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Das Alte Ägypten, Rom, Byzanz und das antike Griechenland – das sind untergegangene Welten, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben. Die Namen der bedeutendsten Persönlichkeiten jener Zeit sind jedem geläufig. Aber wer könnte schon auf Anhieb sagen, welche Schicksale sich dahinter verbergen? Manfred Clauss erzählt von Feldherren wie Hannibal oder Alexander dem Großen, von Philosophen wie Pythagoras oder Plato, er lässt das Leben von Religionsstiftern wie Arius oder dem Apostel Paulus und von Herrschern wie Caesar, Nero oder Kleopatra Revue passieren, und dabei zeichnet er, wie nebenbei, ein anschauliches Panorama ihrer Zeit. Aber er stellt auch Helden der Mythologie wie Herakles oder Aeneas und olympische Götter wie den Donnerer Zeus oder die Liebesgöttin Aphrodite vor. So entsteht das lebendige Bild eines untergegangenen Kosmos, der unsere Geschichte und Kultur bis heute prägt. Clauss' Buch ist nicht nur ein fundiertes Nachschlagewerk, sondern zugleich eine glänzend geschriebene Einführung in die Welt der Antike, die jugendliche wie erwachsene Leser gleichermaßen bereichern wird.
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Seitenzahl: 274
Manfred Clauss
Große Gestalten der Antike
Der Franzose Marc Bloch hat die Vertreter seiner Zunft einmal als «Menschenfresser» bezeichnet: Wo der Historiker Menschenfleisch wittere, da wittere er seine Beute. Dabei geht es demjenigen, der an Geschichte interessiert ist, wie manchem Jäger: je größer die Beute, desto größer die Faszination. So waren es schon immer die «Großen Gestalten», welche die Menschen am meisten begeisterten. Denn bei der Lektüre ihrer Lebensbeschreibungen wird der Leser daran erinnert, was Menschen sind und sein wollen – und vor allem: wozu sie imstande sind.
Dieses Interesse an den Biographien herausragender Persönlichkeiten umfasst immer zweierlei: Zunächst dient es im besten Sinne «zum Nutzen und zur Unterhaltung»; dabei geht es um Vorbilder, manchmal auch nur um Klatsch und Tratsch. Zur Schilderung der einzelnen Schicksale tritt aber auch ihre Einbindung in die jeweilige Zeitgeschichte. Die vorliegende Sammlung von Kurzbiographien entspricht diesem Wunsch: Es werden spannende Lebensgeschichten vorgestellt, und zugleich entsteht ein Panorama der damaligen Zeit.
Große Gestalten interessieren den Menschen seit der Antike. Viele Autoren sind schon damals als Biographen berühmt geworden, wie der römische Schriftsteller Sueton, der in der ersten Hälfte des 2.Jahrhunderts n. Chr. wirkte. Sueton schuf ein großes Werk «Über bedeutende Persönlichkeiten», das in fünf Abteilungen Dichter, Redner, Historiker, Philosophen und Grammatiker umfasste – es gab allerdings auch ein Buch über berühmte Hetären. Sueton trug zusammen, was er in den unterschiedlichsten Quellen fand: literarische und inschriftliche Belege, Archivmaterial – er war zeitweise Sekretär des Kaisers Hadrian (117–138n.Chr.) gewesen–, offizielle Verlautbarungen mit amtlichen Nachrichten und Memoirenliteratur. Und er interessierte sich für Klatsch und Gerüchte und hatte geradezu eine Vorliebe für Wundergeschichten aller Art. Dem antiken Autor ist später immer wieder vorgeworfen worden, er erfasse nicht das Innere des Menschen – wie sollte dies überhaupt möglich sein?– und interessiere sich nicht für die großen Zusammenhänge, ja, es ist sogar von einem Verfall der antiken Geschichtsschreibung die Rede, die sich bei ihm drastisch bemerkbar mache. Ob dies alles so zutrifft, sei dahingestellt. Was auf jeden Fall nicht zu bestreiten ist: Suetons Darstellungsweise wurde zur herrschenden Form der Geschichtsschreibung.
In seiner Wirkung auf die Nachwelt steht der griechische Philosoph und Biograph Plutarch aus Chaironea diesem Sueton nicht nach. Aus seinem gewaltigen Werk, das er um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert verfasste, ragen seine historischen Biographien heraus. Als Grundkonzeption ging Plutarch davon aus, dass Griechen und Römer ebenbürtig seien. Daher stellte er die Lebensläufe je eines Griechen und eines Römers zu Parallel-Biographien zusammen, insgesamt 23Paare. Damit wollte er auch zur Verständigung der beiden, jeweils von zahlreichen Vorurteilen belasteten, Bevölkerungsgruppen beitragen. Jedes Paar schließt mit einer vergleichenden Würdigung ab. Von den in diesem Buch dargestellten Personen bilden bei Plutarch Alexander und Caesar ein solches Paar.
Die «Großen Gestalten der Antike» versuchen einmöglichst umfassendes Spektrum von Persönlichkeiten über den Zeitraum der gesamten griechisch-römischen Antike von 600 vor bis 600 nach Christus abzudecken. Mit den ägyptischen Pharaonen gehen die Porträts zeitlich und räumlich auch darüber hinaus. Die Auswahl ist gewiss subjektiv, betrifft aber auf jeden Fall bekannte Namen. Auch die Bewertung der Personen ist in manchen Aspekten so persönlich wie die Auswahl selbst. Denn für alle Gestalten, selbst für die Götter, gilt, was Friedrich Schiller von Wallenstein gesagt hat: «Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.»
