dich wieder daran gewöhnst!«
Wolfram zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf leicht schief.
Edda lachte. »In dieser Pose erinnerst du mich an Keith Richards. Du machst den Mund so … so nachdenklich spitz.«
Wolfram spitzte die Lippen jetzt übertrieben und begann, You can’t always get what you want zu summen.
Edda schüttelte den Kopf. »Musik machen, aber nicht tanzen wollen.« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu. Sie zupfte noch hier und da an ihrem Umhang, hatte aber schon entschieden, dass sie ihn heute tragen würde.
Wolfram beobachtete sie mit amüsiertem Lächeln. »Wirst du jetzt jeden Tag so ein Cape anziehen?«
Nur noch, bis es bekannt genug ist, min Jong, dachte sie, also noch ein, zwei Tage. Laut sagte sie: »Ja, das ist das Schicksal einer Designerin: Werbung für die eigene Mode zu machen.«
»Ach – in der Mission bist du heute unterwegs? Und ich dachte schon, du gehst auch noch am Samstag ins Wollgeschäft.«
»Tja – das eine schließt das andere nicht aus.« Sollte sie ihm von ihrem Plan erzählen? Sie entschied sich dagegen. Noch musste er nicht alle Einzelheiten kennen. Erst einmal sollte alles in Gang kommen, dann konnte sie ihn immer noch einweihen.
Doch Wolfram blieb hartnäckig. »Na, du tust ja geheimnisvoll! Triffst du dich etwa noch mal mit dieser Jette?«
Edda winkte ab. Dann griff sie nach ihrer Handtasche, summte die ersten Takte von Satisfaction und hauchte Wolfram einen Kuss auf die noch unrasierte Wange. »Muss los. Bis später!«
Henri Ketelsen steckte den Schlüssel ins Schloss der Ladenhintertür. Er ließ sich nicht drehen. War bereits aufgesperrt? Edda konnte nicht da sein, sie hatte samstags frei. Oje, dann hatte er gestern wohl vergessen abzuschließen! Hoffentlich hatte das niemand bemerkt! Er ging zwar nicht davon aus, dass man sperrige Wollpakete aus dem Lager stehlen würde, doch es reichte schon, wenn übergeschnappte Zeitgenossen im Verkaufsraum randalierten oder Ware unbrauchbar machten.
Mit einem flauen Gefühl im Magen drückte Henri die Klinke herunter, schob die Tür langsam auf und trat ein. Er ließ seinen Blick den Flur hinauf und hinab schweifen. Nichts Ungewöhnliches. Er atmete auf.
Als er einen Bügel vom Garderobenhaken nahm, um seinen Tweedmantel aufzuhängen, polterte es rechts von ihm derart laut, dass er zusammenfuhr und den Mantel fallen ließ. Verdattert betrachtete er den Bügel in seiner Hand, hängte ihn zurück auf den Haken, hob den Mantel mit einer einzigen Bewegung vom Boden auf und schob ihn auf die Hutablage, während er sich gedanklich für den Angriff wappnete. Er zog seinen stabilen Stockschirm aus dem Ständer, den er neben der Garderobe platziert hatte, und schlich auf die Tür des Lagerraums zu. Edda und er waren einmal ein Szenario durchgegangen, wie sie auf Einbrecher reagieren konnten. Zu Edda hatte Henri gesagt, sie möge in dem Fall sofort das Haus verlassen und 112 wählen. Er selbst fühlte sich mit der Waffe in der Hand stark genug, um einen Dieb zu übertölpeln.
Wieder schepperte es. Der Lärm kam eindeutig aus dem Lager. Er hatte sich also geirrt, was die Anziehungskraft von Wollpaketen auf Einbrecher betraf.
Drei, zwei, eins – null. Jetzt aber!
Henri stieß die Tür auf, stürmte in den Raum und schwang gleichzeitig den Stockschirm hoch in die Luft, bereit, den messingverstärkten Griff auf den Kopf des Übeltäters niedersausen zu lassen.
Der Schrei war spitz. »Henri!«
Edda Langner stand neben einem hölzernen Klapptritt und umklammerte Hilfe suchend eine demolierte Schaufensterpuppe. Die Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. »Hast du mich erschreckt!«
Entgeistert ließ Henri die Hand mit dem Schirm sinken. »Was suchst du denn hier? Ich wollte dich gerade unschädlich machen …«
»Ist mir nicht entgangen.« Edda schluckte.
»Bei dem Scheppern dachte ich, jemand wäre eingebrochen. Mit dir habe ich heute gar nicht gerechnet.« Henri fuhr sich über die Stirn, wie um die Bilder, die sich dahinter formiert hatten, wegzuwischen. Eine eigenhändig niedergestreckte Edda. Nicht auszudenken! Er stieß die Luft aus. »Das war knapp.«
Edda hatte die Schaufensterpuppe gegen die mit Wollpaketen bestückte Regalwand gelehnt. Henri musterte das ramponierte Stück. Es handelte sich um ein älteres, glatzköpfiges weibliches Modell mit deutlich modulierten herben Gesichtszügen. Augen, Brauen und Lippen waren gefärbt, der Teint von einem hellen, leicht gelbstichigen Braun. Beide Hände fehlten. Die rechte Halsseite war eingedrückt, und vom rechten Oberschenkel fehlte ein Stück, als hätte ein großer Hund es herausgebissen.
»Was willst du denn damit?«, fragte er.
»Ich will das Schaufenster neu dekorieren.«
»Und was wird das Thema? Handfester Streit um die beste Wolle?«
Edda lachte auf. »Lass dich überraschen!«
»Aber … aber … du bist samstags doch sonst nicht hier.«
Edda lächelte geheimnisvoll. »Tja – gestern hatte ich noch nicht alles beisammen.« Sie drehte sich nach links und deutete auf ein Regalfach direkt unter der Zimmerdecke. »Könntest du mir bitte diesen Torso herunterholen?«
Henri, der Edda mit seiner Größe von 1,94 Meter um mehr als 30 Zentimeter überragte, schnappte sich die hölzerne Trittleiter. Der Torso mit dem Frauenkopf wirkte antik. Henri meinte sich erinnern zu können, dass er aus einer Internetauktion stammte. Im Unterschied zur Puppe hatte man eine wellige Kurzhaarfrisur moduliert, die Henri an die 1920er-Jahre erinnerte. Die Haarpartie war in einem blassen Kastanienbraun gefärbt. Was Edda wohl damit vorhatte?
