Groß genug für kleine Sünden - Christian Lorenz - E-Book

Groß genug für kleine Sünden E-Book

Christian Lorenz

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Beschreibung

In seinem Erstlingswerk macht sich Christian Lorenz auf die Suche nach dem Lebensgefühl einer Generation, die ihre Jugend in der Zeitenwende der 60er-Jahre verbracht hat. Dabei nimmt er sich oft scherz- und boshaft seiner Lehrer und Erzieher an, erinnert sich genüsslich der kleinen Sünden, die er trotz der zahlreichen Verbote der Zeit gewagt, und mit leiser Wehmut jener, die er nicht begangen hat. Der Übergang vom behüteten zum eigenständigen Leben mit all seine Pannen, Überraschungen und Glücksmomenten ist in einer Fülle kleiner amüsanter Episoden festgehalten. Rückblickend zeigt sich der Erzähler wohl auch selbst überrascht, in welcher Zeit er eigentlich aufgewachsen ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Christian Lorenz

Groß genug für kleine Sünden

Eine Buben-Geschichte aus den 60er-Jahren

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Groß genug für kleine Sünden

Vorwort

Wer in reiferem Alter über Erlebnisse aus seiner spätpubertären Jugend berichtet, dem erscheint in der Erinnerung wohl so manches anders, als er es seinerzeit erlebt hatte. Wenn also der heute 63-Jährige die Erlebnisse des damals 16-Jährigen wieder aufleben lässt, sieht er die Dinge vielleicht etwas verklärter oder auch romantischer, peinlicher oder auch lockerer, als sie tatsächlich waren. Wie der Leser sicher weiß, steigt ja mit der zeitlichen Entfernung der Hang, Erlebtes je nach Bedarf beschönigend, dramatisierend oder belustigend darzustellen. Schulprobleme, Konflikte mit den Eltern, Ferienerlebnisse und erste Liebe eignen sich dabei besonders zur Legendenbildung. Die vorliegende Geschichte ist der Versuch, eine wunderbar aufregende und schwierige Phase des Erwachsenwerdens noch einmal zu betrachten. Dabei habe ich wohl hin und wieder unscharfe Erinnerungen mit ein wenig Fantasie dargestellt. Und weil das Namengedächtnis nicht meine große Stärke ist, wurden die handelnden Personen alle neu benannt. Im Kern aber blieb alles erhalten, was den Feriensommer des Jahres 1964 zum ersten, großen, aufregenden Erlebnis meines Lebens machte. Die Erzählung soll auch das wechselnde Lebensgefühl der 60er-Jahre einfangen, des Jahrzehnts, das in vielfacher Hinsicht eine Zeitenwende einläutete: angefangen von der verklemmten Spießbürgermoral über die Aufklärungswelle bis hin zur sogenannten sexuellen Revolution – von der autoritären zur liberaleren Erziehung, von Anstand und Disziplin zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Dies zeigt sich besonders bei den Mädchen, wie sie in dieser Geschichte vorkommen. Zog man Anfang der 60er-Jahre noch vielfach die brave Gattin, Hausfrau und Mutter heran, standen an deren Ende doch deutlich selbstbewusstere junge Frauen und der Ruf nach Gleichstellung in Ausbildung, Partnerschaft und Beruf. Wurde den Mädchen für erste sexuelle Kontakte mit Burschen oft nur das Schlüsselwort „Aufpassen“ mitgegeben, führte dann die Verbreitung von Pille und anderen Verhütungsmitteln zu Freiheit und Selbstbestimmung. Wer in den Sechzigern aufwuchs, erlebte, wie kaum zuvor oder danach, innerhalb weniger Jahre eine ganz neue Jugendkultur. Rock-Idole wie Beatles oder Stones revolutionierten die Musik und lösten Schlagersänger ab, die romantische Sehnsüchte bedienten. Protestsongs traten an die Stelle von Country-Liedern, und je länger die Burschen ihre Haare trugen, desto kürzer trugen die Mädchen ihre Röcke. „Make love, not war“ wurde auch in Europa zum Leitspruch der Friedensbewegung. Mit beginnendem Wohlstand hinterfragten immer mehr Kinder der Wirtschaftswunder-Generation die Leistungs- und Konsumgesellschaft und bewunderten Hippies und Gammler wegen ihres alternativen Lebensstils. Natürlich haben wir das alles nicht wirklich so erlebt, wie es sich heute in vielen historischen Bewertungen der 60er-Jahre darstellt. Das Jahr 1964, in dem sich diese Geschichte hauptsächlich ereignet, war noch ziemlich weit entfernt von erzieherischen, gesellschaftlichen oder gar sexuellen Revolutionen. Wohl aber gab es die ersten, herrlichen, kleinen „Sünden“, und das ausgerechnet in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf namens Champéry. Mein Dank gilt zuallererst meinen lieben, schon lange verstorbenen Eltern. Sie allein waren es, die mir Ferien ermöglicht haben, wie sie in der damaligen Zeit noch lange keine Selbstverständlichkeit waren. Dankbar bin ich natürlich auch den guten Freunden, die mit mir durch dick und dünn gegangen sind und ohne die es diese ganze Geschichte erst gar nicht gegeben hätte. Um Nachsicht bitte ich posthum jene Lehrer, die sicher schlechter wegkommen, als sie es in Wirklichkeit waren. Und wenn von den Menschen, die dafür gesorgt haben, dass dieser Feriensommer für mich so unvergesslich und schön in Erinnerung blieb, möglichst viele dann diese Geschichte noch zu lesen bekommen, würde mich das ganz besonders freuen. Christian Lorenz Wien im November 2011

Ein „Fleck“ mit Folgen

 

