Großband Raumschiff Rubikon 4 - Vier Romane der Weltraumserie - Manfred Weinland - E-Book

Großband Raumschiff Rubikon 4 - Vier Romane der Weltraumserie E-Book

Manfred Weinland

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane: Manfred Weinland: Wahres Leben Lars Urban: Der Gott der Nargen Alfred Bekker: Verlöschende Sterne Manfred Weinland: Die Negaperle AM MORGEN EINER NEUEN ZEIT. Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen. Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung. Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten. Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden ...

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Manfred Weinland, Alfred Bekker, Lars Urban

Großband Raumschiff Rubikon 4 - Vier Romane der Weltraumserie

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Inhaltsverzeichnis

Großband Raumschiff Rubikon 4 - Vier Romane der Weltraumserie

Copyright

Raumschiff Rubikon 13 Wahres Leben

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Epilog

Raumschiff Rubikon 14 Der Gott der Nargen

Copyright

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Copyright

Raumschiff Rubikon 15 Verlöschende Sterne

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Copyright

Raumschiff Rubikon 16 Die Negaperle

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

Epilog

Großband Raumschiff Rubikon 4 - Vier Romane der Weltraumserie

Manfred Weinland, Alfred Bekker, Lars Urban

Dieser Band enthält folgende Romane:

Manfred Weinland: Wahres Leben

Lars Urban: Der Gott der Nargen

Alfred Bekker: Verlöschende Sterne

Manfred Weinland: Die Negaperle

AM MORGEN EINER NEUEN ZEIT.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Dieter Rottermund

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Raumschiff Rubikon 13 Wahres Leben

von Manfred Weinland

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Prolog

Kontakt!, meldet die Stimme in meinem Kopf. Sie gehört meiner „anderen Seite“. Sie gehört einer Intelligenz, die nicht von Menschen ersonnen und erschaffen wurde, sondern von Wesen, die einst noch jenseits unserer Milchstraße beheimatet waren: Foronen. Bewohner der Sternenballung Samragh, die irdische Astronomen auf den Namen Grosse Magellansche Wolke tauften. Einst, als die Erde noch ein lebenswerter Ort und nicht von einer dicken Schale aus jahrmilliardenaltem Urgestein umgeben war.

Die Erde ...

Ich weiß nicht, ob ich sie noch Heimat nennen kann. Sie ist völlig verändert. Manche ihrer Bewohner – nicht alle! – sehen nach wie vor so aus wie die Menschen, unter denen ich aufwuchs. Aber es gibt auch andere, extrem veränderte, die dank ihrer Physis befähigt sind, ohne weiteren Schutz im Weltraum zu leben. Dort bauen sie an und ernten sie Gewächse, die ebenfalls nicht mehr auf das Licht und die Wärme einer Sonne angewiesen sind – und die als Nahrung auf der unter Psischleiern liegenden Erde dienen. Auch der gute alte Mond ist in diesen kugelförmigen Hohlraum, die Oortschale, integriert, während die äußere Schale einen gigantischen, atmosphärelosen Planeten vorgaukelt ...

So sind die Verhältnisse im Solaren System, das ich nicht länger Heimat nennen will . Zugleich aber weiß ich, dass ich Schuld auf mich geladen habe. Manchmal wache ich nachts schweißgebadet in seiner Kabine auf, und in mir toben die Erinnerungen an meine Begegnung mit Cronenberg, an die Fraktalen, die X-Schiffe ... all den Wahnsinn, für den ich mich mit verantwortlich fühle.

Mir ist, als hätten wir dort, im irdischen Sonnensystem, etwas erweckt, was ohne unseren Vorstoß zur alten Erde für immer dort geblieben wäre und „unter der Schale“ weiter geschlummert hätte.

Nun aber ist es erwacht. Und hat mit den X-Schiffen der Treymor womöglich ein Instrument zur ungehemmten Ausbreitung gefunden.

Reuben Cronenberg, der Diktator des neuen, schrecklich entstellten Erde-Mond-Systems wurde durch Darnoks Entartungsfeld sowohl unsterblich, als auch in seinen späteren Möglichkeiten der Machtentfaltung beschränkt. Dank Darnok war es Cronenberg nie möglich, die Grenzen des Sonnensystems zu verlassen, weil alle Raumfahrt im Erinjij-Reich, wie auch überall sonst in der Milchstraße, zum Erliegen kam, alle Hochtechnik generell – nach Beseitigung des Darnokfeldes aber ist seinem Größenwahn nun Tür und Tor geöffnet.

Das lässt mich nachts aus meinem Schlaf hochfahren.

Kontakt!, wiederholt Seshas Stimme in mir. Und endlich lasse ich sie an mich heran, lasse es zu, dass sie mich ins Hier und Jetzt zurückholt, auf den Boden der aktuellen Tatsachen sozusagen.

Ins Angksystem.

In das von Bractonen erschaffene „ganz spezielle“ Sonnensystem, auf dem mittlerweile Millionen und Abermillionen Menschen beheimatet sind. Sie alle gehen auf eine „Kernzelle“ zurück: auf eine kleine Gruppe Entführter, die hier weit in der Vergangenheit von Kargor ausgesetzt wurden und aus denen sich abseits der verstümmelten Erde eine neue Menschheit entwickelt hat, die mir sympathischer ist als die Untertanen eines Reuben Cronenberg – wenngleich ich einräumen muss, dass jene veränderten und von einem Despoten regierten Erinjij-Nachfahren in der Mehrzahl wahrscheinlich schuldlos an der unguten Entwicklung sind, deren Zeuge ich wurde.

Als ich vor dem Tribunal stand.

Als – – –

Ich dränge das neuerliche Aufsteigen der Erinnerungen mit Gewalt zurück.

Kontakt, meldet Sesha unermüdlich, als wüsste sie um meinen Seelenzustand.

Und nun erst wende ich mich wirklich, in vollem Bewusstsein und mit gespannter Neugier dem zu, was dort draußen , außerhalb meines „Körpers“, und dann fast übergangslos auch drinnen geschieht:

Die neuen Crewmitglieder treffen ein – oder sollte ich eher sagen: die neuen Bewohner des riesigen Komplexes, den mein Geist gerade durchstreift, als wäre er aus Fleisch und Blut.

Die RUBIKON.

Vielleicht ist es genau dieser Moment – in dem die uralte Arche der Foronen eine Flut neuer Passagiere erhält, die ihre vertraute Umgebung hinter sich lassen, weil Kargor es so bestimmt hat –, an den ich später noch oft zurückdenken werde. Als den Moment, in dem mir mit unerwarteter Klarheit bewusst wird, dass ich selbst längst eine neue Heimat gewonnen habe, fernab des düsteren Ortes, auf dem jetzt die Schatten und Schattenhaften regieren.

Meine Heimat, das wird mir fast schmerzhaft klar, ist die RUBIKON.

Und wenn ich mir etwas für die Zukunft wünschen darf, dann, dass all die aufgewühlten Seelen, die gerade an Bord drängen, irgendwann ebenso fühlen werden.

Denn jeder Mensch braucht einen Anker, der ihm Halt und Kraft schenkt. Erst recht, wenn es ihn hinauszieht in die Weiten eines feindseligen Kosmos ... den die Bractonen einst erfanden ...

1. Kapitel

„ Kontakt“, sagte die Stimme aus dem Off.

Scobee warf einen kurzen Blick auf den geschlossenen Sarkophagsitz, unter dessen Gehäuse der Kommandant der RUBIKON Platz genommen und sich mit dem Schiff in einzigartiger Weise verbunden hatte.

Cloud hatte es vorgezogen, die Ankunft der neuen Besatzung auf diese Weise zu erleben. Scobee hingegen war froh, alle relevanten Bilder von der Holosäule geliefert zu bekommen.

Ein historischer Moment stand unmittelbar bevor: die Wiederbevölkerung des Rochenraumschiffs, das in seinen „echten“ Ausmaßen die Größe einer künstlichen Stadt hatte. Eingedämmt wurde dies nach außen hin durch sogenannte Dimensionswälle. Dem Betrachter vermittelte sich der Anblick eines Raumschiffs von immer noch beachtlicher Größe, das an einen irdischen Mantarochen erinnerte. Die Spannweite betrug runde 300 Meter – ohne die Wälle wäre es ein Vielfaches gewesen.

Die RUBIKON bot Tausenden von Individuen Unterkunft und Lebensgrundlagen.

Und Tausende von Menschen strömten jetzt herbei. Von allen bewohnten Planeten des rätselumwobenen Angksystems. Sie kamen via Straßennetz – Energiestraßen, die sämtliche Welten des Ersten Reiches miteinander verbanden, ausgenommen Portas natürlich. Portas nahm eine Sonderstellung im Verbund der Welten ein, die eines Krebsgeschwürs, wenn man Kargors Worten und den eigenen Erfahrungen bei Yaels Rettung trauen durfte.

Auf Portas waren Kräfte aus den Fugen geraten und am Werk, die ein Mensch vermutlich niemals verstehen würde, wenn selbst die Bractonen daran scheiterten.

Scobee wünschte Kargor, der mit vielen seines Volkes aufgebrochen war, um auf Portas nach dem Rechten zu sehen ... und vielleicht den lang gesuchten Weg zurück in sein angestammtes Kontinuum zu finden ..., dass ihm Erfolg beschieden sein würde.

Milliarden seiner Art hatten sich jedoch entschieden, den Vorstoß ins Ungewisse nicht mitzumachen, sondern hier, in diesem Universum, das ihre Schöpfung war, zu bleiben. Bislang gab es keinerlei Anzeichen auf Machtgelüste, die sie zu diesem Entschluss geführt hatten. Vielmehr erhofften sie sich offenbar eine friedliche Koexistenz mit den angesiedelten Menschen. Was sich daraus in Zukunft entwickeln würde, war noch gar nicht absehbar.

Die RUBIKON dockte an einen Knotenpunkt des interplanetaren Systems von Energiestraßen an – und damit war den Ankömmlingen der Zutritt an Bord ermöglicht.

Eine Chance, die sie zu Tausenden wahrnahmen.

Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, auch Kinder, die offenbar zu bestimmten Erwachsenen gehörten und eine Familie bildeten, waren darunter.

„ Wie konnte er dazu nur seine Einwilligung geben?“, drang es raschelnd aus dem Gestrüpp von Cys Pflanzenkörper, der auf dem Sitz auf der anderen Seite des geschlossenen Sarkophags Platz genommen hatte.

„ Angst?“, fragte Scobee, die ihren Blick kurz aus der Holosäule löste, in der verschiedene Fenster unterschiedliche Bereiche des Schiffes zeigten – wo jetzt Menschen wie aus dem Nichts materialisierten, immer mehr.

„ Angst? Wovor?“, kam es knisternd zurück.

„ Bisher waren wir eine sehr überschaubare elitäre Gemeinschaft“, sagte sie. „Das wird sich nun nachhaltig ändern. Wir alle müssen mit der neuen Situation umgehen lernen.“

„ Ich halte mich für anpassungsfähig“, erklärte Cy. Seine Augenknospen zitterten leicht.

„ Das wollte ich dir auch nicht absprechen. Dennoch wird sich für uns alle einiges ändern. Wir werden erheblich mehr soziale Kontakte haben als seit einer kleinen Ewigkeit. Wer sich darauf einlässt, wird seinen Gewinn daraus ziehen – aber nur, wenn er sich seine Toleranz bewahrt.“

„ Auch damit werde ich die wenigsten Probleme haben“, seufzte Cy. „Ich bin seit jeher darauf angewiesen, dass ich von anderen toleriert werde – weil ich mich in meinem Äußeren extrem von den meisten anderen hier an Bord und unterwegs unterscheide. Das lehrt eigene Toleranz.“

„ Schön. Ich wollte es nur angesprochen haben.“

„ Und du hast es schön ausgeführt“, lobte eine sonore Stimme von links. Dort saß Jelto, gleich neben Aylea, der Jüngsten der Stammbesatzung. Seine schockgrünen Augen blitzten. „Im übrigen gehe ich mit Cy durchaus konform – auch ich frage mich, ob es klug war, diese von Kargor diktierte ... Menschenschwemme an Bord zuzulassen.“

„ Hinter Kargors Angebot “, fühlte Scobee sich bemüßigt, Partei für den Bractonen zu ergreifen, „steht meines Erachtens das ehrliche Bemühen um Hilfsbereitschaft. Wir hätten es ablehnen können, neue Besatzungsmitglieder aufzunehmen – ich bin sicher, er hätte es akzeptiert.“

„ Mich wundert lediglich“, griff nun auch der spindeldürre Algorian in das Gespräch ein, „dass John so überstürzt eingewilligt hat. Meines Wissens hat er nicht einmal Referenzen des potenziellen Mannschaftszuwachses verlangt, ehe er den Zutritt erlaubte.“

„ Offenbar vertraut er Kargor ... oder den Bractonen generell. Was ich befürworte“, sagte Scobee. „Dies hier ist zuallererst und vorrangig eine einzigartige Gelegenheit . Wer weiß, wann uns jemals wieder die Chance geboten wird, derart viele Menschen für unsere Art zu leben zu begeistern, wie es hier der Fall ist.“

„ Offenbar wurden sie seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet“, warf Aylea ein. Wer die blonde Elfjährige mit den Zöpfen kannte, wusste ihren Gesichtsausdruck zu deuten: Sie war ebenfalls hin- und hergerissen in ihrer Bewertung dieser beispiellosen Situation.

„ Ja, das wurde uns von Kargor inzwischen bestätigt“, sagte Scobee. „Er selbst hat entsprechende Vorbereitungen getroffen und Maßnahmen verankert, die auf die Stunde X vorbereiteten.“

„ Die Stunde X war demnach unsere Ankunft im Angksystem – wohin Kargor mit seiner Tridentischen Kugel Prosper, Sarah und all die anderen vor Jahrzehntausenden absetzte. Und wo sie sich seither fortpflanzten, bis hin zur heutigen Population“, beteiligte sich erstmals Jarvis an dem Gespräch. Seine Maske vermittelte die Illusion eines lebendigen Menschen, der da zwischen seinen Freunden saß. Tatsächlich war er ein Wesen geworden, das von seiner Umgebung vielleicht noch mehr Toleranz abverlangte als der schon extrem fremdartige Cy.

„ Aber wie sind die Neuankömmlinge zu verstehen?“, fragte Algorian, der den Eindruck vermittelte, als versinke er mehr und mehr in einer Trance. Vielleicht versuchte er gerade, die Gedanken von ersten Neumitgliedern zu espern. „Als echter Mannschaftszuwachs – oder einfach als ‚Gesellschafter’?“

„ Ich denke, das ergibt sich mit der Zeit von selbst“, bekundete Scobee ihre ehrliche Überzeugung. „Sie werden sich erst einmal häuslich einrichten und mit uns auseinander setzen – so wie wir uns mit ihnen auseinander setzen werden.“

„ Aber dir ist schon bewusst“, meldete sich Cy abermals, „dass mit ihnen die Verantwortung der Schiffsführung eklatant ansteigt?“

„ Durchaus.“

„ Ist es auch John klar, was für eine Bürde er sich – und uns – auflädt?“

„ Ich glaube, du kennst die Antwort auf deine Frage selbst“, erwiderte Scobee und blickte erneut zu dem geschlossenen Sarkophaggehäuse, in dem – anders als der Name suggerierte – kein Toter, sondern ein höchst Lebendiger ruhte.

Cy raschelte. Danach schwieg er.

Kurze Zeit später war der Transfer an Menschengut abgeschlossen.

Die RUBIKON löste sich vom Knotenpunkt – und John Clouds Geist von den stählernen Gebeinen des Schiffes.

„ Was dagegen, wenn wir dich begleiten?“

Cloud war bereits auf dem Weg zum Türtransmitter. Er blieb kurz stehen und drehte sich zu Jarvis und Scobee um. „Wie könnte ich? Vielleicht könnt ihr mir ja ein wenig soufflieren. Ich bin kein guter Redenhalter.“

„ Aber wir, oder wie?“, fragte Jarvis.

„ Du könntest mal in deinen Speichern nachsehen, ob nichts Passendes dabei ist.“ Cloud grinste.

Der Freund schien es weniger spaßig zu finden. „Du hättest dich ja auch während deiner Verschmelzung mit dem Schiff von Sesha damit versorgen lassen können. Die KI ist bestimmt genial und voller Esprit, wenn es um die Erstellung von pathetischen Reden geht – man muss sie nur von der Kette lassen.“

„ Du schaffst das schon allein“, hielt Scobee dagegen. „Ich glaube, dass du die richtigen Begrüßungsworte findest. Stell dir einfach vor, du wärst einer von ihnen – erzogen und ausgebildet, um eines Tages das Legendenschiff zu betreten, zu dem Kargor die RUBIKON hochstilisiert hat.“

„ Hat er das wirklich? Was weißt du darüber?“

„ Wenig. Du kennst seine Informationspolitik. Klar scheint nut, dass die Angkbewohner seit Generationen auf diesen Tag vorbereitet wurden – auf die RUBIKON ebenso wie auf die mögliche Rückkehr der ERBAUER, die künftig mit Menschen zusammen auf den Angkwelten leben werden.“

„ Nach wie vor ein eigenartiger Gedanke“, sagte Cloud.

„ Und wirklich begeistert davon, neue Crewmitglieder zu bekommen, scheinst du mir immer noch nicht zu sein.“

„ Merkt man das so deutlich?“

Sie nickte. „Einerseits verständlich, andererseits ...“

„ Ja?“

„ Du solltest dir wirklich keine Sorgen machen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Kargor diesmal ohne jeden Hintergedanken handelt. Er will die RUBIKON bereichern , nicht unterwandern .“

„ Legst du dafür wirklich deine Hand ins Feuer?“

„ Absolut.“

Er merkte, dass sie es genauso meinte, wie sie es sagte. „Gut. Dann will ich versuchen, auch die letzten Vorbehalte abzustreifen. Ich hätte ohnehin nicht eingewilligt, sie an Bord zu nehmen, wenn ich begründete Zweifel an ihrer Integrität hätte.“

„ Sie sind nicht vollkommen, erwarte das nicht“, bat Scobee. „Man sollte sie eher als Rohdiamanten nehmen, die noch ihren Schliff erhalten müssen.“

„ Als Schleifer eignet sich Jarvis doch hervorragend“, zwinkerte Cloud dem Freund zu. „Wäre das nicht eine Herausforderung für dich?“

„ Wenn ich sie schleife, bleibt von ihnen nichts mehr übrig“, beschied ihm Jarvis das Angebot abschlägig. „Ich weiß nicht, warum ihr immer den Militaristen in mir sehen wollt. Okay, ich wurde einst dafür konditioniert, im Kampf meinen Mann zu stehen. Aber ich habe auch eine softe Seite. Äh ... hatte eine, wollte ich natürlich sagen. Inzwischen ist nichts mehr an mir weich. Meine Züchter wären stolz auf mich, wenn sie sehen könnten, was für ein harter Bursche dank Nanotechnik aus mir geworden ist ...“

Die Flachserei driftete in Sarkasmus ab. Cloud beschloss, die Notbremse zu ziehen. Das Wort „Züchter“ erinnerte ihn daran, wie und mit welcher Prämisse die GenTecs einst in vitro gezeugt worden waren.

Das war ein anderes Thema.

„ Na dann, packen wir’s an“, sagte er und trat als Erster durch den Türtransmitter.

Jarvis und Scobee folgten ihm unmittelbar.

Auf der anderen Seite erwartete sie ein Menschenmenge, die ein kleines Stadion gefüllt hätte.

Menschenmenge? Cloud machte mit geübtem Blick auch Humanoide aus, die unmöglich Menschen sein konnten.