Henri sah auf seine Armbanduhr, ein russisches Modell, das er eigenhändig instand gesetzt hatte. Kurz flogen seine Gedanken zu seiner Zeit als Uhrmacher zurück, als der er noch vor wenigen Monaten gearbeitet hatte. Doch jetzt musste er endlich den Laden öffnen! Als er über den Flur auf den Verkaufsraum zuging, bemerkte er seinen zusammengeknüllten Mantel auf der Hutablage. Wie kam der denn dahin? Ungläubig zog er das Kleidungsstück herunter, hielt es am Kragen fest und zog die Seiten, so gut es ging, glatt. Der schöne Stoff! Beinah andächtig strich er über das beige-braune Hahnentrittmuster. Der Mantel war noch neu, und Henri hatte sich die Wahl nicht leichtgemacht, denn er würde ihm auch in einigen Jahren noch gefallen müssen. Er kaufte wenig, aber stets hochwertige Kleidung und bevorzugte klassische Schnitte und Farben. »Du kleidest dich wie ein wohlhabender Rentner und nicht wie ein Mann Mitte dreißig!«, hatte sein Stammtischkumpan Kris Grundmann einmal gestichelt, doch da hatte sein Freund Max, der genauso alt war wie Henri, schon gekontert: »Für mich sieht er aus wie ein englischer Lord«, und damit war das Thema erledigt gewesen.
In der Küche prüfte er, ob die Thermoskanne gefüllt war, und tatsächlich hatte Edda schon für frischen Kaffee gesorgt. Henri goss sich in seinen Lieblingsbecher ein – bauchig, dunkelblau glasiert und mit der weißen Aufschrift ›Muckefuck‹ – und setzte pfeifend seinen Weg fort. Im Verkaufsraum schloss er die gläserne Pendeltür auf, den Haupteingang von ›Nähschiff & Nadelflotte‹, der auf den Heidi-Klum-Boulevard, die Bökersbrücker Haupteinkaufsstraße, führte. Kurz trat er vor die Tür, um einen Blick auf die Schaufensterdekoration zu werfen. Er kannte sie natürlich, wollte sie aber noch einmal bewusst auf sich wirken lassen.
Den Vordergrund bildete eine Schar flauschiger Wollknäuel in gedeckten, anheimelnden Farben, die wie eine zufällige Ansammlung drapiert waren. Im vordersten, weinroten Knäuel steckten zwei dicke Holzstricknadeln. Man will sofort loslegen, dachte Henri, zumal auf vier Metallbüsten Muster möglicher Handarbeiten ausgestellt waren. Ein- und mehrfarbige Schals, ein voluminöser Rollkragenpulli, eine Strickjacke im Norwegermuster, ein mit bunten Fransen versehener Poncho. Grobmaschig und kuschelig, die perfekte Animation im ungemütlichen Februar.
Als er wieder hineinging, musste Henri über sich selbst lächeln. Da wollte er also tatsächlich gleich wie ein Routinier loslegen. Vor einem Jahr hätte er noch jeden ausgelacht, der ihm prophezeit hätte, dass er nicht nur den ererbten Handarbeitsladen fortführen, sondern auch noch Spaß am Häkeln und Stricken finden würde. Selbst Maike hätte das sicher nicht für möglich gehalten. Sie hatte ihn Mister Clock ’n’ Watch getauft, weil sie wusste, wie sehr er in seiner Arbeit beim Uhrmachermeister aufging. Sie selbst hatte nie Strickzeug mit nach Hause gebracht, und er hatte nie danach gefragt.
Maike. Henri atmete tief ein. Ob sie auf ihn stolz wäre, weil er den Laden weiterführte? Immerhin hatte er dadurch nicht nur Eddas Arbeitsplatz gesichert, sondern nach der trauerbedingten Pause auch die Fortsetzung der beliebten Handarbeitsrunden ermöglicht. Sowohl die Damen des Strickzirkels als auch die des Häkelclubs hatten ihm mehr als ein Mal versichert, wie wichtig ihnen diese Treffen seien. Mittlerweile nahm er längst selbst daran teil, worauf er ohne Eddas sanften Druck allerdings nie gekommen wäre.
In diesem Moment stürmte seine Mitarbeiterin mit Puppe und Torso im Schlepptau in den Verkaufsraum. Henri wollte soeben fragen, was sie denn an der aktuellen Dekoration falsch fände, als eine Stammkundin mit wehenden Mantelschößen den Laden betrat. Edda zerrte ihre Utensilien in die entgegengesetzte Richtung und legte alles auf dem zum Arbeitstisch umfunktionierten Konferenztisch am anderen Ende des großen Raumes ab. Sie rief der Kundin ein hastiges »Guten Tag, Frau Flieder« zu, bevor sie wieder in den Tiefen des Ladens verschwand. Henri war klar, dass Edda sich auch an normalen Tagen nicht darum riss, die Bürgermeistergattin Roselinde Flieder zu bedienen. Dafür brauchte man wirklich einen langen Atem.
Gerade wollte er seinerseits eine Begrüßung aussprechen, da war die prominente Mitbürgerin bereits an ihn herangetreten und hatte ihn am Ellbogen gepackt. Henri nahm den zitronigen Duft ihres Parfums wahr, der zu ihrem hellgelben Outfit passte: Marlenehose, anschmiegsamer Mohairpulli und weicher, grobmaschiger Schal. Die spitz zulaufenden Stiefeletten im Leopardenmuster bildeten einen reizvollen farblichen Kontrast. Den kaffeebraunen Mantel hatte sie abgestreift und ohne viel Federlesens mitten auf dem Ladentresen abgelegt.
»Hören Sie, Henri«, begann Roselinde Flieder, die beinah jeden umstandslos mit Vornamen ansprach, und warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Ich brauche eine wirklich ausgefallene Anleitung. Etwas Exquisites für mich. Ein feines, kleines Kleidungsstück, das nicht jeder hat. Ich möchte meinen Mann bei seiner … nun, darüber darf ich noch gar nicht reden …« – jetzt ließ sie Henris Arm los – »… jedenfalls möchte ich Dominic damit überraschen.«
Henri entspannte sich ein wenig und trat hinter den Tresen. Noch war nichts Außergewöhnliches passiert. Diese Kundin bestand immer auf etwas Ausgefallenem. Er räusperte sich. »Nun, Frau Flieder, es kommt natürlich darauf an, was Sie dazu tragen wollen. Doch ich habe hier …«, er bückte sich und zog eine geräumige Schublade unter dem Ladentisch hervor, »ein gewisses Geheimfach mit ganz besonderen Anleitungen.« Aus dem Augenwinkel nahm er ihren skeptischen Blick wahr. »Glauben Sie mir, die bekommt nicht jeder zu sehen.«
Henri begann, die Schnittmusterbögen, Häkel- und Strickanleitungen durchzublättern. Er zog einen Bogen heraus und drehte das Titelblatt zu ihr um. »Hier – ein Jumpsuit mit überschnittenen Schultern.« Er sah sie an. Ihre Reaktion war neutral. »Wir hätten passend dazu sehr attraktive, fließende Stoffe vorrätig«, ergänzte er.