Im Klassenzimmer brodelte es an jenem heißen Junitag des Jahres 1964, als der stets missgelaunte Französisch-Professor zuerst die Schularbeitshefte und dann sich selbst mit einem demonstrativen Seufzer auf den Schreibtisch fallen ließ. „Ihr wollt bei mir maturieren ?...“, vernahm man leise hinter seinen vorgehaltenen Händen. „…Ihr seid doch die größten Nieten, die ich je erlebt habe.“ Er war nun wirklich kein Lehrer, der die positive Motivation übertrieb. Auch mein recht tief schlummerndes Sprachtalent hatte er noch nicht wirklich zur Entfaltung bringen können. Nach einer quälend langen Minute stiller Verzweiflung richtete er sich langsam wieder auf. Das bange Warten hatte ein Ende. Mit steinerner Miene kam der Herr Professor schließlich auch auf mich zu und drückte mir das schicksalsschwere Heft in die schweißnasse Hand: „Das ist auch ein glatter Fleck!“ Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Aber große Überraschung war das letztlich auch keine. Meine schulischen Ziele waren auch in diesem Jahr alles andere als hoch gesteckt. Durchkommen ohne nennenswerten Verlust von außerschulischer Lebensqualität. Nach zwei Dreiern in den beiden ersten Trimestern hatte ich die Französisch-Aktivitäten nach den Osterferien eingestellt. Immerhin konnte der Notenschnitt ja nicht mehr unter die Vier rutschen. Ähnlich hielt ich es auch in den anderen Fächern. In den Monaten Mai und Juni kam ich zwar vormittags meiner Anwesenheitspflicht nach, war aber an den Nachmittagen vornehmlich am Fußballplatz, in städtischen Freibädern wie dem Krapfenwaldl-Bad oder dem Strandbad Gänsehäufel, bei einer Radpartie oder bei Schlechtwetter in den Spielhallen des Wiener Wurstlpraters zu finden. Mit dabei fast immer mein Freund Alex, der mit der gleichen Strategie die Sommerferien vorzuziehen oder besser gesagt zu verlängern suchte. Doch unsere Gelassenheit wich mit einem Mal einem sehr flauen Gefühl. „Jetzt‘n langt’s ma åba, es Owezara“, stieß der Herr Professor aufgebracht hervor, der im Zustand der Erregung sein Schulfranzösisch stets gegen einen recht derben Wiener Dialekt auszutauschen pflegte. „In da next‘n Sprechstund‘ kummt ma wer von eich.“ Damit hatte nun wirklich keiner von uns gerechnet, denn somit schienen die Ferien doch noch in Gefahr. Derartige Schultermine wurden damals immer von den Müttern wahrgenommen, und so erfuhr ich nach einigen Tagen bangen Wartens von der lieben Frau Mama den Grund der eiligen Vorladung: Mit solch einer Einstellung, ließ der Herr Professor ausrichten, würde ich es gewiss nie bis zur Matura schaffen. Versäumtes sei in den Ferien dringend nachzuholen, auch wenn er mich diesmal noch mit einem Vierer laufen lasse. Zunächst erleichtert, trafen mich aber dann die elterlich verordneten Konsequenzen mit voller Härte: Französisch-Nachhilfe in den Ferien. Molière und Balzac als Sommerlektüre. Und der Herr Vater, der bei jeder Gelegenheit mit seinem Sprachtalent brillieren wollte, legte noch nach: „Eh bien, mon cher, désormais nous allons parler français ensemble.“ Das saß – Französisch-Konversation mit dem Papa beim Mittagessen! Nur das nicht! Tage des Grübelns folgten. Die möglicherweise rettende Idee lieferte mein Freund Alex oder genauer gesagt seine Eltern. Die hatten Alex, wie schon im Vorjahr, in einem Sprachcamp in der französischen Schweiz angemeldet. Der mir völlig unbekannte Ort hieß Champéry. Abfahrt Mitte Juli, Dauer sechs Wochen. „Das wär’s“, dachte ich. „Mit Alex Ferien in der Schweiz. Die paar Unterrichtsstunden müssten da wohl auszuhalten sein. Und Schwimmen, Tennis und Fußball spielen könnten wir dort sicher auch. Und wer weiß, was sich sonst noch alles so ergibt … Das könnte doch ein richtig spannendes Abenteuer werden.“ Wie aber sollte ich Champéry den Meinen klarmachen? Natürlich durften sie auch von Alex nichts erfahren. „Mit dem lernst du alles, nur kein Französisch“, hörte ich schon den mütterlichen Einwand. Sie kannte den sehr aufgeweckten Knaben nur zu gut. Ich wusste, es würde nicht leicht werden, die lieben Eltern für den gewagten Plan zu gewinnen.Das verkannte Genie

Nun war ich gerade in meinem 16. Lebensjahr und damit in einem Alter, in dem die Eltern beginnen, schwierig zu werden. Das machte die Sache natürlich komplizierter. Unsere Beziehung war etwas gestört, nicht zuletzt deshalb, weil ich plötzlich nach rein privaten Dingen gefragt wurde, die nun wirklich nur mich persönlich etwas angingen. Wo ich am Abend gewesen sei, welchen Kinofilm ich gesehen hätte, wann ich denn nun endlich zum Friseur gehen würde, ob mir die Jeans nicht zu eng wären und warum sich in meiner Tasche ein Feuerzeug befände. Um derart unangenehme Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen, änderte ich mein Kommunikationsverhalten grundlegend und stieg auf die bei Pubertierenden verbreitete Sprachform der Einsilbigkeit um. Dies verlangte den Eltern äußerste Geduld und große Ausdauer ab, wollten sie sich zumindest einige Aufschlüsse über mein schulisches Dasein oder meine sonstige psychische Befindlichkeit verschaffen. Meine Hoffnung, sie würden sich diese Zeit und Mühe irgendwann gänzlich sparen, erfüllte sich allerdings nicht. Offenbar kannten sie ihren lieben Sohn zu gut, um seine Hochs und Tiefs nicht auch ohne viel Worte zu erkennen und ihn darauf anzusprechen. Trotz meiner Absetzbewegungen versuchten die beiden auch weiterhin, mich in ihre Freizeit einzubinden. Immer öfter musste ich die für mich so öden Vorschläge wie zum Beispiel den sonntäglichen Waldspaziergang unter verschiedensten Vorwänden ablehnen. An manchen Sommerwochenenden muteten sie mir sogar einen gemeinsamen Badbesuch zu. Mit den Eltern ins Schwimmbad ?… Das wäre wohl das Peinlichste gewesen, was ich mir hätte vorstellen konnen. Dann schon besser die Jause mit der Verwandtschaft, da konnte man wenigstens keinen überraschend treffen. In Anbetracht des zunehmend seltsamen Verhaltens der Eltern erschien ihre Zustimmung zu meinem Plan also höchst ungewiss. Bedenklich war aber auch die ungewohnt scharfe Reaktion auf mein leichtes Absacken in Französisch. Allem Anschein zweifelten sie doch etwas an meiner Sprachbegabung. Bislang war es mir doch ganz gut gelungen, das etwas schlampige Genie hervorzukehren, das trotz minimalen Aufwandes mit spielerischer Leichtigkeit das geforderte Lernziel erreichte. Von ein paar kleinen Ausrutschern einmal abgesehen. Jedenfalls waren die Eltern in letzter Zeit in mich gedrungen und interessierten sich für meine Vorbereitungen auf Prüfungen und Schularbeiten. Immer unglaubwürdiger blieben die Versicherungen, durch meine konzentrierte Aufmerksamkeit in der Schule erübrige sich das quälende Gebüffel zu Hause. Immer unangenehmer gestalteten sich die Dialoge während des Frühstücks, das bei mir meist durch leichte Übelkeit beeinträchtigt war. „Na, wie hat sich unser genialer Herr Sohn denn auf die heutige Mathe-Schularbeit vorbereitet?“, wollte die Mutter dann mit einem Mal beantwortet wissen. „Hoffentlich geht es dir nicht wie anderen Genies, die erst nach ihrem Tod gefeiert wurden“, trieb es der Vater dann zu meinem Entsetzen auf die Spitze. Und mir fiel darauf lediglich ein Spruch ein, der unter Schülern damals sehr beliebt war. „Ja, ja: Einstein ist tot, Newton ist tot und mir ist auch schon ganz schlecht.“ Wollte ich die Ferien irgendwie retten, musste ich meine Strategie total ändern. Keinesfalls mehr mit meinen begnadeten Talenten, nein, mit harter, konsequenter Arbeit galt es, die Eltern überzeugen. Und da erschien mein Vorschlag doch ziemlich perfekt: sechs Wochen strenges Internatsleben in der französischen Schweiz, allein in der Fremde, kein deutsches Wort, sechs Stunden täglich Unterricht, karge Freizeit. So ähnlich stand es ja auch in dem Prospekt, das Alex mir geliehen hatte. Nach zwei Tagen angemessener Reue rückte ich mit meinem Plan heraus. „Und da willst du wirklich ganz alleine hin?“, argwöhnte zunächst die Mama. „Na klar!“, versuchte ich sie zu überzeugen. „Das wird für mich bestimmt eine interessante und lehrreiche Erfahrung sein, da kommen Jugendliche aus der ganzen Welt. Und Angst brauchst du auch keine zu haben. Ich mach dort schon keinen Unsinn. Ich bin doch wohl schon groß genug.“ „Ja, ja. Groß genug für kleine Sünden …“, machte sich die liebe Mutter mit wissendem Lächeln über mich lustig. Als aber dann der Vater nach ausführlichem Prospekt-Studium nur bemerkte: „Das ist aber ziemlich teuer“, sah ich die Sache für mich schon fast gewonnen. „Die Nachhilfe käme aber auch sehr teuer“, beeilte ich mich sogleich einzuwenden. „Und überhaupt“, versuchte ich angestrengt zu argumentieren, „stell dir nur vor, mein erster Auslandsaufenthalt. Ich müsste mich ganz allein mit Französisch durchschlagen. Wäre das nicht eine wertvolle Erfahrung?“ Na ja! Ganz so überzeugend fand ich mich zwar nicht, umso überraschender aber dann für mich, als sich die väterlichen Stirnfalten langsam entspannten und Papa kundgab: „Na, sehen wir einmal, ob noch etwas frei ist.“Reisevorbereitung