„ Ich kenne sie“, raunte Scobee ihm zu. „Kargor hat sie mir gezeigt. Sie bewohnten früher die kobaltblauen Türme und haben für mich starke Ähnlichkeit mit Gloriden, auch wenn ihre ‚Haut’ völlig anders ist.“

Das konnte Cloud nur unterstreichen. Die Humanoiden waren schwarz, weltraumschwarz – und dazu passend schienen auf ihrer Haut Sternen, ja ganze Galaxien vorbeizudriften. Wer diese Geschöpfe ansah, hatte das Gefühl, mit einem starken Teleskop ins Weltall zu blicken.

„ Die Bractonen nennen die Gloriden Mortuas, wenn ich mich recht entsinne“, sagte er. „Gibt es auch einen Namen für diese Geschöpfe? Sind sie denn miteinander verwandt?“

„ Ich habe auf beides keine Antwort, tut mir leid“, bekannte Scobee. „Aber vielleicht müssen wir sie nur fragen.“

Cloud nickte. Es war erstaunlich, wie diszipliniert die Menge – egal ob Menschen oder ... dunkle Humanoide – sich verhielt, obwohl sie die Ankunft des Trios bemerkt hatte.

Cloud zögerte nicht länger. Er trat zwei Schritte vor und hob, von Sesha mit einem vor seinen Lippen schwebenden Schallverstärker unterstützt, die Stimme an.

„ Willkommen!“

Sie schauten erwartungsvoll, aber immer noch beherrscht. Nur wenige flüsterten mit ihrem jeweiligen Nachbarn.

„ Ihr habt euch entschlossen, dieses Schiff als neue Heimat zu wählen. Ihr kennt uns – die Stammbesatzung – kaum, und wir wissen noch wenig über euch. Eigentlich ...“ Er räusperte sich. „... wissen wir gar nichts über euch. Aber vielleicht liegt genau darin die Herausforderung. Mir wurde versichert, dass ihr alle freiwillig diesen Schritt in ein neues, ganz anderes Leben gewählt habt. Und dass ihr immerhin wisst – zu wissen glaubt –, was dieser Schritt für euch bedeutet. Ihr lasst Familien und Freunde hinter euch. Wann wir das Angksystem das nächste Mal besuchen werden, ist noch völlig ungewiss. Unsere erste gemeinsame Fahrt wird uns hinausführen in den Leerraum zwischen den Galaxien. Wir werden dort versuchen ...“ Er nickte Scobee zu, die Kargors Ring am Finger trug. „... alte Bekannte aus einer misslichen Lage zu befreien. Ich hoffe, es gelingt uns. Und ich hoffe auch, dass ihr davon so gut wie nichts mitbekommt. Ihr werdet die ersten Tage und Wochen vollauf damit beschäftigt sein, euch einzuleben und einzurichten. Für jeden von euch wird überdies eine Aufgabe zu finden sein, die seinen Talenten am nächsten kommt. Wichtiger als die Arbeit ist zunächst aber, dass wir uns alle miteinander besser kennenlernen. Knüpft Freundschaften, besucht einander. Das ist der erste Schritt. Alles andere wird sich ergeben.“

Er winkte ihnen zum Abschied zu. Dann wies er Sesha an, den Transmitter wieder zurück zur Zentrale zu justieren.

Sie verließen den Sammelpunkt, und als sie aus der Gegenstation traten, fragte Cloud: „Na, wie war ich.“

„ Überzeugend“, sagte Scobee. „Zumindest hast du mich voll und ganz überzeugt, dass du recht hattest: Du kannst keine Reden halten. Das ... war überhaupt nichts.“

2. Kapitel

RUDIMENT-2 umreiste das Wurmloch wie ein bizarres Schmuckstück. Aus der Entfernung, über die sich die RUBIKON an die Koordinaten herantastete, war der kugelförmige Auswuchs, der an dem ehemaligen HAKAR klebte, erst spät erkennbar. Er befand sich zunächst auf der Rückseite der Station, und ihre träge Eigenrotation ließ das goldene Gloridenschiff nur ganz allmählich sichtbar werden.

„ Es scheint alles noch so zu sein wie damals, als ich von hier fort musste – als ich von Porlac nach Nar’gog entführt wurde“, sagte Scobee leise. Sie hatte diesen Moment – den Moment der Rückkehr – herbeigesehnt, aber nun, da sie hier waren, rückte die Sorge in den Vordergrund. Die Befürchtung, dass alles umsonst sein könnte und sie viel zu spät kam.

Die Milchstraße lag eine halbe Million Lichtjahre hinter ihnen. Sie leuchtete für das bloße Auge nicht stärker als jede andere x-beliebige Sterneninsel, die das Samtschwarz des Weltalls durchsetzte. Wenn jetzt etwas schiefging – mit der RUBIKON schiefging, würden sie Siroonas damaliges Schicksal teilen. Hierher war sie geflohen, als RUDIMENT-1, im Halo Bolcrains – wie die Foronen die Heimatgalaxis der Menschen nannten –, der Essenz zum Opfer fiel ... bei der es sich um nichts anderes als um Darnoks furchtbaren Vernichtungsfeldzug gehandelt hatte.

Hier auf RUDIMENT-2 hatte Siroona sich in den Stasisschlaf zurückgezogen, abgeschnitten von jeder Möglichkeit, mithilfe der Transportkapseln weiterzureisen. Sowohl der Weg nach Bolcrain als auch nach Malragh war ihr verwehrt gewesen – von Samragh, der Großen Magellanschen Wolke, aus der sie stammte, ganz zu schweigen.

Siroonas Weg hatte sich in den Wirren auf Nar’gog verloren, als Kargor mit seiner mobil gemachten CHARDHIN-Perle aufgetaucht war und Scobee ins Angksystem brachte. Damals waren auch Sarah Cuthbert und Prosper Mérimée samt seinem einstigen Zirkus mit an Bord gewesen.

Damals ...

Wie lange war das alles her? Konnte sie ihrem Zeitgefühl überhaupt noch trauen?

Ein entschiedenes Nein! formte sich in ihren Gedanken. Fast alle einmal für unumstößlich und kosmosweit für gültig geglaubten Annahmen über das Phänomen Zeit hatten sich als nichtig erwiesen.

Zeit war keine Konstante mehr in Scobees Weltbild – und wohl auch in keinem der anderen Gefährten, mit denen sie wiedervereint war.

Und das war der positive Aspekt all der Wirrungen und Irrungen: Sie waren wieder vereint. Die RUBIKON-Crew und sie, nachdem sich ihre Wege und Ziele damals in der Andromedagalaxis getrennt hatten. Als Cloud und der Rest ihrer Freunde mit der RUBIKON durch die dortige Portalschleuse zurück in die Vergangenheit gereist waren, während sie selbst sich für eine Aufklärungsmission gemeinsam mit Ovayran und anderen Gloriden zurück zur Milchstraße entschieden hatte. Mit einem der goldenen Kugelschiffe der Gloriden, der AUGE DES PERIGOR, waren sie dorthin aufgebrochen ...

... und dann hier, noch fern ihres eigentlichen Zieles, gestrandet.

Wie sie letztlich wieder zusammengefunden hatten, die RUBIKON-Crew und Scobee, war wohl nur einer ganzen Kette von ... Wundern zu verdanken.

Wunder, an denen Kargor kräftig gedreht hat, dachte Scobee. Und nun, da der Bractone verschwunden war, hatte sie fast das Gefühl, ihn zu vermissen – etwas, was ihr früher undenkbar erschienen wäre.

Der ERBAUER hatte nicht nur ihr übel mitgespielt. Wenn man es genau nahm, hatte er Prosper und die anderen auf Angk Ausgesetzten auf dem Gewissen, auch wenn er sie nicht eigenhändig umgebracht hatte.

Das hatte er die Zeit für sich erledigen lassen – und alles im Namen des Großen Planes, von dem er oft gesprochen hatte.

Inzwischen war klar geworden, was er damit meinte. Damals hatte er alle Beteiligten im Ungewissen gelassen.

Da war es schon wieder, dieses Damals.

Nein, sie wusste nicht, wie viele Wochen, Monate oder Jahre real vergangen waren, seit Porlac und Felvert sie durch das immer noch vorhandene Wurmloch ins Zentralsystem der Jay’nac befördert hatten. Dort war es dann nach dem Abschalten von Darnoks Entartungsfeld zu brutalen Dimensionsverzerrungen und hyperphysikalischen Stürmen gekommen. Nur dem Zusammenspiel von Felorern und Keelon, die im Nar’gog-System stationiert waren, war es letztlich zu verdanken, dass die Heimat der Jay’nac nicht zwischen den Mühlsteinen dieser Urgewalten zerrieben worden war ... um ein zweites Mal unterzugehen.

All dies lag nun hinter ihr, und Scobee bemühte sich nach Kräften, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich endlich wieder mit ganzer Kraft der Gegenwart und Zukunftsgestaltung widmen zu können. An manchen Tagen gelang es ihr, an anderen weniger gut.

Heute war einer der suboptimaleren Tage. Was sich ändern konnte, wenn sie entgegen ihrer geheimen Ängste doch nicht zu spät kam.

Sie lenkte den Blick weg von dem gigantischen „Schmuckstück“ dort draußen im All und hin zu dem sehr viel filigraneren an ihrem Ringfinger.

Kargors Abschiedsgeschenk an sie und zugleich ein Beweis, dass die Bractonen gelernt hatten, die Sorgen und Nöte der Bewohner dieser Niederungen – in die es sie selbst verschlagen hatte – ernst zu nehmen.

Scobee hoffte, dass dieser Respekt keine Eintagsfliege war und dass die Angkbewohner – Menschen wie ERBAUER – es tatsächlich schafften, friedlich mit und nebeneinander zu leben.

„ Wenn du bereit bist, sind wir es auch“, sagte der Mann an ihrer Seite, John.

Sie löste den Blick von ihrem Ring. „Ich kann es nicht mehr erwarten. Bleibt alles, wie versprochen?“

Der Kommandant der RUBIKON nickte. „Du startest mit Jarvis zu deiner fast schon privaten Mission ...“ Er lächelte ebenso verständnisvoll wie aufmunternd – die Zeit der Missverständnisse zwischen ihnen war lange vorbei. „... während ich mich hier mit dem Rest der Stammcrew um dieses Konglomerat aus Jay’nac-Materie und ehemaligem HAKAR kümmere.“

„ Viel Glück“, sagte sie im Aufstehen.