Die Bürgermeistergattin hatte den Bogen zur Hand genommen und legte ihn nun auf die rechte Seite des Ladentischs. Mit einer kurzen, sorgfältigen Bewegung strich sie ihn glatt.
Aha, schon mal nicht verkehrt. Henri blätterte weiter. »Hier hätte ich außerdem ein äußerst elegantes Bolerojäckchen in raffiniertem Lochmuster. Falls Sie gern etwas häkeln möchten.«
Roselinde Flieder betrachtete das Muster eingehend, dann legte sie die Anleitung auf dem Schnittmuster ab. »Weiter, Henri«, verlangte sie schließlich.
Jetzt noch was zum Stricken. Henri reichte ihr eine leicht vergilbte Anleitung. »Besonders flexibel sind Sie natürlich mit einer Stola. Wie wäre es mit dieser hier? Das Blütenmuster ist absolut spektakulär! Und bei Bedarf unterstützen wir Sie natürlich …«
»Geben Sie mal her.« Die Kundin streckte die Hand nach Henris restlichen Anleitungen aus. Er seufzte. Er wusste, sich zu sträuben hätte keinen Zweck. Also reichte er ihr den gesamten Stapel über den Tisch.
Während Roselinde Flieder vor sich hin brummte »Hm, Cape, ach was, zu konventionell« und »Hübsches Ajourmuster, wirklich«, richtete sich Henris Aufmerksamkeit auf Edda, die mittlerweile das dritte Bigbag herbeigeschleppt hatte. Sie leerte die übergroßen Taschen auf dem Arbeitstisch aus, doch Henri konnte nichts weiter als einen Haufen aus gestricktem Material und einige Wollknäuel erkennen. Da sie die Strickstücke offenbar nicht während ihrer Arbeitszeit im ›Nähschiff‹ angefertigt hatte, musste es sich wohl um Exemplare aus ihrer eigenen Kollektion handeln. Henri hatte lange nicht gewusst, dass seine Mitarbeiterin seit 30 Jahren den Wunsch hegte, Strickmode zu entwerfen, und sich diesen Traum nun seit zwei Jahren erfüllte. Sie kooperierte dabei mit Urte Langfeldt, einer Hamburger Designerin, die es mit ihrem Laden im Karolinenviertel schon zu einigem Erfolg gebracht hatte und nun Edda Langners Modelle unter dem Label ›Frollein’s Fashion‹ mit anbot. Dieser Name war selbstironisch: Man hatte Edda in Bökersbrück lange als ›das Frollein‹ bezeichnet, weil sie unverheiratet geblieben war. Obwohl sie diesen Spitznamen anfänglich als Unverschämtheit empfunden hatte, hatte sie sich schließlich damit angefreundet, nachdem sie in Berlin durch Zufall auf eine trendige Bar mit dem Namen ›Frollein Langner‹ gestoßen war.
Henri war gespannt, was Edda entworfen hatte. Aus dem Haufen auf dem Arbeitstisch wurde er noch nicht schlau. Doch zunächst verlangte Roselinde Flieder nach seiner Aufmerksamkeit. »Henri, mal ehrlich: Wäre dieser Jumpsuit nicht zu jugendlich für mich?«
»Keineswegs«, entgegnete er aus Überzeugung, »das ist ein raffinierter, aber doch edler Schnitt. Und ich bin sicher, Sie können die freien Schultern tragen. Außerdem spielt die Wahl des Stoffes eine große Rolle.« Er wandte sich den breiten Regalbrettern mit den Stoffballen zu.
Zu seinem Erstaunen folgte die Frau des Bürgermeisters seiner ersten Empfehlung, entschied sich also für das Schnittmuster und ließ ihn perlweiße Viskose samt passendem Futterstoff zuschneiden. Henri komplettierte die Nähzutaten gemäß Anleitung um Garn, Reißverschluss und Zierknöpfe und packte die Sachen in einen braunen Papierbeutel mit Firmenlogo ein, dessen Vorderseite die Skizze einer historischen Kogge in marineblauer Farbe zierte, darunter stand der Firmenname ›Nähschiff & Nadelflotte‹ samt Internetadresse in geschwungenem Schriftzug.
Roselinde Flieder zahlte, ließ ihren Einkauf dann aber auf dem Ladentisch stehen. Sie trat aus der Tür und wandte sich dem Schaufenster zu, in dem Edda die Puppe aufgestellt hatte, über die sie soeben eine Art großen Umhang stülpte. Henri war neben die Kundin getreten und verfolgte das Geschehen ebenso neugierig. Der Umhang entpuppte sich als dunkelblaues, mit unregelmäßigen, schmalen weißen Streifen versehenes Cape mit riesiger Kapuze, die Edda der Puppe so geschickt um den Hals legte, dass deren versehrte Stelle unauffällig verdeckt wurde. Die Ärmelansätze des Capes waren weit. Edda bog die Arme so zurecht, dass sie bis zur Hälfte des Unterarms im jeweils entgegengesetzten Ansatz verschwanden, und hatte so auch das Problem der fehlenden Hände gelöst.
»Ist ein bisschen wie Zaubern, was das Fräulein da macht, nicht?«, kommentierte Roselinde Flieder. Sie war die Einzige, die Henri kannte, die nicht ›Frollein‹ sagte, seine Angestellte aber auch nicht korrekt mit ›Frau Langner‹ anredete.
Er nickte, während er gebannt verfolgte, wie Edda das vorn nur den halben Oberschenkel bedeckende, hinten aber lang auslaufende Cape um die Beine der Schaufensterpuppe drapierte, sodass auch die dritte kritische Stelle kaschiert war. Dann stutzte er: Hatte Edda vorhin nicht selbst so ein Cape getragen?
Auch wenn Edda ihr Publikum bestimmt bemerkt hatte, ließ sie sich das nicht anmerken. Sie bückte sich zu dem Strickstoffhaufen hinunter und zog äußerst sorgsam einen weiteren, deutlich kleineren, lohfarbenen Umhang hervor. Damit ging sie zur anderen Schaufensterseite, wo sie den antiken Torso auf einem Drahtgestell platziert hatte. Sie warf ihm das Strickstück über, und Henri konnte sehen, dass es sich um den oberen Teil eines Capes handelte, das ebenso geschnitten war wie das erste. Dieses Cape war allerdings noch unvollendet: In der zuletzt gestrickten Reihe steckte eine lange Rundstricknadel. Diesmal ließ Edda die Kapuze auf den Rücken fallen und befestigte den Umhang am Hals mit einem schmalen knöpfbaren Band.