Sprachferien – heute bei Schülern gang und gäbe – hatten in den 60er-Jahren noch einen Hauch von Abenteuer. Man buchte sie nicht einfach im Reisebüro und auch von den Schulen gab es keine Empfehlungen. Besonders in französischsprachigen Ländern war wenig zu finden. So informierte man sich vornehmlich im Freundes- und Bekanntenkreis, wo denn minder erfolgreiche Schüler Versäumtes in den Ferien aufholen könnten. Natürlich wollten auch die Meinen wissen, wie ich auf die „École nouvelle“ in der französischen Schweiz gekommen sei. Unerwartete Hilfe kam von Thomas, einem Maturanten, der in unserem Haus wohnte. Thomas versicherte glaubhaft, dass im Vorjahr einer seiner Klassenkameraden nach Besuch eben dieses Ferienkurses eine fulminante Französisch-Matura hingelegt hätte. Die liebe Mutter versuchte aber noch weitere Erkundigungen einzuziehen und wurde schließlich bei ihrer Freundin Ilse fündig. Deren Tochter Sylvia konnte gleichfalls von einer Schulkollegin berichten, die bereits einen Sprachkurs in der französischen Schweiz besucht hatte. Auch Sylvia selbst sollte zu einem Sprachcamp aufbrechen. Ihre Reise ging allerdings an die Cote d‘Azur, die damals wohl sündigste Urlaubsdestination. Natürlich tauschten sich die beiden Freundinnen intensiv über das bevorstehende Ferienabenteuer ihrer Kinder aus. Alle möglichen Risiken und Vorsichtsmaßnahmen wurden besprochen, gleichzeitig versuchte man, sich gegenseitig der Reife und Selbstständigkeit des Nachwuchses zu versichern. Inzwischen hatte sich die Mutter schon um alles gekümmert. Warme Kleidung, feste Schuhe, neue Badehose, frische Wäsche. Die vorgeschriebene formelle Kleidung bestand aus grauer Hose und dunkelblauem Blazer, beides hatten wir bereits für die Tanzschule angeschafft. Auch ein blütenweißes Hemd und eine rote, vom Vater ausgeborgte Krawatte lagen neben dem riesigen Koffer bereit. Tennis- und Bergausrüstung mussten natürlich auch noch Platz finden. Immerhin ging der wohlbehütete Knabe das erste Mal allein auf Reisen, da sollte es ihm an nichts fehlen. In den Tagen vor meiner Abreise wurde ich mehrmals Ohrenzeuge langer Telefonate: Wie viel Geld mitgeben, wie oft Lebenszeichen einfordern, wie im Notfall die Rückreise organisieren. Am Ende eines solchen nicht ganz zufällig mitgehörten Gesprächs wurde ich dann einmal hellhörig. Es war offenbar von einer mir Unbekannten die Rede, die aus irgendeinem Grund für meine Mutter wichtig war. „… Aha, ich wusste gar nicht, dass Sylvia Französisch-Nachhilfe hat. ...“ „… Und jetzt macht sie einen Sommerjob? …“ „… Das ist aber ein interessanter Zufall. …“ „... Und du meinst, ich könnte sie anrufen? …“ Es hörte sich an, als hätte Mama die gewünschte Antwort erhalten. Natürlich hätte ich gern gewusst, von wem die Rede war, aber ein Nachfragen schien mir nicht ratsam. Das hätte alles nur unnötig kompliziert. Während ich noch immer über das Mitgehörte rätselte, betrat Vater das Zimmer. Wie immer wirkte er etwas angespannt, wenn er aus seiner Verlagsredaktion kam. Auf dem Heimweg hatte er noch rasch die Bahntickets besorgt und überreichte sie mir mit bedeutungsvollem Blick. Mit dem Nachtexpress „Wiener Walzer“ im Liegewagen bis Zürich. Dann mit dem Schnellzug nach Lausanne, dort umsteigen in den Personenzug Richtung Aigle und schließlich mit der Zahnradbahn hinauf nach Champéry. Wir gingen die Reiseroute so lange durch, bis der Vater überzeugt war, dass ich sie intus hatte. Erstmals keine Sommerfrische