„ Das“, erwiderte er, „wollte ich gerade dir wünschen. Ich weiß ja, wie viel dir daran liegt. Ich drücke dir die Daumen, dass alles glatt geht, toi, toi, toi!“

Jarvis erhob sich nun ebenfalls aus seinem Sitz. „Wir können gleich von hier aus teleportieren“, sagte er. „Dazu musst du aber in mich rein.“

„ In dich rein?“, mimte sie gekonnt eine Empörung, die sie so keinesfalls empfand. „Das hättest du wohl gerne.“

„ Stimmt – aber davon abgesehen ist es auch notwendig. Niemand von uns kann sagen, welche Verhältnisse an Bord der AUGE DES PERIGOR herrschen. Ob die dortigen Aggregate überhaupt noch eine Atmosphäre erzeugen. Und ob diese so atembar und verträglich ist wie seinerzeit, als du Gast auf dem Gloridenschiff warst ...“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Alternative wäre, dass ich zuerst allein hinüberwechsle und dich hole, sobald die Luft nicht nur vorhanden, sondern auch rein ist. Aber –“

„ Aber das würde alles nur verzögern.“

Er nickte.

„ Dann will ich mal nicht so sein. Was muss ich tun?“

„ Du?“ Er grinste. „Gar nichts. Lass mich nur machen.“ Er streckte die Arme aus, während er plötzlich zu wachsen begann, sich regelrecht aufblähte. Und im nächsten Moment erlosch die Illusion komplett, offenbar hatte er die Maske abgeschaltet. Darunter kam sein wahres Äußeres zum Vorschein: der Robotkörper, dessen Ursprünge auf die Kampfrüstung des Foronen Mont zurückgingen.

Der Körper aus Nanosubstanz öffnete sich senkrecht, als würde eine gewaltige Wunde aufbrechen, und im nächsten Moment fühlte sich Scobee ins Innere dieser Öffnung gezogen.

„ Du weißt aber schon, was du mir da an Überwindung abverlangst?“, brachte sie gerade noch über die Lippen. Dann schloss sich der Spalt auch schon, und sie befand sich in einem Hohlraum, der noch enger war als die Gehäuse der Sarkophagsitze.

„ Frag mal mich, was du mir abverlangst“, tönte es ihr aus den allgegenwärtigen Sprachmodulen entgegen.

Dann kam auch schon der Entzerrungsschmerz.

Und nachdem ihr Jarvis ein „Alles okay!“ zugerufen hatte, spie der Kunstkörper sie auch schon an Bord des anderen Schiffes aus.

Wo die Steinernen auf sie warteten ...

„ Was genau hast du eigentlich vor, Chef?“, fragte das Mädchen mit dem Engelshaar und blickte ihn dabei an, als könnte es kein Wässerchen trüben.

Cloud bemühte sich im Allgemeinen, Aylea als vollwertiges Mitglied der Besatzung zu betrachten, aber in diesem Moment konnte er nicht umhin, sie mit den Worten zu provozieren: „Etwas, das auf jeden Fall langweilig ist für ein Kind. Willst du dir stattdessen nicht lieber die Beine vertreten und Bekanntschaft mit ein paar Neuen schließen? Wie du weißt, haben im Angksystem nicht nur Erwachsene den Weg an Bord gefunden, sondern auch viele Kinder in Begleitung ihrer Erzeuger. So anschluss- und kontaktfreudig, wie du bist, wirst du sicher keine Mühe haben –“

„ Sind ein paar ganz nette Typen dabei“, fiel sie ihm ins Wort. „Aber das hier interessiert mich momentan mehr. Das Ding da draußen ist faszinierend und keine Spur von langweilig. Was werden wir tun – es entern?“

Mit dem Ding meinte sie zweifelsfrei die RUDIMENT-Station. Wen sie mit „Typen“ meinte, wollte Cloud lieber erst gar nicht wissen – allerdings machte ihm ihre Wortwahl bewusst, dass er allmählich aufhören musste, in ihr nur das Kind zu sehen. Mit ihren elf Jahren war Aylea geistig schon weiterentwickelt als hoch begabte Jugendliche, denen er in der Prä-Master-Ära auf der Erde begegnet war. Und auch körperlich war sie bereits bedeutend reifer, als er die ganze Zeit hatte wahrhaben wollen.

„ Gewissermaßen“, sagte er. „Allerdings erst einmal aus der Distanz.“

Sie zog einen Flunsch. Was sie wiederum um Jahre zurückwarf. Jetzt war sie das Kind, das er in ihr sehen wollte. „Du verschaukelst mich. Wie soll das gehen – entern aus der Ferne?“

Er seufzte. „Okay, schließen wir einen Deal. Du bleibst hier und siehst dir alles an – aber du nervst nicht. Wenn du Fragen hast, wende dich an Sesha. Ich möchte mich ganz auf das Vorhaben konzentrieren und –“

„ Kapiert und akzeptiert!“, brachte sie ihn zum Verstummen. „Hört sich gut an. Sesha ist nett. Netter als ... na ja, als manch anderer halt.“ Sie griente und lehnte sich mit verschränkten Armen in dem viel zu großen Kommandositz zurück, den, wenn Cloud nicht die Erinnerung trog, früher Siroona für sich beansprucht hatte, während er selbst traditionell auf Sobeks ehemaligem Platz saß.

„ Du fliegst sofort raus, wenn du dich nicht an unsere Vereinbarung hältst“, drohte er Aylea noch scherzhaft, dann wandte er sich der Holosäule zu und sagte, an die KI gerichtet: „Sesha, ich brauche die Aufzeichnung der Simulation des Netzwerks, mit der du uns vor längerem einmal überrascht hast!“

„ Präzisiere bitte Netzwerk“, reagierte die KI prompt und höflich.

„ Ich meine die visuelle Darstellung der HAKAR-Verknüpfung – die Darstellung der Verteilung sämtlicher RUBIKON-Kopien über die Milchstraße.“

Sesha fragte nicht „Wozu?“ – womit sie sich wohltuend von gewissen Gören unterscheidet, fand Cloud –, sondern gehorchte.

Eine neue Partition der Holosäule bildete sich in Kopfhöhe des Commanders heraus, und darin prangte nun in ihrer ganzen 3-D-Pracht das, was Sesha ihnen schon einmal präsentiert hatte: die Verteilung der HAKARs, wie sie seinerzeit Fakt gewesen war – rot pulsierende Markierungen, eingebettet in die Sternenspirale der Milchstraße.

„ So war es damals“, sagte Cloud. „Wie sähe diese Darstellung heute aus?“

„ Auf Bolcrain bezogen?“, fragte Sesha.

„ Ja, auf die Milchstraße.“

„ Antwort zurzeit unmöglich.“

„ Ein Reichweitenproblem?“, fragte Cloud.

„ Korrekt.“

„ Wo nah müssten wir heran?“ Insgeheim ärgerte er sich, dass ihm die Idee nicht schon früher – noch innerhalb der Milchstraße, im Angksystem etwa – gekommen war. Sicherlich wäre das Resultat höchst aufschlussreich gewesen. Über das Schicksal der HAKARs während der Kontrolle Darnoks über die heimatliche Galaxis war wenig – nicht eigentlich – bekannt.

Und genau das wollte Cloud ändern. Durch Scobee wusste er einiges über Siroonas Schicksal, er wusste, wofür die Kette der RUDIMENT-Stationen einst errichtet worden war – über Sobeks Verbleib gab es bislang nicht die geringsten Informationen. Und auch nicht, was aus all den HAKARs geworden war, die weder für die Errichtung der RUDIMENT-Relaisstrecke gebraucht worden waren noch in der Milchstraße operiert hatten, als dort der Verderben bringende Einfluss des Entartungsfeldes wirksam wurde.

Er war sicher, dass noch etliche RUBIKON-Ebenbilder existierten, die Frage war nur, wo – und wer gegenwärtig über sie gebot. Eine potenzielle Gefahr, die nicht unterschätzt werden durfte. Aber vielleicht warteten ein paar Antworten oder zumindest Hinweise dort drüben in diesem ausgebrannten Wrack eines HAKARs, das von den Foronen zum Baustein der Verbindungsstrecke nach Andromeda gemacht worden war.

Bis, noch in den allerersten Anfängen dieses Streckennetzes, etwas fürchterlich schief ging. Etwas, das durchaus ebenfalls auf Darnoks Waffe zurückgehen mochte ...

„ Ideal wäre der Milchstraßen-Halo“, sagte Sesha. „Die Maximaldistanz, um noch die gesamte Galaxie scannen zu können, liegt bei zweihunderttausend Lichtjahren.“

„ Das haben wir mit der gegenwärtigen halben Million ja knapp verfehlt“, meinte er süffisant.

„ Ich fürchte, da unterliegst du einem Rechenfehler. Die Distanz ist mehr als doppelt –“

„ Es war ein Scherz“, wiegelte er ab. „Aber zurück zu meinem eigentlichen Anliegen. Aylea hatte mit ihrer Bemerkung nicht ganz unrecht – ich möchte den vor uns liegenden HAKAR ‚entern’. Allerdings auf die elegante Weise.“

„ Was soll ich tun?“

„ Zunächst einmal die alte Aufzeichnung des seinerzeitigen Netzwerk-Status ausblenden und dafür eine aktuelle Situation erstellen.“

„ Die dann aber nur zwei Schiffe beinhaltet“, machte die KI klar. „Dieses hier – und das veränderte Wrack in Sichtweite, zu dem gerade Scobee und Jarvis wechselten.“

„ Genau das möchte ich.“

Und so geschah es. In der Partition baute sich ein Ausschnitt des lichtarmen Leerraums auf, in dem die RUBIKON und RUDIMENT-2 pulsierende Markierungen darstellten.