Roselinde Flieder schlang beide Arme eng um sich, und Henri fragte sich, warum sie sich nicht ihren Mantel holte, der noch auf dem Tresen lag. Doch als er zu ihr hinüberblickte, stellte er fest, dass sie jede von Eddas Bewegungen aufmerksam verfolgte, als dürfe sie nichts verpassen. »Warum dekoriert das Fräulein eigentlich mitten im Februar so leichte Kleidungsstücke?«, fragte sie. »Da beginnt man ja zu frösteln.«
Henri wollte nicht zugeben, dass er nicht eingeweiht war. »Ich möchte noch nichts verraten«, wich er aus. »Aber bald werden w… bald werden Sie es verstehen, versprochen.«
Edda verteilte derweil einen Berg Papiere so auf dem Boden, dass die einzelnen Blätter sich zwar überlappten, einzelne Textteile aber lesbar waren. Das Wort »Anleitung« war deutlich zu erkennen, auf manchen Bögen waren Skizzen des Capes zu sehen, auf anderen Text und Strickschrift.
Auf eine Lücke in den Papieren, ungefähr mittig zwischen den beiden Puppen, legte Edda das letzte Strickstück. Es handelte sich um eine Kapuze in der Größe der beiden Capes. Auch hier steckten noch zwei Stricknadeln im unteren Teil.
»Ein Cape in verschiedenen Stadien«, murmelte Roselinde Flieder, deren Lippenfarbe mittlerweile ins Bläuliche changierte. »Interessante Idee!« Sie nickte Henri anerkennend zu, dann eilte sie zurück in den Laden, um kurz darauf mit Mantel und Einkäufen wiederzukehren.
»Sie kommen doch heute Abend auch zum Public Viewing«, rief sie Henri zu, was nach einer Feststellung, nicht nach einer Frage klang. Dennoch bejahte Henri.
»Bis dann!« Offenbar durchgefroren, hüllte sie sich fest in ihren Mantel und lief schnellen Schrittes den Heidi-Klum-Boulevard in Richtung des großen Parkplatzes hinunter.
Henri warf einen letzten Blick ins Schaufenster, wo Edda noch hier und da an Capes und Papieren herumzupfte und diverse Wollknäuel im Vordergrund arrangierte. Er erkannte die Sorte sofort: Es handelte sich um die hochpreisige, handgefärbte Skuddenwolle. Ihm entfuhr ein leises Ächzen. Dann trat er, nun ebenfalls vor Kälte zitternd, zurück in den Laden.
Er sortierte gerade die Anleitungen in die große Schublade zurück, als Edda aus dem Schaufensterbereich in den Verkaufsraum trat. Sie rieb sich die Hände.
»Du willst jetzt also unseren Ladenhüter promoten, was?« Henri dachte seufzend daran, wie viele Pakete Skuddenwolle im Lager auf Interessenten warteten. Die Garnfabrikanten und -händler schienen einen Trend ausgemacht zu haben, jedenfalls priesen sie die Wolle der kleinen, als bedrohte Nutztierrasse eingestuften Schafe in ihren aktuellen Kollektionen hoch an. Henri hatte sich von der Beteuerung, Skuddenwolle sei die feinste Wolle der Welt, verleiten lassen und gleich größere Mengen geordert. Da die Herstellung der Wolle aufwändig war, war das Produkt entsprechend teuer, und nicht einmal eine wohlhabende Frau wie Roselinde Flieder war bislang auf die Idee gekommen, in das Material zu investieren. Entsprechend abenteuerlich erschien ihm der Gedanke, jemand könnte die ansehnliche Menge Wolle bezahlen wollen, die man für ein voluminöses Cape benötigte.
»Ja, auch …«, begann Edda, die ihre Augen auf die Straße gerichtet hatte. Plötzlich sprang sie auf.
Henri folgte ihrem Blick. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ladens – mitten im deutlich beschilderten absoluten Halteverbot – parkte ein weißer Transporter mit Kamera-Logo ein. Edda hastete aus dem Laden, überquerte die Straße und klopfte wild an das Fahrerfenster. Es wurde halb heruntergelassen. Henri verstand nicht, welche Worte Edda mit dem Mann hinterm Steuer wechselte, sah aber, dass sie in Richtung ihres Innenhofs gestikulierte. Hatte seine Angestellte ein Fernsehteam bestellt? Was das wohl kostete? Das hätte sie aber mit ihm absprechen müssen! Henri atmete tief aus. Sie würde schon nicht über seinen Kopf hinweg größere Summen ausgeben, beruhigte er sich. Edda war schließlich gewissenhaft und verantwortungsvoll. Andererseits … diese Frau hatte es faustdick hinter den Ohren!
Henri dachte daran, mit welcher Guerillastrategie sie im Jahr zuvor verhindert hatte, dass er ›Nähschiff & Nadelflotte‹ verkaufte. Sie hatte so viele Restposten und Sonderangebote bestellt, die nicht rückgebbar waren, dass die Höhe der offenen Posten alle potenziellen Ladenkäufer abgeschreckt hatte. Notgedrungen hatte Henri selbst den Laden weitergeführt, und Edda hatte ihren Job behalten. Henri seufzte schicksalergeben.
Sicherheitshalber schloss er die Ladentür ab und ging über den Flur zum Hintereingang, der auf den Innenhof führte. Edda war gerade dabei, dem Fahrer, der den Transporter durch die denkbar enge Durchfahrt manövrierte, Wink- und Stoppsignale zu geben. Der Hof war einfach nicht als Parkplatz gedacht, sie stellten nicht einmal den Renault Kangoo dort ab, mit dem sie hin und wieder Ware auslieferten. Sollte er sich einschalten? Henri entschied sich dagegen, diese Aktion war offensichtlich Eddas Angelegenheit. Er zog sich in den Laden zurück und schloss die Tür zur Straße hin wieder auf – gerade rechtzeitig, um zwei Kundinnen zurückrufen zu können, die sich schon wieder umgewandt hatten. Sie interessierten sich für Effektgarn und brauchten eine ausführliche Beratung.
Nach einer Weile hörte Henri die Küchentür klappern. Er hätte Edda gern zur Rede gestellt, mochte aber das Verkaufsgespräch nicht unterbrechen. Wieder rappelte es, dann fiel die Tür zum Hintereingang ins Schloss.