Ein Wort ist wohl zu der Aufnahme der Götter und Heroen notwendig. Wenn am Anfang die «Biographien» dreier Götter stehen, dann trägt dies der überragenden Bedeutung der Religiosität in der Antike Rechnung. Eine antike Götterentstehungstheorie geht davon aus, dass Götter ehemalige verdiente Menschen waren. Daher haben die Alten auch das Leben der Himmlischen auf dem Olymp so geschildert wie das der Menschen aus ihrer Nachbarschaft. Nur durch ihre Unsterblichkeit und durch den Göttertrank Nektar unterscheiden sie sich von uns. Zwischen Göttern und Menschen stehen die Helden, die in einem Elternteil von Göttern abstammen. Aufgrund dieser Herkunft können sie übermenschliche Taten vollbringen, im Wortsinn sagenhafte Dinge tun und genießen deshalb während der gesamten Antike eine ungeheure Popularität. Die übrigen Gestalten standen ihnen darin aber in nichts nach.
In dem Asterix-Band «Der Seher» findet sich die Behauptung, dass die Gallier, um sich besser zurechtzufinden, ihre Götter durchnummeriert hätten. Waren die Götter der Gallier schon zahlreich, so waren es diejenigen der Griechen, Römer oder Ägypter nicht minder. Fast täglich wird auf dem Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches eine Weihinschrift für eine dieser Gottheiten gefunden, und immer noch kommen neue Namen zu den Tausenden von Göttergestalten, die wir bislang kennen, hinzu. Im Unterschied etwa zum jüdischen (später auch christlichen) Glauben an einen einzigen Gott wurden in den meisten antiken Religionen die diversen Zuständigkeiten unter mehreren Göttern aufgeteilt: Es gab Götter für Krieg und Frieden, für die Ehe und den Ehebruch, für Straßen und Bäume, Sonne, Wind und Wasser, kurz, für alle wichtigen Lebensbereiche. Und falls man bei anderen Völkern interessante Götter entdeckte, übernahm man diese kurzerhand für den eigenen Gebrauch. Die meisten Völker kannten einen, der so etwas wie der Chef der Götter war; im griechischrömischen Pantheon war dies Zeus bzw. Jupiter. Zwei weitere zentrale Gestalten, die in verschiedenen Kulturen auftauchen und gelegentlich von der einen in die andere wanderten, sind die Göttin der Liebe und ein Sonnengott, der es sogar bis ins Christentum hinüber schaffte.
Aigina, Alkmene, Ananke, Antiope, Aphrodite, Asteria, Danaë, Demeter, Dia, Dione, Elara, Elektra, Europa, Eurynome, Garamantis, Hera, Hora, Hybris, Io, Kallisto, Kalyke, Klymene, Lamia, Laodameia, Leda, Leto, Maia, Metis, Mnemosyne, Nemesis, Niobe, Pasiphaë, Persephone, Protogenea, Semele, Taygete, Thalia, Themis – dies ist die Liste der Geliebten des Zeus (ohne Gewähr auf Vollständigkeit), die göttliche und menschliche Frauen in neutraler alphabetischer Reihenfolge gleichberechtigt aufführt.
Greifen wir eine der mit diesen Geliebten verbundenen Geschichten heraus und wählen die Frau mit dem wohl bekanntesten Namen: Europa. Ihre Liebesgeschichte beginnt mit einem Albtraum. Wir sind im Vorderen Orient, an der Küste von Tyros und Sidon, wo die Tochter des Königs Agenor, die Jungfrau Europa, in der Geborgenheit des väterlichen Palastes aufwächst. Eines Nachts erscheinen ihr zwei Frauen, die sich um sie streiten. Während die eine namens Asien Europa als ihre Tochter verteidigt, zieht die andere, die namenlos bleibt, das Mädchen mit gewaltigen Armen zu sich hinüber und sagt: «Komm nur, Liebes, ich trage dich als Beute dem Zeus entgegen.» Schweißgebadet wacht Europa auf. Doch am nächsten Morgen verdrängt sie den Traum erst einmal wieder. Töchter aus den besten Häusern des Landes finden sich bei ihr ein, um wichtigen Alltagsgeschäften nachzugehen: Chortänzen, Spielen, Opfern für die Götter. An diesem Tag versammeln sie sich am Meer und erfreuen sich dort an den Blumen ebenso wie am Rauschen der Brandung. Alle sind phantastisch gekleidet, Europa aber übertrifft sie noch durch ihr goldgesticktes Schleppkleid, das nun wirklich einmalig ist. Hephaistos, der Meister der Goldschmiedekunst, hatte es einst für Poseidon angefertigt, der es der Libye geschenkt hatte. Als Erbstück war es schließlich auf Europa gekommen. Am Strand sammeln die jungen Damen also Blumen, die eine Narzissen, eine andere Hyazinthen, wieder andere Veilchen oder Krokus. Europa aber überragt sie alle mit einem Strauß blühender Rosen.