„ Es funktioniert also nach wie vor.“

„ Hattest du Zweifel?“

„ In der Tat ...“

Sesha schwieg. Cloud sagte: „Dann lass uns jetzt mal alle Möglichkeiten ausreizen, die sich uns durch die immer noch existente Verknüpfung eröffnen. Ich habe tatsächlich vor, den HAKAR – ob nun Jay’nac-ummantelt oder nicht – in meine Gewalt ... oder sagen wir: unter meine Kontrolle zu bringen. Und zwar ohne dass auch nur einer von uns leibhaftig an Bord der Station gehen muss. Ich möchte alle eventuellen Risiken ausschließen ... aber auch nicht auf die Schätze verzichten, die da drüben auf uns warten.“

„ Schätze?“, platzte es eifrig aus Aylea heraus.

„ Verloren!“, bremste Cloud ihren Überschwang. „Du fliegst.“

„ Aber erst verrätst du mir, welche Schätze da drüben liegen!“

Er zuckte die Achseln. „Informationen. Gespeichertes Wissen, an das ich heran möchte. Unersetzliche Daten über die Foronen, aber auch ...“

„ Ja?“

„ ... über die Vergangenheit. Als Darnok den Hochzivilisationen der Milchstraße den Strom abdrehte ...“

Das goldene Schiff war still wie ein Mausoleum. Scobee zögerte, ihre Stimme zu erheben. Es kam ihr fast wie eine Entweihung dieser Stätte vor.

So hatte sie die AUGE DES PERIGOR nicht in Erinnerung. Wenn sie an ihre Zeit an Bord zurückdachte, dann kamen ihr ganz andere Bilder in den Sinn – vor allem aber eine Grundstimmung, die stets positiv, manchmal sogar mitreißend enthusiastisch gewesen war.

Nun hing allem der Geruch des Todes an.

Auf Porlacs Geheiß hin hatten die Felorer mit etwas nach dem Raumschiff der Gloriden gegriffen ... und die komplette Besatzung inmitten ihrer Bewegung eingefroren.

Vielleicht waren bereits in jenem Moment alle gestorben, obwohl sie wie Statuen dagestanden und in ungewisse Ferne gestarrt hatten.

Vielleicht ... habe ich mich seither immer selbst belogen, mir immer selbst etwas vorgemacht. Warum hätten die Jay’nac die Gloriden schonen sollen? Himmel, sie sind alle tot. Alle ... tot! Was soll ein Ring dagegen ausrichten?

Der Ring an ihrer Hand entstammte dem Arsenal der Bractonen – das war der einzige Hoffnungsschimmer, den Scobee sich bewahrte.

Bractonen vermochten alles. Oder etwa nicht?

Sie vertiefte den Gedanken nicht, aus Furcht, ihn sonst mit mannigfachen Beispielen widerlegen zu können.

„ Mich friert, Jarvis – ich weiß, das hört sich dämlich an, aber die Atmosphäre hier –“

„ Ich kann keine besorgniserregenden Werte feststellen“, sagte der Ex-GenTec im Körper einer Maschine. Gleichzeitig begann sich zeitrafferschnell wieder seine Menschmaske aufzubauen. Einen Lidschlag später stand der Jarvis ihrer ältesten Erinnerungen wieder vor ihr.

„ Das meine ich nicht. Die Werte, die Temperatur ... all das ist bestimmt völlig in Ordnung. Dass mich friert, hat andere Gründe. Hier riecht es nach Zerfall und Sterben. Und das lässt mich frösteln.“

„ Das bildest du dir ein.“ Jarvis machte ein paar Schritte. Sie befanden sich in dem Raum, den Scobee ihm zuvor als Rematerialisierungspunkt der Teleportation beschrieben hatte – dem Raum, in dem sie während ihrer Reise durch den Z-Raum Unterkunft bezogen hatte. Er war spartanisch eingerichtet, aber den wichtigsten Bedürfnissen eines Menschen – einer Frau – angepasst.

„ Hier hast du gehaust?“ Jarvis blieb vor einer Art Spiegelkommode stehen und ... vertiefte sich in sein eigenes Spiegelbild.

Scobee fragte sich, was er in diesem Moment sehen mochte. Ging die Illusion, die Kargors Kristallsegment erschuf, so weit, dass sich Jarvis selbst davon täuschen ließ? Oder schaute er durch die irreale Fassade hindurch wie durch einen transparenten Vorhang?

Sie entschied sich, ihn darauf anzusprechen.

Er zuckte regelrecht zusammen, als sie sich bei ihm erkundigte, wie er sein Spiegelbild empfand. Offenbar fühlte er sich ertappt – oder in seiner Privatsphäre verletzt.

„ Darüber will ich nicht reden.“

„ Warum nicht? Wir sind Freunde. Du kannst über alles mit mir sprechen.“

„ Über alles ...“ Er lachte rau.

„ Was ist daran so lustig.“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Daran ist absolut nichts ... lustig.“

„ Warum lachst du dann?“

„ Aus Verzweiflung?“

„ Bist du das denn, verzweifelt?“

„ Wer ist das nicht – manchmal?“

Sie nickte. „Ich kann mich nur wiederholen und dir anbieten, mir dein Herz auszuschütten, wann immer dir danach ist.“

„ Wenn ich eins hätte, würde ich das vielleicht. Aber ich fürchte, meine Lage ist aussichtslos. Solange ich es verdränge, wozu ich geworden bin, läuft alles prima. Aber wehe, ich werde daran erinnert – nachdrücklich erinnert. Wie jetzt gerade.“

„ Jetzt gerade?“

Er machte einen Wink.

„ Das Spiegelbild?“

Er nickte.

„ Dann siehst du dich also nicht ... wie ich – wie wir anderen dich sehen? Das verstehe ich nicht. Ich bin sicher, es wäre für Kargor ein Leichtes gewesen, das Gerät so zu modifizieren, dass auch du –“

Er lachte jetzt laut auf, fast hysterisch. „Sicher wäre es das. Aber manche Geschenke haben ihren Preis. Und mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass er nichts ohne Hintersinn tut.“

Sie horchte auf. „Du willst doch nicht sagen, dass du meinst, er hätte dich mit Vorsatz ... quälen wollen?“

„ Genau das will ich.“ Er nickte vehement. „Damals, kurz nach Erhalt der Schuppe, sah ich mich in einem Spiegel – und ich sah mich noch viele weitere Male in spiegelnden Flächen, meist, wenn ich mich in meine Kabine zurückgezogen hatte. Du ahnst nicht, wie aufbauend es war, mich wieder so betrachten zu können, wie ich vor meinem Tod wirklich war ...“

Sie setzte zum Protest an. Tod? Er war doch nicht ... Aber er überging ihren Versuch. „Dass ich ausgerechnet hier in einem Spiegel wieder mit meinem wahren Aussehen konfrontiert werde, hat schon etwas zutiefst Deprimierendes. Für mich selbst zumindest ist damit der Zauber der Schuppe erloschen. – Ich hätte nicht herkommen sollen.“

„ Wie hättest du das ahnen sollen?“

Er zuckte die Achseln. Für Scobee bestand der Zauber fort.

Obwohl es sie drängte, in andere Bereiche des Schiffes vorzustoßen und den Ring zu erproben, den Kargor ihr hinterlassen hatte (war auch er ein fragwürdiges Geschenk, das nur darauf wartete, sie zu enttäuschen?), spürte sie, dass es in diesem Moment etwas noch Wichtigeres zu erledigen gab.

„ Habe ich dir jemals gesagt, wie wichtig du für mich bist? Ganz egal, in welcher ... Hülle du vor mir stehst?“

Er verzog das Gesicht. „Als Trösterin musst du noch ein bisschen üben, Scob – aber danke für den nett gemeinten Versuch.“

„ Ich lüge dich nicht an. Du bist mir wichtig. Neben John stehst du mir von allen am Nächsten. Und daran ändert dein Äußeres nicht die Bohne!“

Er sah sie nachdenklich an. Schließlich nickte er und wandte sich wortlos dem Türschott zu, das sich vor ihm öffnete, als er noch drei Schritte davon entfernt war.

Scobee eilte ihm nach und überholte ihn. „Lass mich vorausgehen. Ich kenne mich hier besser aus als du.“

„ Wie wirkt der Ring?“, fragte Jarvis, als hätten sie nie über Hochpersönliches gesprochen.

„ Das weiß ich, sobald wir einen Gloriden gefunden haben“, erwiderte Scobee. „Ich bin genauso gespannt wie du.“

Die Datenbrücke stand – und sofort floss ein präparierter Datenstrom in das System des abstrusen Objektes, dem niemand mehr ansah, dass es sich einmal um eine äußerlich völlig exakte Kopie der RUBIKON gehandelt hatte. Zu dick, zu schroff und verunstaltend war die Kruste, mit der eine anorganische Spezies den HAKAR versehen hatte – aus Gründen, über die selbst Scobee nicht viel hatte berichten können.

Vielleicht hatten die Jay’nac hier draußen, fernab des mörderischen Einflusses, den Darnoks Feld ausübte, einfach ein Stück Heimat etablieren wollen. Und vielleicht war das tatsächlich der ganze Beweggrund. Vielleicht aber gab es auch ein ebenso dunkles wie gefährliches Geheimnis – und deshalb war Cloud durchaus erleichtert, als sich seine Idee unerwartet glatt in die Tat umsetzen ließ.

Der Gedanke, die Netzverbindung auszunutzen, um so quasi durch die Hintertür Zutritt zu den Systemen des HAKARs zu bekommen, war ihm unmittelbar nach ihrer Ankunft in dieser Leerraum-Region gekommen.

Und waren die spontanen Einfälle nicht meist die besten? Es schien tatsächlich so. Sesha jedenfalls tobte sich dank der Trojaner, die sie über die Datenbrücke einschleuste, hemmungslos in den dortigen Speicherbänken aus.

Die foronischen Chiffriercodes zu entschlüsseln, war für eine foronische KI nicht mehr als eine Fingerübung. Und wie erhofft, erwiesen sich die aus ihrer kryptischen Verzerrung geholten Daten als überaus ergiebig.

„ Wie viele Gloriden befanden sich denn an Bord, als ihr von der Andromeda-Perle aufgebrochen seid?“, fragte Jarvis, als ihr Marsch durch die Gänge und die Fahrt durch verschiedene Etagen der AUGE DES PERIGOR das stets gleiche Bild bot: Nirgends war auch nur der Zipfel eines Gloriden zu sehen.