Henri stellte sich auf die Zehenspitzen, um Bändchengarn aus dem Regal zu fischen.
»Hier habe ich noch …«, fing er an, doch die Kundinnen hatten sich zum Schaufenster gedreht und verfolgten mit großen Augen, was draußen vor sich ging. Eine Kamerafrau, die offenbar Detailaufnahmen von Eddas Dekoration gemacht hatte, trat nun einige Schritte zurück auf die Straße. Sie nickte dem Frollein zu. Edda prüfte ihre Position mit einem Blick über die Schulter, dann richtete sie sich kerzengerade auf und begann zu reden. Ein junger Mann im Parka streckte ihr ein puschelig ummanteltes Mikrofon entgegen.
»Wie im Fernsehen«, flüsterte eine der Kundinnen andächtig.
Die Frau auf der Straße ließ die Kamera sinken und schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie unzufrieden war, daraufhin wurde der Dreh wiederholt. Der gleiche Ablauf spielte sich noch dreimal ab, dann bedeutete die Kamerafrau Edda mit einem Wink, sie möge zur Seite treten, damit sie noch einmal den Laden als Ganzes filmen konnte. Beide Kundinnen fuhren sich in beinah synchronen Bewegungen durch die Haare. Henri musste lächeln: Offenbar gingen sie davon aus, dass sie im Video zu sehen sein würden.
Das Filmteam kam nun zügig zum Ende, packte die Sachen zusammen und verschwand Richtung Hof. Man hörte Autotüren zuschlagen, dann klappte auch die Hintertür; Edda war also wieder im Haus. Die Kundinnen hatten sich der auf dem Verkaufstresen ausgebreiteten Garnauswahl zugewandt, trafen ihre Wahl und zahlten.
Als sie den Laden verlassen hatten, machte sich Henri auf die Suche nach Edda, die er im Büro antraf. Sie legte gerade das Telefon zurück in die Schale.
»Was für eine Aktion war das denn?«, fragte Henri und konnte nicht vermeiden, dass sein Ton ein wenig barsch geriet.
Edda schien nichts zu bemerken. »Das waren Aufnahmen für einen hoffentlich hübschen kleinen Werbeblock.«
»Ja, aber … wofür denn … wann … und warum …«, stotterte Henri, den Eddas Resolutheit nicht zum ersten Mal in die Defensive trieb.
»Entschuldige, dass ich dich nicht vorher informiert habe«, erwiderte das Frollein. »Es musste plötzlich alles ganz schnell gehen …« Dann sah sie Henri ins Gesicht. »Aber ich bin sicher, es wird dir gefallen, und dann wirst du mir meine Eigenmächtigkeit nachsehen.«
»Ja, aber …«
»Gedulde dich noch bis heute Abend«, schnitt sie ihm das Wort mit einem strahlenden Lächeln ab. »Wir sehen uns doch beim Public Viewing?«
Max Johannsen hob den Blick vom Zapfhahn, wie immer, wenn neue Gäste eintrudelten. Er musste zweimal hinsehen: Tatsächlich, Edda Langner erschien in Begleitung dieses Malers. Wenn das keine kleine bis mittlere Sensation war!
Edda, die früher in Bökersbrück gewohnt hatte und gern und häufig ausgegangen war, lebte seit einigen Jahren zurückgezogen auf dem Dorf. Das bösartige Getratsche über ihren Lebensgefährten habe den Ausschlag für diese Veränderung gegeben, wussten Eingeweihte zu berichten. Max hatte es seinerzeit selbst miterlebt: Man hatte dem damals aufstrebenden Künstler – wie hieß er noch gleich, Wolfgang, Wolfhardt, Wolfram? – in aller Öffentlichkeit Schimpfworte wie Schmierfink, Schummler und sogar Fälscher hinterhergerufen. Ein unzufriedener, einflussreicher Kunde hatte ihm vorgeworfen, er kopiere den bekannten Maler Georg Baselitz, woraufhin ein Boulevardblatt eine Hetzkampagne gegen ihn gefahren hatte. Eddas Lebensgefährte war sogar angeklagt worden. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Dennoch hatten Mitbürger, die dem Mann seinen Erfolg missgönnten, weiterhin mit Inbrunst an seinem Rufmord gearbeitet und Edda und ihn sogar mit Kameras verfolgt, um als ›Leserreporter‹ möglichst unvorteilhafte Fotos zu verkaufen. Edda hatte offenbar mehr darunter gelitten, als ihre resolute und selbstbewusste Art erwarten ließ. »Nach Feierabend versteckt sie sich«, so hatte es Max’ Freund Henri ausgedrückt, der seit einigen Monaten Eddas Chef war.
»Wie schön, Sie zu sehen!« Max freute sich über Eddas offensichtliche Kehrtwende und nickte beiden Gästen strahlend zu. »Suchen Sie sich einen Platz in der Mitte, da sieht man am besten.«
Die Kneipe ›Max Muckefuck‹ war mittels Falttür in einen normalen Gastraum und einen Veranstaltungssaal unterteilt. Öffnete man die Tür, ergab sich eine geräumige Halle, an deren hinterer Wand ein Podest für kleinere Bandauftritte aufgebaut werden konnte. An diesem Abend hatte Max dort seine riesige Leinwand befestigt, die er für Fußball-EMs und -WMs angeschafft hatte. Davor waren Stuhlreihen und in lockeren Abständen kleine Beistelltische aufgebaut. Bei den Public Viewings hatte er bislang gut verdient, selbst wenn die Lizenzgebühren unverschämt hoch waren. Vom heutigen Abend versprach er sich ebenfalls einiges, auch wenn es sich nicht um ein Sportereignis handelte.
Er wies seine neue Mitarbeiterin Britt an, Edda Langner und ihren Begleiter aufmerksam zu bedienen, dann wandte er sich wieder der Zapfanlage zu. Ihm entfuhr ein unwillkürlicher Seufzer. Noch nie in seinen beinah elf Jahren als Gastwirt war es so schwierig gewesen, Personal zu finden. In der Anfangszeit hatten sich junge Frauen noch regelrecht um die Jobs im Service gestritten, weil sie auf das Trinkgeld scharf waren, das ihnen an guten Abenden reichlich zugesteckt wurde. Doch mittlerweile wollte kaum noch jemand abends arbeiten, und wenn, blieben die Leute nur für wenige Monate oder fielen prompt aus, wenn eine größere Veranstaltung bevorstand. Den heutigen Abend würde seine einzige verbliebene Stammkellnerin Regina zusammen mit Britt bestreiten müssen. Er selbst übernahm wie üblich den Ausschank.