Nun wird es Zeit, Zeus ins Spiel zu bringen, Zeus, den unermüdlichen Liebhaber, dessen Leben sich weitgehend darin zu erschöpfen scheint, Frauen täuschen zu müssen, weil sein Ruf ihm längst vorausgeeilt ist. So verwandelt er sich in einen Stier, um sich der jungen Europa zu nähern. Aber in was für einen Stier! Groß, herrlich, Waschbrettbauch, kleine Hörner, goldgelbes Fell mit silberweißem Mal auf der Stirn, bläuliche, vor Verlangen funkelnde Augen. Aber die Tarnung ist noch nicht perfekt. Er bittet also den Hermes, das Vieh des Königs Agenor zu jenem Strand zu treiben, wo sich die Mädchen aufhalten. Der Hintergedanke ist klar: Wenn Hera vom Olymp herunterschaut und einen einsamen Stier irgendwo inmitten einer Schar junger Mädchen sieht, schöpft sie doch gleich Verdacht. In einer ganzen Herde fällt ein einzelner Stier nicht auf. So kann sich Zeus Europa nähern. Die weicht zunächst entsetzt zurück, fasst dann aber Zutrauen zu dem prächtigen Tier, aus dessen Maul ambrosischer Atem duftend strömt. Sie hält ihm den Blumenstrauß hin, der Stier leckt die Blumen, anschließend die Hand. Es ist eine alte Geschichte, und doch ist sie immer neu: Sie beginnt ihn zu streicheln, er wird immer zärtlicher, schließlich drückt ihm die schöne Jungfrau einen Kuss auf die Stirn. Er fällt ihr zu Füßen, sie schwingt sich auf seinen Rücken. Es ist geschehen. Er erhebt sich, tänzelt ein wenig, setzt sich in Bewegung und wird schneller, immer schneller, bis Europa nicht mehr absteigen kann. (Inzwischen wissen wir, wie schwer es Europa fällt, etwas loszulassen, was es einmal in Händen hat.) Er stürzt sich ins Meer und schwimmt mit ihr davon. Bis in die Nacht hinein und den ganzen nächsten Tag schwimmt Zeus, bevor er am Abend endlich die Gegend erreicht, die er am besten kennt, weil er dort aufgewachsen ist: Kreta. Der Stier lässt Europa hinab und verschwindet. Es erscheint ein herrlicher, göttergleicher Mann, der behauptet, er sei der Herrscher Kretas und werde sie schützen, wenn er durch ihren Besitz beglückt werde. Es folgt das, wo früher in den Erzählungen drei Auslassungspunkte standen. Am Morgen danach wacht Europa auf und ist leicht verwirrt. «Wo bin ich?» Sie deutet das Erlebte als Traum, reibt sich die Augen, um ihn zu vertreiben, und muss erkennen, dass sie wirklich in einer ihr unbekannten Gegend ist. Ihre Haltung schwankt zwischen großmäuligen Bekenntnissen und verzweifelten Depressionen. «Wenn ich jetzt den Stier hier hätte, ich würde ihn zerreißen!» So sind wir Europäer halt. Oder: «Man zeige mir eine Esche, an der ich mich mit meinem Gürtel aufhängen kann.» Wir wissen, dass ihr dazu der Mut fehlte. Da bemerkt sie plötzlich ein Räuspern hinter sich, dreht sich um und sieht Aphrodite mit Klein Eros an der Hand (S.20), der in der anderen seinen berühmten Bogen trägt. Mit einem überlegenen Lächeln sagt Aphrodite: «Lass deinen Zorn fahren, schöne Frau! Ich bin es, die dir im väterlichen Haus den Traum gesandt hat. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat. Du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes! Unsterblich wird dein Name werden! Denn der fremde Erdteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa.» Und so geschah es.
Diese Entstehungsgeschichte trug dem Kontinent den Spott Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) ein, der «Auf die Europa» dichtete:
Als Zeus Europen liebgewann,
Nahm er, die Schöne zu besiegen,
Verschiedene Gestalten an,
Verschieden ihr verschiedlich anzuliegen.
Als Gott zuerst erschien er ihr;
Dann als ein Mann, und endlich als ein Tier.
Umsonst legt er, als Gott, den Himmel ihr zu Füßen:
Stolz fliehet sie vor seinen Küssen.
Umsonst fleht er, als Mann, im schmeichelhaften Ton:
Verachtung war der Liebe Lohn.
Zuletzt – mein schön Geschlecht, gesagt zu deinen Ehren!–
Ließ sie – von wem? – vom Bullen sich betören.
Was wollen uns dieser und vergleichbare Mythen sagen, die von Zeus reden, dem Sohn des Kronos, nach dem Sturz seines Vaters Chef im Olymp, mächtigster der Götter, unsterblich, unbesiegbar, verheiratet mit Hera – und hinter allem her, was hübsch ist? Wozu die Verwandlungen alle, die Liebeshändel, das Versteckspiel, das Täuschen?