„ Ich habe sie nicht gezählt, aber es waren einige. Ich bin ihnen auf Schritt und Tritt begegnet, wenn ich von der Zentrale in mein Quartier ging – oder umgekehrt.“

„ Und du bist sicher, dass diese ‚Erstarrung’, mit der sie durch die Jay’nac oder deren Verbündete, die Felorer, belegt wurden, ein anhaltendes Phänomen war?“

„ Bislang ging ich davon aus – und so hatte ich Porlac und Felvert auch verstanden.“

„ Die Versteinerung erfasste laut deiner Schilderung jeden Gloriden, wo er gerade war. In der Zentrale erwischte es Ovayran und andere ...“

Sie nickte und wusste längst, worauf er hinaus wollte.

„ Aber müssten wir dann nicht längst auf Versteinerte gestoßen sein?“

Sie wusste es nicht. Sie war so naiv gewesen, sich vorstellen, dass bei ihrer Rückkehr alles noch so sein würde, wie sie es hinter sich gelassen hatte – zumindest war das ihre Hoffnung gewesen.

Nun aber gewann unversehens wieder ihre Sorge die Oberhand.

„ Müssten wir, ja“, sagte sie. „Lass uns noch die Zentrale checken, dann sehen wir weiter.“

Wenig später öffnete sich das entscheidende Schott vor ihnen ...

... doch auch in dem dahinter liegenden Kontrollraum, aus dem heraus Scobee von den Jay’nac verschleppt worden war, bot sich das bereits gewohnte Bild: weit und breit war keiner der erstarrten Gloriden zu sehen. Alles war leer und wirkte, wie überall auf ihrem Weg hierher, seit langem verwaist.

Scobee spielte unschlüssig an ihrem Ring, für den es offenbar keinen Bedarf mehr gab.

„ Wenn die Erstarrung irgendwann von selbst gewichen wäre“, sagte sie, „müssten wir die Besatzung doch erst recht vorfinden – quietschfidel meinetwegen ... Wobei ich es für unwahrscheinlich halte, dass sie mit ihrem Schiff dann noch immer bei der RUDIMENT-Station anzutreffen wären. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie ihre Fahrt fortgesetzt hätten Richtung Milchstraße – oder zurück nach Andromeda.“

Jarvis nickte. „So sehe ich das auch. Aber es gibt natürlich auch noch eine Möglichkeit, die wir bislang außer Acht gelassen haben.“

„ Welche?“

„ Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass das Schiff, das dich damals zur Milchstraße, ins Nar’gog-System, brachte, die komplette Stationsbesatzung mitnahm – nicht nur alle dort befindlichen Jay’nac, sondern auch alle felorischen Tormeister?“

Sie zuckte die Achseln. „Das genau weiß ich eben nicht. Vergiss nicht, ich war eine Gefangene Porlacs. Ich hatte nicht die Einblicke in interne Geschehnisse. Aber ich halte es durchaus für denkbar, dass diese Station nur sporadisch bemannt wurde.“

„ Aber ebenso denkbar wäre das Gegenteil“, gab er zu bedenken.

„ Du meinst eine permanente Besatzung?“

Er bejahte.

„ Die dann irgendwann hier auf das Gloridenschiff kam und ...“ Sie stockte kurz. „... die Gloriden mitnahm?“

„ Gut möglich, oder?“

Plötzlich versteifte sie sich – in dem Moment, als ihr klar wurde, worauf Jarvis noch hinaus wollte.

„ Du denkst, die Station könnte immer noch bemannt sein – und die RUBIKON – wir alle! – somit in großer Gefahr schweben?“

„ Es ist zumindest nicht auszuschließen, auch wenn die bisherigen Anzeichen dagegen sprechen.“

„ Kannst du Kontakt zu John aufnehmen und ihn warnen?“

„ Ich habe bereits einen Spruch abgesetzt und hoffe, dass er die goldenen Wände problemlos durchdringt – eine Antwort habe ich noch nicht ... Doch, Moment, da kommt etwas ...“ Er hielt inne, und nach ein paar Sekunden legte sich ein Ausdruck von Erleichterung über sein Gesicht. „Entwarnung“, sagte er.

„ Entwarnung?“

„ John selbst hat mir gerade geantwortet. Und seinen Beteuerungen zufolge ist die RUDIMENT-Station definitiv unbemannt.“

„ Wie kann er sich dessen so sicher sein?“

„ Er hat die völlige Kontrolle über sie erlangt ... frag jetzt nicht, wie, aber es scheint tatsächlich so zu sein. Sesha erhielt über einen Trick Einsicht in den ehemaligen HAKAR. Offenbar tauschte sie sich sogar mit der dortigen KI aus. Demnach ist die Station ebenso verwaist ...“

„ ... wie dieses Schiff?“

Er nickte.

„ Was nicht zwangsläufig bedeutet, dass unser Verdacht völlig daneben liegt“, murmelte sie. „Wir wissen nicht, wann die Station verlassen wurde. Die Gloriden könnten vorher eingesammelt und weggebracht worden sein.“

„ Ich denke, der Zeitpunkt des Verlassens lässt sich leicht klären. Auch darüber muss es Aufzeichnung seitens der anderen KI geben, und wie gesagt: Sesha hat den kompletten Zugriff auf alle dort gespeicherten Daten versichert.“

„ Dann lass uns das klären.“

„ Sofort oder gleich?“ Er grinste.

„ Sofort wäre sinnvoll. Dann wüssten wir wahrscheinlich, ob sich eine weitere Suche überhaupt noch lohnt. Könntest du noch mal ...?“

Er verstand ohne viele Worte. Sofort begann wieder eine rege Funkkommunikation mit der RUBIKON. Und wenige Minuten später stand fest, dass die RUDIMENT-Station ebenso lange schon verwaist war, wie Scobees Verlassen derselben zurücklag. Als Porlac sie durch das Wurmloch nach Nar’gog brachte, hatte sich auch die gesamte Stationsbesatzung an Bord des Jay’nac-Schiffes befunden. Und in der ganzen Zeit danach war RUDIMENT-2 nicht wieder neu besetzt worden.

„ Jedenfalls nicht von Jay’nac“, schloss Jarvis seinen Bericht an Scobee.

„ Was soll das heißen?“

„ Dass jüngst offenbar eine andere Spezies vorbeischaute. Vor umgerechnet etwa drei Monaten.“ Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. „Sie kamen in mehreren Schiffen und interessierten sich kaum für den ehemaligen HAKAR. Laut dessen KI legten sie an der AUGE DES PERIGOR an. Die Fahrzeuge sahen aus wie gigantische Xe. Und die Geschöpfe, die RUDIMENT-2 nur flüchtig durchkämmten, dafür umso länger an Bord des Gloridenschiffes verweilten, würden wir beide als ...“

„ ... menschengroße Käferwesen bezeichnen?“

Sein Blick sagte alles.

„ Die Treymor“, flüsterte Scobee. „Hölle und Verdammnis, sind die denn plötzlich überall? Weiß John schon davon?“

„ Natürlich.“

„ Sein Kommentar?“

„ In etwa mit deinem identisch. Du weißt schon: Hölle und Verdammnis ...“

Cloud ließ das gerade Erfahrene auf sich wirken. Die Verbindung, der kurze Austausch mit Jarvis drüben in der AUGE DES PERIGOR war beendet. „Passt auf euch auf“, hatte er dem Freund noch mit auf den Weg gegeben, nachdem dieser angekündigt hatte, die Suche nach Gloriden im goldenen Schiff vorerst noch nicht aufzugeben.

„ Dito“, hatte die Antwort gelautet.

Cloud seufzte.

Algorian sagte: „Erst im Butterfly-System bei Darnoks Versteck, dann über der Erde ... und jetzt hier. Wenn ich mich recht erinnere, war sogar Kargor von den Treymor beeindruckt. Ich fürchte, da kommt noch etwas auf uns ... auf die Milchstraße zu.“

„ Die Treymor beherrschen nun mal bekanntermaßen Bractonen-Technologie. Die X-Schiffe deuten sogar an, dass sie in der Lage sind, sie weiterzuentwickeln. Das müssen wir als gegeben hinnehmen. Und dass daraus Gefahren erwachsen – aktuell und für die Zukunft – dürfte uns allen längst klar geworden sein.“

„ Genau das“, erwiderte Algorian niedergeschlagen, „bezweifle ich. Ich fürchte, dass wir zwar um die uns bisher bekannten Fakten wissen, daraus aber noch nicht das größtmögliche Katastrophenszenario abgeleitet haben.“

„ Was meinst du? Worauf willst du hinaus?“

„ Nur darauf, dass wir die Treymor wohl auch weiterhin – trotz bester Vorsätze – unterschätzen werden.“ Der Aorii machte eine resignierende Geste.

„ Ich weiß nicht, wie du auf eine solche Schlussfolgerung kommst. Ich bin durchaus gewillt, die Treymor genauso ernst zu nehmen, wie es ihnen gebührt. Sie sind im Besitz von ERBAUER-Technologie. Sie sind in derselben Galaxie beheimatet wie wir ... allein das genügt für mich, um mehr als wachsam zu bleiben.“

„ Das wird aber nicht genügen. CLARON machte damals den gleichen Fehler.“ Algorians Miene verfinsterte sich. „Die Allianz sah den Erinjij viel zu lange zu und ließ sie gewähren, bis ...“

... bis der Sturm über sie hinwegfegte und sie zerschlug, dachte Cloud bitter. Erst in diesem Moment begriff er, worauf Algorian wirklich hinaus wollte. Und wie viel allzu Wahres im Vorwurf des Freundes lag.