Die Reise nach Champéry war in jeder Hinsicht eine Premiere. Das erste Mal ohne Eltern, das erste Mal ins Ausland (wenn man von einem Caorle-Urlaub an der Adria absah), das erste Mal also keine Sommerfrische, wie man die Urlaube damals fast ausschließlich bezeichnete. Ständig hustende Stadtkinder wie ich sollten den Sommer über frische Landluft atmen. Jede Menge davon gab es zum Beispiel in Oberösterreich, und so verbrachte ich die Sommer meiner frühen Kindheit stets im schönen Kremsmünster, wo ich zufälligerweise auch zur Welt gekommen bin. Meine Familie, die während des Zweiten Weltkrieges aus Siebenbürgen geflüchtet war, hatte dort ein erstes Zuhause gefunden. Die Großeltern blieben noch länger in Oberösterreich und nahmen mich immer besonders liebevoll auf. Mit den Kindern einer benachbarten Landarbeiterin gab es darüber hinaus für den Buben aus der Großstadt viel Aufregendes zu erleben. Noch frischer war der Sommer dann später im Salzkammergut. Hier blieb mir die kleine Frühstückspension unweit des Attersees in Erinnerung, die meinen Eltern und mir als bescheidener Unterstand im meist vorherrschenden Schnürlregen diente. Immerhin durfte ich aber den Vater zum Fischen an den See begleiten und lernte, mit einem Ruderboot umzugehen. In den beiden Feriensommern vor Champéry wurde es dann aber bereits vornehmer. Diese verbrachte ich im international bekannten Nobelkurort Bad Schallerbach. Diesen musste meine Mutter, die ständig an Gelenkproblemen litt, immer wieder aufsuchen. Der Rest der Familie leistete ihr dabei Gesellschaft, auch Verwandte und Freunde kamen zu Besuch. Ansonsten beschränkte sich das Unterhaltungsangebot auf das Federballspiel mit der Wirtstochter, das Minigolfen mit den Nachbarbuben oder hin und wieder ein Fußballmatch im Freibad. Bis zu meiner ersten Auslandsreise in die ferne Schweiz war also Oberösterreich meine mehr oder weniger bevorzugte Urlaubsdestination. Alles, was über die „Sommerfrische“ und über Oberösterreich hinausging, war in den frühen 60er-Jahren noch Luxus. Sowohl vom Urlaubsbudget als auch von der zur Verfügung stehenden Zeit ging es wesentlich knapper zu als heute. Wer nicht gerade Lehrer war, musste sich schnell erholen. Bis 1964 war der Urlaubsanspruch noch auf zwei Wochen beschränkt, erst danach erhöhte er sich auf drei Wochen. Doch wenigstens die schmalbrüstigen, blassgesichtigen Sprösslinge sollten ausreichend frische Luft und Sonne tanken, und so war man bestrebt, sie bei Verwandten auf dem Lande oder irgendwo in einem Ferienlager unterzubringen. Dass ich damals in die Schweiz fahren durfte, war natürlich eine besondere Bevorzugung, die mir aber erst später bewusst wurde. Fahrt ins Ungewisse Da rüttelte ich nun tatsächlich im Sechs-Bett-Abteil des „Wiener Walzer“-Liegewagens durch die Nacht und an Schlaf war natürlich nicht zu denken – meine Gedanken überschlugen sich förmlich: Dreimal umsteigen – Zürich, Lausanne, Aigle –, wird das klappen? Wird mein Französisch reichen? Wird mein Geld reichen? Bleibt unentdeckt, dass Alex sich am gleichen Ort aufhält? Immerhin ist er ja schon eine Woche früher gefahren und wird auch früher wieder zurückkommen. Es wird also kein Versteckspiel am Bahnhof geben, wenn uns die Eltern wieder abholen. Es war jedenfalls ganz klar abgemacht, den Eltern nicht zu verraten, dass wir in Champéry zusammen sein würden. Sonst hätten wir wohl nie die Zustimmung bekommen. Als wir am frühen Morgen dann endlich in Zürich einfahren, überfällt mich tierischer Hunger. Jedoch sollten die großen Franken-Scheine, die gut versteckt im kleinen Reiserucksack schlummerten, vorerst unangetastet bleiben. Ich fingere zwanzig Schilling aus der Hosentasche, gehe zum Bahnhofsgeldwechsler und will sie hoffnungsfroh gegen ein paar Rappen für den Erwerb von Nahrung eintauschen. Was ich erhalte, ist eine ausführliche Belehrung in Schwyzerdütsch, dass so kleine Beträge aufgrund der zu hohen Spesen nicht getauscht werden können. Also greife ich doch auf den 50-Franken-Schein im Rucksack zurück, in der Absicht, am Kiosk zwei Käse-Schinken-Sandwiches zu ordern. Dort erfahre ich allerdings, dass für so große Scheine das Wechselgeld fehle – und unwillkürlich fällt mir der alte Witz über Zürich ein: … doppelt so groß wie der Wiener Zentralfriedhof, aber nur halb so lustig. Zwei mitgeführte Müsli-Riegel sichern schließlich mein Überleben bis Lausanne, danach bleibt ohnehin keine Zeit mehr für eine vernünftige Nahrungsaufnahme. Nun sitze ich also in einem SBB/CFS-Waggon, wie die zweisprachige Kurzform der Schweizer Bundesbahn heißt. Um mich herum natürlich lauter Schweizer, die auf mich so fremd gar nicht wirken – jedenfalls solange sie nicht sprechen. Das tun sie scheinbar nicht sehr oft, nur hin und wieder nehme ich Gespräche von Mitreisenden wahr. Ich staune nur so, wie bedächtig und wohlüberlegt die Schweizer ihre Worte aussprechen und wie am Ende eines Satzes der Ton dann immer leicht ansteigt. Für mich hört sich das an, als würde eine Frage gestellt, auf die aber nie eine Antwort folgt. Aufhorchen lässt mich auch das häufig angefügte „odrr?“ am Satzende, das den Schweizern offenbar nur zur Bekräftigung ihrer Aussage dient. Weiter fällt mir auf, dass viele Worte auf „li“ enden. Das ist, wie ich später erst herausfinde, eine gern verwendete Verkleinerungsform. Scheinbar sind die Schweizer sehr bescheidene Menschen, die alles kleinreden. Überraschend für mich ebenfalls, dass auch immer wieder französische Worte auftauchen. So verlangt der Schaffner die „Billette“ und reicht sie mit „Merci vielmals“ wieder zurück. Mein Ticket studiert er etwas länger, bevor er es mir schließlich freundlich lächelnd wieder zurückgibt und dabei bemerkt: „Wien –‘s isch en wiiter Wäg.