Möglicherweise dienten solche Mythen in erster Linie der Unterhaltung. Zeus und Hera, beide unschlagbar, beide allwissend, beide sich gegenseitig ständig übers Ohr hauend – das hat etwas, das ist spannend. Hera war längst daran gewöhnt, dass ihr Mann fremdging, aber abfinden wollte sie sich damit nicht. Jedes Mal, wenn Zeus kurz vor die Tür ging, wurde sie misstrauisch. Also schlich sie ihm, soweit man am Himmel schleichen kann, nach. Dann entbrannte häufig ein Duell zwischen den beiden Göttern, die alle Tricks kannten. Der Zuhörer lauschte gebannt, weil die Götter ja mehr Möglichkeiten haben als normale Ehemänner und Ehefrauen. Beim Wettstreit zwischen Zeus und Hera handelte es sich nicht nur um alltäglichen Ehekrach, sondern um den spektakulären Kampf zweier Zauberer.
Gleichzeitig ging es dabei jedoch um ein sehr irdisches Thema, und wahrscheinlich war es beruhigend – für die Männer–, dass selbst der Göttervater «von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt» war, wie Zarah Leander einmal sang. Die Ehe des Zeus war kein Vorbild, sie war ein Abbild der irdischen Ehe. Streit und Eifersucht, Betrug und Gegenbetrug – man könnte auch eine Liste von Heras Liebhabern aufmachen – gehörten eben wohl zum antiken Ehealltag. Wie es wohl Alltag war, dass Zeus Hera verprügelte und sie sogar einmal am Himmel aufhängte, die Arme in – immerhin sind wir im Olymp – goldenen Fesseln, an den Füßen zwei Ambosse.
Die Historiker weisen außerdem darauf hin, dass die Gestalt des Zeus so überragend war, dass alle griechischen Landschaften und Kulturkreise an seiner Größe teilhaben wollten. Dies ging am besten mit Besuchen des himmlischen Casanova: Alle Gegenden wollten vor ihrer Haustür die Anwesenheit des Zeus bestätigt haben, man wollte möglichst in der eigenen lokalen oder regionalen Tradition an Kinder des Olympiers anknüpfen, Kinder des Zeus vorzeigen, die Stellen zeigen, wo… und so fort. Es war also auch ein Akt eines frommen Lokalpatriotismus, Zeus in den permanenten Ehebruch zu treiben. (Ein Artikel über Zeus in einem berühmten Lexikon beschäftigt sich auf über 120Spalten ausschließlich mit den lokalen und regionalen Anrufungen, die ebenso viele unterschiedliche Erscheinungsweisen des Gottes repräsentierten. Allein wenn man den Buchstaben A durchzählt, kommt man auf fast 200.)
Was den Griechen Zeus war, war den Römern ihr Jupiter. Jupiter war der höchste Gott Roms und drang zusammen mit den römischen Truppen in alle Winkel der Mittelmeerwelt vor. Die Legionen standen unter dem Schutz des Adlers, des Jupitervogels. Als wichtigstes Feldzeichen verehrten die Truppen einen aus Gold gefertigten Adler, der mit gespreizten Flügeln auf dem Schleuderblitz des Jupiter steht. Mit seinem Donnerkeil waren auch die Schilder der Legionäre verziert.
Kein römischer Gott ist in den Weihinschriften, die aus der Kaiserzeit auf uns gekommen sind, so oft genannt wie Jupiter. Jupiter schützte den Staat, die Menschen und alles Leben; schließlich war er der Gott des Wetters, von dem die guten Ernten abhingen. Vor allem aber schützte er den Kaiser, und viele Herrscher wurden selbst zu Lebzeiten als Jupiter dargestellt und verehrt. Schauen wir uns beispielsweise die Regierungszeit der beiden Herrscher Diocletian (284–305n.Chr.) und Maximian (286–305) an. Diocletian betont immer wieder, dass alle Autorität im Reich von Jupiter kommt, und wendet sich an den «vorzüglichsten Jupiter, den Lenker der göttlichen und menschlichen Dinge, den Richter über das Schicksal». Jupiter ist aber nicht nur der «Bewahrer des Kaisers», dessen Bildnis auf Münzen propagiert wird, sondern auch sein «Urheber». Die beiden Kaiser, von denen Diocletian, der länger im Amt war und seinen Kollegen in die Kaiserwürde berufen hatte, immer einen Ehrenvorsprung hatte, waren in vielfacher Hinsicht eng miteinander verbunden. Maximian wurde zum «Bruder» Diocletians erklärt, die beiden Herrscher also Glieder einer natürlichen Familie. Gleichzeitig waren sie Mitglieder einer göttlichen Familie: Jupiter wurde der Vater Diocletians, Hercules derjenige Maximians. Wie Hercules der Sohn Jupiters war, so stand Maximian dem Diocletian im Rang nach. Beide Kaiser aber waren auf Erden anwesende Gottheiten. Diocletian war der «anwesende Jupiter», Maximian der «Kaiser Hercules». «Sie (die Menschen) beteten nicht den durch Glauben vermittelten, sondern den zu sehenden und lebenden Jupiter an, den Hercules nicht als Fremden, sondern als Kaiser.» Jupiter war nun nicht nur eine Statue aus Metall, Stein oder Holz, sondern hatte Ohren, welche die Gebete der Menschen hören konnten, Augen, welche die Not der Welt sehen konnten. Daher war der lebende Jupiter wirkungsvoller als der himmlische. Später konnte man von der Herrschaft der beiden Kaiser sagen, Götter hätten die Welt regiert. Die beiden Herrscher hatten göttlichen Ursprung, göttliche Tugend, göttlichen Geist und göttliche Vorsehung. Der antike Mensch, der stets und überall die Nähe der Götter suchte, konnte aus dieser Tatsache Zuversicht schöpfen.