Laut sagte er: „Ich weiß. Und du hast recht. Wir werden darüber sprechen ... und handeln müssen. Das ist es doch, was du sagen willst: Wir sollten initiativ werden, bevor die Gefahr übermächtig wird und gar nicht mehr einzudämmen ist.“

„ Ich weiß es nicht, was wir tun können.“ Algorian klang immer noch resigniert. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass nichts tun und die Lage lediglich beobachten ins Fiasko führt. Wie schon einmal ...“

„ Ich werde deine Warnung überdenken“, sagte Cloud. „Aber jetzt widmen wir uns zunächst den erbeuteten Daten. Wie du ebenfalls weißt, gibt es noch eine weitere latente Bedrohung – die Foronen. Sobeks ungewisses Schicksal und das der anderen Hohen. Selbst Siroona kann als Gefahr nicht abgeschrieben werden. Im Gegenteil. Der Gedanke, sie bei den Jay’nac zu wissen, macht mich irgendwie nervös.“

„ Das kann auf keinen Fall ein Fehler sein.“

Cloud nickte. Dann widmeten sie sich den Daten, die Sesha für sie errungen hatte.

„ Lass es mich versuchen“, sagte Jarvis. „Was haben wir schon zu verlieren?“

„ Zeit?“, erwiderte Scobee.

„ Das ja, klar. Aber andererseits brennt die uns momentan doch nun wirklich nicht so auf den Nägeln.“

„ Okay, ich gebe mich geschlagen. Aber ich würde mir an deiner Stelle nicht zuviel Hoffnung machen – womit ich aber nicht deine Fähigkeiten infrage stellen will.“

„ Das würdest du nie tun.“

„ Niemals!“

Er nickte. Das Ding, in dem er steckte, nickte. Ich will tot sein, dachte Jarvis dumpf – dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

„ Gut, dann beginne ich jetzt mit dem Scan.“

Sie befanden sich immer noch in der Steuerzentrale der AUGE DES PERIGOR. Und sie waren immer noch ganz allein.

Doch Jarvis hatte sich bei dem Kontakt mit Sesha die Werte des für Gloriden typischen Energiemusters übertragen lassen. Die KI hatte es seinerzeit bei Fontarayns Aufenthalt an Bord routinemäßig ermittelt und abgespeichert. Später, als die RUBIKON mit immer mehr Gloriden in Kontakt gekommen war, im Herzen Andromedas, hatte sich gezeigt, dass dieses Muster bei allen Perlenbewohnern nahezu identisch war und nur in winzigen Nuancen differierte. Als weitere Auffälligkeit hatte Sesha ermittelt, dass die Gloriden während ihrer stofflichen Phase dieselbe Energiesignatur ausstrahlten wie während ihrer energetischen Phase.

Darauf aufbauend wollte er die AUGE DES PERIGOR nun von innen heraus scannen, während Sesha von der RUBIKON ihrerseits die goldene Kugel durchleuchtete.

Sesha wurde auf sein Signal hin aktiv, gleichzeitig tastete er von seinem Standort aus Deck für Deck des Schiffes mit seinen entsprechenden Modulen ab.

Mit unglaublicher Geschwindigkeit kehrten die Tastechos zu ihm zurück, und kaum war er fertig, meldete die KI auch schon: Negativ. Ich konnte kein typisches Muster aufspüren.

Ich schon, gab Jarvis via Funk zurück. Und zwar ganz in meiner Nähe.

Ich informiere den Commander.

Warte noch, bis ich Gewissheit habe. Ich melde mich umgehend.

„ Was ist?“, fragte Scobee, die ihre Ungeduld kaum noch bezähmen konnte.

„ Treffer“, sagte er schlicht.

„ Wo?“ Sie war ganz gespannte Erwartung.

„ Komm mit. Ich führe dich.“

Sie verließen die Zentrale. Hätte Jarvis noch ein Herz besessen, hätte es jetzt wohl schneller geschlagen.

Aber auch dieser Genuss war ihm nicht mehr vergönnt.

Er hasste diesen Körper von Tag zu Tag mehr. Er wäre am liebsten tot gewesen ...

Borovayn taktete.

Er wusste nicht, wie und wann es begonnen hatte. Aber er wusste, wann es aufhören würde: nie.

Borovayn taktete, und nichts sonst hatte noch Bedeutung. Die Zeit stand still für ihn. Seine Gedanken waren geronnen. Er war taub, und er war blind.

Das Einzige, was noch zählte, war der immerwährende Puls, der wie ein kranker, stossweiser Atem in ihm pochte.

Das Echo eines früheren Lebens, das nicht aufhören wollte ...

... aber auch nicht weiterging ...

„ Da“, sagte Jarvis. „Dahinter muss es sein.“

Sie standen vor einem Trennschott, auf dem ein Wirbel von Farben leuchtete. Es war keine Schrift, aber durchaus damit vergleichbar. Gloriden bedienten sich anderer Markierungen als Menschen.

„ Kannst du die Kleckse deuten?“, fragte Jarvis, als Scobee keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen.

Sie hob bedauernd die Schultern. „Nein. Aber mir wäre es recht, wenn ich dir den Vortritt lassen könnte. Du bist robuster als ich – warst es schon immer.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Er nahm es ihr nicht übel, dass sie auf seine Maschinenhülle anspielte. Sie hatte ihm ihre Einstellung dazu klar zu verstehen gegeben, und er glaubte ihr.

Es änderte nur nichts daran, dass seine Gedanken fast unaufhörlich darum kreisten, was aus ihm geworden war – und dass es besser gewesen wäre, damals zu sterben. Wie Resnick ...

„ Okay“, sagte er nur – und trat vor.

Das Schott reagierte, glitt in die Wand.

Dahinter zuckte Licht, das stetig, manchmal sprunghaft, seine Intensität änderte.

„ Ich glaube, ich weiß, wo wir sind“, sagte Scobee, während ihr Blick über all die fremdartigen Aggregate strich, die den Raum hinter der Tür füllten.

„ Ach – und wo?“

„ Im Maschinenraum. Hier, so vermute ich, wird die Kraft der Kleinen Perle gezähmt.“

„ Was soll das sein?“, fragte Jarvis.

„ Eine Art Meiler, in dem die Energie erzeugt wird, die Gloridenschiffe für ihren Antrieb und sonstige Funktionen benötigen. Ovayran hat den Begriff häufig erwähnt, ohne jemals zu erläutern, was eine ‚Kleine Perle’ ist.“

„ Eine kleinere Ausfertigung der Tridentischen Kugeln?“

„ Das ergäbe wenig Sinn, oder?“

„ Vermutlich.“

„ Ich habe keine Ahnung, ob es gefährlich ist, den Raum zu betreten – ich meine, wenn man kein Zwitter wie die Gloriden ist und eine natürliche Affinität zu jedweder Energie besitzt“, sagte Scobee.

„ Dann wartest du sicherheitshalber hier draußen.“

„ Ich wollte eigentlich genau auf das Gegenteil hinaus: Du wartest hier. Ich schütze mal, du bist weit anfälliger für energetische Rückkopplungseffekte als –“

„ Das vergiss mal ganz schnell wieder. Ich mag anfällig sein – aber du bist tot, wenn auch nur so etwas ‚Harmloses“ wie ein Überschlagblitz in dich reinjagt. – Nein, nein, keine Widerrede ... ich bin auch gleich wieder zurück, versprochen. Ich hab den Burschen schon im Visier ...“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat Jarvis durch das offene Schott. Dahinter hielt er für eine Sekunde inne. In dieser Zeit orientierte er sich endgültig, erfasste das Ziel mit seinen speziellen Sinnen ...

... und schnellte darauf zu.

Hinter ihm hielt Scobee den Atem an, aber das wurde ihm kaum noch bewusst, dann befand er sich bereits in einer ganz eigenen Welt.

Rasch wurde ihm klar, dass dies kein guter Platz für jemanden war, der nicht über die Talente und Eigenarten eines Gloriden verfügte. Es war kein Problem, zu der Stelle zu gelangen, wo sich das Ortungsecho zwischen einer Myriade anderer Reflexe verbarg.

Aber es war durchaus ein Problem, diese Stelle wieder zu verlassen.

Jarvis starrte in die steinerne Miene eines Perlenbewohners, der aussah wie eine Statue.

Scobee hatte nicht übertrieben.

Und leider behielt sie auch in anderer Weise recht: Dieser Ort, an dem die Kraft der Kleinen Perle wohnte, wollte Jarvis nicht.

Und bewies es ihm nachdrücklich.

Er kehrte nicht zurück. Er brach sein Versprechen.

Aber das war Scobees geringste Sorge.

Sie aktivierte den Funk. „Jarvis?“

Keine Antwort. Nur hässliches Knacken und Prasseln, als würden Hagelkörner gegen eine Glasscheibe prallen.

„ Jarvis!“

Da – ein ... Echo? Eine zerstückelte Antwort?

Sie hätte es nicht zu sagen vermocht.

„ Scheiße“, fluchte sie. „Scheiße, scheiße, scheiße.“

Jarvis war nicht nur ihre Rückversicherung, um elegant wieder zur RUBIKON zurückzukommen – er war ihr Freund.

Doch vielleicht musste sie nun ein „gewesen“ hinter diese Aussage setzen.

Nein!, entschied sie. Es können ganz gewöhnliche Interferenzen dahinterstecken, dass unser Funkverkehr nicht zustande kommt. Und er kann aufgehalten werden, weil sich der Ortungsreflex entweder nicht als Gloride entpuppt hat – oder der Betreffende immer noch versteinert und schwierig zu bergen ist.

Sie überlegte, Kontakt zur RUBIKON aufzubauen, einen Notruf abzustrahlen. Aber dann verwarf sie es wieder. Weil vielleicht doch jede Sekunde zählte.

Die AUGE DES PERIGOR hätte ihr von ihrem Aufenthalt her vertraut sein müssen, aber seit ihrer Ankunft in Jarvis’ Körper war das Schiff ihr so fremd, wie sie es nie erwartet hatte.

Die Gloriden fehlten.

Ovayran fehlte.

Alles, was ein heimisches Gefühl hätte aufbauen können.

Sie entschied sich, es zu riskieren. All ihre Stärken als GenTec, als genetisch optimiertes Geschöpf, in die Waagschale zu werfen.

„ Jarvis!“, rief sie ein letztes Mal – so laut, dass er es auch ohne Funkunterstützung hätte hören müssen – wenn er noch aufnahmefähig war.