“ Diese Feststellung zieht dann auch die Blicke anderer Reisender auf mich, und nach einer Weile höre ich, wie der schräg vor mir sitzende ältere Herr zu seiner Frau, die gerade in ihre Zeitung vertieft ist, mit gedämpfter Stimme sagt: „Luag Vreni, en Öschtricha.“ Ganz offenkundig also eine seltene Erscheinung in Schweizer Zügen. Vreni blickt kurz auf, mustert mich wohlwollend und meint dann nur: „Härzigs Büebli“, was für mich dann doch etwas respektlos anmutet. Bald drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Eisenbahn der Schweizer liebster Aufenthaltsort ist. Die gut besetzten Züge sind für ein Gebirgsland sehr schnell, überaus sauber, komfortabel und natürlich pünktlich. Wie ich dem bereitliegenden Fahrplanheftchen entnehme, werden Ankunfts- und Abfahrtszeiten mit der Präzision einer Schweizer Uhr eingehalten, sodass meine Sorge, einen der zwei folgenden knappen Anschlüsse zu verpassen, rasch verfliegt. Da für die Eidgenossen offenbar kaum ein anderes Verkehrsmittel infrage kommt, verfügt fast jeder der Zuginsassen über eine Jahreskarte, auch Halbpreis-Abo genannt. Der entsprechende Ausweis ist immer griffbereit und wird mit sichtbarem Stolz präsentiert. Als Inhaber eines sündteuren Vollpreistickets erwecke ich ganz offensichtlich das Interesse der Mitreisenden. Vielleicht halten sie mich für einen Ahnungslosen, der zum ersten Mal mit der SBB/CFS unterwegs ist. Vielleicht sehen sie darin auch eine leichtsinnige Verschwendung, wie sie dem Schweizer Wesen wohl völlig fremd ist. Sämtliche Bahnreisenden wirken überaus routiniert und gelassen. Kein Drängen beim Einsteigen, ein freundliches „Wieaderluaga“ bei der Verabschiedung im Abteil, kein Aufkommen von Hektik beim Umsteigen. Bei der herrschenden Pünktlichkeit gibt es ja auch keinen Grund zur Unruhe. Bei mir aber läuft das doch etwas anders. Der Zugwechsel in Lausanne erfordert meine volle Konzentration, vor allem weil Aufschriften, Ansagen und Auskünfte ab jetzt in Französisch gehalten werden. Immerhin aber ist bis jetzt alles ganz gut gegangen. Die letzte Etappe von Aigle mit der Gebirgsbahn nach Champéry führt mich in eine großartige Landschaft. Mit der Höhe steigt aber auch meine Nervosität. Wer wird mich am Bahnhof erwarten? Jemand vom Internat, der mich gleich in Obhut nehmen wird? Wird Alex da sein oder werde ich den Weg allein finden müssen? Meine rechte Sitznachbarin, eine schlanke, blondgelockte junge Frau mit ausgesprochen sanften Zügen, merkt offenbar meine Unruhe und beginnt ein Gespräch mit mir. Ich bin überrascht, dass ich sie so gut verstehe, und ich hoffe, dass alle hier ein so langsames und deutliches Französisch sprechen. Sie beglückwünscht mich zu meinem Reiseziel. Champéry sei einer der schönsten Orte im Valais, wie der Kanton Wallis französisch heißt. Sie arbeite ebendort in einer Raclette-Stube, teilt sie mir mit. Ich solle sie doch einmal besuchen. Ich lasse es bei einem „peut être“ bewenden, nicht wissend, was das für ein Lokal ist, und nicht ahnend, sie schon bald wiederzusehen. Mit dem nahenden Ende meiner Reise spürte ich auch so etwas wie Stolz aufkommen. Alles war plangemäß verlaufen, ich hatte mich nirgendwo verirrt, nichts verloren, keinen Anschluss verpasst und auch die sprachlichen Anforderungen halbwegs erfüllt. Ja mehr noch, ich saß im Abteil neben einer recht charmanten, jungen Schweizerin, fand es gar nicht so peinlich, mit ihr französisch zu sprechen, und bildete mir sogar ein, für sie interessant zu sein. Irgendwie überraschte mich plötzlich die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der ich in einem fremden Land mit einer fremden Frau in einer fremden Sprache zurechtkam. Es schien, als hätte ich tatsächlich einen ersten Schritt vom behüteten ins wirkliche Leben geschafft, als stünde weiteren großen Abenteuern eigentlich nichts mehr im Wege. Inzwischen wurde die Strecke so steil, dass der Zug als Zahnradbahn weiterfuhr und sich nur unter kräftigem Rattern und Schütteln dem Zielbahnhof nähern konnte. Ich öffnete das Fenster, sog die frische Bergluft ein und betrachtete fasziniert die Bergspitzen, die an mir wie eine Girlande vorbeizogen. „Die Dents du Midi“, kam die blonde Frau meiner Frage zuvor. Tatsächlich ragten einige Felsgipfel wie riesige Zähne in den Himmel. Das Val d’Illez, durch das sich die Gebirgsbahn hochschlängelte, schien kaum besiedelt. An den steilen Hängen waren nur wenige Bauernhöfe zu sehen. Tief unten am Talboden rauschten zwischen sattgrünen Wiesen die wilden Wasser eines Flusses, der, wie ich erfuhr, den Namen Vièze trug. Irgendwie konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass es in dieser abgeschiedenen Bergregion eine internationale Sprachschule geben sollte. Meine Reisebekanntschaft, die inzwischen mir gegenüber Platz genommen hatte, schien meine Zweifel zu bemerken. Offensichtlich kannte sie mein Ziel, die „École nouvelle“, und stellte mir „aventures et éxperiences exceptionelles“ in Aussicht. Sie sollte recht behalten. Mit einem etwas unsanften Ruck kam die Gebirgsbahn zum Stehen. Vor dem schmucklosen Bahnhofsgebäude standen genau drei Personen. Alex, mit dabei ein junges dunkelhaariges Mädchen und ein blonder ziemlich großer, junger Bursch, dem seine Beatles-Frisur