Es war einmal eine junge Frau: schön, attraktiv, erotisch. Sie war verheiratet mit einem älteren Mann, der das Gegenteil von ihr verkörperte: Er war weder schön noch attraktiv und schon gar nicht erotisch. Er war Handwerker, humpelte, hatte schwielige Hände und einen krummen Rücken. Wie eine solche Ehe zustandekommt? So ist das Leben! Der Mann ging morgens aus dem Haus zur Arbeit. Seine Frau wartete geduldig auf ihn, doch wenn er abends spät zurückkam, war er meist müde. Es wird den Leser kaum überraschen, dass die junge Frau eines Tages einen Liebhaber fand. Er war wie sie jung, schön, attraktiv, erotisch. Wenn nun morgens der Ehemann das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, eilte wenig später der Liebhaber herbei. Abends verließ er Lager und Haus der Geliebten, ehe der Ehemann heimkehrte. Dies hätte lange so weitergehen können, wenn es nicht die tratschsüchtigen Nachbarn gegeben hätte, die dem Ehemann einen Tipp gaben. Und so geschah, was geschehen musste: Eines Tages kam der Ehemann früher als erwartet zurück, fand das Liebespaar, fesselte es im Bett und rief die Nachbarn zusammen, damit sie Augenzeugen des Frevels wurden. Lösen wir die bislang anonym geschilderte Geschichte auf: Die schöne junge Frau ist Aphrodite, die Göttin der Liebe. Ihr Ehemann: Hephaistos, Gott der Schmiede. Und der schöne junge Liebhaber ist Ares, der Gott des Krieges. Die lachenden Nachbarn, das ist der versammelte Olymp.
Aphrodite ist bei den Griechen die Göttin der Liebe, der Schönheit und der Fruchtbarkeit, sie symbolisiert das Aufblühen der Natur im Frühling und den Genuss der körperlichen Liebe und verleiht den Frauen Anmut und Charme. Sie gehört mit zu den ältesten Göttern: Uranos, Zeus’ Großvater, wollte sich gerade mit Gaia, der Erde, vereinigen, als Kronos, sein Sohn und Zeus’ Vater, ihn überfiel und mit einer Sichel entmannte. Die Geschlechtsteile seines Vaters warf Kronos ins Meer. Dort bildete sich Schaum, dem Aphrodite entstieg – unglaublich schön und verführerisch und, wie wir bereits gesehen haben, der Liebe nicht abhold. Ihr Sohn Eros – der Vater ist besagter Ares – unterstützt seine Mutter, indem er Pfeile abschießt, die ein Liebesverlangen wecken, dem selbst Zeus nicht widerstehen kann (S.14). Die beiden bilden auf diese Weise ein schönes (und oft dargestelltes) Team, das für allerlei Trubel und Intrigen unter Göttern und Menschen sorgt. Denn wo Schönheit und Begehren sind, sind Eitelkeit, Eifersucht und Neid nicht weit.
Berühmt ist vor allem der Streit Aphrodites mit Athene und Hera, der für Tausende Griechen und Trojaner Folgen haben soll, die dann nur noch sehr wenig mit Liebe zu tun haben: Auf einer Hochzeitsparty wirft Eris, die Göttin des Streites, einen goldenen Apfel unter die Gäste, der die Aufschrift «der Schönsten» trägt. Sogleich entbrennt ein Streit zwischen Hera, Athene und Aphrodite, wer die Auszeichnung für sich in Anspruch nehmen darf. Da sich die drei Damen erwartungsgemäß nicht einigen können, muss ein Mann entscheiden. Warum sich der Trojaner Paris freiwillig zu dieser Entscheidung drängt, wird sein Geheimnis bleiben. Paris wählt Aphrodite. Damit hat er zwar eine göttliche Helferin für die Zukunft gewonnen. Zugleich hat er sich aber zwei himmlische Damen vergrätzt, die schon rein numerisch in der Übermacht sind. Aphrodite unterstützt Paris bei der Eroberung und Entführung der schönen Helena nach Troja. Aus dieser Liebesaffäre entsteht der Trojanische Krieg, in dem Aphrodite Paris zur Seite steht – die beiden gekränkten anderen jedoch den Griechen.
Nur eine von vielen Episoden soll dies illustrieren. Im Verlauf der langen Kämpfe sind die Trojaner in das Lager der Griechen eingedrungen und haben beinahe die Oberhand gewonnen, als Hera, welche die Trojaner (nicht nur wegen Paris) hasst, eingreift. Damit Zeus sie nicht daran hindert, muss sie ihren Gemahl ablenken. Sie badet und schmückt sich und borgt sich von der ahnungslosen Aphrodite unter einem Vorwand deren herrlichen Gürtel, der jeder Frau, die ihn trägt, alle weiblichen Reize verleiht. Zeus ist hingerissen von ihrer Schönheit, die beiden legen sich nieder, umarmen sich – was weiter geschieht, bleibt den Blicken der anderen Götter und uns durch eine goldene Wolke verborgen. Als Zeus eingeschlafen ist, fordert Hera Poseidon auf, den Griechen zu helfen, und diese jagen die Trojaner in ihre Stadt zurück. Der Ausgang des Trojanischen Krieges ist bekannt: Hera und Athene setzten sich durch, und Troja mit all seinen Einwohnern ging unter.