Unwillkürlich folgte Max der Neuen mit seinen Blicken. Sie trug eine schlabbrig fallende dunkelblaue Breitcordhose, dazu ein lockeres buntes Shirt im Batikmuster mit V-Ausschnitt. Max fand das Outfit eine Spur zu lässig. Immerhin hatte sie schmal geschnittene blaue Leder-Halbschuhe an, nicht diese klobigen modernen Turnschuhe, deren Sohlen aussahen wie eingefärbte Autoreifenreste. Sie war groß, breitschultrig und schlank und bewegte sich anmutig, ein dicker Pluspunkt. Als sie ihr Tablett mit gefüllten Bier- und Cola-Gläsern volllud, warf sie ihm ein gewinnendes Lächeln zu, das weder gestellt noch verkrampft wirkte.
Das Lokal füllte sich zusehends, und Max war als Grüßaugust und Charmeur gefordert. Das ›Max Muckefuck‹ lebte davon, dass er jedem seiner Gäste das Gefühl gab, ein ganz besonders gern gesehenes Mitglied der großen, heimeligen Kneipenfamilie zu sein. Max kannte die Lieblingsbiersorte in neunzig Prozent aller Fälle und wusste, wem er trotz seines legendär schlechten Kaffees eine Tasse anbieten konnte. Ihm war klar, dass der Heidesand der Bökersbrücker Konditorin, den es dazugab, ein echtes Argument war, während das Heißgetränk selbst häufig in einem der Pflanzenkübel landete.
Zwanzig vor acht – bald würde es losgehen. Max trocknete sich die Hände ab, zog die blaue Halbschürze mit dem aufgestickten weißen Blumenkübel glatt und trat hinter dem Tresen hervor. Er schob sich seitlich an den Stuhlreihen vorbei und stellte sich vor der Leinwand auf.
»Noch mal Moin zusammen!« Er räusperte sich. »Wir alle sind gespannt auf die heutige ESC-Vorauswahl. Der Eurovision Song Contest, den Reiferen unter uns noch als Grand Prix d’Eurovision bekannt«, hier zwinkerte er in die Runde, »wird in Italien stattfinden, und in der deutschen Vorauswahl wird heute bestimmt, wer uns dort vertreten darf. Ich drücke natürlich Jette Jonathan die Daumen, denn wie die meisten von euch wissen, stammt sie aus Bökersbrück!«
»Und dann hat sie uns im Stich gelassen!«, nörgelte eine Frau.
»Ja, dann ist ihre Familie nach Kiel gezogen«, bestätigte Max und fügte mit ironischem Unterton hinzu: »Das geht natürlich gar nicht.«
»Was, wenn sie gewinnt?«, rief ein grauhaariger Mann mit Hamsterbacken in der vierten Reihe. Max hatte ihn erst zwei-, dreimal gesehen. Er hieß Morten und lebte seit wenigen Wochen in Bökersbrück, war nach dem Tod seiner Frau aus Neumünster hergezogen, um einem Freund in Haffkrug näher zu sein, wie er erzählt hatte.
Max richtete sich auf. »Wenn Jette den Vorentscheid gewinnt, singt sie im Mai in Italien.«
»Schon klar, aber ich meine: Was machst du dann?«
Aha, daher wehte der Wind! Max beschloss, sich zunächst ein wenig dumm zu stellen. »Dann trink ich ein Küstennebelchen auf ihren Erfolg.«
Morten brummte laut und fuhr sich durch die Haare.
»Ja, und dann – dann schenk ich auch euch allen ’nen Schnaps ein.«
Morten nickte zufrieden und begann zu johlen, womit er seine Sitznachbarn ansteckte. Einige jüngere Leute trampelten, andere, wie Edda Langner und ihr Partner, applaudierten lächelnd.
Hamsterbacken-Morten erhob noch einmal die Stimme. »Ja, so passt es. ›Nich’ lang schnacken, Kopf in’n Nacken!‹, wie mein Freund Hein Hai aus Haffkrug immer sagt.«
Max kehrte an seinen Platz hinter dem Tresen zurück und ließ vorsorglich Bier in Gläser schäumen, bis sie zu drei Vierteln gefüllt waren. Orderten Regina oder Britt dann weitere Pils, brauchte er sie nur noch mit der Blume zu krönen. Normalerweise zapfte er das Bier vorbildlich, dann brauchte er die sprichwörtlichen sieben Minuten. Doch an einem solchen Abend war dafür keine Zeit, da erlaubte er sich den kleinen Pfusch.
Auf der Leinwand war bereits der ESC-Reporter zu sehen, der sich durch Publikumsreihen drängte und sein Mikrofon hektisch dem einen oder der anderen mit der Frage nach dem Favoriten unter die Nase hielt. Max mixte sich eine Weißweinschorle, nahm einen genüsslichen Schluck, stellte das Glas im Fach unter der Thekenplatte ab und rollte die leicht verspannten Schultern nach hinten, da sah er die Frau des Bürgermeisters auf sich zukommen.
Roselinde Flieder zog ein leicht gereiztes Gesicht. »Max, ich möchte Sie um etwas bitten«, sagte sie mit Nachdruck in der Stimme.
Max hob die Augenbrauen.
»Ich … nun, ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll«, fuhr sie fort, »ich … ich möchte nicht hochnäsig oder so erscheinen.«
Max legte den Kopf schief. »Womit sind Sie unzufrieden? Ist Ihr Bier …«
»Ach was.« Roselinde Flieder winkte ab. »Nein, es geht um Ihre neue Bedienung.« Sie deutete auf Britt Hallbauer, die gerade einen Gin Tonic auf dem Tischchen vor Wolfram Gunkel abstellte. Genau: Gunkel hieß Eddas Partner, jetzt war es Max wieder eingefallen.
»Sie hat uns einfach geduzt.« Frau Flieder legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Ich meine … das geht doch nicht, oder? Wie gesagt, wir wollen nicht arrogant erscheinen, aber mein Mann ist immerhin der Bürgermeister! Und dann kommt da so ein unbedarftes Mädel und spricht ihn an, als wäre er ihresgleichen.«
Max schaltete sofort. Er würde Britt nicht im Regen stehen lassen. »Hm … da haben Sie natürlich recht«, erwiderte er mit sanftem Blick. »Das habe ich bei ihrer Einweisung gar nicht bedacht. Da habe ich ihr nämlich gesagt, dass wir uns im ›Max Muckefuck‹ alle duzen.«
»Ach so.« Roselinde Flieders Gesichtszüge wurden weicher. »Dann war das gar keine Eigenmächtigkeit der Kleinen? Ich … ich hielt es für eine gewisse Frechheit, weil sie insgesamt sehr salopp auftritt. ›Ey, was wollt ihr?‹, so nach dem Motto.«
»Ich sage ihr natürlich, dass das nicht geht.« Max bemühte sich, streng auszusehen. »Sie muss sich noch ein bisschen eingewöhnen.« Er bückte sich und zog eine Flasche mit grünlichem Retroetikett aus dem unteren Schubfach, schenkte sattbraune Flüssigkeit in zwei langstielige Gläschen mit Trichterkelch ein und schob sie der Bürgermeistergattin entgegen. »Walnusslikörchen gefällig? Als kleine Wiedergutmachung?« Er wusste: Mit Eierlikör oder Baileys hätte er bei den Flieders nicht punkten können. So aber zog Roselinde Flieder mitsamt den Gläschen besänftigt ab.