Aber es kam keine Antwort. Womit zwei Möglichkeiten blieben: Er hörte sie, konnte aber nicht mehr reagieren. Oder er konnte nicht mehr reagieren, weil er bereits komplett überwältigt war von ... etwas. Von den Kräften in diesem Raum dort ... oder einer heimtückischen Falle, in die er getappt war.

Wir werden sehen, dachte Scobee. Dann eilte sie mit raumgreifenden Schritten durch das Schott, hinein in das zuckende Licht, das sich augenblicklich in ihre Haut zu fressen schien – spürbar, Schicht um Schicht tiefer –, und hinein in die plärrende Stille, die haarsträubenden Kräfte, die sie umtosten.

Die Kleine Perle ... was im Namen aller Heiligen verbarg sich hinter diesem ach so harmlosen Begriff?

„ J-a-r-v-i-s?“ Sie hatte das Gefühl, ihrem Ruf nacheilen zu können, ihn zu überholen, weil sich Schall plötzlich so unendlich langsam fortpflanzte, als ihr Körper sich bewegte.

Sie huschte wie ein Gespenst durch den zuckenden Irrsinn sich ständig umbildender, umstrukturierender Aggregatblöcke, huschte zischen Gängen hindurch, die im nächsten Augenblick – unmittelbar hinter ihr – aufhörten zu existieren, sich schlossen, weil eine Maschine plötzlich doppelt so groß und in völlig neuer Form dort stand ... während sich neue Wege, neue Pfade zwischen den Schluchten der Aggregatgiganten auftaten, in die sie hineinstürzte, in die sie hetzte und sie durchforstete ... während das Licht um sie gefror, taute, zu kochen begann, wieder gefror, und die Luft so zäh wie Brei durch ihre Lungen quoll. Luft, die keine mehr war, sondern verflüssigtes Licht, verflüssigte Maschine, verdampfendes und wiederstarrendes Gold ...

Da war er.

Da waren sie.

Zwei Gestalten. Jarvis und ... ein Gloride. Tatsächlich ein versteinert zwischen spinnwebartigen Leitungen hängender Gloride!

„ Jar-vi-s?“

Der Ruf schien ihn zu erreichen – als Scobee längst hinter ihm stand. Er drehte sich um. Kargors Schuppe schaffte die Kosmetik unter diesen Bedingungen nicht mehr. Da war blankes Metall, ein humanoider Roboter, dessen Züge nur einen Schatten des wahren Jarvis wiedergaben.

Dennoch glaubte sie Überraschung darin zu lesen – als wundere der Freund sich, dass sie ihm nachgekommen war. Als gäbe es aus seiner Sicht überhaupt keinen Grund dafür, als schwebe er gar nicht in Gefahr, sondern sei nur zu einer Langsamkeit verdammt, die ihm selbst verborgen blieb.

Als hätte es ihn auf ein anderes Zeitlevel versetzt, ging es ihr durch den Sinn.

Sie fasste ihn am Arm. Er seinerseits hielt den Gloriden mit beiden Händen umfasst, als wollte er ihn gerade hochheben.

Ein elektrisierendes Gefühl raste durch Scobees Haut, Nerven und Muskeln.

Ein elektrisierendes Gefühl peitschte sichtbar durch Jarvis, der plötzlich schnell wurde. Dessen Körper mit einem Mal wieder auf der gleichen Zeitebene zu sein schien wie der von Scobee und ...

... und dem Gloriden?

Scobee starrte an sich herab, und ihr Blick wurde eingefangen von etwas, was die Form eines banalen Rings verloren hatte.

Saß da nicht ein winziger ... Schmetterling auf ihrem Finger? Die Miniaturausgabe eines Bractonen? Eines ERBAUERS, der all das schwärende, zuckende, sich in ihre Haut bohrende Licht ... auf sich zog, es absorbierte und dessen winziger Körper sich dabei zu verdunkeln begann, die gerade noch sichtbare Farbenpracht verlor?

Ich verliere den Verstand!

Sie wünschte sich fast, es wäre so.

Jarvis hatte plötzlich wieder ein Gesicht. Und eine Stimme. „Danke!“, keuchte er.

Sie fragte nicht, wofür. Sie hielt immer noch seinen Arm umfasst. Und er umklammerte den Steinernen.

Gemeinsam stürzten sie durch das Labyrinth zurück zum Schott. Erstaunlicherweise war es kein Labyrinth mehr. Bewegten, vergrößerten und verformten sich die Aggregate nicht mehr.

Der Ring – der Schmetterling! – an Scobees Hand schien nicht nur das überbordende, wahnsinnige Licht zu schlucken, sondern auch Einfluss auf die Veränderlichkeit der Aggregate zu nehmen.

Die Frage war nur, wie sie dieses Hemmnis vertragen würden. Wie sie –

„ Grundgütiger, es wird uns umbringen! Das ... das Schiff ... – spürst du es auch?“

Es war Jarvis, der ihr die akute Gefahr entgegenbrüllte, in der sie sich befanden – und die sie selbst noch gar nicht wirklich realisiert hatte.

Der Untergang.

Die totale Vernichtung.

Immer näher kam das Schott, während der Raum sich aufbäumte wie ein gemartertes Ungeheuer in Fesseln, die ihm angelegt worden waren ... und die es sprengen würde. Sprengen musste. Weil nichts es (die Kraft einer Kleinen Perle!) in ketten legen durfte!

„ Jarvis! Wir –“

Dann waren sie draußen auf dem Gang. Das Schott schloss sich ...

... was aber nur bedeutete, dass sie der sich anbahnenden Katastrophe nicht länger ins Auge blicken mussten.

„ Komm!“, hörte die den ehemaligen GenTec noch rufen.

Dann wurde sie von der Finsternis verschlungen.

Zu spät ...

Erst als die Hülle sich wieder spaltete und etwas ihr einen Stoß versetzte, damit sie zusammen mit einer zweiten Gestalt ins Licht taumelte, begriff sie, dass Jarvis mit ihr ... mit ihnen ... teleportiert war.

Rechts von ihr schwankte der Gloride. Nicht länger erstarrt oder versteinert, so wie der Schmetterling an ihrer Hand nicht länger Schmetterling war, düster und aller Farben beraubt, sondern ein unscheinbarer Ring, wie Scobee ihn von Kargor entgegengenommen hatte!

„ Weg!“, schrie Jarvis, der sich schneller zurechtfand als sie.

„ Weg, John! Volle Kraft! Hier geht gleich alles hoch!“

Mit „Hier“ meinte er nicht die RUBIKON, aber ihre unmittelbare Umgebung.

Das Gloridenschiff und ...

Scobee sank zu Boden, wurde kurz ohnmächtig. Nur zwei, drei Sekunden vielleicht, aber als sie wieder zur Holosäule blickte (Jarvis hatte sie in die Zentrale versetzt), sah sie, wie der Verbund aus RUDIMENT-Station und AUGE DES PERIGOR hinter ihnen zurückfiel, sich in der Schwärze des Leerraums verlor ... um nur Sekunden später so grell aufzuleuchten, dass die Automatik Filter generierte, um den Betrachtern keine bleibenden Sehschäden zuzufügen.

So schnell die künstliche Sonne entflammt war, starb sie auch wieder.

Scobee war völlig geschafft. Sie sah Cloud zu dem Gloriden treten und hörte ihn sagen: „Du wurdest von den Treymor als Einziger übersehen – wie ist dein Name?“

Zunächst sah es so aus, als verstünde der Gloride den Menschen nicht – oder als verweigere er die Antwort. Dann aber klang sein dünnes Stimmchen doch noch auf.

„ Ich bin Borovayn.“

„ Borovayn?“ Cloud trat zu Scobee und half ihr auf die Beine. „Kannst du dich an einen Gloriden dieses Namens erinnern?“

Sie schüttelte den Kopf, immer noch leicht benommen.

„ Borovayn ... Hast du eine Erinnerung an die Treymor? An den Moment, da sie euer Schiff überfielen?“

„ Treymor?“ Das androgyne Wesen wirkte völlig unwissend. Scobee hatte nicht den Eindruck, dass es seine Irritation nur spielte.

„ Was ist deine letzte Erinnerung?“

„ Ich wurde in den Maschinenraum geschickt, um einen Energieleiter zu warten, der Anzeichen von Labilität zeigte ...“

Scobee trat vor ihn. „Wann genau war das? Kennst du mich?“

„ Du bist das Menschenwesen, das mit uns zur Milchstraße reisen will.“

„ Wo sind wir?“

„ Wir müssten gerade bei dieser sonderbaren Station angelangt sein. Ich hörte davon, ehe mir befohlen wurde –“

„ Er weiß nichts“, wandte Scobee sich an Cloud und den bei ihnen stehenden Jarvis, der völlig erholt wirkte. Die Maske stand ihm gut. Sehr viel besser als das robotische Antlitz. „Seine Erinnerung, seine ganze Wahrnehmung muss in dem Moment geendet haben, als die Jay’nac oder Felorer ihre Waffe gegen die AUGE DES PERIGOR einsetzten. Von den Treymor hat er nicht das Geringste mitbekommen – und dass sie ihn übersahen, muss an den besonderen Verhältnissen in dem Raum gelegen haben, in dem vermutlich die Kleine Perle angezapft wurde.“

Borovayn hörte ihr nur stumm zu. Sein Gesicht spiegelte nichts wieder, was sich auch nur grob hätte deuten lassen.

„ Ist es so?“, wandte sich Cloud an den Gloriden.

„ Ich weiß es nicht“, sagte Borovayn leise. „Ich will zu meinem Kommandanten. Wo ist Ovayran?“

Scobee, Cloud und Jarvis tauschten Blicke. Schließlich sagte Cloud: „Ich habe schlechte Nachrichten für dich ...“

Borovayns Physiognomie blieb unbewegt. Er hörte sich an, was Cloud ihm zu sagen hatte. Und das Einzige, was er danach fragte, war: „Habe ich noch eine Verwendung?“

Scobee fröstelte. Es gab Momente, da wünschte sie sich weit, weit weg.