Mit allen? Nicht ganz – dank Aphrodite. Sie verhalf ihrem Sohn Aeneas (S.52), Frucht ihrer Liebe zum Trojaner Anchises, zur Flucht und zeigte ihm den Weg in ein neues Land: Italien. Aeneas’ Sohn Iulus wurde zum Gründer Roms – und Aphrodite begann dort eine zweite Karriere als Göttin Venus.
Venus, was wohl «Liebreiz» bedeutet, war eine italische Gottheit, die mit der griechischen Aphrodite gleichgesetzt wurde. Mit ihrem Namen ist das Verb venerarizu verbinden, das «(einen Gott) in liebenswerter Weise angehen» bedeutet und meist mit «verehren» übersetzt wird. Auch das Wort venenum hat die gleiche Wurzel wie der Name der Venus und bezeichnete ursprünglich einen Liebestrank, bevor es zum Begriff für «Gift» wurde.
Venus war, wie bereits angedeutet, Mutter des Aeneas und damit Großmutter des Iulus, von dem sich das Geschlecht der Iulier in Rom ableitete. Einer der Nachfahren war Caesar (S.151), der seine Abstammung von Venus immer wieder herausstellte. Im Jahre 68v.Chr. hielt er die Totenrede auf seine Tante Iulia, in der er diese göttliche Herkunft erstmals öffentlich prononciert vertrat: «Die Vorfahren meiner Tante Iulia sind mütterlicherseits von königlicher, väterlicherseits von göttlicher Herkunft. Denn von Ancus Marcius (dem sagenhaften vierten König Roms) stammen die Marcius Rex ab, welchen Namen ihre Mutter trug, von Venus aber die Iulier, welches unser Familienname ist. Es ist also in ihrer Abstammung beides vereint: die Majestät der Könige, die unter den Menschen die größte Macht besitzen, und die Heiligkeit der Götter, denen auch die Könige untertan sind.» Nicht wenig von diesem Glanz der toten Tante fiel selbstverständlich auch auf Caesar ab. Immer wieder scheint er auf diese Ahnin zurückgekommen zu sein, was seinen politischen Gegenspieler Cicero (S.142) gelegentlich zu spöttischen Bemerkungen über den «Spross der Venus» veranlasste. Aber was hatte der Emporkömmling Cicero einem solchen Stammbaum auch anderes entgegenzusetzen als Spott? Caesar wusste, was das römische Volk von einem Politiker verlangte. Einen ersten Höhepunkt erreichte Caesars Venus-Verehrung vor der Schlacht gegen Pompeius bei Pharsalus 48v.Chr. Caesar rief Aphrodite/ Venus um Hilfe an und gelobte, ihr im Falle seines Sieges einen Tempel zu errichten. Für den Kampf gab er an seine Soldaten die Parole «Siegreiche Venus» aus. Für die Schlacht von Munda hieß die Parole drei Jahre später «Aphrodite». In beiden Fällen waren Venus und Caesar erfolgreich, und er erbaute den versprochenen Tempel auf dem nach ihm benannten Forum Iulium. Ihn weihte er allerdings nicht der «siegreichen Venus», sondern der Venus Genetrix, der Stammmutter der Iulier.
Caesar war, als er den bei Pharsalus geschlagenen Pompeius verfolgte, nach Ägypten gekommen und hatte Kleopatra kennengelernt (S.80), die als lebende Verkörperung der Göttin Isis der Venus nicht nachstand. Als Kleopatra nach Rom kam, überschüttete er die ägyptische Königin, die seine Geliebte war, mit Ehren und ließ eine goldene Statue der Kleopatra als Inkarnation der Aphrodite in seinem Tempel aufstellen. Aphrodite war eine nackte Göttin. Als Kleopatra im Jahre 40v.Chr. mit Marc Anton zusammentraf, inszenierte sie sich als Aphrodite und nahm den römischen Feldherrn auch persönlich für sich ein.
Steigt man von den Höhen der großen Politik hinab in die Niederungen des antiken Alltags, dann findet sich die Göttin Venus sowohl in mancherlei Formulierungen – ein Liebhaber konnte sein Mädchen zärtlich «meine Venus» nennen – als auch in Bräuchen. So spielte im Zusammenhang mit antiken Hochzeitsriten die Göttin eine wichtige Rolle. Die römische Braut wurde mit einem Kranz aus zart-weißen Majoranblüten geschmückt; die Pflanze war der Venus heilig. Und zu den wichtigen Kultfesten für Frauen gehörte das am 1.April gefeierte Fest der Venus Verticordia, der «Venus, welche die Herzen wendet». Es war eine Venus, von der man glaubte, dass sie die Frauen zur Keuschheit und zur Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten bewegen könne. Das Fest sollte die Ehe fördern und bezog sich in seinem Ritus auf das Hochzeitsritual. Die Kultstatue der Venus wurde an diesem Tag gebadet und anschließend mit Schmuck und Blumen behängt.