so gar nicht passte. Als ich näher hinsah, bemerkte ich, dass Alex die Hüfte des Mädchens umfasst hielt und der „Beatle“ eine Gitarre bei sich trug. Unerwartete Begrüßung Die Begrüßung war so ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. „C‘est mon ami Christian“, stellte mich ein bestens gelaunter Alex seiner Begleiterin vor, die zugegebenermaßen von einer geradezu verwirrenden Schönheit war. Mit ihrem dunklen Teint, den vollen Lippen, dem pechschwarzen Haar, das ein rotes Stirnband zierte, und dem Feuer in den Augen hätte sie durchaus auch als Indianermädchen in einem Winnetou-Film eine gute Figur gemacht. Die machte sie allemal in ihren hautengen Jeans und ihrem knappen Lederjäckchen. Dass sie Mexikanerin ist und Rosita heißt, bekam ich in meiner Fassungslosigkeit kaum mit. „Enchanté“, hauchte sie mit bezauberndem Lächeln. Nachdem mir nun absolut nichts Passendes einfiel – und schon gar nicht auf Französisch –, beließ ich es bei einem verlegenen Grinsen. Der blonde Pilzkopf griff zu seiner Gitarre und spielte als Willkommensgruß ein paar Takte eines mir völlig unbekannten Songs. „Das ist der Johnny, auch ein Wiener, totaler Beatle-Fan, mit ihm kann man viel Spaß haben“, ließ Alex mich wissen. Auch das sollte stimmen. Zu viert steuerten wir das schon weithin sichtbare Internat an. Es bestand aus zwei zwar mächtigen, aber recht alt wirkenden Holzbauten, die durch einen Sportplatz voneinander getrennt waren. Auf dem Weg dorthin wurde ich sogleich auch auf die Attraktionen von Champéry aufmerksam gemacht: ein Tennisplatz, ein Schwimmbad, das Dorf-Café, ein Sport- und ein Minigolfplatz und eben diese Raclette-Stube, von der ich ja schon von meiner Zugbekanntschaft gehört hatte. Die Schöne an Alex‘ Seite lächelte unentwegt, sagte aber kein Wort. Auch Alex selbst sah sich vorerst wohl zu keiner Erklärung veranlasst. „Ist doch ohnehin schon alles klar“, würde er sich denken. „Ich habe ein hübsches Mädchen gefunden, mit dem ich möglichst oft beisammen sein möchte.“ Was das für mich bedeutete, war wohl klar: Ich würde ihn nur selten sehen und hätte mich also gefälligst selbst um meine Freizeitgestaltung zu kümmern. Ein Hinweis dazu kam auch gleich von Johnny. Auf meine Frage, welches der beiden Gebäude für uns bestimmt sei, meinte er laut lachend: „Rechts sind wir, links sind die Hasen. Da geht einiges ab, wirst schon sehen …“ Johnny hieß übrigens nicht wirklich Johnny. Er trug den altgermanischen Vornamen Rainulf, mit dem er anscheinend nicht sehr glücklich war. Zu seiner blonden Mähne und seiner hellen Haut hätte dieser zwar gepasst, ansonsten hatte er als Ur-Wiener natürlich nichts Germanisches an sich. Im Gegensatz zu heute sprach man damals im Freundeskreis kaum jemanden mit seinem richtigen Vornamen an, fast jeder hatte einen Spitznamen. Dieser sagte dann auch meist etwas über seinen Träger aus, wie eben der „Mecki“, den ich wegen meiner Stoppelglatze führte. Oft aber blieb der Grund der Zuweisung rätselhaft, wie zum Beispiel der „Hugo“, der mir dann in späteren Jahren zuteil wurde. In meiner Klasse kann ich mich nur an wenige Mitschüler erinnern, die nicht umbenannt wurden. Anton, Franz oder Josef, die damals noch gebräuchlichen Vornamen, waren einfach nicht kennzeichnend genug, es musste etwas Passenderes oder auch etwas Spaßigeres gefunden werden. So wurde etwa der beste Turner der Klasse zu Fipps, wie Wilhem Busch seine Affen-Figur nannte. Die Spitznamen rührten aber auch von Theaterstücken her, die mit verteilten Leserollen im Deutschunterricht dargebracht wurden. Wie zum Beispiel der Spitzname für jenen Klassenkamerad, der den stotternden Galomir aus Grillparzers „Weh dem, der lügt“ so überzeugend wiedergab, dass ihm der Name ein Schulleben lang blieb. „Johnny“ hatte für mich etwas Kumpelhaftes an sich, er stand für einen Typ, mit dem man die sprichwörtlichen Pferde stehlen konnte. Ich sollte mich nicht täuschen. Offenbar war mir die Freude über die Ankunft in Champéry noch nicht wirklich anzusehen, denn Alex und Johnny sahen sich veranlasst, sofort alle Vorzüge des Ortes und der Schule aufzuzählen. Was es hier nicht alles zu erleben gebe. Angefangen von spannenden Sportwettkämpfen über großartige Bergtouren bis hin zu aufregenden Tanzabenden im Mädcheninternat. Wie entspannt und so gar nicht schulmäßig der Unterricht ablaufe, wie lässig die meisten Lehrer und wie spaßig die meisten Mitschüler seien. All das war für den Anfang freilich zu viel. Die erste Reise, ganz allein, die ersten Ferien im fremdsprachigen Ausland, ganz ohne die Eltern …, die großartige, aber fast ein wenig bedrohliche wilde Berglandschaft …, die Ungewissheit, wie ich mit Internat und Unterricht zurechtkommen würde …, mit den vielen neuen, fremden Menschen …, mit dem ausnehmend hübschen Mädchen, mit dem Alex am Bahnhof erschienen war. Mit all dem kam ich im Kopf einfach noch nicht ganz klar. Eher verwirrend und verunsichernd waren die vielen Eindrücke. Noch war ich in Champéry nicht wirklich angekommen. Vor allen anderen Sehenswürdigkeiten des Ortes besuchte ich zunächst einmal die Telefonzelle und meldete meine unfallfreie Ankunft nach Hause. „So ein braver Bua, so kenn ich dich ja gar nicht“, bemerkte Alex mit leisem Spott, um aber dann gleich und mit ernstem Gesichtsausdruck nachzufragen: „Von mir hast du doch hoffentlich nichts gesagt?“ „Natürlich nicht!“, versicherte ich ihm mit ebenso ernster Miene. „Kein einziges Wort, das war doch auch so ausgemacht.“ Die Aufnahme