Max atmete auf. Vom Tresen aus hatte er einen guten Blick auf das Geschehen. Er sah nicht nur, wenn jemand im Publikum sich unruhig nach den Kellnerinnen umsah, sondern konnte auch die Fernsehübertragung verfolgen. Auf der Leinwand war das runde, gerötete Gesicht des Reporters gerade in Nahaufnahme zu sehen.
»Und nun warten wir alle gespannt auf den Auftritt von Jette Jo!«, rief er und fuhr sich durch die gegelten Haare. Dann senkte er theatralisch die Stimme. »Ich verrate euch jetzt ein Geheimnis.« Es war ersichtlich, dass er sich dazu zwingen musste, eine kleine Pause einzulegen, um die Spannung zu steigern. »Jette war mal meine Nachbarin!« Er strahlte, als hätte er das persönlich eingefädelt. »Ich stamme nämlich aus Kiel. Zwei echte Sprotten, wir beide. Sozusagen.« Er blickte sich kurz um, zwinkerte dann in die Kamera und fügte hinzu: »Ne seute Deern, kann ich euch sagen. Oder für alle, die nur Hochdeutsch sprechen: eine coole Chick! Deshalb drücke ich ihr ganz besonders fest die Daumen. Aber nicht verraten!« Er blinzelte, als die Hintergrundbeleuchtung heruntergedimmt wurde und ein Spot sein grelles Licht einmal durch den Raum schwenkte, bevor es auf den obersten Stufen einer S-förmigen Treppe verharrte.
Max grinste über die coole Chick und wartete gespannt auf Jettes Erscheinen. Da trat Henri Ketelsen eilig durch die Eingangstür des ›Muckefuck‹, blieb dann aber mit Blick auf die voll besetzten Stuhlreihen abrupt stehen. Max winkte ihn heran. Er hatte die Barhocker vor der Theke entfernt, damit Regina und Britt ungehinderten Zugang zu ihm hatten, doch nun zog er einen davon aus der Küche und platzierte ihn neben sich. »Komm zu mir, Henri, hier hast du einen Logenplatz.«
Henri setzte sich dankbar lächelnd, und Max hob ihm fragend ein Weinglas entgegen. »Auch eine Riesling-Schorle?«
Doch Henri war schon vom Geschehen auf der Leinwand gebannt. »Gibt’s ja nicht!«, entfuhr es ihm.
Im Saal war es lebhaft geworden, Überraschungsrufe und Klatschen ergänzten den Applaus aus der Übertragung. Max sah eine Gestalt mit wiegenden Schritten die ersten Stufen hinabschreiten. Er hätte Jette nicht ohne Weiteres erkannt, denn ihre obere Gesichtshälfte und die Wangen wurden von einer voluminösen Kapuze beschattet. Sie trug einen asymmetrisch geschnittenen Umhang, der vorn eine Handbreit über dem Knie endete und nach hinten bis fast zum Boden auslief. Arme und Hände hielt sie darunter verborgen. Der weich fließende Stoff war marineblau und in unregelmäßigen Abständen mit schmalen weißen Streifen durchsetzt. Ihre langen, schlanken Beine steckten in blickdichten dunklen Strümpfen und flachen, spitz zulaufenden naturbraunen Stiefeletten. Ein überraschendes Outfit. Jette hatte eine wohlproportionierte, sportliche Figur und hätte als heißer Feger auflaufen können; stattdessen kam sie geheimnisvoll verhüllt daher. Max hätte etwas Körperbetonteres erwartet. Er warf Henri einen Seitenblick zu, gespannt, wie Jettes Auftritt auf ihn wirkte.
»Alter Schwede!«, sagte der und wandte Max den Kopf zu. Er saß nach vorn gelehnt auf dem Barhocker, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, und sah verdattert aus.
»Interessanter Umhang, was?«, erwiderte Max in unverbindlichem Tonfall. Er wusste nicht recht, was er von dem Aufzug halten sollte. Henri murmelte eine Erwiderung, die jedoch im aufkommenden Schlagzeugwirbel unterging.
Das Publikum starrte auf die Leinwand, beide Kellnerinnen lehnten, ihre Tabletts in Griffweite, an den Seitenwänden und verfolgten ebenfalls aufmerksam das Geschehen.
Jette war auf der Bühne angekommen, stellte sich breitbeinig auf und begann, den Oberkörper ruckartig zum Takt der Musik zu bewegen. Langsam schob sie Hände und Arme aus der Umhüllung. Dann zog sie sich mit einer lässigen Handbewegung die Kapuze herunter, sodass ihr volles kupferrotes, kinnlanges Haar zum Vorschein kam. Sie schüttelte einmal kräftig den Kopf und sah schließlich herausfordernd ins Publikum. Die Kamera richtete sich auf ihre hellbraunen Augen, die Pupillen wirkten fast durchscheinend. Die schmalen, dunklen Augenbrauen hatten einen kecken Schwung.
»Starke Frau!«, kommentierte Henri und lachte kopfschüttelnd. »Ich erinnere mich noch, wie sie mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen durch die Gegend gehüpft ist.«
»Sie hatte sogar hohe geringelte Strümpfe und ein kurzes Röckchen an«, erinnerte sich Max. »Die Leute machten ›ts, ts‹ und ereiferten sich über die unbekümmerten Eltern.«
Die Percussion-Klänge hatten jetzt eine elektronischere Färbung angenommen, die Show bekam etwas Aufrüttelndes. Jette zog einen eigenartigen Hammer mit beidseitig zylindrischen Köpfen unter dem Cape hervor, den sie rhythmisch in ihre linke Handfläche schlug.