Im Zuge des aufkommenden Christentums war nach vielen Jahrhunderten jedoch Schluss mit der Verehrung der Venus. Als Göttin der geschlechtlichen Liebe, anders ausgedrückt, der Wollust – sie war auch Schutzpatronin der Prostituierten – stand Venus noch mehr als andere heidnische Götter im Visier christlicher, häufig leibfeindlicher Auseinandersetzungen. Ihre Statuen wurden, wie die vieler anderer heidnischer Gottheiten auch, beseitigt. Waren sie aus Metall, wurden sie eingeschmolzen und weiterverarbeitet. Nicht das berühmte «Schwerter zu Pflugscharen», sondern eine andere Weiterverwendung beschreibt der alexandrinische Dichter Palladas, der um 400n.Chr. wirkte, als in der ägyptischen Hauptstadt der Kampf des Staates und des Bischofs gegen das Heidentum im Gang war. Palladas litt zeit seines Lebens unter seiner Armut, seiner zänkischen Frau, seiner unerfüllten Liebe zu Hypatia (S.105) und dem Niedergang des Heidentums. Als man eine Kultstatue des Amor/Eros, des Sohnes der Venus, einschmolz, inspirierte ihn dies zu folgenden bitteren Versen: «Der Schmied verwandelte den Eros zur Bratpfanne und nicht ohne Grund: Versetzt nicht auch sie in Glut?»
Der christliche Kampf gegen die heidnische Göttin der Liebe, die ja in aller Regel nackt dargestellt wurde, überdauerte die Antike. In Trier befindet sich eine zweisprachige Inschrift aus dem 16. nachchristlichen Jahrhundert, deren lateinischer Teil weitgehend unleserlich ist. Der deutsche Text lautet:
Wollt ihr wissen, was ich bin?
Ich bin gewesen ein’ Abgöttin.
Da Sankt Eucharius zu Trier kam,
er mich zerbrach, mein’ Ehr abnahm.
Ich war geehret als ein Gott,
Jetzt steh’ ich hier der Welt zum Spott.
Neben dieser Inschrift stand der Torso einer weiblichen Figur aus weißem Marmor, der jahrhundertelang von Pilgern mit Steinen beworfen worden war. Es fiel daher am Ende schwer, in der Figur noch die Göttin Venus zu erkennen. Der Vorgang selbst zeigt einen späten Nachklang christlicher Aggressivität gegenüber heidnischen Gottheiten, wie er seit der Spätantike Alltag war. Mit Venus traf es eine Göttin, die als Inbegriff der Sexualität für die Christen der Inbegriff der Sünde war.
In allen antiken Kulturen spielte die Sonne, einer der sieben Planeten, und damit der Sonnengott eine zentrale Rolle. Die Sonne und ihr Gott waren männlichen Geschlechts. Die griechische Mythologie kennt gleich mehrere Sonnengötter – da ist zunächst Helios, dessen Aufgabe es ist, den Sonnenwagen, der von vier Pferden gezogen wird, über den Himmel zu lenken. Die Bedeutung dieser Aufgabe, von der das menschliche Leben abhängt, wird deutlich, als es einmal schiefgeht.
Ausgangspunkt dieses gefährlichen Abenteuers ist der Streit zweier junger Göttersöhne. Dabei zweifelt Epaphus, einer der zahlreichen Söhne des Zeus, an der Vaterschaft des Helios für Phaethon. Dieser wendet sich an seine Mutter, die es ja schließlich wissen muss, und sie wiederum rät ihrem Sohn, seinen Vater im Sonnenpalast aufzusuchen und ein Zeugnis der Vaterschaft einzufordern. Helios nimmt seinen Sohn im Palast auf, erkennt seine Vaterschaft an, und um dies zu bekräftigen, verpflichtet er sich eidlich, dem Sohn einen Wunsch zu gewähren. Phaethon erbittet sich nun, für einen Tag den Sonnenwagen lenken zu dürfen. Helios versucht, ihn von diesem Plan abzubringen – den Sonnenwagen zu lenken, ist kein Kinderspiel. Jedoch vergeblich. Phaethon besteigt, als die Nacht zu Ende geht, den kostbaren und reichverzierten Sonnenwagen des Vaters. Und es kommt, wie es kommen muss: Phaethon, der gerade einmal im führerscheintauglichen Alter ist, zeigt sich der Sache nicht gewachsen. Die Pferde rasen los, und das Gespann gerät rasch außer Kontrolle. Phaethon verlässt die offizielle Fahrstrecke zwischen Himmel und Erde und löst eine Katastrophe universalen Ausmaßes aus. In den Worten eines antiken Berichterstatters, des römischen Dichters Ovid: «Die Erde geht in Flammen auf, die höchsten Gipfel zuerst, tiefe Risse springen auf, und alle Feuchtigkeit versiegt. Die Wiesen brennen zu weißer Asche; die Bäume werden mitsamt ihren Blättern versengt, und das reife Korn nährt selbst die es verzehrende Flamme. Große Städte gehen mitsamt ihren Mauern unter, und die ungeheure Feuersbrunst verwandelt ganze Völker zu Asche.» Es wäre uns nicht möglich, diese Zeilen so ruhig zu lesen, hätte Zeus nicht eingegriffen. Von der Erde um Hilfe gerufen, bereitet er dem Chaos ein Ende und schleudert einen Blitz. Der Wagen wird zertrümmert, und der Wagenlenker Phaethon landet tot in einem Fluss. Für die Inschrift seines Grabsteins sei nochmals Ovid zitiert: «Hier ruht Phaethon, der Lenker des väterlichen Wagens. Zwar konnte er ihn nicht steuern, doch starb er als einer, der Großes gewagt hatte.»