Die Atmosphäre bei der Anmeldung im düsteren, holzgetäfelten Internatsbüro wirkt etwas bedrückend, insbesondere durch die zahlreichen Porträts in Öl verblichener Schulleiter. Die Schule war 1906 gegründet worden und hatte sich seitdem kaum verändert. Als Erstes wurden gleich einmal meine Französisch-Kenntnisse getestet, und danach wurde die Klassenzuteilung vorgenommen. Diese erfolgte zunächst nach Altersgruppen, die von 12 bis 18 Jahren reichten, und danach dem Können entsprechend. Nach einer mehr als holprigen Konversation mit der ausnehmend ungeduldigen, überheblichen und nicht mehr ganz jungen Aufnahme-Madame fand ich mich unter den „Mäßig Fortgeschrittenen“ wieder, was mich persönlich dann auch nur mäßig freute. Immerhin zählten Alex und Johnny bereits zu den „Fortgeschrittenen“. Was mich aber noch weniger freute, war die überraschende Mitteilung, dass für mich nur ein 2-Wochen-Kurs gebucht worden sei. Das war doch so nicht ausgemacht. Auf dem Prospekt, den ich meinem Vater gezeigt hatte, war der 6-Wochen-Kurs aufgeführt, da war ich mir ganz sicher. „Madame, c’est certainement un erreur“, wandte ich ein. Madame aber lächelte nur süffisant und präsentierte mir die Buchung. Dazu erläuterte sie auf Deutsch: „Fix gebucht für zwei Wochen, danach bei gutem Erfolg Option auf Verlängerung.“ „Sehr clever vom Herrn Papa“, dachte ich. „Wenn ich nicht spure, muss ich nach zwei Wochen wieder zurück. Das hätte er mir aber auch wirklich vorher sagen können. Für Alex und Johnny wurden sechs Wochen gebucht. Und ich sollte womöglich früher nach Hause fahren?“ Das aber würde es auf keinen Fall geben. Dazu würde mir schon noch etwas einfallen. Die ausführliche Belehrung über die Verhaltensregeln in der „École nouvelle de la Suisse romande“, die stante pede der Anmeldung folgte, bekam ich kaum mit. Zu sehr war ich verärgert und dazu von Madames erlesenem Vokabular mehr als überfordert. Dies schien auch Madame nicht entgangen zu sein, wie ihrer abschließenden Frage mit deutlich drohendem Unterton zu entnehmen war: „Tout compris?“ „J’espère“, entgegnete ich resignierend. Was ich aber wirklich hoffte – von dieser Zange künftig verschont zu bleiben. Diese Hoffnung sollte sich allerdings nicht erfüllen. Sprachkultur in den Schweizer Bergen Champéry liegt im französischsprachigen Teil des Schweizer Kantons Wallis (Valais), in einem auch heute noch recht abgeschiedenen Gebirgstal auf 1050m Höhe. Man sagt der Bevölkerung des Valais nach, ein besonders schönes und deutliches Französisch zu sprechen, und das mit einer gewissen Schweizer Bedächtigkeit. Die Bewohner sind sich dieses Rufes offenbar bewusst und wahren ihn. Anders als etwa in einem Tiroler Bergdorf ist man überall um korrekte Hochsprache bemüht. Kaum jemandem würde es einfallen, fremden Gästen gegenüber in derbe Mundart zu verfallen. Aber natürlich gibt es die auch. Es ist eine Art „Alpen-Französisch“, wie es in der Suisse Romande, in Savoyen und im italienischen Aosta-Tal gesprochen wird. Die großartige Berglandschaft, die Bemühungen der Bevölkerung um die Sprachpflege und die für Schweizer Begriffe nahezu herzliche Gastfreundschaft haben wohl dazu geführt, dass sich Champéry zu einem beliebten Ferienort entwickelt hat, der mit seinen Sprachcamps Jugendliche aus aller Welt anzieht. So tummelten sich auch in der „École nouvelle de la Suisse romande“ die verschiedensten Nationalitäten. Die Mehrzahl der Schüler bildeten US-Amerikaner, Briten, Kanadier und Mexikaner, aber auch Deutsche, Spanier und Italiener waren vertreten. Wir Österreicher wurden immer wieder als Deutsche angesehen, vielen war der Unterschied nicht klar. „Autrichiens“ tauchten wohl nur sehr selten hier auf. Als wir das einmal richtigstellten, bekamen wir von einem wenig sensiblen Heimaufseher zu hören: „Ah, les autres chiens“ – die anderen Hunde. Darüber belustigt, nannten uns kurzzeitig auch zwei andere Aufseher so, bis es von der Internatsleitung ausdrücklich untersagte wurde. Neben dem Internat gab es in Champéry noch zwei andere, aber kleinere Sprachschulen. Diese besuchten vor allem Jugendliche, die bei Gastfamilien wohnten. Für Studenten wurden auch Ferienjobs angeboten, meist in der Gastronomie und der Landwirtschaft. Trotz der schweren Arbeit waren diese Jobs sehr begehrt. Zwar selten, aber doch kamen vor allem der guten Bezahlung wegen auch Sprachstudenten aus Österreich nach Champéry. Im Ort selbst ist alles sehr traditionell gehalten: die Ferienchalets mit ihren holzgeschnitzten Balkonen und steilen Dächern, die blitzsaubere Dorfstraße, das schlichte Amtshaus, von dessen Giebel die Fahne mit dem Schweizer Kreuz herabhängt, der von Holzbänken umgebene, blumengeschmückte Dorfbrunnen. Etwas eigenartig wirkt die (katholische) Kirche. Sie bildet nicht den Mittelpunkt des Dorfplatzes, sondern ist seitlich versetzt in einen Abhang gebaut. Über dem viereckigen klobigen Kirchturm befindet sich eine Metallkrone mit aufgesetzter Kuppel, die das Kreuz trägt. In der Straße, die zum Bahnhof führt, finden sich mehrere recht schmucke kleine Geschäfte, in denen hauptsächlich Käse, Schokolade und Uhren angeboten werden. Überall wehen die Fahnen des Wallis. Sie sind senkrecht in eine weiße und eine rote Hälfte geteilt und zeigen 13 fünfeckige Sterne, die für die 13 Distrikte des Kantons stehen. Die Hauptattraktion des Ortes aber ist seine Umgebung. Auf der westlichen Seite des Tales erhebt sich das wilde und zerklüftete Kalksteinmassiv der Dents du Midi bis zu 3200m hoch, das von zahlreichen Alpinwegen und Klettersteigen durchzogen wird. Über dem Bergrücken am Südende des Tales leuchtet die über 3000m hohe schneebedeckte Pyramide des Mont Ruan. Im Osten liegen die sanfteren Formationen des rund 2000m hohen Planachaux mit zahlreichen Almwiesen und Bergseen. Von hier aus kann man großartige Ausblicke bis zum Genfer See genießen. Bekannt ist Champéry natürlich auch als Skigebiet. Es ist grenzüberschreitend mit dem nur wenige Kilometer entfernten französischen Skiort Avoriaz über mehrere Lifte verbunden.Eintritt in eine neue Welt