Max goss Henri und sich von dem Riesling nach und fragte den technisch versierten Freund: »Ist das ein Dichthammer?«
»Ein Kalfathammer, ja. Der wird benutzt, um die Außenseite von Schiffen abzudichten.« Henri wandte den Blick nicht von der Leinwand ab. »Das Cape ist cool, oder?«
»Hm«, machte Max etwas unschlüssig. Hier hockten sie, zwei Männer Mitte dreißig mit ihrem unterschiedlichen Modegeschmack, und fachsimpelten über Capes. Max schmunzelte. Nein, ihm gefiel Jettes Aufzug nicht wirklich, doch Henris offensichtliche Begeisterung hielt ihn davon ab, sich negativ zu äußern.
Jette wiegte sich in den Hüften, und der Umhang, der eng an ihrem Körper anlag, machte ihre geschmeidigen Bewegungen mit. Sie lächelte verwegen, warf einmal kurz ihren Kopf in den Nacken und beugte sich dann vor. Ihr kräftiger Alt übertönte den wummernden Rhythmus. Ihre Stimme klang geheimnisvoll:
»Du siehst mich nicht,
Doch ich seh dich.
Ich helfe dir, du merkst es nicht.«
Sie begann, das Werkzeug in der Luft zu schwingen. Aus den Percussions trat eine Pauke deutlich hervor.
»Ich bessre aus und weise dir
Die Fehler in der Schiffshaut hier.
Wenn’s poltert, halten alle Mann
Gespannt und bang den Atem an.«
Jette drehte sich, wobei der Umhang weit aufschwang. Darunter kam eine Art Turnanzug in der naturbraunen Farbe der Stiefeletten hervor. Ein figurbetontes Arbeitsdress, dachte Max, ein schicker Hingucker, aber nicht zu sexy, sonst hätte er nicht ins Gesamtbild gepasst. Die Drehungen wurden wilder, und Max erinnerte sich, dass Jette auch eine Tanzausbildung absolviert hatte.
»›Da rumpelt der Klabautermann‹.
Das denkt die ganze Mannschaft dann.
Ihr wisst nicht, wer da wirklich baut,
Kalfathammer auf Planken haut,
Denn ich bin ganz genauso laut …«
Jette bewegte sich wieder auf der Stelle, warf die Arme nach vorn, schwang den Hammer über dem Kopf und schoss ihre herausfordernden Blicke ab.
»Doch ich bin …
Ich bin …«
Trommelwirbel, Hammerwirbel, plötzlich Stille. Jettes Blick aus schmalen Augen. Paukenschlag. Ihre betörend raue Stimme:
»Ich bin … die Klabauterbraut!«
Stille. Licht aus.
Es dauerte einen kurzen, irritierenden Moment, bis ein Spot aufleuchtete und sich der Reporter zu Wort meldete. »Das war Jette Jo mit ihrem Stück ›Klabauterbraut‹!«
Der Beifall des Livepublikums, der gesittet eingesetzt hatte, wurde immer wilder. Der Reporter begann breit zu lächeln. »Jette, unsere flotte Sprotte aus Kiel! Ehemalige Nachbarin von mir, erwähnte ich das bereits? Coole Nummer, was?«
Mittlerweile klatschten auch die Zuschauer – und vor allem die Zuschauerinnen – im ›Max Muckefuck‹.
»Ich versuche jetzt natürlich, Jette vors Mikro zu kriegen«, versicherte der Reporter schnaufend, während er sich auf den Weg hinter die Bühne machte. »Doch ich denke, ich kann jetzt schon mal sagen …« Er blieb kurz stehen und holte aufopfernd tief Luft. »… ich will jetzt schon mal sagen: Jette Jo! Jo! Jo!« Bei jedem »Jo!« reckte er den Arm in die Luft. Der Applaus im Gastraum wurde frenetisch.
Regina, die sich gerade durch die Reihen zwängte, um leere Gläser einzusammeln, sah verzweifelt aus.
»Bewachst du für einen Moment den Zapfhahn?«, wandte sich Max an Henri. »Dann helfe ich da vorn kurz aus.«
Henri nickte, und Max machte sich auf den Weg. Britt Hallbauer, die ihm mit einem übervollen Tablett entgegenkam, raunte ihm im Vorbeieilen ›Mega!‹ zu. Max wusste nicht, ob sich das auf die Show oder auf den Umsatz in der Kneipe bezog, also freute er sich doppelt, zumal er seine neue Mitarbeiterin als unverblümt ehrlich einschätzte.
Unverblümt ehrlich urteilte auch eine bejahrte Zuschauerin, die sich am Tisch des Neu-Bökersbrückers Morten niedergelassen hatte. »Das soll Musik gewesen sein?«, tönte sie. »Das war ja der reinste Krach! Genauso hat sich das neulich auch im MRT angehört.«
Morten nickte weise, dann räusperte er sich, nachdem er etwas geistesabwesend Max’ Hand genommen hatte, der gerade nach seinem leeren Bierglas greifen wollte. »Wisst ihr, was mein Freund Hein Hai aus Haffkrug immer sagt? Wer ins MRT muss, guckt in die Röhre!«
Die Frau lachte keckernd.
Max blickte auf, als er Jettes Stimme aus dem Lautsprecher hörte. Der Reporter himmelte sie geradezu an, als er sagte: »Jette, Glückwunsch! Und ich wiederhole mich gern noch mal: Jette, Jo! Jo! Jo! Darf ich den Zuschauern verraten, dass wir einmal Nachbarn waren?«
Jette, noch etwas atemlos, kicherte. »Was, wenn ich Nein sage?«
Der Reporter guckte verdutzt aus der Wäsche. »Äh …«
»War nur Quatsch, schon gut.« Jette legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm.
Der Mann schluckte, offenbar bemüht, wieder ins Konzept zu kommen. »Jette, das war ja eine coole Nummer da eben! Aber nicht ganz risikolos, wenn ich das so sagen darf. Was hat dich dazu bewogen, so ein außergewöhnliches Projekt zu wählen?«
»Du meinst, weil ich nicht auf sanftes, verführerisches Weibchen gemacht habe?« Max staunte, wie souverän die 19-jährige Jette antwortete – und das im Fernsehen. Sie fuhr fort: »Das können andere besser. Ich wollte schon als Kind Klabautermann werden und war bannig enttäuscht, als meine Eltern mir vorsichtig eröffnet haben, dass das kein Beruf ist, den man erlernen kann.«
»Was wolltest du dann werden?«
»Brockenhexe.«
Der Reporter schenkte seiner Interviewpartnerin ein schiefes Lächeln. »Na, da bin ich aber froh, dass du doch lieber Klabauterbraut geworden bist«, bemerkte er.
Jette grinste. »Ich auch.«
»Erzählst du unseren Zuschauern, woher du dieses aparte Kostüm hast?«