Der Sonnengott, dem das Leben auf der Erde zu verdanken ist, war ein mächtiger Gott, der viele Staaten und Menschen beschützte. Zu ihnen zählte der griechische Inselstaat Rhodos. Als Rhodos im Jahre 303v.Chr. in den Kriegen um die Nachfolge Alexanders des Großen (S.114) belagert wurde, entkamen die Rhodier nur durch seine Hilfe der Gefahr. Helios wies sie an, nachts einen verdeckten Graben zwischen der Stadtmauer und der neunstöckigen Hauptbelagerungsmaschine der Angreifer zu ziehen. Als diese dann am nächsten Tag vorrückte, stürzte sie in den Graben und verschloss mit ihrem Turm eine bereits geschlagene Bresche in der Stadtmauer. Die Rhodier glaubten, ihr Schutzgott habe sie so auf wundersame Weise gerettet. Das zu seinen Ehren errichtete Standbild, der «Koloss von Rhodos», gehörte in der Antike zu den sieben Weltwundern. Es bestand aus gegossener Bronze und war etwa 35Meter hoch.
Ein weiterer Sonnengott ist Apoll, der Züge und Eigenschaften des Helios übernahm und sie an den römischen Apollo weitergab. Persönlicher Schutzgott wurde dieser Apollo für Augustus, als dieser noch Octavius hieß und gegen Marc Anton um die Alleinherrschaft stritt (S.149). Der zeitgenössische römische Dichter Vergil besingt in seiner Aeneis die entscheidende Schlacht bei Actium im Jahr 31v.Chr. und schildert, wie Apollo seinen Bogen spannt und alle Feinde in die Flucht schlägt.
Als Sonnengott mit Strahlenkrone ließ sich später der römische Kaiser Nero (S.205) darstellen: in der Vorhalle seines Palastes, des «Goldenen Hauses», wurde eine Kolossalstatue errichtet, mit der er bewusst Bezug auf den Koloss von Rhodos nahm. Die Statue übertraf mit 36Metern ihr rhodisches Vorbild und war die größte Statue des Römischen Reiches. Es ist ein Gedicht überliefert, in dem die Insel Rhodos sich an Nero wendet: «Wie von alters her dem Helios gehöre ich, Rhodos, die Insel, jetzt dem Kaiser, in gleicher Weise aber lacht mir der Glanz von beiden. Gerade erlosch ich, da blitzte ein neuer Strahl mir herunter: Helios, heller als du strahlte das Licht von Nero.» Das Gedicht basiert auf der Vorstellung, dass die römischen Kaiser zu Lebzeiten Gott waren.
Als Kaiser Aurelian (270–275n.Chr.) etwa zwei Jahrhunderte nach Nero den Sol Invictus, den unbesiegten Sonnengott, zum Reichsgott erhob, brachte er damit zwei Entwicklungen zum Abschluss, die sich langsam, aber stetig vollzogen hatten. Zum einen war der «unbesiegte Sonnengott» Ergebnis einer theologischen Evolution, in welcher der Sonnengott zu einer allmächtigen, die Welt mit ihrer Lebenskraft durchdringenden Gottheit geworden war, die Jupiter mehr und mehr in den Schatten stellte. Und zum anderen gab es eine monotheistische Tendenz der philosophischen Aufklärung, nach der hinter allen Göttergestalten, die unendlich viele Namen trugen, ein unbenennbarer Weltgott stand, den man nur als «höchsten Gott» oder «höchste Gottheit» bezeichnete. «Wer ist es, der Gott der Ewigkeit, der die Ewigkeit hervorbringt (und) in Ewigkeit herrscht? Der eine, unsterbliche Gott», so heißt es in einem griechischen Zauberpapyrus des 3.Jahrhunderts. In der Folge dieser beiden Entwicklungen eroberte die Vorstellung, dass die (männliche) Sonne das All sei und Sol, der Sonnengott, alle oder doch viele Götter in sich aufnehme, während der Kaiserzeit die gesamte römische Welt. Die Sonne figurierte nicht nur als Himmelskörper, als Element der materiellen Welt, sondern man erkannte in ihr zugleich die unmittelbare Erscheinung des höchsten Wesens, der Allgottheit.
Einen seiner letzten spektakulären Auftritte hatte Sol, als er dem Kaiser Konstantin im Jahre 310 während einer Vision in den Vogesen die Weltherrschaft verkündete (S.208). Bei der Gründung Konstantinopels errichtete man in der Mitte des kreisförmig angelegten Konstantinforums eine gigantische Porphyrsäule, deren Spitze mit einer Statue des Herrschers geschmückt war; diese Säule wurde zum Wahrzeichen der Stadt. «Und auf seine Säule setzte er sein eigenes Standbild, das an seinem Haupt sieben Strahlen besitzt.» Konstantin ließ sich hier, im Zentrum seiner Stadt sowie seines Reiches, als Sonnengott