Die Aufnahme-Madame hatte es bis jetzt nicht für nötig gehalten, ihren Namen zu nennen. Sie geleitete mich über die steile schmale Treppe zu meiner Unterkunft im obersten Stockwerk. Auf dem Weg dorthin erfuhr ich alles Notwendige über Zimmerreinigung, Körperhygiene, Wäschetausch und die verschiedenen Räumlichkeiten des Internats. Was der Neuankömmling dann aber beim späteren Inspizieren der Räumlichkeiten zuallererst wahrnahm, waren die sehr speziellen Gerüche. Aus den Freizeiträumen im Kellergeschoss drang das Aroma herber Männlichkeit. Im Erdgeschoss dominierte die charakteristische Geruchsmischung einer Großküche. Die Unterrichtsräume im 1. Stock rochen so, wie in jeder Schule: nach Schweiß, Angst und Tränen. Und schließlich verströmten die dunklen Wände der höheren Stockwerke den rustikalen Geruch gebeizten Holzes, gewürzt mit einem Schuss dumpfer Modrigkeit. Das Zimmer war allerdings sehr geräumig und von einem großen Balkon umgeben. An der Längsseite standen hintereinander zwei nicht ganz stabil wirkende Betten; auf einem davon lag zwischen einer Unzahl von Schallplatten und englischsprachigen Zeitschriften ein schmächtiger junger Bursche, der mir zunächst nur ein kurzes „High“ widmete. Der große Bauernschrank, der massive Holztisch, die zwei Sessel mit den gezwirbelten Beinen, der Hirschgeweih-Luster und das bemalte Nachtkästchen mit Häkeldecke und Leselampe sollten wohl ländliches Wohlbehagen vermitteln. Sonst war meine neue Bleibe aber eher schmucklos, sah man vom Stillleben in Öl und dem holzgeschnitzten Kruzifix ab. Die Einrichtung im Internat repräsentierte ganz den Stil der Zeit. Bevorzugt waren damals Vollholzmöbel in dunkler Eichenoptik. Wer es sich leisten konnte, war rustikal eingerichtet oder zeigte sich mit altdeutschen Möbeln auf dem neuesten Stand. Bett- und Tischwäsche, Polster und Vorhangstoffe liebte man rot oder blau kariert, und auch der Esstisch war rustikal dekoriert. Die modische Entsprechung in der Bekleidung waren Dirndl und Trachtenanzug, für viele sowohl Alltags- als auch Festkleidung erster Wahl. Worauf mich Madame nur wortlos hinwies, war der bei der Tür bereitstehende Besen samt Kübel und Wischmopp. Damit war klargestellt, von wem diese exquisite Behausung zu pflegen sei. Sauberkeit hatte, wie in der Schweiz nicht anders zu erwarten, oberste Priorität. Keinen Zweifel ließ sie dann am strikten Alkohol- und Zigarettenverbot und sprach mit erhobenen Zeigefingern und Augenbrauen von „Lourdes conséquences“ bei Nichtbeachtung. Eine Drohung, die ich hier öfter noch hören sollte. So gar nicht ins Bild peinlicher Ordnung passte mein Zimmerkollege Howard, ein 17-jähriger Engländer aus der Gegend von Manchester. Mit seinen schwarzen Strähnen, die ihm wirr ins Gesicht hingen, und seiner abgetragenen Kleidung wirkte er betont nachlässig. Die deutlich zu große Baseballkappe hing schief auf dem schmalen Kopf, um die dünnen Beine schlotterten rot karierte Shorts, das ausgebleichte grüne Leibchen hing schlapp am leicht gebeugten Oberkörper. Das einzig kräftige an ihm war die Kette um seinen Hals, an der ein Peace-Zeichen baumelte. Dieses kreisrunde Symbol mit einer aufwärts und drei abwärts gerichteten Linien war damals bei den Jugendlichen sehr beliebt und stand für die nach Ausbruch des Vietnamkrieges einsetzende Friedensbewegung. Das Symbol war aber, wie sich bald zeigen sollte, kein Garant für die Friedfertigkeit seines Trägers. Howard schien nicht unbedingt auf mich gewartet zu haben, dennoch begrüßte er mich schließlich mit aufmunterndem Schulterklopfen und wies mir meinen Schlafplatz am etwas zugigen Fenster zu. Da er vorerst nur Englisch sprach, stellte ich mich als „Austrian“ vor, was ihn sichtlich nicht beeindruckte. Er zuckte die Achseln, nickte dann wohlwollend und beließ es bei einem „Okay, welcome“. Der große Schrank war mit einer Sporttasche, einer Gitarre, zahlreichen „Rolling Stones“-Platten und mehreren geöffneten Packungen Chips und Popcorn weitgehend belegt. Auch das bunte Durcheinander der wahllos verteilten Kleidungsstücke im Schrank zeugte nicht unbedingt von Ordnungssinn meines Mitbewohners. Howard machte auch keinerlei Anstalten, an diesem Durcheinander irgendetwas zu ändern, und so zog ich es vor, meine Sportsachen auf den Kasten zu legen und meine Ausgehklamotten an die außen befindlichen Haken zu hängen. Toilettenutensilien und Unterwäsche verschwanden im Nachtkästchen, der Rest blieb vorerst im Koffer. Als ich aber kurz darauf auf den Balkon hinaustrat, wurde ich für den doch sehr gedämpft herzlichen Empfang entschädigt. Vor mir die imposante Bergkette der Dents du Midi, die mit Abstand höchsten Berge, die ich bisher gesehen hatte. Zahlreiche, bizarre Felsspitzen, umgeben von kleinen, weißen Wölkchen ragten in den Sommerhimmel. Die dunklen, aus dem Tal aufsteigenden Wälder, das satte Grün der Almen, gewaltige, mit Schnee durchzogene Steinfelder unter fast senkrechten Wänden, in mehreren Stufen herabstürzende Wasserfälle und dazu fernes Kuhglocken-Geläute – das alles war für mich als Kind der Stadt ein bislang nicht gekanntes Naturschauspiel. Am liebsten hätte ich mich sofort aufgemacht, um diese für mich neue Welt des Hochgebirges zu erkunden. Ich begnügte mich vorerst aber damit, den Verlauf der steilen Flanken, Grate und Schneefelder zu studieren und anhand der Tourenkarte mögliche Anstiegswege ausfindig zu machen. Der über 3200m hohe Hauptgipfel zeigte sich aber so schroff und abweisend, dass es mir nahezu unmöglich schien, ihn jemals zu erreichen. Ein erster kleiner Spaziergang ließ mich das Internat und seine Umgebung näher erkunden, bevor ich Alex und Johnny nochmals ausführlich über ihre bisherigen Erlebnisse und Erfahrungen in der „École nouvelle“ befragte. Alex, bereits zum zweiten Mal hier, wusste natürlich genau „was da so läuft“, wer die „klassen Burschen“ und wer die „Unsympathler“ waren. Zu Letzteren zählte er eine englische Rocker-Gang, eine Bezeichnung, mit der ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nichts anfangen konnte. Das sollte sich aber sehr rasch ändern. Ansonsten genoss Alex den Aufenthalt in Champéry sichtlich, wozu die schöne Mexikanerin wohl nicht unwesentlich beitrug. Auch Alex‘ freundlicher, amerikanischer Zimmerkollege Mike schien eine unkomplizierte Frohnatur zu sein. Nicht so begeistert von Champéry gab sich der sensibel wirkende Johnny. Er klagte über die rauen Umgangsformen einiger Mitbewohner, auch der ständige Zwang zur französischen Sprache behagte ihm sichtlich nicht. Am liebsten bediente er sich einer gepflegten Wiener Mundart mit leicht raunzendem Unterton. Sein gleichaltriger Zimmerkollege Miguel war Spanier und schien ein recht sympathischer, gefälliger Bursche zu sein, denn gleich bot er mir an, mir beim Ausfüllen des Meldeformulars behilflich zu sein. Schnapstaufe